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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Zwischen Front und Fakes

    Zwischen Front und Fakes

    Informationen spielen eine Schlüsselrolle im Krieg. Doch je länger Russlands Krieg gegen die Ukraine dauert, umso mehr kämpfen auch die Medien ums Überleben.  

    Noch gibt es in der Ukraine eine vielfältige Medienlandschaft: Neben dem vielfach beschriebenen TV-Marathon der Einheit gibt es reichweitenenstarke allgemeine Online-Medien wie die Ukrajinska Prawda, thematisch spezialisierte Portale wie Graty (Gerichtsberichterstattung), Frontliner (Kriegsreportage), Zmina (Menschenrechte) oder Texty (Daten, Recherche, Visualisierung), Radiosender wie Hromadske Radio sowie zahlreiche, auch jüngere Regional- und Lokalmedien. Für die Berichterstattung ins Ausland sind The Kyiv Independent und Kyiv Post mittlerweile unersetzlich. 

    Mag Russlands Invasion 2022 den ukrainischen Medien noch einen Publikumszuwachs beschert haben, werden nach über drei Jahren Krieg die langfristigen Kriegsfolgen für die ukrainische Medienwelt spür- und sichtbar. 

    Das ukrainische Institut für Masseninformationen (IMI) hat nach dem Wegbrechen der USaid-Programme Anfang 2025 eine Umfrage unter Medienschaffenden durchgeführt und daraus Empfehlungen für den Staat, Förderer und Spender abgeleitet. Demnach seien finanzielle Stabilität und das grundsätzliche Überleben der Medien das Kernproblem, besonders für reichweitenschwächere und lokale Medien. The Kyiv Independent startete im Frühjahr ein Förderprogramm für betroffene ukrainische Regionalmedien. 

    Die Wissenschaftler Andreas Umland und Diana Dutsyk vom Stockholmer Zentrum für Ostereuropa-Studien betonen indes in ihrem aktuellen Bericht Between Freedom and Censorship: „Trotz finanzieller Schwierigkeiten, Zentralisierungstendenzen und kriegsbedingten strukturellen Veränderungen ist der öffentliche Diskurs in der Ukraine relativ pluralistisch geblieben, wenn auch mit einigen Einschränkungen in Bezug auf das Fernsehen.“ 

    „Wir kämpfen um jedes Wort“: Was die Kriegsfolgen konkret für lokale und regionale Medien bedeuten, hat Wadym Pelech, Chefredakteur der Lokalzeitung Bukowyna in Tscherniwzi, in seinem Leitartikel zum ukrainischen Tag der Journalist:innen am 6. Juni kompakt und pointiert zusammengefasst.  

    Ein Journalist dokumentiert die Zerstörung eines Landwirtschaftsbetriebs durch russische Angriffstruppen bei Orichiw, Region Saporishshja, im September 2023. / Foto © Dmytro Smolienko/ Ukrinform/ Imago

    Der LOKALJOURNALISMUS war schon immer am Puls der Gesellschaft und eine Art Barometer für die Stimmung und Entwicklungen in den Gemeinden. Zu Friedenszeiten kann man seine Bedeutung kaum überschätzen: Er prägt die lokale Identität, kontrolliert Politik und Verwaltung und informiert die Bevölkerung über relevante Prozesse. Doch nun im vollumfänglichen Krieg, der das gesamte Land auf Überleben und Kampf gegen die russischen Angreifer ausrichtet, geraten die Regionalmedien in eine beispiellos existenzielle Lage. Tscherniwzi erlebt diese Herausforderungen wie jede andere Regionalhauptstadt in voller Härte. 

    Das „Journalisten-Corps“ aus Tscherniwzi kämpft in verschiedenen Einheiten der Ukrainischen Armee. 

    Die ERSTE und wohl schmerzhafteste Herausforderung ist der Verlust von Mitarbeitern. Wie Millionen andere Ukrainer melden sich auch Journalisten zum Schutz ihres Vaterlandes. Das „Journalisten-Corps“ aus Tscherniwzi kämpft in verschiedenen Einheiten der Ukrainischen Armee. Leider gibt es auch hier Verluste. Allein seit letztem Jahr gelten zwei unserer Kollegen, Medienschaffende aus Tscherniwzi, als vermisst. 

    Da es kaum Freistellungskontingente gibt und oft die Besten ihres Fachs mobilisiert werden, müssen nun alle Übrigen bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten arbeiten: nicht nur über Ereignisse berichten, sondern auch die patriotische Message verbreiten, die Mobilisierungsgesetze und andere wichtige militärisch-patriotische Informationen erläutern, die von entscheidender Bedeutung für den Zusammenhalt und die Stabilität unserer Gesellschaft sind. 

    Das Kriegsrecht wird zu einem bequemen Instrument, um sich öffentlicher Verantwortung zu entziehen. 

    Die ZWEITE Herausforderung ist der erschwerte Zugang zu Informationen und, dass das Kriegsrecht teils als Vorwand genutzt wird, um zweifelhaftes Handeln zu verschleiern. Kommunale Behörden verweisen nicht selten auf „sensible“ Angaben und „Sicherheitsinteressen“ und schränken damit den Zugang zu eigentlich öffentlichen Informationen ein, die in Friedenszeiten frei zugänglich wären. Das Kriegsrecht wird zu einem bequemen Instrument, um sich öffentlicher Verantwortung zu entziehen. Und Journalisten, die versuchen ihre Arbeit zu machen, werden beschuldigt, „die Lage zu destabilisieren“ oder im Interesse bestimmter „Clans zu arbeiten“. Diese Umstände erzeugen Druck und sind eine Gefahr für den objektiven Journalismus. 

    Der DRITTE destruktive Faktor ist der Verlust von Werbeeinnahmen. Die Wirtschaft in der Ukraine befindet sich im Kriegszustand und zuallererst leiden darunter diejenigen Sektoren, die von der allgemeinen Wirtschaftslage abhängig sind. Der Anzeigenmarkt ist praktisch zusammengebrochen. Regionalen Medien entgeht der Löwenanteil ihrer Einnahmen. Doch ohne finanzielle Unterstützung, ohne die Möglichkeit, Personal zu halten und in Innovationen zu investieren, stehen Medien am Rande ihrer Existenz. Die Folge sind Personalkürzungen, Projektstopps und letztendlich die Gefahr des vollständigen Verschwindens. 

    Medienschaffende beginnen aus Angst ihr Material zu filtern. 

    Die VIERTE Herausforderung ist die Monopolisierung des Nachrichtenmarktes. In Kriegszeiten benötigt die Gesellschaft schnell und zentralisiert Informationen, deshalb wächst die Rolle der überregionalen Medien. Sie verfügen über Ressourcen, um unter Kriegsbedingungen zu arbeiten und ihre Nachrichten schnell zu verbreiten. Dies geschieht jedoch oft auf Kosten der regionalen Medien, die mit solchen Giganten nicht konkurrieren können. Lokale Nachrichten, lokale Konflikte, lokale Protagonisten, all das geht im Strom der landesweiten Informationen und Nachrichten schnell unter. 

    All diese Faktoren, ergänzt durch das weit verbreitete Narrativ „Journalisten sind an allem schuld” (oft durch jene verbreitet, die ein Interesse daran haben, Informationen zu verbergen), führen zu dem gefährlichen Phänomen der inneren Selbstzensur. Medienschaffende beginnen aus Angst vor Anschuldigungen, Druck oder Jobverlust, ihr Material zu filtern, heikle Themen zu vermeiden und „Ecken und Kanten zu schleifen“. Dies zerstört jedoch nicht nur das Vertrauen in die Medien, sondern beraubt die Gesellschaft auch wichtiger, wahrheitsgemäßer Informationen.  

    Zuletzt sollte außerdem auf die Sabotage der Zeitungsabos durch Ukrposchta hingewiesen werden [In der Ukraine abonniert man regelmäßig erscheinende Zeitungen und Zeitschriften direkt über die Ukrainische Post – dek]. Da Werbeeinnahmen fast vollständig ausfallen, könnten Abonnements von Printmedien ein Rettungsring sein. In der Praxis bekommt der Leser seine Lieblingszeitung jedoch nicht dank, sondern trotz des Handelns von Ukrposchta: Verzögerungen, Probleme bei der Zustellung, mangelnde Motivation der Postboten. Das trifft die wenigen Leser hart, die noch Printmedien im Abo unterstützen. 

    Wie überleben? Die Antwort ist komplex. 

    All dies stellt den Lokaljournalismus in Tscherniwzi und der gesamten Ukraine vor die existenzielle Frage: Wie überleben? Die Antwort ist komplex. Es braucht nicht nur Engagement der Journalisten selbst, sondern auch ein echtes Bewusstsein der Gesellschaft und der Politik für die entscheidende Rolle des unabhängigen Journalismus. Ohne ihn riskieren wir nicht nur den Verlust eines wichtigen Kontrollinstruments, sondern auch die Möglichkeit, eine informierte und kritisch denkende Gesellschaft zu sein, die selbst in Kriegszeiten ein Garant für die Demokratie ist.  

    Wir kämpfen und geben nicht auf. 

    Titelseite der Lokalzeitung Bukowyna in Tscherniwzi vom 5. Juni 2025 / Foto © Peggy Lohse/dekoder
    Titelseite der Lokalzeitung Bukowyna in Tscherniwzi vom 5. Juni 2025 / Foto © Peggy Lohse/dekoder

    Morgen ist der 6. Juni, der Tag des Journalisten, und wir werden erneut über unseren Platz in diesem Krieg nachdenken. Trotz aller Herausforderungen – Verlust von Kollegen, Ignoranz der Behörden, finanzielle Schwierigkeiten, Monopolisierung des Informationsraums und Störungen bei Abonnements – kämpfen wir weiter.  

    Wir arbeiten weiter: suchen nach der Wahrheit, decken Missstände auf, unterstützen unsere Soldaten und informieren die Gesellschaft darüber, was geschieht. Das ist nicht nur Arbeit – es ist, so pathetisch es klingen mag, unsere Mission. Eine Mission, die wir mit Verantwortungsbewusstsein und dem Verständnis erfüllen, dass ohne uns die unabhängigen Regionalmedien, in Tscherniwzi und anderen ukrainischen Städten, Gefahr laufen, in einem Informationsnebel und Fake News zu versinken, generiert von anonymen Bots in Sozialen Netzwerken.  

    WIR KÄMPFEN UM JEDES WORT, um jede wahre Nachricht, um jedes Abonnement. Und wir glauben daran, dass es dieser Kampf wert ist: Denn es geht um die Zukunft des ukrainischen Journalismus und um eine starke, tatsächlich informierte Gesellschaft. 

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  • „Wir haben hier große Angst vor einer Wiederholung von Mariupol“

    „Wir haben hier große Angst vor einer Wiederholung von Mariupol“

    Bis zur russischen Vollinvasion im Februar 2022 war die ukrainische Hafenstadt Mariupol ein bedeutendes Wirtschaftszentrum. Bei der Belagerung wurden Schätzungen zufolge Zehntausende Menschen getötet, fast alle Wohngebäude wurden zerstört, alle 19 Krankenhäuser der Stadt lagen in Trümmern. Das dokumentierte Ausmaß an Zerstörung und gezielten Angriffen auf Zivilisten ist beispiellos. 

    Die Liste russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine ist lang, neben dem Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt es laut einigen Völkerrechtlern auch belastbare Hinweise auf Völkermord. Weniger dokumentiert sind die Verbrechen gegen die etwa drei bis fünf Millionen Ukrainer in den besetzten Gebieten

    Um diesem Schicksal zu entgehen, sind rund 3,8 Millionen Millionen Menschen als Binnenflüchtlinge in sicherere Regionen der Ukraine geflohen. Mehr als sechs Millionen Ukrainer:innen, meist Frauen und Kinder, haben das Land ganz verlassen.

    Dmitri Durnjew von der Novaya Gazeta Europe hat im lettischen Exil mit ukrainischen Ärztinnen gesprochen, die noch 2022 im Südosten der Ukraine Leben retteten – und nun in Angst leben, dass ihnen der Krieg nach Lettland folgt. Der Journalist Durnjew war in seinem früheren Leben selbst Notarzt. Auf einer Baltikumreise traf er sich mit einstigen Kommilitonen von der Donezker Hochschule für Medizin. Einige von ihnen waren während der brutalen russischen Belagerung in Mariupol im Dienst. Manche von ihnen sind auch in dem Oscar-prämierten Dokumentarfilm 20 Tage in Mariupol zu sehen.

    Während die russische Armee die ukrainische Hafen- und Industriestadt Mariupol im Frühjahr 2022 unter Dauerbeschuss und Belagerung nimmt, ist das örtliche medizinische Personal, wie hier ein Arzt am 15. April 2022 in einem Intensivkrankenhaus der Großstadt, rund um die Uhr im Dienst.  © Sergei Bobylev/ Itar-Tass/ Imago

    Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022 arbeiten viele ukrainische Spezialisten im medizinischen Bereich in Lettland: 107 Ärzte verschiedener Fachrichtungen, 52 Zahnärzte und 61 Krankenschwestern. Die medizinische Diaspora erhielt gleich nach der Ankunft ohne große Fragen oder Kontrollen eine Arbeitserlaubnis, um in den hiesigen Krankenhäusern tätig zu sein. Die Krankenakten konnten sie gleich auf Lettisch bearbeiten, noch bevor sie irgendeinen Sprachkurs besucht hatten – mit Hilfe von Google Translate und dem verwegenen Wissen, das man als Kriegsflüchtling mitbringt: In dieser Welt geht alles. 

    In Liepāja, einer Hafenstadt an der Ostsee, treffen wir sechs ÄrztInnen, die mittlerweile hier praktizieren. Es handelt sich um Olena Jakunina aus Krasny Lutsch [seit 2016 Chrustalny, Oblast Luhansk, seit 2014 besetzt – dek], Natalija Schtscherbak aus Kramatorsk und ihre vier KollegInnen aus Mariupol: die Zahnärztin Ljudmyla, die Internistin Walentyna und ihr Mann, der Unfallchirurg Wjatscheslaw sowie die Anästhesistin Jewhenija wollten nicht mit Nachnamen genannt werden. In Liepāja kennt man sie gut: Wjatscheslaw beispielsweise ist der einzige Unfallarzt in der hiesigen Rettungsstelle.

    Doch es ist nicht die Aufmerksamkeit in Liepāja, die sie scheuen – sie fürchten, dass sich das Schicksal Mariupols in Lettland wiederholen könnte. Sie wollen keine Spuren für russische Checkpoints und Filtrationslager hinterlassen – für den Fall, dass die russische Armee bis hierhin vordringen sollte. Sie wissen, wie Filtration nach russischer Art aussieht und dass man in den ersten Tagen der Okkupation noch fliehen kann, wenn man keine Anhaltspunkte für die russischen Silowiki hinterlassen hat. 

    „Wir haben hier große Angst vor einer Wiederholung von Mariupol, verstehen Sie?“, sagt eine der Ärztinnen zu mir, und alle nicken zustimmend. Ich verstehe: Nach Mariupol wissen diese Menschen genau, dass in dieser Welt alles möglich ist. 

    „Als die Russen kamen“: Walentyna und Wjatscheslaw in Mariupol 

    Walentyna arbeitet hier als Ärztin in der Aufnahmestation, in Mariupol war sie in der Poliklinik von Asowstahl angestellt und lebte mit ihrem Mann und zwei Kindern im östlichen Bezirk Schidny, der seit Tag eins der Invasion im Februar 2022 unter Beschuss stand. 

    „Wir haben unsere Wohnung am 24. Februar verlassen und sind ins OLIL (Kreiskrankenhaus für Intensivmedizin, ehemals Städtisches Krankenhaus Nr. 2 in Mariupol) gewechselt, wo mein Mann als Rettungsarzt arbeitete“, erzählt Walentyna. „Sie haben die Frauen aus dem Kreißsaal zu uns gebracht [nach dem Bombenangriff auf die Geburtsstation des Stadtkrankenhauses Nr. 3]. Erinnern Sie sich an die Hochschwangere auf der Trage? Sie hatte eine furchtbare Wunde an der Hüfte und brauchte einen Kaiserschnitt. Eine junge Krankenschwester kümmerte sich um sie, sie war selbst schwanger, kam ganz bleich von dort, wiederholte nur immerzu: ‚Es ist schrecklich!‘“

    Die Geburtsstation des Stadtkrankenhauses Nr. 3 in Mariupol nach der russischen Bombardierung am 9. März 2022 / Foto © armyinform.com.ua/Wikipedia (gemeinfrei)
    Die Geburtsstation des Stadtkrankenhauses Nr. 3 in Mariupol nach der russischen Bombardierung am 9. März 2022 / Foto © armyinform.com.ua/Wikipedia (gemeinfrei)

    „Babys wurden geboren, überall eingeschlagene Fenster, Kälte, eine Frau schleppt selbst den Säugling, das Köpfchen war zu sehen. Sie müsste liegen, nach der Geburt darf sie überhaupt nicht aufstehen. Aber sie muss in den Keller rennen: Beschuss! Sie wollten meinen Mann, der ja Unfallchirurg ist, zu einem Kaiserschnitt schicken. Zu dem Zeitpunkt gab es bei uns keinen einzigen Geburtshelfer mehr.“ 

    „Die Krankenschwester sagte, ich solle einfach schneiden und nähen, den Rest würde sie mir schon erklären!“, lächelt Wjatscheslaw, der jetzt Unfallchirurg im Stadtkrankenhaus von Liepāja ist. Er redet nicht viel, isst kaum, trinkt nur Kaffee und geht oft zum Rauchen raus. 

    „Nach Mariupol hat er fast ein Jahr lang geschwiegen“, sagt einer der anderen Anwesenden. 

    Walentynas Familie zog also im Februar 2022 in den Krankenhauskeller: Wjatscheslaw war rund um die Uhr im Einsatz, Walentyna kümmerte sich um die Kinder, die damals 16-jährige Tochter und den zehnjährigen Sohn. Erst fanden sie in einem Zimmer neben dem kleineren OP-Raum Unterschlupf, doch als die Toten die Leichenhalle überfüllten, brachte man Getötete und an ihren Verletzungen Erlegene in jenen OP-Raum.

    „Es roch dann plötzlich so süßlich, und da wusste ich, dass wir eine andere Fluchtunterkunft brauchten. Hunger und Hundekälte, es gab nichts zu essen – ich weiß nicht, wie sie überhaupt gearbeitet haben“, sagt Walentyna über die Arbeit ihres Mannes und seiner Kolleginnen. „Am schlimmsten waren die Schnittverletzungen – überall sind Fenster, die Glassplitter fliegen, die Augenverletzungen sind so schlimm, dass man das Glas nicht mehr aus den Augen bekommt. Mein Mann war in dem Dokumentarfilm zu sehen, der den Oscar bekommen hat [20 Tage in Mariupol von Mstyslav Tschernow – dek].“ 

    Am 11. März 2022 nahmen die [article-null]Asow-Kämpfer[/article] ihre Gefallenen mit und verließen das Krankenhaus. Am Folgetag zogen die Russen ein. Walentyna erinnert sich an die Veränderungen:

    „Als die Russen kamen, machten wir uns auf die Suche nach Essen, egal was, der Hunger war schrecklich, es gab absolut nichts. Und die operierten immer weiter! Wenn wir an den Russen vorbeiliefen, wendeten wir uns ab, aber die wollten, dass wir uns bei ihnen bedanken für die ‚Befreiung‘. Einer klackte mit seinem Gewehr und sagte zu mir: ‚Freust du dich etwa nicht, mich zu sehen? Ich erschieß dich gleich, du Missgeburt!‘ 

    Wir liefen in die Personalabteilung und fanden in einem Raum bei der Aufnahme Schüsseln mit etwas Essbarem, Sahne oder Schmand, keine Ahnung. Dann fanden wir eingepackte, schon angetaute Teigtaschen. Ich schäme mich nicht, dass wir die Räume der Krankenhausverwaltung geplündert haben … 

    Wenn du lange nichts gegessen hast, langst du einfach zu. Und da sagt der Röntgenarzt plötzlich zu mir: ‚Hör mal, Walentyna, die Ärzte sitzen mit den Kindern im Keller. Willst du ihnen nicht was runterbringen?‘ In dem Raum mit den Dekompressionskammern? Da lagen die jüngsten Patienten, Babies. Ich rannte hin und sagte: ‚Gebt mir eine Schüssel, ich bringe euch zu essen.‘“ 

    „Da waren drei Monate alte Säuglinge, manche einen Monat“, fügt die Anästhesistin Jewhenija wie ein Echo hinzu. 

    „Als erstes starben Diabetiker und die Dialyse-Patienten“ 

    „Am wichtigsten waren Wasser, Nahrung und Medikamente“, erzählt Walentyna weiter. „Die Menschen kletterten durch die Fenster und flehten  um Tabletten. Ich durchwühlte meine Tasche, fand noch drei Schmerztabletten. Außerdem lagerten im Krankenhaus noch Medikamente, die man bei einer Nierentransplantation verabreicht. Die Beschriftungen waren auf Französisch, ich las und verstand nicht, wofür das alles gut ist – gebraucht wurden vor allem Schmerzmittel und Antibiotika. Es kamen Menschen aus den Nachbarhäusern mit Verletzungen, Bluthochdruck, das Insulin ging aus – es war beängstigend. Als erstes starben die Diabetiker und die Dialyse-Patienten, Menschen, die auf Maschinen und Spezialpräparate angewiesen sind.“ 

    Immerhin: Die weißen Kittel schützten sie vor den Russen, berichten die Ärztinnen, man ließ sie in Frieden, ansonsten wurde jeder kontrolliert. Manchmal hätten sich die ukrainischen Soldaten verkleidet, um der Umzingelung zu entkommen. 

    Am vierten Tag hörte der Chefarzt der Urologie, dass man vielleicht Autos mit Zivilisten aus der Stadt lassen würde. Er organisierte eine Evakuierungskolonne. 

    „Er setzte zwei ältere Angehörige zu uns ins Auto, erst unterwegs stellte sich heraus, dass einer von ihnen in Iwano-Frankiwsk gemeldet war. Wir hatten Angst, aber am ersten Evakuierungstag überprüfte niemand so recht die Ausweise. Und als sie unsere Sachen durchsuchten und mein Mann auf die Frage, was das sei, antwortete: ‚Ein Zystoskop‘, ließen sie uns in Ruhe“, erinnert sich Walentyna. 

    Olena, die letzte hochqualifizierte Ärztin in einer besetzten Stadt

    „Oh, wie schreibt man noch mal diesen Buchstaben …“ Meine Freundin Olena Jakunina, kurz Lena, ist Internistin. Sie stockt beim Schreiben einer Grußkarte an meine Kinder. „Irgendwie vergesse ich immer das D – du schreibst hier den ganzen Tag von 8 bis 17 Uhr dieses Sūdzības par … [„Beschwerden aufgrund von …“ – mit diesen Worten beginnt jede Arztdokumentation], danach besuchst du meistens den ganzen Abend Lettisch-Kurse, dann noch Hausaufgaben …“ 

    Am 1. Juli 2025 stehen für die ukrainischen Ärztinnen in Lettland die B1-Prüfungen an. Lena hat sie längst bestanden, beim dritten Versuch. Ein ehrenwertes Ergebnis, wenn man bedenkt, dass manche ihrer Kolleginnen es erst beim fünften Anlauf schaffen, manche auch beim ersten, aber andere sind nicht einmal annähernd so weit, weil die Sprache so schwierig ist. 

    Lena ist die einzige Ärztin in der internistischen Abteilung des Krankenhauses von Bulduri im Gebiet Jūrmala. Sie ist alleine zuständig für 22 Betten. Eine Zeitlang hatte sie eine junge Assistenzärztin, aber die ist gegangen: zu viel Arbeit bei – nach EU-Maßstäben – zu niedrigem Lohn. Die junge Generation entscheidet sich meist für eine Karriere in Deutschland. 

    Ich kenne Lena, seit wir 1985 im ersten Semester an der medizinischen Fakultät der Gorki-Universität in Donezk [seit 2017 nur noch Donezker Nationale Medizinische Universität –  dek] studiert haben. 2015 habe ich sie zwei Mal interviewt, anonym, versteht sich. Damals arbeitete Lena in der internistischen Abteilung des Krankenhauses in Krasny Lutsch, das liegt im besetzten Teil der Oblast Luhansk. 2015 sahen wir uns zufällig in der mehrstündigen Schlange am Checkpoint Wolnowacha wieder, Lena war mit ihrer Tochter Dascha auf dem Weg zurück aus Mariupol. Dascha hatte dort die Abschlussprüfung in einer ukrainischen Schule abgelegt, ein Spezialprogramm für Jugendliche aus den besetzten Gebieten. Zum Studieren ging sie an die beste geisteswissenschaftliche Hochschule der Ukraine, die Nationale Mohyla-Akademie in Kyjiw. 

    Dort sahen wir uns später wieder. Lena erklärte, als hochqualifizierte Ärztin in einer besetzten Stadt sei man in der Regel die Einzige und entsprechend gefragt; sie würde dort arbeiten, um ihre Tochter beim Studium zu unterstützen. Einmal im Jahr fahre sie weg, um durchzuatmen – auf eine wissenschaftliche Konferenz irgendwo in der Ukraine, dann einmal zu ihrer Tochter nach Kyjiw und noch einmal in den Urlaub. 

    Den 24. Februar 2022 erlebte sie auf einer dieser Reisen bei ihrer Tochter in Kyjiw. 

    „Gibt es dieses Land denn noch?“ 

    Für Lettland hat sie sich bewusst entschieden: Ihre Schwester lebt schon lange hier. „Als ich kam, herrschte hier Ärztemangel. Man empfing mich mit offenen Armen, schüttete mich gleich in den ersten Tagen mit Arbeit zu.“ Man nennt sie hier „Doktor Olena“, den Patienten wird vorher gesagt, dass sie von einer ukrainischen Ärztin behandelt werden. Es sind meist ältere Menschen, und in Jūrmala leben viele Russischsprachige. Das führt manchmal zu seltsamen Situationen. 

    „Ich komme ins Zimmer, sage, dass ich aus der Ukraine bin, und höre diese russische Standardphrase: ‚Wie, gibt es dieses Land denn noch?‘ Die alten Leute nehmen kein Blatt vor den Mund. In ein und demselben Zimmer kann neben jemandem, der noch in den 1950er Jahren mit seinen Eltern nach Lettland gekommen ist, einer liegen, der in Sibirien als Kind deportierter Letten geboren wurde.“ 

    Lenas Tochter lebt als Journalistin in Kyjiw, die Mutter bekommt die Luftalarme in Echtzeit aufs Handy, kann Raketen- von Shahed-Angriffen unterscheiden, verfolgt die Einschläge auf der Karte und weiß, wann ihre Tochter nachts in die Metrostation muss. 

    „Wie haben alle Schlafstörungen“, sagt Lena. 

    Mit „alle“ meint sie ihre befreundeten Ärztinnen aus der Ukraine. Eine weitere Kommilitonin von uns, Alina Tschera, war Chefärztin an einer großen Privatklinik in Mariupol. Sie entkam aus der zerstörten Stadt am 16. März 2022 mit dem Auto, zusammen mit ihrem Vater, ihrer Katze und ihrem Hund. Sie fuhren in Richtung Lettland, zu Lena Jakunina. 

    Alina Tschera wurde zu einem Magneten, der in jenem Frühjahr die Ärztinnen aus der Oblast Donezk anzog – um sie herum bildete sich die medizinische Diaspora in Liepāja. 

    „Ärzte mit 20 und mehr Arbeitsjahren sind ein wahrer Schatz, verstehen Sie?“, sagt Natalija Schtscherbak, die Internistin aus Kramatorsk. Dort leitete sie zunächst eine Anlaufstelle für HIV-Infizierte, danach war sie als Hausärztin tätig. In Liepāja arbeitet sie nun auf der Palliativstation. 

    „Frau Doktor, daran ist doch Amerika schuld!“ 

    Der erste, der eine Antwort vom Krankenhaus in Liepāja erhielt, war Wjatscheslaw: Ja, Unfallchirurgen würden gebraucht. Dann machten sich auch die anderen auf den Weg. „In der Personalabteilung hieß es, wir würden gleich eine Arbeitserlaubnis bekommen, aber nach einem Jahr müssten wir die B1-Prüfung ablegen. Und ich sage noch so leichthin: ‚Das wird schon!‘“, erzählt Walentyna. 

    Im Gegensatz zu ihrem schweigsamen Mann hat sie insgesamt eine offene, schlagfertige Art und erzählt ihre schaurigen Geschichten oft mit einem Lächeln. Ihre älteste Tochter, die mit ihnen die Belagerung Mariupols überlebt hat, ist nun erwachsen und studiert Medizin in Lwiw. Aus der Ukraine wollte sie auf keinen Fall weg. 

    „Weißt du, das erste Jahr hier in Lettland war hart, wir konnten alle kaum schlafen. Lauter neue Wörter, die Sprache war sperrig. Dann fingen wir langsam an, ein bisschen was zu verstehen, fanden einen tollen Lehrer“, sagt Lena. Bei Lena stünden die Dinge etwas anders, erklären mir meine Gesprächspartnerinnen aus Liepāja: In Jūrmala würden mehr Russen leben, wohingegen ihre Stadt mehr „wie die West-Ukraine“ sei. 

    Wieder meldet sich Walentyna ungehalten zu Wort:

    „Manchmal sagen die Sachen wie: ‚Frau Doktor, daran ist doch Amerika schuld!‘ Oder ein Patient, ein Lette: ‚Ich habe Verwandte in Taganrog, die sagen, euer Mariupol ist wieder wie neu, so schön!‘ Aber ich habe in der Poliklinik von Asowstahl gearbeitet, man hat mir Fotos geschickt, wie mein Büro ausgesehen hat, völlig verwüstet, das ganze Werk haben sie dem Erdboden gleichgemacht. Wenn ich sie so über Mariupol reden höre, entgleist mir wahrscheinlich alles, ich verliere die Fassung – jedenfalls werden sie plötzlich ganz leise.“ 

    „Schneiden wir ihn auf oder lassen wir ihn leben?“ 

    Wir sitzen in einer Shopping-Mall, meine Gesprächspartner haben vorab ein Café mit großen Tischen ausgewählt, bestellen mit Appetit. 

    „In Mariupol bin ich nie ins Restaurant gegangen, aber hier kann ich mir das leisten“, sagt Jewhenija mit leisem Stolz. „Ich verdiene elf Euro die Stunde, manchmal arbeite ich im Monat 160, mal 200, mal 120 Stunden … Das macht im Schnitt 1500 Euro. In der Ukraine kam ich mit zwei Jobs gerade mal auf 800 Euro, nicht mehr. Ein Unterschied wie Tag und Nacht.“ 

    Sie sind alle um die 50, haben viele Arbeitsjahre in diversen Krankenhäusern hinter sich und strahlen alle die gleiche ruhige Selbstsicherheit aus. 

    „Ich habe keine Probleme mit den Patienten, sie sitzen ja mit offenem Mund da, reden nicht“, sagt Zahnärztin Ljudmyla. „Ich bin nicht so sehr auf die Sprache angewiesen wie auf die Anerkennung meiner Abschlüsse, meiner Diplome. Mir geht es gut hier.“ 

    Ich rücke langsam um den Tisch zu Wjatscheslaw herüber, der nach drei Stunden plötzlich zu reden beginnt. Er erzählt von seiner Arbeit hier, in Lettland, im noch friedlichen Europa. 

    „Die Rettungsstelle ist so ein Ort, wo niemand arbeiten will, und da kam ich. Die ersten sechs Monate haben die Letten mich beobachtet, sie lassen sich gern Zeit, aber sobald sie sich von dir und deinen Fähigkeiten überzeugt haben, gehen sie, lassen dich arbeiten. Und jetzt bin ich alleine für die Station zuständig. Die fachliche Ausrichtung ist hier natürlich eine andere: Bei uns waren das nur Unfälle, aber hier kommen Neurochirurgie und Kinderneurologie dazu … Unser Mariupoler Humor, so was wie: ‚Schneiden wir ihn auf oder lassen wir ihn leben?‘ – solche Späße versteht hier natürlich niemand.“

    Anfangs habe er A2-Kurse besucht, erinnert er sich: „Die machen ganz schön Tempo. Ich habe erst nach drei Jahren angefangen, das Gehörte zu verstehen. Meine Frau macht jetzt schon B2, bei der Prüfung hat sie zwei von vier Tests bestanden, bei den anderen haben ihr nur zwei Prozent gefehlt – da hieß es trotzdem Nein. Das ist doch doof! Seitdem ist mir die Sprache irgendwie schnuppe …“ 

    Wjatscheslaw ist der einzige meiner Gesprächspartner, dem aufgrund der „Sprachfrage“ theoretisch die Entlassung droht. Aber auch das scheint ihm schnuppe. Er ist Unfallchirurg aus Mariupol, er macht hier seinen Job, seine ganze Familie ist am Leben – was soll einen da noch kümmern? 

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    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Philippe de Poulpiquet

    Lilia fährt gemeinsam mit ihren Kumpels in den Schacht eines Kohlebergwerks in der Oblast Dnipropetrowsk ein. / Foto © Philippe de Poulpiquet 

    dekoder: Wie kommt eine junge Frau dazu, unter lauter Bergmännern in einer Kohlegrube zu arbeiten? 

    Philippe des Poulpiquet: Eigentlich verbietet das Gesetz in der Ukraine den Frauen die Arbeit in gesundheitsschädlichen Umgebungen, insbesondere unter Tage. Aber im März 2022 hat Präsident Wolodymyr Selensky dieses Verbot für die Zeit des Kriegsrechts per Dekret aufgehoben. Wenn die Männer in der Armee sind, muss jemand ihre Arbeit machen. Lilia hatte in einem Nagelstudio gearbeitet, bis sie auf Facebook eine Anzeige sah: „Frauen in die Bergwerke!“ Der Betreiber hat für Interessentinnen einen Besuch im Stollen organisiert, danach hat Lilia sich beworben. 

    Was hat sie dazu motiviert? War es Patriotismus? 

    Sie sagt, diese Arbeit sei ihr Beitrag im Kampf für ihre Heimat. Nicht nur, weil sie für einen Mann eingesprungen ist, der an der Front kämpft. Mit der Kohle, die dieses Bergwerk fördert, wird Wärme und Strom für die Menschen in der Ukraine erzeugt. Das sind wichtige Ressourcen in einer Zeit, in der Russland die Energieinfrastruktur des Landes zerstören will. 

    Wie gehen ihre männlichen Kollegen mit ihr um? 

    Sie war nicht die erste Frau in diesem Stollen. Außer ihr arbeitet noch etwa ein Dutzend Frauen dort. Sie baut auch selbst keine Kohle ab, sondern bedient eine Maschine. Trotzdem hätten viele Kumpel zunächst nicht verstanden, warum sie dort arbeitet, sagte sie mir.  

    Die ukrainische Gesellschaft ist immer noch sehr patriarchalisch geprägt. Nach der Vorstellung vieler ist der Platz einer Frau im Haushalt oder eben in einem Nagelstudio. Inzwischen hat Lilia sich mit einigen Bergleuten angefreundet. Manchmal ziehen sie sie auf, aber auf freundliche Weise.  

    Bringt der Krieg also mehr Gleichberechtigung? 

    In gewisser Weise schon. Anfangs hatte sich Lilia gemeldet, um etwas für ihr Land zu tun. Inzwischen schätzt sie die Vorzüge einer gut bezahlten Arbeitsstelle mit sozialer Absicherung. Die hatte sie vorher nicht. Lilia hat angefangen, an der Universität in Dnipro Bergbau zu studieren. Sie arbeitet jetzt Teilzeit im Bergwerk und studiert berufsbegleitend. 

    Was bedeutet ihr dieser Job?  

    Lilia legt immer noch Wert auf schön gemachte Nägel. Warum auch nicht? Aber die Arbeit ist wirklich hart und gefährlich. Gerade rücken die Russen auf Pokrowsk vor und nähern sich damit von Osten der Oblast Dnipropetrowsk. Sollte die Stadt fallen, müsste das Bergwerk aufgegeben werden. Es wäre zu gefährlich, 300 Meter unter der Erde zu arbeiten, wenn oben Bomben fallen und die Arbeiter:innen verschüttet werden könnten.  

    Letztlich bedrohen zwei Szenarien ihren Arbeitsplatz: dass sie vor den Russen fliehen muss. Oder dass nach einem Ende des Krieges das Dekret aufgehoben wird und Frauen nicht mehr länger im Bergbau arbeiten dürfen. 

     

    Philippe de Poulpiqet (geb. 1972) wurde für seine Reportagen aus Konfliktgebieten wie Afghanistan, Irak, Libyen und der Ukraine mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Grand Prix des quoitidiens nationaux (2011) und der Award of Excellence bei Pictures oft the Year International (2012). Seine Bilder wurden unter anderem beim internationalen Fotojournalismus-Festival Visa pour l’Image in Perpignan ausgestellt. Neben seiner Tätigkeit als Fotograf arbeitet er als Kameramann für Dokumentarfilme und hat mehrere Bücher veröffentlicht / Foto © Philippe de Poulpiquet 

     

    Foto: Philippe de Poulpiquet, 2024 
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller 
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am 01.07.2025 

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    Besetzte Gefängnisse

    Als Russland am 24. Februar 2022 vollumfänglich die Ukraine überfiel, befanden sich rund 3300 ukrainische Staatsbürger im Strafvollzug oder in Untersuchungshaft in jenen Gebieten, die Russland in den folgenden Wochen besetzt hat. Die russischen Besatzungsbehörden verlegen diese Gefangenen dann oft innerhalb der okkupierten Regionen oder verschleppen sie in Gefängnisse nach Russland. 

    Menschenrechtsaktivisten berichten, dass auch diese Gefangenen häufig Folter und unwürdigen Haftbedingungen ausgesetzt sind. Außerdem versuche man immer wieder, sie für die russische Armee zu rekrutieren. Ähnliches erleben ukrainische Zivilisten, die unter russischer Besatzung oder in Russland aus politischen Gründen inhaftiert sind. 

    Wenn die Gefängnisinsassen ihre Haftstrafe verbüßt haben, kommen sie nicht einfach frei, können nicht in die Ukraine zurückkehren. Denn schnell werden sie wieder von russischen Sicherheitskräften festgenommen: Wegen angeblicher Verstöße gegen Aufenthaltsgesetze oder fehlender Dokumente landen sie in temporären Abschiebeeinrichtungen, von wo aus sie theoretisch in die Ukraine abgeschoben werden müssten. Doch wegen des Kriegs ist eine direkte Abschiebung unmöglich. So müssen die Betroffenen oft Monate lang mit ungeklärtem Status in erneuter Haft warten, bis sie über Drittländer ausreisen können. In für lange Aufenthalte nicht ausgelegten Transitzonen sitzen sie fest und können nur auf die Hilfe von Freiwilligen hoffen. 

    Im großen Gefangenenaustausch „1000 für 1000“, dem einzigen sichtbaren Erfolg der ukrainisch-russischen Verhandlungen in Istanbul, hat Russland Ende Mai auch 120 ukrainische Zivilisten freigelassen. Unter ihnen sollen neben verschleppten politischen Gefangenen auch ehemalige Insassen von russisch besetzten ukrainischen Gefängnissen sein. 

    Das ukrainische Online-Portal Graty hat für seine Reportage mit Betroffenen und Menschenrechtlern gesprochen.  

    In manchen ukrainischen Haftanstalten, wie diesem Untersuchungsgefängnis in Cherson, richteten die russischen Besatzer ab 2022 eigene Folterzellen ein. Die ukrainischen Gefangenen verlegten sie innerhalb der besetzten Gebiete oder gar nach Russland.  / Foto © Lafargue Raphael/Abacapress/ Imago 

    „Seht mal, Jungs, da rollen Panzer“ 

    Die Insassen der Nördlichen Vollzugsanstalt Nummer 90 in Cherson behalten den russischen Einmarsch im Februar 2022 in lebhafter Erinnerung. „Es gibt da einen Garten vor dem Gefängnis. Einige Jungs gingen raus, und als sie zurückkamen, sagten sie: Seht mal, Jungs, da rollen Panzer“, erinnert sich Olexii (Nachname auf Wunsch des Gesprächspartners nicht genannt). „Dann rauschten Hubschrauber über uns hinweg. Wir gingen raus, kletterten aufs Dach und sahen, wie die Panzer vorbeifuhren. Sie kamen aus Richtung Beryslaw und fuhren über den Staudamm des Kachowka-Wasserwerks. Wir hatten keine Angst, haben erstmal nichts gemacht und einfach nur zugesehen.“  

    Olexii berichtet weiter: Einige Tage später kamen dann russische Soldaten in das Gefängnis, ließen alle Insassen in einer Reihe antreten und teilten ihnen mit, dass sie, die Russen, von nun an das Sagen hätten und „kurzen Prozess“ mit jedem machen würden, der etwas dagegen habe.  

    Eine Zeit lang schien sich sonst nichts zu ändern, doch im Frühsommer brachten die Besatzer dann Gefangene aus anderen Gefängnissen der Region zu ihnen. „Erst waren wir 600-700, vielleicht 800 Männer im Lager, doch dann wurden wir mehr als 2000. Wir schliefen auf Dreier-Etagenbetten“, berichtet Olexii. „Am 23. Oktober wurden wir nach Hola Prystan gebracht, wo es einen Tuberkulosetrakt gab. Die Brücke [über den Dnipro – dek] war bereits zerstört, also brachten sie uns per Fähre zur ‚Sieben‘ [Nummer des Gefängnisses]. Es war ein Alptraum: Da waren nur noch Ruinen, aber sie hielten uns dort für etwa zwei Wochen fest.“ 

    Das Tuberkulose-Gefängnis von Hola Prystan in der Region Cherson, seit 2022 unter russischer Besatzung 

    Dann kam das russische Militär mit gepanzerten „Tigr“-Fahrzeugen, mit Maschinengewehren auf dem Dach, zum Gefängnis und teilte die Gefangenen in Gruppen zum Abtransport ein.  

    „Es fuhren sieben oder acht ‚Schwarze Raben‘ vor. In jedes Fahrzeug steckten sie 30-40 Personen. Wir waren 35 Personen im Laderaum“, erinnert sich Olexii. „Unsere erste Ladung mit etwa 250 Personen wurde nach Armjansk gebracht, wo wir zwei Stunden lang ausharrten, bis man uns nach Simferopol brachte. Dort befindet sich die U-Haftanstalt Nr. 2 des FSB.“  

    Das FSB-Untersuchungsgefängnis Nr. 2 in Simferopol auf der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krym / Foto von der Webseite von Sergej Axjonow, dem Oberhaupt der russischen Verwaltungsbehörde für die Krym  

    „Wenn du nicht arbeitest, stecken sie dich in die Grube“ 

    In Simferopol bereitete man den Gefangenen einen „gebührlichen Empfang“, wie Olexii es beschreibt: Jeder, der aus dem Fahrzeug stieg, wurde von den Wärtern geschlagen. Olexii habe Schläge auf die Beine und den unteren Rücken bekommen. Witalii, ein weiterer ehemaliger Gefangener und ebenfalls Gesprächspartner für diesen Artikel, berichtet, dass einige Mithäftlinge durch die Schläge das Bewusstsein verloren.  

    „Wir wurden ganz schön verprügelt und ordentlich zugerichtet. Mir schlugen sie einen Zahn aus. Andere schlugen sie so heftig, dass sie ‚ausgeknipst‘ wurden und erst später wieder zu sich kamen. Ich weiß nicht, warum sie das taten. Vielleicht nur, um uns klarzumachen, mit wem wir es zu tun haben“, meint Witalii.  

    Später wiederholte sich dieses Ritual in Russland, wohin die Gefangenen von der Krym verlegt wurden. Erst bei der Ankunft dort erfuhr Witalii, dass er nun im Gefängnis Nr. 14 in der Region Krasnodar sei.  

    Olexii indes kam ins Gefängnis Nr. 2 in Dwubratskoje, ebenfalls in der Region Krasnodar. Dort nähten die Häftlinge Arbeitskleidung für Tankwarte, Bauarbeiter oder auch Tarnuniformen – angeblich für Jäger. Bezahlt wurden sie für ihre Arbeit nicht.  

    „Wenn du nicht arbeiten gehst, stecken sie dich in die Grube und behandeln dich wie einen Hund“, berichtet Olexii.  

     

    „Wir sind der Abschaum unseres Landes, aber keine Verräter“ 

    Beide Gesprächspartner in beiden Gefängnissen wurden, so berichten sie, unter Drohungen gedrängt, russische Pässe anzunehmen. Manche lockte man auch zur russischen Armee, um da gegen die Ukraine zu kämpfen.  

    „Viele Männer nahmen die Pässe an und blieben. Viele aber weigerten sich auch. Mein Land ist mein Land. Ja, wir sind der Abschaum unseres Landes und haben schlimme Dinge gemacht, aber wir sind keine Verräter“, betont Olexii. „Sie [die Russen – dek] wollten, dass wir für sie Stellungen [des ukrainischen Militärs – Graty] auskundschaften. Dabei haben die mir mein Haus zerschossen, meine Kinder mussten im Keller Schutz suchen und ich soll jetzt für sie arbeiten? Das sind doch elende Hunde!“ 

      

    „Sie unterstellten mir, dass ich die Grenze zur Russischen Föderation illegal überschritten hätte“ 

    Auch Witalii lehnte solche Angebote der russischen Gefängnisverwaltung ab und hoffte, bald nach Hause zurückkehren zu können. Ihm blieben noch dreieinhalb Monate seiner Haftstrafe. Und als es so weit war, wurde er tatsächlich aus dem Gefängnis entlassen. 

    Doch noch am selben Tag nahm die russische Polizei Witalii wieder fest und mit auf die Wache: „Sie unterstellten mir, dass ich die Grenze zur Russischen Föderation illegal überschritten hätte. Dann brachten sie mich zum Gericht. Das Gericht verurteilte mich zu einer Geldstrafe von zweitausend Rubel und ordnete meine Abschiebung an. Ich kam in ein Abschiebehaftzentrum. Acht Monate lang musste ich dort bleiben. Diese acht Monate waren wie eine neue Haftstrafe für mich“, sagt Witalii.  

    Einen Monat später wurde Witalii in einer Gruppe von Inhaftierten aus dem Abschiebezentrum nach Werchny Lars an die russisch-georgische Grenze gebracht. Doch es kam nicht zur Abschiebung: Weil Witalii zwar seinen ukrainischen Inlandspass dabeihatte, der jedoch kein aktuelles Foto enthielt, entschieden die russischen Grenzbeamten, dass das Dokument ungültig sei.  

     

    „Russland ließ mich ausreisen, aber Lettland ließ mich nicht rein“ 

    Sechs Monate später wurde Witalii nach Pskow gebracht, um über die Grenze zu Lettland abgeschoben zu werden. „Vier Tage lang waren wir unterwegs, hin und zurück. Währenddessen mussten wir Handschellen tragen, als wären wir Schwerverbrecher. Wir hatten Hunger und konnten nicht auf die Toilette gehen. Letztlich ließ mich nun zwar Russland ausreisen, doch Lettland ließ mich nicht rein. Ich sollte zurück, wo ich hergekommen war. Also haben sie mich zurückgebracht.“ 

    Und dabei blieb es, bis Russland die Prozedur zur Bestätigung der Identität von Ausländern änderte. Seit Beginn der Vollinvasion erließ Putin mehrere Dekrete, die angeblich den Status ukrainischer Bürger regeln sollten. So sieht ein Erlass vom 29. September 2023 vor, dass ukrainische Staatsbürger, deren Dokumente abgelaufen waren, sowie Menschen ohne Papiere, Russland mit einer Kopie der Identitätsfeststellung des russischen Innenministeriums in einen Nachbarstaat verlassen könnten, wenn dieser zustimmte.

    Erlass des russischen Präsidenten vom 29. September 2023, Absatz 4: „Bürger der Ukraine, die nicht im Besitz der in Absatz 1 dieses Erlasses genannten gültigen Dokumente sind, können ausnahmsweise die Russische Föderation über die Landgrenze in an die Russische Föderation angrenzende Staaten verlassen (vorausgesetzt, dass diese Staaten die betreffenden Personen akzeptieren), wenn sie eine Kopie des Beschlusses über die Feststellung der Identität des ausländischen Bürgers vorlegen, der von einem lokalen Organ des Innenministeriums der Russischen Föderation gemäß Artikel 101 Absatz 12 des Föderalen Gesetzes Nr. 115-FZ vom 25. Juli 2002 ‚Über die Rechte ausländischer Bürger in der Russischen Föderation‘ ausgestellt wurde.“ 

    Damit kam auch Bewegung in Witaliis Fall, sodass er und seine Gruppe schließlich abgeschoben wurden. Zurück in Werchny Lars brauchten sie zwei Tage, um die Grenze zu überqueren. In Georgien empfingen sie freiwillige Helfer, die sie aufnahmen und ihnen halfen, Dokumente zu besorgen. Schließlich kehrte Witalii über Moldau in die Ukraine zurück. 

    Doch auch hier ist Witaliis Status unklar: „Ich habe hier mit der Polizei gesprochen. Meine Mutter hatte bereits Anzeige erstattet, als ich noch in Russland war. Zwar bin ich jetzt hier, doch weiß ich nicht, wie mein Status ist, ob ich als Opfer anerkannt werde. Deswegen weiß ich gar nicht, woran ich bin, aber ich will, dass das nicht ungestraft bleibt.“  

    Nach Angaben der ukrainischen NGO Sachist wjasniw Ukrajiny (deutsch: Gefangenenhilfe Ukraine) werden solche Fälle tatsächlich untersucht: Bis Ende 2024 bekamen 244 ehemalige Gefangenen und 143 ihrer Angehörigen den Status eines Betroffenen in Verfahren wegen „Verstößen gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges“ (Artikel 438 des ukrainischen Strafgesetzbuches) zuerkannt.  

     

    „Am Abend ins Transitgefängnis, am Morgen nach Kertsch“ 

    Olexii musste indes noch zwei Jahre und drei Monate Haftstrafe im Gefängnis in der Region Krasnodar absitzen. Er berichtet, dass noch mehr Ukrainer aus Gefängnissen in den besetzten Gebieten dorthin gebracht wurden. In seiner Gruppe waren demnach etwa 150 Personen. Einige Tage später kam eine weitere Gruppe mit rund 100 Personen an. Im November 2024 wurde Olexii aus der Haft entlassen.  

    „Am 11. November wurden wir nach Krasnodar gebracht, dort steckten sie uns am Abend in ein Transitgefängnis und brachten uns am Morgen weiter nach Kertsch. Ich verbrachte 45 Tage in Kertsch“, berichtet Olexii. „Als wir dort entlassen wurden, begleiteten uns sechs FSB-Agenten in einem Auto zur Polizeiwache, machten Fotos von uns und nahmen unsere Fingerabdrücke. Sie ließen uns ein Formular unterschreiben, dass wir nichts filmen, niemandem etwas erzählen und nichts in die Luft jagen würden. Warum sollte ich auch? Dann brachten sie uns zu einer Unterkunft.“ 

    Die Übernachtung dort zahlten ihnen freiwillige Helfer. Von der besetzten Krym mussten die ehemaligen Häftlinge dann wieder aufs russische Festland und auf eigene Faust zur Grenze nach Georgien fahren. In Georgien gingen sie sofort zur ukrainischen Botschaft und beantragten Dokumente für ihre Rückkehr in die Ukraine. 

    „So kam ich zurück. Meine Frau wartete auf mich und nun bin ich wieder zu Hause“, sagt Olexii froh.  

     

    „Alle werden illegal in Abschiebezentrum festgehalten“ 

    Neben den unter russischer Besatzung entführten Gefangenen haben auch die aus politischen Gründen in Russland verfolgten und verurteilten Gefangenen [mit ukrainischer Staatsbürgerschaft – dek] Probleme nach der Freilassung.  

    Einer von ihnen ist Andrii Kolomijez, ein Euromaidan-Aktivist, der 2015 in Russland festgenommen wurde, als er seine zukünftige Frau Halyna treffen wollte. Wegen eines angeblichen Angriffs auf Berkut-Offiziere damals in Kyjiw wurde er verurteilt. Im Januar 2025 kam Kolomijez nach zehn Jahren Haft frei, wurde aber sofort in Abschiebehaft gebracht.  

    Sein Fall hatte damals viel Aufmerksamkeit erregt. Die Anklage gegen ihn leitete die berüchtigte Staatsanwältin der Krym-Besatzer, Natalja Poklonskaja, erinnert sich Olha Skrypnyk, Leiterin der Krym-Menschenrechtsgruppe.  

    Skrypnyk zufolge befindet sich Kolomijez noch immer im Abschiebezentrum in der russischen Region Krasnodar, wo er von einem Gericht wegen Verletzung der Aufenthaltsgesetze schuldig gesprochen wurde. Gleichzeitig gilt Kolomijez bereits seit einigen Jahren für Russland (wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer in Russland als extremistisch eingestuften Organisation – dek) als unerwünschte Person, sodass er auch deswegen abgeschoben werden müsste, so die Leiterin der Krym-Menschenrechtsgruppe. 

    „Es gibt mehrere Dutzende ukrainische Staatsbürger, die ihre Strafe aufgrund verschiedener Urteile verbüßt haben. Nicht alle von ihnen wurden aus politischen Gründen verurteilt, aber alle werden illegal in sogenannten Abschiebezentrum festgehalten“, betont Skrypnyk. „Formal müsste Andrii Kolomijez abgeschoben werden, aber Russland weigert sich und beruft sich darauf, dass wegen der sogenannten ‚militärischen Spezialoperation‘ keine diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern bestehen.“  

    Die Inhaftierung in Abschiebezentren könne, so die Menschenrechtlerin, in Russland praktisch zeitlich unbegrenzt dauern – so lange, wie die Gerichte die Haft dort verlängern. Skrypnyk verweist darauf, dass dies nicht nur ein Rechtskonflikt sei, sondern eine gezielte Maßnahme, die von den russischen Strafverfolgungsbehörden eingesetzt werde, um Ukrainer unter Druck zu setzen. 

    Grenzübergang Werchny Lars Russland-Georgien

    „Das Völkerrecht verbietet die Zwangsverbringung von Zivilisten“ 

    Vor dem 24. Februar 2022 befanden sich auf dem Gebiet, das die russische Armee in den folgenden Wochen besetzte, insgesamt 2422 Verurteilte im Strafvollzug und 900 Personen in U-Haft. Diese Zahlen teilte das ukrainische Justizministerium Graty auf Anfrage mit.  

    Im November 2022 registrierten die Gefangenenhilfe Ukraine, das Menschenrechtszentrum Zmina sowie das European Prison Litigation Network (EPLN) gemeinsam mit der Staatlichen Universität für innere Angelegenheiten in Lwiw eine groß angelegte Verlegung von Gefangenen aus Strafvollzugsanstalten in den besetzten Gebieten der Regionen Cherson und Mykolajiw nach Russland. Die Gesamtzahl dieser Deportierten wird nach vorläufigen Schätzungen auf etwa 1800 bis 2000 Personen beziffert. 

    Die Menschenrechtler betonen die Rechtswidrigkeit dieses Vorgehens: Das humanitäre Völkerrecht verbietet die Zwangsverbringung von Zivilisten – Ausnahmen erlaubt es nur, wenn sie zu ihrer eigenen Sicherheit evakuiert würden. In diesem Fall verpflichte sich der evakuierende Staat, den Betroffenen ausreichend sanitäre Einrichtungen, Gesundheitsversorgung, Sicherheit und Ernährung zu bieten. Dies geschah nicht.  

    Außerdem bestätigen die Menschenrechtsexperten die wiederholten Inhaftierungen von entlassenen Gefangenen unter dem Vorwurf, sie hätten gegen russische Aufenthaltsgesetze verstoßen. Die Unterbringung in Abschiebezentren entspreche einer erneuten Haft.  

    Dem Bericht zufolge konnten ukrainische Staatsbürger Russland bis August 2024 über den Grenzübergang Kolotyliwka-Pokrowka [in der Region Sumy – dek] direkt in die Ukraine oder über Drittländer wie Lettland oder Georgien verlassen. Allerdings gab es häufig Probleme beim Grenzübertritt. Die meisten Ausreisen erfolgten heute über Georgien.  

     

    „Diese Menschen landen im Keller einer Baustelle“ 

    Ehemalige Gefangene, die über Georgien ausreisen konnten, erwähnen oft die dortige Initiative Volunteers Tbilisi, die seit März 2022 in der georgischen Hauptstadt aktiv ist und sich ursprünglich dafür engagierte, humanitäre Hilfe in die Ukraine zu schicken. Später kam die Unterstützung von Geflüchteten hinzu, sagt Maria Belkina, die Gründerin der Initiative. Sie ist russische Staatsbürgerin und vor etwa sieben Jahren mit ihrer Familie nach Georgien gezogen.  

    Im Sommer 2023 erfuhr Belkina durch eine Kollegin von der Situation ukrainischer Staatsbürger, die illegal in russische Haftanstalten gebracht wurden und mit Problemen nach ihrer Entlassung konfrontiert waren. Als die Freiwilligen zur Grenze fuhren, trafen sie dort eine Gruppe ehemaliger Gefangener, die ihnen von der Verlegung aus Gefängnissen aus den russisch besetzten Gebieten und den Schwierigkeiten bei der Rückkehr in die Heimat berichteten. Schnell stellte sich heraus, dass es um Tausende Betroffene ging, die potenziell Hilfe brauchten.  

    Sie bekommen dort nicht einmal zu essen. Das Essen bringen wir.

    Belkina und ihr Team haben seitdem etwa dreihundert Menschen an der Grenze empfangen. Auf ukrainischer Seite arbeitet Volunteers Tbilisi auch mit der Gefangenenhilfe Ukraine zusammen, die in Rechtsfragen berät, Aussagen dokumentiert und sie bei der Logistik der Heimreise unterstützt.  

    Am schwierigsten sei die Situation für Menschen, die außer ihren Entlassungsurkunden keine weiteren Dokumente hätten, so Belkina. Das seien mehr als die Hälfte der Fälle. Die georgische Seite stellt dann ein Ersuchen an ukrainische Diplomaten, die die Identität der Person bestätigen müssen.  

    „Diese Menschen landen dann im Keller einer Baustelle an der Grenze. Wir sprechen hier von absolut unwürdigen Bedingungen. Es ist buchstäblich ein Keller voller Baumaterialien, doch irgendwie müssen sie dort ausharren. Das kann einen Monat bis anderthalb Monate dauern. Das ist die gängige Praxis. Sie bekommen dort nicht einmal zu essen. Das Essen bringen wir“, erzählt die Freiwillige. 

      

    „Kyjiw und Tbilisi einigten sich auf ein gesondertes Verfahren“ 

    Das ukrainische Außenministerium erklärte auf Graty-Anfrage, dass wegen des Krieges und des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen keine ukrainischen Konsulate auf russischem Hoheitsgebiet tätig seien und die Diplomaten ukrainische Staatsbürger nur von Nachbarländern Russlands aus unterstützen können.  

    Da die russischen Behörden häufig versuchten, Ukrainer nach Georgien abzuschieben, hätten sich Kyjiw und Tbilisi aber bereits auf ein gesondertes Verfahren zur Identitätsfeststellung und Rückkehr ukrainischer Staatsbürger geeinigt, die aus Haftanstalten in den besetzten Gebieten der Ukraine stammen und nach Russland verbracht wurden, so Sprecher Heorhii Tychy.  

    „Nach Einleitung eines entsprechenden Verfahrens wird ukrainischen Staatsbürgern in der Regel ein Ausweis für die Rückkehr in die Ukraine ausgestellt. Die Registrierung und Ausstellung dieses Dokuments zur Rückkehr in die Ukraine erfolgt innerhalb eines Arbeitstages, sofern alle Nachweise zur Identitätsfeststellung und der Staatsangehörigkeit vorliegen“, heißt es außerdem in einer Erklärung des Außenministeriums. 

    Demnach hat die ukrainische Botschaft in Georgien im Jahr 2024 95 Dokumente zur Rückkehr in die Ukraine an ehemalige Gefangene ausgestellt, in den ersten drei Monaten des Jahres 2025 bereits 37. Wie die ukrainische Botschaft in Georgien auf Anfrage der Gefangenenhilfe Ukraine mitteilte, wurden 2024 216 Anträge von ehemaligen Gefangenen sowie 44 Anträge bislang im Jahr 2025 gestellt. 

    Nach Angaben einer Anwältin der Organisation, Anna Skrypka, dauert dieses Verfahren zur Identitätsfeststellung und Bestätigung der ukrainischen Staatsbürgerschaft, um die zur Rückkehr benötigten Dokumente zu erhalten, tatsächlich im Durchschnitt noch immer zwischen einem und drei Monaten. Schlimm sei es für die Menschen, die trotz allem einen Negativbescheid bekämen. 2024 betraf das nach Botschaftsangaben neun Personen, in diesem Jahr noch keine. 

    Insgesamt sind seit 2022 etwa 400 ehemalige Gefangene aus den aktuell von Russland besetzten Gebieten der Ukraine aus russischer Haft über Georgien in die Ukraine zurückgekehrt. Etwa einhundert sind in Georgien geblieben. 

    Zuletzt berichtete der georgische Ableger von Radio Svoboda, dass Ende Juni 2025 etwas mehr als 50 ukrainische Staatsbürger im provisorischen Abschiebetrakt des russisch-georgischen Grenzübergangs Werchny Lars auf ihre reguläre Abschiebung warten.

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  • Zwischen den Fronten

    Zwischen den Fronten

    2014 versprach Wassil Werameitschyk seiner Familie, für die Verteidigung der Ukraine zu kämpfen, wenn einmal Panzer Richtung Kyjiw rollen sollten. Als 2022 tatsächlich Panzer Richtung Kyjiw rollten, löste er sein Versprechen ein. Als ausgebildeter Soldat schloss sich der Belarusse dem Widerstandskampf der Ukraine an. Dorthin war er geflohen, weil ihm in Belarus die Festnahme drohte. Während der Massenproteste 2020 war er bereits im Gefängnis gelandet.  

    Heute befindet sich Werameitschyk wieder in belarussischer Haft. Im November 2024 war er in Vietnam verhaftet und den belarussischen Behörden übergeben worden – es ist eine wilde Geschichte mit vielen Fragezeichen, die aber auch zeigt, wie belarussische Freiwillige aus jeglichem Raster herausfallen und zwischen die Fronten geraten können. 

    Seit der Festnahme setzen sich seine Frau und seine Mutter bei der ukrainischen Führung dafür ein, ihn auf die Listen zum Gefangenenaustausch zu setzen. Das belarussische Online-Portal Euroradio hat mit Werameitschyks Frau Jauhenija gesprochen und erzählt die tragische Geschichte ihres Mannes.  

    Mitte März wurde in der Ukraine der Tag des Freiwilligen begangen. Zu diesem Anlass wurde dem Kastus Kalinouski-Regiment, in dessen Reihen sich Wassil Werameitschyk an der Verteidigung der Ukraine beteiligte, die Auszeichnung Für eure und unsere Freiheit verliehen – die größte kollektive Auszeichnung der Ukraine.  

    Fast zeitgleich hielt der Abgeordnete Ihor Hrus eine Rede in der Werchowna Rada. Er wies auf die Notwendigkeit hin, belarussische Kriegsgefangene zu befreien: „Leider gibt es Jungs, die in den ukrainischen Streitkräften gekämpft haben und sich jetzt in Kriegsgefangenschaft befinden. Die müssen wir alle befreien“, sagte Hrus vor dem Parlament.  

    Abgesehen von Werameitschyk weiß man von zwei weiteren belarussischen Freiwilligen, die Kriegsgefangene sind – aber in Russland: Sergej Degtew (Kampfname Kleschtsch – dt. Zecke) und Jan Djurbejko (alias Trombli). Sie stehen zwar in den Austauschlisten, über ihr Schicksal ist jedoch seit mehr als zwei Jahren nichts bekannt. Seit Werameitschyk im November 2024 in Vietnam verhaftet wurde, klappert seine Frau Jauhenija die ukrainischen Instanzen ab, hat aber bisher auf alle ihre Schreiben nur maschinelle Antworten bekommen. Jetzt schöpft sie allerdings Hoffnung: 

    „Erstens signalisiert Lukaschenko seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten die Bereitschaft, Kontakt zu den USA aufzunehmen. So gab er dem US-amerikanischen Blogger Mario Naufal ein Interview. Offenbar sieht er in Trump ein würdigeres Gegenüber als in Joe Biden. Zweitens haben wir durch Trumps Zutun bereits die Befreiung von mehreren politischen Gefangenen in Belarus gesehen. Das bedeutet, dass Absprachen möglich sind. Natürlich sind politische Häftlinge etwas anderes als Kriegsgefangene, aber es zeigt doch, dass Lukaschenkos Regime gesprächsbereit ist.  

    Zudem tauchen in den Medien jetzt die Namen von Belarussen auf, die auf Seiten Russlands gekämpft haben und mittlerweile in ukrainischer Kriegsgefangenschaft sitzen. Manche von denen haben sich sogar schon an Lukaschenko gewandt. Und wir können nun den Austausch dieser Leute gegen jene anbieten, die die Ukraine verteidigt haben. Seit Wassilis Entführung im November haben wir verschiedene Strategien verfolgt. Wir hoffen, dass sich in der Ukraine Leute finden, die uns zuhören und gesprächsbereit sind.“  

    Wassil Werameitschyk mit seiner Familie. / Foto © privat
    Wassil Werameitschyk mit seiner Familie. / Foto © privat

    Werameitschyk hatte auch in der Armee von Belarus gedient 

    Wir sprachen mit Wassil Werameitschyks ehemaligem Kameraden, den er gleich in den ersten Kriegstagen kennenlernte. Wassili kam damals ins Quartier nach Kyjiw, wo die freiwilligen Kämpfer zwischen ihren Einsätzen untergebracht waren. Werameitschyk hatte früher einmal als Vertragssoldat in den belarussischen Streitkräften gedient, aber vor fast zehn Jahren gekündigt und dann in die IT-Branche gewechselt. Als ehemaliger Offizier konnte Werameitschyk professionell agieren. Er war gut im Organisieren von Abläufen und kannte viele nützliche Tipps – im Unterschied zu vielen anderen, die im Februar 2022 erstmals eine Armee von innen sahen. 

    „Ein tougher, selbstsicherer Mann mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn. Absolut verlässlich, ich hatte nie Zweifel an ihm. Er setzte sich für Disziplin ein, damit keine Machnowschtschina entsteht, sondern eine ordentliche Militärstruktur“, erzählt sein Kamerad. Ein anderer Kamerad von Werameitschyk, Bobr (dt. Biber) genannt, ließ sich von Wassilis Ausdauer inspirieren und erzählt folgende Erinnerung: 

    „Ein Bild ist mir geblieben: Wir saßen im Schützengraben in einem Dorf namens Losowa, es wurde geschossen. Wassili ging mal hierhin, mal dahin, kümmerte sich um die anderen, und wenn Geschosse flogen, zog er nur so ein bisschen den Kopf ein. Und dann war da noch ein ukrainischer Offizier, der gar nicht mehr reagierte. Ich war damals begeistert von ihrer Tapferkeit.“    

    „Leider betrachten viele Ukrainer heute Belarus als Aggressor-Land“ 

    In der Ukraine weiß man, welche Rolle Freiwillige aus Belarus spielen, aber Werameitschyks Fall ist dadurch komplizierter, dass ihm die Rückkehr in die Ukraine verboten wurde. Um der ukrainischen Gesellschaft derart seltsame Umstände zu erklären, brauche es viele Worte und viel Zeit, sagt Jauhenija Werameitschyk.  

    Nach Wassils Auslieferung an Belarus kursierte im Internet das Gerücht, sein Einreiseverbot in der Ukraine gehe von jener Militäreinheit aus, in der er gedient hat. Doch der Kommandeur des Kalinouski-Regiments, Pawel Schurmei, dementiert diese Gerüchte. Werameitschyk hatte, nachdem er die Ukraine verlassen hatte, versucht, in Litauen Fuß zu fassen, doch dort hielt man ihn für eine „Bedrohung der nationalen Sicherheit“. Vielleicht wegen seiner Vergangenheit als Vertragssoldat der belarussischen Armee, die er bei seinem Antrag auf einen temporären Aufenthaltstitel nicht verheimlicht hatte.  

    Wassil Werameitschyk bei seiner Ankunft am Flughafen Minsk, nachdem er in Vietnam belarussischen Behörden übergeben worden war. / Screenshot Video ONT 

    Wegen seiner Probleme mit dem Aufenthaltsrecht in der Ukraine und Litauen reiste Werameitschyk nach Vietnam, wo er schließlich festgenommen und an Minsk ausgeliefert wurde. Seine Frau sagt dazu: „Wassili wurde entführt.“ Bis zum heutigen Tag wisse keiner, wie die Ukraine einen, der sie verteidigt hat, als unerwünscht betrachten könne. „Die Ukrainer verstehen nicht, wieso sie diese Person austauschen sollten, wo sich doch Tausende ihrer Landsleute in Kriegsgefangenschaft befinden. Wir dachten, die Kommandeure seines Regiments könnten bei der Klärung der Situation behilflich sein, wir konnten aber keinen von ihnen erreichen. Daher würden wir uns mit der Bitte um Wassilis Austausch gern an belarussische und ukrainische Menschenrechtsaktivisten und an die Führung der ukrainischen Streitkräfte wenden.“ 

    Das sei wichtig, weil die Ukraine mit diesem Schritt für die gesamte belarussische Freiwilligenbewegung ein Zeichen des Respekts setzen würde.  

    „Das wäre nicht nur für die Belarussen eine wichtige Botschaft, sondern für die ganze ukrainische Gesellschaft. Leider betrachten viele Ukrainer heute Belarus als Aggressor-Land. Doch an den Freiwilligen sieht man, dass unsere Völker einander nicht fremd sind und die Ukrainer auch in so einer schwierigen Lage auf die Unterstützung der Belarussen zählen können“, sagt Jauhenija Werameitschyk. 

    Wir sehen, dass er sich nicht unterkriegen lässt 

    Wassils Briefe an seine Frau müssen durch die Zensur – dann ist etliches darin geschwärzt, aber sie kommen immerhin an. „Wir schreiben nicht oft, doch wir schreiben uns. Wir haben natürlich keine Möglichkeit, politische Themen zu besprechen, aber an diesen Briefen sehen wir, dass er sich nicht unterkriegen lässt“, erzählt Jewgenija. 

    Wassils Angehörige hoffen, dass er durchhält, bis die Ukraine sich endlich genauso für ihn einsetzt wie er sich für sie.   

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    Odessa 2014: Die Proteste, das Feuer und die Schuldfrage

    Der Brand im Gewerkschaftshaus von Odessa im Mai 2014 war ein Schlüsselereignis: Auf die Euromaidan-Revolution war Russlands Annexion der Krym und die pro-russische Besetzung von Verwaltungsgebäuden im Donbas gefolgt. Dann stand die Frage im Raum, ob weitere Orte im Osten oder Süden der Ukraine folgen würden. In diesem Moment kam es in Odessa zu Auseinandersetzungen zwischen gewaltbereiten Gruppen: Die einen unterstützten den Euromaidan, die anderen formierten den pro-russischen, sogenannten Antimaidan.  

    Bei Straßenschlachten und einem Brand im Gewerkschaftshaus am 2. Mai 2014 starben insgesamt 48 Menschen. Viele der Opfer waren Vertreter des Antimaidan. Die russische Propaganda nutzte die Tragödie sogleich, um den angeblich faschistischen Charakter der Kyjiwer Regierung zu untermauern. 

    Fast elf Jahre nach dem Brand hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) am 13. März 2025 sein Urteil zu den Ereignissen gesprochen. Es unterstützt weder die russische Version, noch entlässt es den ukrainischen Staat aus seiner Verantwortung.

    Der EGMR befand, dass die ukrainischen Behörden – damals noch die Regierung des bereits nach Russland geflohenen Präsidenten Viktor Janukowytsch – unzureichende Anstrengungen unternommen haben, um während der Ereignisse am 2. Mai 2014 in Odessa für Recht und Ordnung zu sorgen und eine Eskalation zu verhindern. Sie verzögerten die Brandbekämpfung und die Rettung von Menschen aus dem Gewerkschaftshaus und versäumten es im Nachhinein, die Verantwortlichen auf verschiedenen Ebenen zu ermitteln.

    Gleichzeitig betonte das Gericht, dass es auch die Interventionen Russlands berücksichtig habe, die die Zusammenstöße zwischen den Protestlagern provozierten und anschließend versuchten, die Tragödie von Odessa als Rechtfertigung für den jahrelangen Krieg im Osten der Ukraine sowie später auch für die vollumfängliche Invasion in die Ukraine zu missbrauchen. Die Urteilsbegründung erwähnte auch jene damals verantwortlichen lokalen Amtsträger, die heute in Russland leben und dort Karriere machen: zum Beispiel den damaligen Leiter des regionalen Katastrophenschutzes, der mittlerweile Vize-Chef der Okkupationsverwaltung im von Russland besetzten Teil der Region Cherson ist.

    Einen Tag nach der Veröffentlichung des EGMR-Urteils, am 14. März 2025, ist der damalige Euromaidan-Aktivist, später auch Mitglied des rechtsextremen Prawy Sektor, Demjan Hanul, im Zentrum von Odessa auf offener Straße erschossen worden. Hanul war früher schon angegriffen worden, laut seiner Ehefrau soll er in den Wochen vor seinem Tod erneut „pro-russische Verfolger“ erwähnt haben. Mutmaßlicher Täter ist ein ukrainischer Soldat, der sich unerlaubt seit längerer Zeit von seiner Einheit entfernt hat. Das Verfahren läuft noch, nach ersten Berichten soll er im nicht öffentlichen Prozess seine Schuld eingestanden haben. 

    Das ukrainische Onlinemedium Graty, das sich seit Jahren auf Gerichtsberichterstattung spezialisiert, hat das EGMR-Gerichtsurteil und seine Begründung untersucht und durch eine detaillierte Chronik der eskalierten Proteste eingeordnet. Es berichtet auch über den Prozess zur Ermordung von Hanul.

    Am 2. Mai 2014 starben bei eskalierten Protestaktionen vor und im Gewerkschaftshaus im südukrainischen Odessa 48 Menschen. / Foto © Denis Petrov/ SNA/ Imago

    Am 13. März verkündete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sein Urteil in der Rechtssache Wjatscheslawowa und andere gegen die Ukraine. Der Gerichtshof fasste sieben verschiedene Klagen von insgesamt 28 Personen zusammen, die 2016 und 2017 im Zusammenhang mit den Ereignissen des 2. Mai 2014 in Odessa eingereicht wurden. Sie alle betrafen die gewaltsamen Zusammenstöße auf dem Hrezka-Platz und dem Kulykowe-Feld sowie den Brand im Gewerkschaftshaus.

    Das Gericht verurteilte die Ukraine zu Entschädigungszahlungen zwischen je 12.000 bis 17.000 Euro an die Kläger.

    Bei der Feststellung des Sachverhalts im Zusammenhang mit der Tragödie von Odessa stützte sich der EGMR nicht nur auf die offiziellen ukrainischen Ermittlungen und Gerichtsentscheidungen, sondern insbesondere auch auf die Berichte der UN-Beobachtungsmission, des Büros des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, des ukrainischen Ombudsmanns sowie eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, als auch auf die Ergebnisse der unabhängigen Recherchen durch die Nichtregierungsorganisation Gruppe des 2. Mai und auf Zeugenaussagen der Geschädigten. Von diesen waren drei direkt an den Ereignissen in Odessa beteiligt, die übrigen waren Hinterbliebene, deren Angehörige an jenem Tag unter verschiedenen Umständen ums Leben kamen.

    Die Kläger zogen es vor, die politischen Ansichten ihrer Angehörigen nicht zu erwähnen

    „Unter den Hinterbliebenen der Opfer, die an diesem Tag starben, befanden sich sowohl Anhänger als auch Gegner des Maidan sowie unbeteiligte Dritte. Die Kläger zogen es oft vor, die politischen Ansichten ihrer Angehörigen nicht zu erwähnen“, schreibt das Gericht in seinem Urteil.

    Der EGMR wies in seinem Urteil außerdem auf die Hintergründe und den Kontext der Ereignisse hin: Nach dem Euromaidan und der Flucht von Präsident Viktor Janukowytsch aus der Ukraine im Februar 2014 kam es zu pro-russischen Protesten im Osten und Süden des Landes, oft unter Anwendung von Gewalt. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Annexion der Krym und der Einsatz des Militärs durch Russland sowie die Schaffung der selbsternannten Volksrepubliken „DNR“ und „LNR“ in den ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk und der Beginn der Kampfhandlungen zu nennen.

     

    Chronologie der Konfrontationen

    Anfang 2014 bildeten Protestierende in Odessa sogenannte Selbstverteidigungseinheiten: sowohl auf Seiten des Euromaidan als auch des Antimaidan. Letzterer war pro-russisch eingestellt und errichtete im März 2014 eine Zeltstadt auf dem Kulykowe-Feld (vor dem Gewerkschaftshaus – dek). Auf einem großen Bildschirm wurden Nachrichtensendungen des russischen Staatsfernsehens gezeigt und aus Lautsprechern ertönten Lieder über den Großen Vaterländischen Krieg, die zum Kampf gegen den Faschismus aufriefen.

    „Wie aus den Videoaufnahmen des Zeltlagers auf dem Kulykowo-Feld und verschiedenen von den Aktivisten organisierten Veranstaltungen hervorgeht, zeigten die Anhänger der Bewegung häufig Flaggen der Russischen Föderation und der ehemaligen Sowjetunion, skandierten oder zeigten Parolen, in denen sie die neue (Kyjiwer – dek) Regierung als ‚faschistische Junta‘ darstellten und ein Referendum und die Föderalisierung der Ukraine in halbautonome Regionen forderten. Einige Menschen zeigten Plakate, auf denen sie ihre Hoffnung auf eine Wiederholung des Krym-Szenarios in Odessa zum Ausdruck brachten und die Russische Föderation dazu aufforderten, auch ihre Stadt aufzunehmen“, so der EGMR in seinem Urteil.

    Am 2. März fand in Odessa eine Kundgebung zur Unterstützung der Einheit der Ukraine und gegen die Präsenz russischer Truppen auf der Krym statt, an der 7000 bis 10.000 Menschen teilnahmen. Am nächsten Tag versuchten pro-russische Demonstranten das Regionalparlament von Odessa in einer Dringlichkeitssitzung zu stürmen. Dem Gericht zufolge konnten gewalttätige Zusammenstöße mit proukrainischen Aktivisten vermieden werden, da Ordnungskräfte beide Lager voneinander trennten. Im März und April folgten wöchentlich friedliche Kundgebungen beider Gruppen.

    Im April richtete die Regionaldirektion des ukrainischen Innenministeriums in Odessa einen Operationsstab ein, um die Situation in der Stadt zu kontrollieren.

    Geheimdienst meldet Regionalbehörden Ende April erhöhtes Gefahrenpotenzial für den 2. Mai

    Ende April kündigten Fußballfans von Tschornomorez Odessa und Metalist Charkiw für den 2. Mai vor dem Spiel ihrer Mannschaften eine Demonstration „Für die Einheit der Ukraine“ an. Dies löste heftige Reaktionen bei Antimaidan-Anhängern aus, die in sozialen Medien zum Protest gegen den „Naziaufmarsch“ aufriefen.

    Den vom EGMR zitierten Informationen zufolge meldete der SBU dem Leiter der Regionaldirektion des Innenministeriums, Petro Luziuk, am 30. April ein erhöhtes Risiko von Zusammenstößen und Ausschreitungen am 2. Mai. Am selben Tag informierte die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der Hauptdirektion des Innenministeriums den Operationsstab über Pläne „subversiver Gruppen“, die Lage in der Region Odessa während der bevorstehenden Maifeiertage destabilisieren zu wollen. Etwa zur gleichen Zeit berichtete die Abteilung zur Bekämpfung von Cyberkriminalität des Innenministeriums über Posts in Sozialen Netzwerken durch Antimaidan-Anhänger, in denen die Möglichkeit von gewaltsamen Ausschreitungen in Odessa am 2. Mai 2014 erwähnt wurde.

    Luziuk und sein Stellvertreter Dmytro Futschedshi ordneten daraufhin an, Pläne zur Gewährleistung von Recht und Ordnung an jenem Tag in der Stadt zu erstellen. Laut Gericht enthielten diese jedoch nur Routinemaßnahmen bei Fußballspielen und berücksichtigten nicht die Warnungen des Geheimdienstes und anderer Strafverfolgungsbehörden.

    Am Morgen des 2. Mai waren etwa hundert Polizisten im Stadtzentrum von Odessa und mehr als zweihundert weitere rund um das Stadion im Einsatz.

    Karte der Proteste am 2. Mai 2014 in Odessa / © OpenStreetMap/uMap/dekoder
    Karte der Proteste am 2. Mai 2014 in Odessa / © OpenStreetMap/uMap/dekoder

     

    13:30 Uhr: Antimaidan-Anhänger versammeln sich auf der Olexandriwsky-Allee (mittlerweile Allee der Ukrainischen Helden – dek), etwa 450 Meter vom Treffpunkt der proukrainischen Aktivisten (am Soborna-Platz – dek) entfernt. Sie haben Schilde und Äxte sowie Holz- und Metallstöcke bei sich, einige tragen Schusswaffen. Sie erklären, dass sie einen Überfall auf ihr Zeltlager auf dem Kulykowe-Feld Platz verhindern wollen.

    Die Polizei verlegt rund 150 Beamte vom Stadion ins Stadtzentrum, verfügt Berichten zufolge aber über keinerlei Mittel, um sich im Falle einer Eskalation selbst schützen oder einschreiten zu können.

    15 Uhr: Antimaidan-Anhänger stürmen das Büro des Vereins Rat für öffentliche Sicherheit, weil sie hier und in einem davor geparkten Wagen angeblich Waffen vermuten, was sich jedoch nicht bestätigt. Einige proukrainische Aktivisten versperren den Zugang zum Gebäude. Als eine Polizeieinheit vor Ort eintrifft, umstellt sie das Gebäude, ergreift aber keine Maßnahmen.

     

    Ein Video der Gruppe des 2. Mai zeigt, wie Polizeibeamte das Gebäude umstellen, in dem sich auch der Verein Rat für öffentliche Sicherheit befand. / Video © Youtube/Gruppa 2 maja

    Gegen 15:15 Uhr: Antimaidan-Anhänger setzen sich in Richtung des Marsches „Für die Einheit der Ukraine“ in Bewegung und werden dabei von dreißig Beamten der Streifenpolizei und zehn weiteren Polizisten begleitet. An der Spitze dieser Kolonne gehen neben den Anführern des Antimaidan auch der stellvertretende Leiter der Regionaldirektion des Innenministeriums, Dmytro Futschedshi, sowie der Gruppenführer der Einsatzhundertschaft, Wadym Knyschow.

    15:30 Uhr: Zu den ersten Zusammenstößen kommt es in der Nähe des Hrezka-Platzes. Nach vorliegenden Informationen greifen die Antimaidan-Anhänger die proukrainische Demonstration auf dem Weg vom Soborna-Platz zum Tschornomorez-Stadion an. Es werden Schüsse abgegeben und beide Seiten bewerfen sich mit Steinen, Pyrotechnik und Molotow-Cocktails.

    Gegen 15:50 Uhr: Der Polizei gelingt es, die beiden Gruppen voneinander zu trennen, wobei sie den Antimaidan-Anhängern den Rücken zukehrt. Die Gruppe des 2. Mai bestätigt später mit Verweis auf Videoaufnahmen, dass einige Polizeibeamte und pro-russische Demonstranten rotes Klebeband am Arm und damit gleiche Erkennungszeichen trugen.

    16:10 Uhr: Ihor Iwanow wird das erste Todesopfer der Proteste sein. Der Teilnehmer der proukrainischen Demonstration wird mit einer Schussverletzung im Bauch ins Krankenhaus eingeliefert und verstirbt dort während der Operation.

     

    Ein Video der Gruppe des 2. Mai zeigt, wie Protestierende einen Verletzten, laut Beschreibung Ihor Iwanow, aus der Kampfzone heraustragen. / Video © Youtube/Gruppa 2 maja

    Der EGMR wertete Videoaufnahmen aus, auf denen zu sehen ist, wie mit Sturmhauben maskierte pro-russische Aktivisten hinter dem Rücken der untätigen Sicherheitskräfte, auf ihre Gegner schossen. In seiner Urteilsbegründung schreibt der EGMR:

    „Laut dem Gutachten eines Sachverständigen für Ballistik der Gruppe des 2. Mai schoss der pro-russische Aktivist, der von der NGO als Herr Budko identifiziert wurde, mit scharfer Munition aus einem Sturmgewehr vom Typ Kalaschnikow (AKS-74U). Der Experte vertritt die Auffassung, dass die tödlichen Verletzungen von Herrn Iwanow durch denselben Waffentyp verursacht wurden.

    Wenige Sekunden später wurde einem schwer verletzten Polizeibeamten der Zugang zum Krankenwagen verweigert

    Der Sachverständige verwies auch auf im Internet kursierende Videoaufnahmen, denen zufolge Patronenhülsen dieses Modells am Ort der Zusammenstöße gefunden wurden. Die Regierung gab in ihrer Zusammenfassung des Sachverhalts außerdem an, dass ‚Herr B.‘ mehrere Schüsse in Richtung der Maidan-Unterstützer aus einer Waffe abgefeuert hatte, bei der es sich offenbar um ein AKS-74U-Sturmgewehr handelte.

    Auf einem anderen veröffentlichten Video ist zu sehen, wie Herr Futschedshi, der eine leichte Verletzung am Arm erlitten hatte, in einen Krankenwagen stieg, in dem Herr Budko saß, der offenbar unverletzt war. Wenige Sekunden später wurde einem schwer verletzten Polizeibeamten, der von zwei weiteren Beamten gestützt wurde, offenbar der Zugang zu diesem Krankenwagen verweigert, der daraufhin wegfuhr.“

    Den Berichten zufolge durchbrechen Antimaidan-Anhänger zehn Minuten später die Polizeikette. Etwa zu diesem Zeitpunkt wird Andrii Birjukow, ein weiterer Aktivist des Euromaidan, tödlich verwundet.

    Gegen 17:30 Uhr: Pro-ukrainische Demonstranten übernehmen ein Feuerwehrauto, dass sie unter falschem Vorwand ins Stadtzentrum gerufen hatten, um damit die Barrikaden der Antimaidan-Anhänger zu durchbrechen.

    Zur selben Zeit werden Schüsse aus einem Jagdgewehr in Richtung der pro-russischen Demonstranten und der Polizeikette abgegeben. Insgesamt sind zu diesem Zeitpunkt bereits sechs Personen aus beiden Lagern getötet und 47 Personen festgenommen worden.

    Schlussendlich gewinnen die wütenden pro-ukrainischen Demonstranten allmählich die Oberhand und ziehen zum Zeltlager der Antimaidan-Anhänger auf dem Kulykowe-Feld. Einige der dort Protestierenden beschließen, sich im nahen Gewerkschaftshaus zu verbarrikadieren.

     

    Eskalation am Gewerkschaftshaus

    Gegen 19:20 Uhr: Pro-ukrainische Aktivisten erreichen das Kulykowe-Feld und beginnen, die Zelte niederzureißen und anzuzünden. Währenddessen werden sie von Antimaidan-Anhängern vom Dach des Gewerkschaftshauses mit Molotow-Cocktails beworfen. Nach Angaben der Gruppe des 2. Mai wird außerdem vom Dach und aus den Fenstern des Gebäudes auf pro-ukrainische Aktivisten geschossen.

    19:30 Uhr: Dem ukrainischen Katastrophenschutz DSNS wird ein Brand gemeldet. Laut dem Mitarbeiter der Leitstelle bestehe jedoch keine unmittelbare Gefahr. Der Leiter der DSNS-Regionaldirektion, Wolodymyr Bodelan, ist vor Ort und weist seine Mitarbeiter an, nicht ohne seine Anweisung zu reagieren.

    Bodelan erklärt später bei einer internen Untersuchung, dass er diese Entscheidung „vor dem Hintergrund der Entwendung eines Löschfahrzeugs einige Stunden zuvor und zur Verhinderung eines ähnlichen Szenarios sowie zur Gefahrenvermeidung für das Leben der Feuerwehrleute“ getroffen habe.

    19:45 Uhr: Im Gewerkschaftshaus breitet sich das Feuer aus. Zehn Minuten später springen eingeschlossene Antimaidan-Anhänger verzweifelt aus den Fenstern der oberen Stockwerke, unter ihnen auch Angehörige der Kläger. Das Gericht stellte fest, dass es sowohl Fälle von Angriffen pro-ukrainischer Aktivisten auf die sich rettenden Antimaidan-Anhänger gab, als auch solche, in denen geholfen wurde.

     

    Ein Video der Gruppe des 2. Mai zeigt, wie jemand aus der Gruppe der pro-ukrainischen Protestierenden draußen den in den Flammen im Gewerkschaftshaus Eingeschlossenen ein weißes Seil zuwirft, mit dem sie sich versuchen hinauszuretten. Andere schlagen die sich rettenden Personen. Wieder andere schießen vom Dach. / Video © Youtube/Gruppa 2 maja

    20:09 Uhr: Auf Anweisung von Bodelan treffen die ersten Feuerwehrleute ein.

    20:50 Uhr: Der DSNS meldet, dass das Feuer gelöscht sei. Später stellt sich heraus, dass insgesamt 42 Menschen im Gebäude ums Leben gekommen sind. Viele Menschen erlitten außerdem Verbrennungen und Verletzungen, als sie sich durch Sprünge aus den Fenstern retteten.

    Die Polizei hat 63 Antimaidan-Anhänger festgenommen, die sich im Gebäude oder auf dem Dach befanden.

    Am nächsten Tag stürmen pro-russische Anhänger das Polizeirevier, in dem die Verhafteten festgehalten wurden. Auf mündliche Anordnung von Futschedshi wurden diese schließlich ohne Status als Verfahrensbeteiligte freigelassen. 

     

    Ukrainische Ermittlungen und Gerichtsverfahren

    Der EGMR stellte fest, dass die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden auf die Ereignisse in Odessa mit der Einleitung zahlreicher miteinander verbundener Strafverfahren reagierten, die sich in drei Gruppen unterteilen lassen:

    • Verfahren wegen Handlungen von Privatpersonen
    • Verfahren bezüglich des Handelns von Strafverfolgungsbeamten und
    • Verfahren zum Handeln des DSNS

    Laut Beobachtungen der Gruppe des 2. Mai wurde der betreffende Bereich des Kulykowe-Felds nicht zur Beweissicherung gesperrt. Stattdessen wurden in der Nacht zum 3. Mai Arbeiter der kommunalen Straßenreinigung geschickt, um den Bereich aufzuräumen. Die erste Inspektion des Platzes fand erst am 15. Mai statt.

    Forensische Experten begannen ihre Arbeit im Gewerkschaftshaus zwar noch in der Nacht des 2. Mai, wurden jedoch mehrmals durch Antimaidan-Anhänger gestört, die sich noch im Gebäude aufhielten. Vom 4. bis 20. Mai blieb das Gebäude für die Öffentlichkeit frei zugänglich.

    Die Kugel aus dem Körper des verstorbenen Ihor Iwanow wurde nicht aufbewahrt

    Kugeln und Splitter, die aus den Körpern der Opfer geborgen wurden, konnten durch die Experten nicht eindeutig identifiziert und keiner Waffe zugeordnet werden. Außerdem stellte sich heraus, dass die Kugel, welche die Chirurgen aus dem Körper des verwundeten und später verstorbenen Ihor Iwanow entfernt hatten, nicht aufbewahrt worden war und deshalb nicht im Rahmen der Ermittlungen untersucht werden konnte.

    Experten stellten fest, dass die Menschen im Treppenhaus und in den unteren Stockwerken des Gewerkschaftshauses an Verbrennungen und Vergiftung durch Kohlenmonoxid und andere durch den Brand erzeugte, nicht identifizierte Gase und toxische Substanzen starben. Ein absichtlicher Einsatz von giftigen Stoffen wurde sowohl durch die offiziellen als auch durch die unabhängigen Untersuchungen ausgeschlossen.

    Am 18. Mai 2014 verhaftete die Polizei Serhii Chodijak, der an der Demonstration „Für die Einheit der Ukraine“ teilgenommen hatte. Er wurde des Mordes an einem Antimaidan-Aktivisten und des versuchten Mordes an einem Polizeibeamten angeklagt. Mehr als zehn Jahre später ist dieses Gerichtsverfahren gegen Chodijak immer noch am Malyniwsky-Bezirksgericht in Odessa anhängig.

    Am 26. Mai 2014 wurde Mykola Wolkow, ein Anhänger des Euromaidan in Odessa, unter dem Verdacht festgenommen, mit einer Waffe in Richtung Gewerkschaftshaus gefeuert zu haben. Im Februar 2015 war das Verfahren gegen Wolkow eingestellt worden, weil dieser verstorben sei. Das EGMR-Urteil hält jedoch fest, dass das Verfahren nach Einspruch eines der Opfer wieder aufgenommen wurde, da angeblich keine Todesnachweise vorlagen. Die weiteren Entwicklungen und der Stand der Ermittlungen sind dem EGMR nicht bekannt.

    Der Euromaidan-Aktivist Wsewolod Hontscharewsky wurde beschuldigt, Antimaidan-Anhänger, die aus den Fenstern des Gewerkschaftshauses sprangen, mit einem Holzknüppel geschlagen zu haben. Im Februar 2015 wurde das Verfahren gegen ihn zunächst eingestellt, im Juli desselben Jahres nach Einspruch der Geschädigten wieder aufgenommen. Sie forderten die Ermittler auf, Videoaufnahmen im Verfahren zu beachten, die angeblich Hontscharewskys Beteiligung an den Taten beweisen. Nach Angaben des EGMR wurden die Videos jedoch nicht untersucht.

    Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft reichte des weiteren Anklage gegen 19 Antimaidan-Anhänger wegen der Teilnahme an den gewaltsamen Ausschreitungen mit Körperverletzung und Todesfolge ein. Am 18. September 2017 sprach das Stadtgericht in Illitschiwsk (heute Tschornomorsk – dek) schließlich alle 19 Angeklagten frei und begründete dies mit verschiedenen Verfahrensfehlern während der Ermittlungen sowie unzureichenden Beweisen, um eine Schuld festzustellen.

    Das Gericht kritisiert, dass die vorgerichtlichen Ermittlungen so unvollständig und mangelhaft waren, dass alternative Informationsquellen herangezogen werden mussten

    Insbesondere merkte das Illitschiwsk-Gericht damals an, dass viele der Untersuchungen von Ermittlern durchgeführt wurden, die nicht zur ernannten Ermittlungskommission gehörten. Die von ihnen gesammelten Beweise und erstellten Protokolle wurden für unzulässig erklärt. Darüber hinaus bemängelte man, dass die erste Inspektion vor Ort mit einer unerklärlichen Verzögerung von fast zwei Wochen stattgefunden hatte, sodass in dieser Zeit alle Beweismittel verloren gingen.

    Es wurde auch festgestellt, dass dem Gericht trotz zahlreicher Anordnungen keine Foto- oder Videobeweise vorgelegt wurden. Laut dem Gericht hatte die Staatsanwaltschaft nur einen Polizisten und keine der an den Ereignissen vom 2. Mai 2014 beteiligten Fußballfans befragt. In den Akten sei auch keine ballistische Expertise über Kugeln und Splitter aus den Körpern der Opfer enthalten gewesen. Insgesamt kritisierte das Gericht die vorgerichtlichen Ermittlungen als so unvollständig und mangelhaft, dass alternative Informationsquellen herangezogen werden mussten.

    Aktuell verhandelt das Berufungsgericht im Gebiet Mykolajiw über den Fall.

    Dem EGMR liegen Daten vor, wonach der oben erwähnte pro-russische Aktivist Witalii Budko seit dem 4. Juli 2016 als Verdächtiger im Mordfall Ihor Iwanow geführt wird. Da jedoch keine Zwangsmaßnahmen gegen ihn verhängt wurden, tauchte Budko unter. Laut Gericht ist er weiter zur Fahndung ausgeschrieben.

     

    Doku der unabhängigen Recherchegruppe Gruppe des 2. Mai mit deutscher Synchronisation / Video © Youtube/Gruppa 2 maja

    Der einzige Verurteilte versteckt sich in Russland

    Die Ermittlungen zum Vorgehen der Polizei in Odessa wurden zunächst von der Staatsanwaltschaft und seit 2020 vom Staatlichen Ermittlungsbüro geführt.

    Einen Tag nach der Tragödie, am 3. Mai 2014, wurde der Leiter der Regionaldirektion des Innenministeriums, Petro Luziuk, suspendiert und seinem Stellvertreter, Dmytro Futschedshi, die Leitung übertragen. Doch bereits am 6. Mai floh Futschedshi aus der Ukraine in die Republik Moldau und von dort weiter nach Russland. Am 13. Mai erschien ein Dokument, das ihn der Dienstpflichtverletzung in Verbindung mit den gewaltsamen Ausschreitungen und des Machtmissbrauchs verdächtigte, weil er am 4. Mai die Freilassung der inhaftierten Antimaidan-Anhänger angeordnet hatte.

    Am 15. Mai wurde Futschedshi zur Fahndung ausgeschrieben. 2017 beantragte die ukrainische Staatsanwaltschaft die Auslieferung von Futschedshi bei der Russischen Föderation, wo sich dieser vor der Justiz versteckt hielt. Laut der Antwort der russischen Generalstaatsanwaltschaft sei Herr Futschedshi russischer Staatsbürger und deshalb keine Auslieferung möglich. Die Ukraine beschloss, den Flüchtigen in Abwesenheit zu verurteilen.

    Am 18. April 2023 befand das Prymorsky-Bezirksgericht in Odessa Futschedshi der Mittäterschaft bei der Organisation von schweren Massenunruhen, des Amts- und Machtmissbrauchs in besonders schwerem Fall, der Beihilfe zur Besetzung staatlicher Gebäude und der Behinderung von Strafverfolgungsbeamten bei der Ausübung ihrer Dienstpflichten für schuldig. Er wurde zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe und einem dreijährigen Berufsverbot in den Strafverfolgungsbehörden, einer Geldstrafe sowie der Aberkennung seines Ranges als Obert verurteilt.

    In der Zwischenzeit war Petro Luziuk bereits wegen Verletzung seiner Dienstpflichten am 30. April 2014 angezeigt worden. Später kam der Vorwurf der Urkundenfälschung hinzu, nachdem am 17. Juni 2015 eine interne Untersuchung festgestellt hatte, dass nach seiner Anweisung der offizielle Bericht über die Umsetzung des Einsatzplans gefälscht worden war. 

    Die ukrainischen Behörden teilten dem EGMR mit, dass das Prymorsky-Bezirskgericht in Odessa das Verfahren gegen Petro Luziuk am 14. Juni 2024 nach Ablauf der Verjährungsfrist eingestellt habe.

    Des weiteren läuft seit 2018 ein Verfahren gegen den damaligen Chef der städtischen Polizei von Odessa und zwei Einsatzbeamte wegen Amtsmissbrauchs sowie seit 2021 zwei weitere Verfahren gegen einen damaligen stellvertretenden Abteilungsleiter und den stellvertretenden Gruppenführer der 2. Einsatzhundertschaft der Hauptdirektion des ukrainischen Innenministeriums in der Stadt Odessa.

     

    Katastrophenschützer nicht zur Verantwortung gezogen

    Am 1. Mai 2016 wurden gegen den damaligen Leiter der DSNS-Regionaldirektion, Wolodymyr Bodelan, sowie seine Kollegen Jurii Schwydenko und Switlana Kojewa Ermittlungen eingeleitet, weil sie während der Ereignisse in Odessa Bürger in Gefahr gebracht hätten. Am folgenden Tag wurden diese Anschuldigungen auch auf Bodelans Stellvertreter Wiktor Hubaj ausgeweitet.

    Wie sich jedoch herausstellte, hatte Wolodymyr Bodelan zu diesem Zeitpunkt bereits die Ukraine verlassen, nach ihm wird weiter gefahndet. Das Verfahren gegen die anderen drei wurde zunächst vor dem Prymorsky- und später vor dem Kyjiwsky-Bezirksgericht in Odessa geführt. Am 1. August 2022 wurde das Verfahren ausgesetzt, weil sich die Anwälte der Angeklagten der Armee anschlossen.

    Am 11. April 2016 wurde gegen Ruslan Welyky, den stellvertretenden Leiter der DSNS- Regionaldirektion Odessa, ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und am Prymorsky-Bezirksgericht in Odessa geführt. Am 20. Juni 2022 wurde das Verfahren wegen der Einberufung des Beschuldigten in die Armee ausgesetzt, später wurden die Verhandlung wieder aufgenommen. Am 27. Juni 2023 forderte das Prymorsky-Bezirksgericht die Staatsanwaltschaft sowie den Angeklagten auf, bis zum 29. Dezember 2023 Beweise vorzulegen. Des weiteren erklärte es, dass die Verjährungsfrist in diesem Fall im Mai 2024 ablaufen würde. Dem EGMR ist nichts über den weiteren Status des Verfahrens bekannt.

     

    Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

    Der EGMR stellte die Verletzung von Artikel 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch die Ukraine fest: das Recht auf Leben. Der beklagte Staat (die Ukraine – dek) hat nicht alles Vertretbare und in seiner Macht Stehende getan, um die Gewalt in Odessa am 2. Mai 2014 zu verhindern oder diese zu beenden, und nicht rechtzeitig Maßnahmen eingeleitet, um jene zu retten, die vom Brand im Gewerkschaftshaus betroffen waren.

    Dabei berücksichtigte der EGMR auch die erhebliche Beteiligung der Russischen Föderation an den Ereignissen rund um das sogenannte „Referendum“ auf der Krym, die russische Unterstützung für separatistische Vereinigungen im Osten der Ukraine und Versuche, die südlichen Regionen zu destabilisieren. In seinem Urteil verwies das Gericht explizit auf den Einsatz russischer Propaganda bei den Antimaidan-Kundgebungen in Odessa:

    „Im vorliegenden Fall beschränkt sich die Aufgabe des Gerichtshofs auf die Prüfung der internationalen Verantwortlichkeit der Ukraine, ungeachtet der Tatsache, dass einige der Verfehlungen, für welche die ukrainische Regierung nach der Konvention verantwortlich gemacht wird, ihren ehemaligen lokalen Amtsträgern zuzuschreiben sind, die in der Zwischenzeit aus der Ukraine in die Russische Föderation geflohen sind, die russische Staatsbürgerschaft angenommen haben oder wie im Fall von Herrn Bodelan (dem ehemaligen Leiter des DSNS in der Region Odessa), dort Karriere im Kontext der russischen Vollinvasion gemacht haben.“

    Wolodymyr Bodelan wurde nämlich inzwischen zum stellvertretenden Leiter der Okkupationsverwaltung im von Russland besetzten Teil der Region Cherson ernannt.

    Eine Erklärung, geschweige denn eine Rechtfertigung für diese Verzögerungen wurde nicht vorgelegt

    Der EGMR merkte ebenso Probleme bei der Untersuchung der am 2. Mai begangenen Verbrechen an, insbesondere während der Sicherstellung von Beweisen, da der Tatort sofort gereinigt und das Gewerkschaftshaus nicht für die Öffentlichkeit gesperrt wurde. Darüber hinaus wies das Gericht auf die Verzögerungen hin, die dazu führten, dass Verdächtige entkommen konnten oder sich auf andere Weise der Verantwortung für ihre Taten entzogen.

    „Trotz öffentlich zugänglicher Foto- und Videoaufnahmen, die zeigen, dass ein Antimaidan-Aktivist, der Herrn Budko ähnelt, mit einem Sturmgewehr in Richtung der Demonstranten schießt, während er direkt neben der Polizei steht, die in keiner Weise darauf reagiert, haben die nationalen Behörden mehr als zwei Jahre gebraucht, um strafrechtliche Ermittlungen gegen Herrn Budko einzuleiten, und mehr als sieben Jahre, um ein Strafverfahren gegen Herrn Iwachnenko, einen der betroffenen Polizeibeamten, zu eröffnen“, kritisierte der EGMR. „Eine Erklärung, geschweige denn eine Rechtfertigung für diese Verzögerungen wurde nicht vorgelegt. Da Herr Budko untertauchen konnte, wurden die Ermittlungen im Oktober 2016 eingestellt. Das Strafverfahren gegen Herrn Iwachnenko endete mit seiner Entbindung von der strafrechtlichen Verantwortung aufgrund des Ablaufs der zehnjährigen Verjährungsfrist.“

    Angesichts des Ausmaßes der Gewalt und der Zahl der Todesopfer, der Beteiligung von Anhängern zweier verfeindeter politischer Lager im Kontext erheblicher sozialer und politischer Spannungen sowie der Gefahr einer allgemeinen Destabilisierung der Lage waren die Behörden nach Ansicht des EGMR dazu verpflichtet, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Transparenz und eine umfassende öffentliche Kontrolle der Ermittlungen zu gewährleisten. Stattdessen konnten, ohne wirksame Kommunikation, Falschinformationen über die Ereignisse in Odessa zu einem russischen Propagandainstrument im Rahmen der russischen Vollinvasion im Februar 2022 gegen die Ukraine werden.

     

    Der einbehaltene Leichnam

    Das Gericht befasste sich auch mit der Beschwerde der Stieftochter des im Gewerkschaftshaus getöteten Mychail Wjatscheslawow, Olena, welche anderthalb Jahre auf die Herausgabe des Leichnams ihres Vaters warten musste. Am 12. Mai 2014 gab sie eine Vermisstenanzeige auf. Am 30. Mai identifizierte sie ihn schließlich als eine von zwei unbekannten Leichen.

    Am 10. Juni wurde eine Autopsie und am nächsten Tag eine DNA-Untersuchung durchgeführt, die jedoch keine Beziehung zwischen dem Verstorbenen und Wjatscheslawowa nachweisen konnte. Später stellte sich heraus, dass Mychail ihr Adoptivvater und nicht ihr leiblicher Vater gewesen war. Die Ermittler gingen weiter davon aus, dass die Identifizierung nicht abgeschlossen war.

    Im Juni 2015 kamen Wjatscheslawowa, ihre Mutter und ein weiterer Verwandter erneut und identifizierten den Verstorbenen als Mychail Wjatscheslawow. Am 30. Juni wurde der Familie die Sterbeurkunde ausgestellt, jedoch nicht die Leiche zurückgegeben. Am 31. August untersuchten Experten den Schädel des Verstorbenen und kamen ebenfalls zu dem Schluss, dass es sich um die angegebene Person handelte.

    Zwischen Juni und Oktober stellte die Tochter von Mychail Wjatscheslawow mehr als vier Anträge auf Herausgabe des Leichnams ihres Vaters, die jedoch abgelehnt wurden, bis sich der Leiter der UN-Beobachtungsmission im Dezember an die Staatsanwaltschaft wandte.

    Am 29. Dezember 2015 wurde der Familie der Leichnam von Mychail Wjatscheslawow übergeben und noch am selben Tag beigesetzt.

    Der EGMR kam zu der Bewertung, dass die Einbehaltung des Leichnams von Mychail Wjatscheslawow mindestens ab dem 31. August, als die letzte Untersuchung stattfand, bis Ende Dezember nicht rechtmäßig war.

     

    „Das Wichtigste ist die ordnungsgemäße Untersuchung aller Todesfälle“

    Es sei nun sehr wichtig, dass die Ukraine diesem EGMR-Urteil nachkommt, die angeordneten Entschädigungen zahlt und angemessene Maßnahmen ergreift, sagt Oleksandr Pawlitschenko, der Vorsitzende der ukrainischen Helsinki-Menschenrechtsgruppe, gegenüber Graty. Die Anwälte der Menschenrechtsorganisation hatten die Eingabe an den EGMR im Namen mehrerer Kläger zum Fall „Wjatscheslawowa und andere gegen die Ukraine“ vorbereitet.

    „Die Summe der Entschädigungen ist ziemlich hoch, mehr als 300 000 Euro. Die größte Herausforderung besteht jedoch bei den allgemeinen Maßnahmen, nämlich der Organisation einer ordnungsgemäßen Untersuchung aller Todesfälle. Darauf müssen wir achten,“ sagte Pawlitschenko. „Positiv ist jedoch, dass es nach 2014 anscheinend keine ähnlichen Situationen bei Ermittlungen gab. Obwohl ich sagen kann, dass wir auch Beschwerden verfahrensrechtlicher Art in Bezug auf Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention haben, welche unterlassene oder nicht ordnungsgemäße Untersuchung von Todesfällen unter der Zivilbevölkerung nach dem Beginn der russischen Vollinvasion betreffen. Dieses Problem wird in diesem Zusammenhang auch zur Sprache kommen.“

     

    Reaktion der ukrainischen Regierung

    Direkt am 13. März 2025 erklärte das ukrainische Justizministerium, das EGMR-Urteil prüfen und einen Plan für dessen Umsetzung ausarbeiten zu wollen

    „Die Tragödie von Odessa ereignete sich drei Monate nach der Revolution der Würde, als das Land in seinen Strukturen, insbesondere dem Strafverfolgungssystem, noch durch das institutionelle Erbe des Janukowytsch-Regimes geprägt war „, heißt es in der Erklärung. „Die vom EGMR festgestellten Unzulänglichkeiten im Vorgehen der Polizei und Feuerwehr deuten auf systemische Probleme hin, die sich über viele Jahre hinweg unter der Vorgängerregierung herausgebildet haben.“

    Gleichzeitig begrüßte das Justizministerium die Tatsache, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die bedeutende Rolle der russischen Desinformation und Propaganda bei der Anstiftung zu Hass und Feindseligkeiten vor den tragischen Ereignissen anerkannt habe.

    Russland war nicht an dem Verfahren beteiligt. Im Frühjahr 2022 hatte es den Europarat verlassen und verweigerte damit, Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen.

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    Zuhause: Uliana und Aliona im Garten ihres Hauses in Slatyne, Region Charkiw / Foto © Iva Sidash 

    dekoder: Im Garten ihres Hauses unweit der Front schmiegt sich die 13-jährige Uliana an ihre Mutter Aliona. Wie ist dieses Bild entstanden? 

    Iva Sidash: Ich wollte eine Geschichte über den Krieg aus der Perspektive der Zivilist:innen erzählen. Es wird viel über militärische Operationen berichtet, man sieht Panzer und Drohnen. Aber wie leben die einfachen Menschen in der unmittelbaren Nähe der Front? Über Bekannte hörte ich von Aliona, die mit ihrer Tochter in dem kleinen Ort Slatyne in der Region Charkiw lebt. Als ich sie dort zum ersten Mal besuchte, habe ich meine Kamera gar nicht ausgepackt. Ich möchte immer erst eine Beziehung zu den Menschen aufbauen, bevor ich anfange zu fotografieren.  

    Abends machten wir ein Feuer im Garten, denn aufgrund der Zerstörungen gibt es im Ort keinen Strom. Wir kochten das Abendessen über dem Feuer. Dann legten wir uns ins Gras und schauten in den Nachthimmel. Es war August und wir sahen viele Sternschnuppen. Gleichzeitig hörten wir aus der Ferne Artilleriefeuer. Im Angesicht des Todes die Schönheit des Moments genießen zu können, das ist für mich eine der Eigenschaften, die den Ukrainerinnen und Ukrainern bis jetzt geholfen hat, durchzuhalten. 

     

    Das Bild strahlt ein Gefühl von Geborgenheit aus. Kann es die im Krieg geben? 

    Gleich nach Beginn des russischen Überfalls war Aliona mit ihrer Tochter zunächst nach Polen geflohen. Aber sie hielten es dort nicht lange aus. Erst zogen sie nach Kyjiw, nach einem Jahr kehrten sie nach Slatyne zurück. Der Ort ist verwüstet, die Schule ist zerstört, die Kirche ist zerstört, die meisten Geschäfte sind geschlossen. Die Front ist nicht weit weg. Trotzdem fühle sie sich dort freier als irgendwo sonst, sagt Aliona.  

    Sie hat dafür eine schöne Metapher gefunden: „Als Flüchtling in einem fremden Land kam ich mir vor wie eine abgeschnittene Blume. Als hätte mich jemand in eine schöne Vase gestellt, aber innerlich fühlte ich mich leer und einsam. Erst hier in meiner Heimat fühle ich wieder meine Wurzeln.“  

     

    Immer wieder wird die Frage gestellt, warum die Ukrainer nicht auf einen Teil ihres Landes verzichten, damit der Krieg aufhört? 

    So etwas kann nur jemand sagen, der selbst nie seine Heimat verloren hat. Es geht ja nicht um das Territorium, es geht um die Menschen, die dort zuhause sind. Wer nicht fliehen kann, muss unter der Unterdrückung leben. Und wer flieht, ist für immer entwurzelt.  


    Iva Sidash (geb. 1995) stammt aus Lwiw im Westen der Ukraine. 2023-2024 studierte sie am International Center of Photography in New York. Ihre Bilder erschienen unter anderem im Atlantic Magazine, in der Financial Times und im Spiegel und wurden in Ausstellungen in New York, London, Paris und Berlin gezeigt. 

    Foto: Iva Sidash

     

    Fotos: Iva Sidash, aus der Serie: Seeing the Unseen, 2024 
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller 
    Interview: Julian Hans  
    Veröffentlicht am: 18.3.2025 

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  • Folter durch Hunger

    Folter durch Hunger

    In der unabhängigen Ukraine wird jedes Jahr Ende November jenen Millionen Menschen gedacht, die in den sowjetischen 1930er Jahren durch die von Moskau provozierte Hungersnot, den Holodomor, starben. Seit drei Jahren werden diese schmerzhaften historischen Erinnerungswunden wieder aufgerissen durch die Berichte vom Hungern ukrainischer Zivilisten und Soldaten in russischer Kriegsgefangenschaft. Das von Moskau befohlene Aushungern von Ukrainern erscheint als eine systematische Konstante – damals und heute.  

    Mariupol im Frühjahr 2022: Wjatscheslaw Sawalny arbeitete als Mechaniker in der südostukrainischen Großstadt. Nachdem die russische Armee am 24. Februar 2022 großflächig die Ukraine überfiel und besonders brutal die russische Besetzung der Stahl- und Hafenstadt Mariupol vorantrieb, versuchte Sawalny, seine Familie – seinen Sohn und seine Frau – in Sicherheit zu bringen. Doch an einem russischen Checkpoint im etwa 120 Kilometer nordwestlich gelegenen Polohy – in der Nachbaroblast Saporishshja, die ebenfalls teilweise in wenigen Tagen von russischen Truppen besetzt wird – nahmen ihn russische Uniformierte fest. Es folgten zehn lange Monate in Kriegsgefangenschaft an verschiedenen Orten – zusammen mit anderen Ukrainern: Zivilisten wie Soldaten. 

    2023 kommt Wjatscheslaw Sawalny durch einen Gefangenenaustausch frei. 2024 berichtet er ukrainischen Journalisten sowie einer Ukraine-Veranstaltung in Deutschland von seinen Erfahrungen in russischer Gefangenschaft.  

    Das Recherchemedium texty.org.ua hat Sawalnys Bericht dokumentiert und die Rolle des Hungers von Experten einordnen lassen. 

    Wöchentliche Demo für die Freilassung aller ukrainischen Kriegsgefangenen aus russischen Lagern am 23. Februar 2025 in Kyjiw, Foto © Peggy Lohse
    Wöchentliche Demo für die Freilassung aller ukrainischen Kriegsgefangenen aus russischen Lagern am 23. Februar 2025 in Kyjiw, Foto © Peggy Lohse

    Ukrainische Gefangene berichten nach ihrer Freilassung aus russischer Kriegsgefangenschaft immer wieder, dass der Hunger eine der schlimmsten Qualen in den russischen Folterkammern war. So auch der Mechaniker Wjatscheslaw Sawalny aus Mariupol, wenn er über seine Folter-Erfahrungen spricht und die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden dabei unterstützt, die konkreten Kriegsverbrecher zu identifizieren, die Ukrainer wie ihn in Gefangenschaft foltern und töten. 

    „Wir verloren alle sehr viel Gewicht. Sie folterten uns durch Hunger. Als sie dann etwas Brot ausgaben, ertappte ich mich dabei, wie ich es anstarrte und mir lange vorstellte, es zu essen“, berichtet Wjatscheslaw Sawalny. Vor Hunger habe er kaum schlafen können. „Alle Gespräche in unserer Zelle drehten sich nur ums Essen: Alle waren abgemagert und erschöpft. Die Leute in der Zelle stritten sich und kämpften um Lebensmittel.“  

    Wjatscheslaw Sawalny vor und nach der russischen Kriegsgefangenschaft, Foto-Collage © texty.org
    Wjatscheslaw Sawalny vor und nach der russischen Kriegsgefangenschaft, Foto-Collage © texty.org

    Wie so viele Ukrainer, die durch Russlands Krieges gegen die Ukraine in Gefängnissen der russischen Besatzer landen, hat auch Sawalny keinerlei Gründe für seine Inhaftierung erfahren. Stattdessen habe man ihn gefoltert und gleichzeitig gezwungen, leere Papiere zu unterschreiben. 

    „Sie brachten mich zum Verhör und sagten, dass sie nichts gegen mich in der Hand hätten. Sie überprüften die Social-Media Accounts meiner Tochter, aber fanden auch dort nichts“, erinnert er sich. Also zwang man ihn zweimal, im Abstand von mehreren Monaten, die Geschichte seiner Verhaftung zu erzählen und sich dabei filmen zu lassen. Um die Aussagen vergleichen und Widersprüche finden zu können, vermutet Sawalny. 

    2000 Kniebeugen im Informationsvakuum 

    Doch Rechtsfreiheit und Hunger waren längst nicht die einzigen Erniedrigungsformen: „Die Wärter erlaubten uns nicht zu sitzen. Wir mussten 18 Stunden lang stehen. Die Zelle wurde videoüberwacht. Wenn jemand versuchte, sich hinzusetzen, schlugen sie zu oder zwangen ihn, Kniebeugen zu machen: Kopf nach unten, Hände hinter den Rücken. Einmal mussten wir das zweitausendmal machen. Später haben wir tote Winkel gefunden, die für die Kamera nicht einsehbar waren und uns abwechselnd ausgeruht.“ 

    Weiter erinnert er sich an Schikanen beim Hofgang: „Wir mussten gebückt laufen, mit dem Kopf nach unten und den Händen hinter dem Rücken verschränkt, die Beine halb gebeugt. Während wir ‘spazierten’, schlug man uns mit Sand gefüllten Plastikrohren, die blaue Flecken auf unseren Körpern hinterließen. Wir schrien vor Schmerz.“ 

    Die Gefangenen lebten in einem völligen Informationsvakuum, wurden ständig gefoltert und teils täglich verhört. Bitten um medizinische Hilfe wurden ignoriert und Nahrungsrationen gestrichen. 

    Der Hauseingang von Wjatscheslaw Sawalny und seiner Familie in Mariupol, Frühjahr 2022, Foto © privat/Texty.org
    Der Hauseingang von Wjatscheslaw Sawalny und seiner Familie in Mariupol, Frühjahr 2022, Foto © privat/Texty.org

    Foltern bis zum Töten 

    „Ich war in der Hölle. Allein während meiner Gefangenschaft wurden mindestens vier Ukrainer in den Folterkammern von Donskoi in der Region Tula hingerichtet. Als ich in Kursk war, starben zwei weitere. Und das sind nur die Hinrichtungen, von denen ich weiß“, sagt Sawalny, während er sich Fotos von Mitarbeitern der russischen Gefängnisse ansieht und nach bekannten Gesichtern sucht. 

    Ich war in der Hölle

    Die Russen täten alles dafür, so Sawalny, dass die Gefangenen, falls sie je in die Ukraine zurückkehren sollten, möglichst stark traumatisiert seien und zu einer Belastung für die Gesellschaft würden: „Sie weckten uns auch nachts auf, indem sie plötzlich das helle Licht anschalteten, um unseren Schlaf zu stören, damit wir uns nicht erholen und ausruhen konnten.“ 

    Ermittler brauchen Betroffene 

    In der Ukraine arbeiten die Strafverfolgungsbehörden aktiv daran, die Leiter russischer Gefängnisse und konkrete Kriegsverbrecher zu identifizieren und Verfahren vorzubereiten. Julija Polechina, Anwältin der Menschenrechtsorganisation Sitsch, dokumentiert bereits seit 2015 Aussagen ukrainischer Soldaten und Zivilisten, die in russischer Gefangenschaft waren. Sie sagt, dass alle Befragten, wie Wjatscheslaw Sawalny, von Folter durch Hunger berichteten. Dies wird auch durch Ärzte bestätigt, die schwere und langwierige Folgen durch anhaltenden Hunger konstatieren. Die Anwältin fordert alle Betroffenen solcher Verbrechen auf, nicht zu schweigen: 

    „Wer freigelassen werden konnte, sollte über die Verbrechen an Ukrainern in den Haftanstalten in den besetzten Gebieten und in Russland aussagen. Dank dieser Informationen können die Ermittler der Nationalen Polizei Strafermittlungen durchführen und die Fälle vor Gericht bringen.“ 

    Glaube ans Überleben 

    Für Wjatscheslaw Sawalnys Freilassung hat sich besonders seine Tochter Karyna Djatschuk eingesetzt. Sie wurde Aktivistin und organisierte eine starke Bewegung zur Unterstützung von Zivilisten in russischer Gefangenschaft, gründete mit anderen Angehörigen von illegal gefangengehaltenen Ukrainern die Nichtregierungsorganisation Civilians in Captivity. Karyna Djatschuk kontaktierte alle möglichen Stellen, schrieb Briefe und Appelle an ukrainische Behörden und versuchte, russische Anwälte zu finden, die möglicherweise dabei helfen könnten, den Aufenthaltsort ihres Vaters zu ermitteln. Doch am wichtigsten war: Sie glaubte an seine Rückkehr. 

    Am 8. Januar 2023 kam es zu einem Gefangenenaustausch, bei dem 50 Ukrainer [gegen ebenso viele russische Kriegsgefangene – dek] freikamen, darunter auch Wjatscheslaw Sawalny. Zum Zeitpunkt seiner Freilassung wog er nur noch 55 Kilogramm. Später wurde er zweimal operiert, brauchte lange, um sich zu erholen und konnte trotz ausgewogener und ausreichender Ernährung kaum wieder zunehmen. 

    Seit 2014 Folter durch Hunger 

    Iryna Badanowa war von November 2015 bis Juni 2024 Expertin im ukrainischen Koordinierungsstab für die Suche und Freilassung von Kriegsgefangenen in einer Unterabteilung des Generalstabs und des Verteidigungsministeriums tätig. Sie sagt, sie habe zum ersten Mal 2014 nach der Freilassung von Soldaten der 30. Mechanisierten Brigade von der Folter durch Hunger und Durst erfahren: 

    „Die Jungs erzählten mir, dass sie zusammen mit 37 Gefangenen in einem Loch gehalten wurden und nur eine Drei-Liter-Flasche Wasser und einen Laib Brot pro Tag bekamen. Da es ein heißer August war, litten sie noch mehr unter Wassermangel als unter Hunger.“ 

    Schon damals wurden ukrainische Gefangene nicht nur von lokalen Separatistenkämpfern, sondern auch durch den russischen Föderalen Geheimdienst FSB verhört. Das heißt, das russische Foltern ukrainischer Gefangener durch Hunger wird seit über einem Jahrzehnt angewendet. 

    Wer aus der Gefangenschaft zurückkehrt, weist alle Anzeichen von Entkräftung auf

    „Jeder, der aus der Gefangenschaft zurückkehrt, weist alle Anzeichen von Entkräftung auf: blasse Haut, erheblicher Gewichtsverlust (manchmal mehr als ein Viertel des Gewichts vor der Gefangenschaft), Haar- und Zahnausfall, schwere Entzündungen des Magens, der Speiseröhre, der Leber und der Bauchspeicheldrüse, die eine langwierige Behandlung erfordern“, sagt Badanowa. Diese Folter durch Hunger und Durst beeinträchtige die ehemaligen Gefangenen auch psychisch noch lange über die Gefangenschaft hinaus:  

    „Nach ihrer Freilassung können einige ihren Hunger kaum mehr stillen, selbst wenn sie eigentlich genügend Eiweiß, Fett und Vitamine zu sich nehmen. Andere können bestimmte Lebensmittel nicht mehr ansehen, ohne dass ihnen übel und schwindlig wird. Geschweige denn essen.“ 

    Diese Störungen können als die traumatischsten bewertet werden, denn neben einer langfristigen gastrologische Behandlung ist hier auch eine sorgfältige psychologische oder psychiatrische Behandlung erforderlich. 

    Wjatscheslaw Sawalny hält einen Vortrag in Deutschland. Foto © Tetjana Wyssozka/Texty
    Wjatscheslaw Sawalny hält einen Vortrag in Deutschland. Foto © Tetjana Wyssozka/Texty
     Russlands Aushungern gestern und heute 

    2024 nahm Wjatscheslaw Sawalny an einer Veranstaltung zum Holodomor-Gedenktag in Burg bei Magdeburg teil. Der Verein Ukrainer in Burg zeigte den ukrainischen Kurzfilm Rote Halskette über das Leben eines Mädchens im Jahr 1933. Danach berichtete Sawalny dem Publikum seine Geschichte. 

    „Wjatscheslaws Geschichte aus dem Jahr 2022 und die meiner Großmutter im Jahr 1933 haben Gemeinsamkeiten“, sagt die Menschenrechtsaktivistin und Regisseurin und Autorin des Films Tetjana Wyssozka. „Die Russische Föderation lässt Ukrainerinnen und Ukrainer in Gefangenschaft heute absichtlich verhungern – genau wie zu Zeiten des Holodomor, als man Familien alle Essensvorräte wegnahm, sodass sie keine Chance zum Überleben hatten. Diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zielen darauf ab, den Menschen über seine Grundbedürfnisse zu zerstören. Und sie wiederholen sich.“ 

    Das ist Sawalnys Präsentation, die er im November 2024 in Deutschland zeigte

    Tausende von ukrainischen Zivilisten werden aktuell in russischen Gefängnissen in den besetzten Gebieten, auf der Krym und in Russland festgehalten [genaue Zahlen gibt es nicht – dek]. Ihre Angehörigen haben kaum Kontakt zu ihnen, da Russland seine Verbrechen verschleiert, keine Informationen bestätigt und internationalen Organisationen den Besuch von Haftanstalten verwehrt.  

    Leider bestehen aktuell keine regelmäßigen Mechanismen, um Zivilisten aus russischer Gefangenschaft zu befreien.  

    Viele Ukrainer sind durch die Foltergeschichten der Heimkehrer aus russischer Gefangenschaft kaum noch zu beeindrucken. Aber Menschen außerhalb der Ukraine wissen oft nichts darüber, wie die Russen ukrainische Zivilisten entführen und jahrelang ohne jeden Grund gefangen halten. Und das, obwohl die Inhaftierung von Zivilisten in internationalen bewaffneten Konflikten nach dem Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten verboten ist. 

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  • Schlaglichter auf drei Jahre Krieg

    Schlaglichter auf drei Jahre Krieg

    Immer wieder gab es in den 1097 Tagen dieser drei Kriegsjahre Ereignisse, die einen fassungslos und sprachlos zurückließen. Deshalb zeigt dekoder – eigentlich ein Projekt der Sprache – regelmäßig Arbeiten von international renommierten Fotografinnen und Fotografen aus dem Kriegsgebiet und von anderen Orten, auf die der Krieg sich auswirkt – die Nachbarländer, das Exil. Sie können vermitteln, was sich nur schwer in Worte fassen lässt.  

    Es begann mit dem Fototagebuch aus Kyjiw, in dem Mila Teshaieva im Auftrag von dekoder dokumentierte, wie Gewalt und Zerstörung in ihren Alltag einbrachen. In unserer Serie Bilder vom Krieg nehmen Fotografinnen und Fotografen seitdem immer wieder neue Aspekte in den Fokus: Wie Bomben menschliche Körper zerstören und menschliche Seelen, wie der Beschuss Wohngebäude und Industrieanlagen vernichtet, was der tägliche Kampf mit den Soldaten macht, mit den Kindern und Familien – und auch mit den Politikern. Einige Bilder erzählen aber auch von der Selbstbehauptung einer Nation und von der Kraft der Erneuerung

    Alle Fotostrecken findet ihr hier

    Der Freundeskreis Willy-Brandt-Haus zeigt vom 28. Februar bis zum 25. Mai 2025 Fotografien von Johanna-Maria Fritz unter dem Titel Zeit der Umbrüche. Eine Aufnahme der Fotografin war vor einem Jahr auch Teil unserer Serie Bilder vom Krieg. Im Interview gestand Johanna damals: „Ich habe fotografiert und dabei geweint.“ 

    Noch bis zum 2. März ist im Stadtmuseum Münster die Ausstellung Blackout des Fotografen Daniel Pilar zu sehen. Pilar berichtet seit fast 25 Jahren aus Kriegs- und Krisengebieten weltweit und war auch immer wieder in der Ukraine.  

    Zum dritten Jahrestag des Kriegsbeginns haben wir einige Momentaufnahmen dieser beiden Fotograf:innen aus drei Jahren Krieg zusammengestellt. 

    Juni 2022: Ein Truppentransporter bringt ukrainische Soldaten von der Front bei Siwerskodonezk zurück zu ihrem Stützpunkt / Foto: © Johanna-Maria Fritz/Ostkreuz, aus der Serie A Grave in the Garden 

    Juni 2023: Ein überschwemmter Vorgarten auf der Insel Korabel in der Region Cherson nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms / Foto: © Johanna Maria Fritz/Ostkreuz, aus der Serie Die Flut 

    August 2023: Ein Wachposten hat sein Geschütz nahe der Ortschaft Malokateryniwka mit einer Decke getarnt. Von seiner Position aus hat er einen weiten Blick über den ausgetrockneten Kachowka-Stausee / Foto: © Daniel Pilar 
    Januar 2024: Der Bahnhof von Kramatorsk ist für viele ukrainische Soldaten der Ort, an dem sie sich von ihren Angehörigen verabschieden – und an dem sie sie nach der Rückkehr von der Front wieder in die Arme schließen / Foto: © Daniel Pilar 
    August 2024: Roman, Kommandeur der 43. Artilleriebrigade der ukrainischen Armee, steht im Sandsturm, den seine Panzerhaubitze 2000 aufgewirbelt hat / Foto: © Daniel Pilar 
    August 2024: In einer Kampfpause vertreiben sich Soldaten der 43. Artilleriebrigade die Zeit mit ihren Handys. Ihr Erdloch haben sie mit Holzpaletten und Campingmatten ausgelegt. Es dient als Schlafplatz und als Schutz vor russischen Bomben / Foto: © Daniel Pilar 

     

    Fotos: Johanna Maria Fritz/Ostkreuz, Daniel Pilar
    Bildredaktion: Andy Heller

     

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  • „Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt?“ – Protokoll eines Verbrechens: Prozesse und Urteile 3/3

    „Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt?“ – Protokoll eines Verbrechens: Prozesse und Urteile 3/3

    Der Angriff auf die politische Aktivistin Kateryna Handsjuk 2018 in Cherson steht in der Ukraine symbolisch für die Zeit zwischen der Revolution der Würde 2014 und der russischen Vollinvasion 2022: Ein korrupter Lokalbeamter lässt die Stadträtin mithilfe eines stadtbekannten Kriminellen und ATO-Veteranen töten. Anschließend versucht er, der Strafe zu entgegen. Doch zivilgesellschaftliche Aktivisten aus ganz unterschiedlichen Richtungen lassen nicht locker und zwingen die Strafverfolgungsbehörden praktisch dazu, weiter zu ermitteln, bis Urteile gesprochen werden können.  

    Maksym Kamenjew hat für das ukrainische Onlinemedium Graty die Prozessunterlagen und Urteile über die Täter und Komplizen, den Organisator und den Auftraggeber ausgewertet und rekonstruiert damit Schritt für Schritt den tödlichen Angriff auf Kateryna Handsjuk. Dekoder veröffentlicht diese komplexe und verworrene Geschichte auf Deutsch in drei Teilen im Februar 2025. 

     

    Teil 1: Das Attentat 

    Teil 2: Die Suche nach den Hintermännern

    Teil 3: Prozesse und Urteile 

    „Sie wurde ermordet“: Kundgebung vor dem Innenministerium in Kyjiw am 4. November 2018. An diesem Tag ist Kateryna Handsjuk den Verbrennungen durch einen Säure-Anschlag am 31. Juli 2018 in Cherson in einem Kyjiwer Krankenhaus erlegen. / © Danil Shamkin/ IMAGO / Ukrinform 

    Ende Juli 2020 überwies die Staatsanwaltschaft den Fall von Olexii Lewin und Wladyslaw Manher ans Gericht. Die beiden wurden beschuldigt, den Säure-Anschlag auf die Chersoner Aktivistin Kateryna Handsjuk 2018 in Auftrag gegeben zu haben, an dem sie Tage später im Krankenhaus starb. Am 18. August 2020 eröffnete Richterin Julija Iwanina die Verhandlung des Falles. 

    Zur Eröffnungsverhandlung erschien Lewin fast nackt. Auf der verglasten Anklagebank, dem Aquarium, hatte er nicht mehr als eine zerrissene blaue Unterhose an. Er behauptete, dass er in der Untersuchungshaftanstalt gezwungen worden sei, gegen Manher auszusagen. Bevor er zum Gericht gebracht wurde, habe man ihn ausgezogen und ihm nicht erlaubt, sich normal anzuziehen. Das Aufsichtspersonal versicherte jedoch, dass Lewin sich selbst entkleidet und sich danach geweigert habe, vor Gericht zu erscheinen. Deshalb habe man ihm in diesem Zustand bringen müssen. Lewins Körper wies keine Anzeichen von Einwirkung äußerer Gewalt auf.  

     

    Druck 

    Während des Prozesses gegen Manher und Lewin berichteten Ihor Pawlowsky sowie zwei weitere Zeugen erneut von Druck seitens der Angeklagten. 

    Pawlowsky behauptete, er habe sich 2019 zunächst geweigert, dem Deal mit den Ermittlern zuzustimmen. „Ich wurde bedroht: Wenn ich im Prozess gegen Manher aussagen und ihn Mykolajowytsch nennen würde, würden meine Familie und die meiner Tochter Probleme bekommen“, so Pawlowsky vor Gericht. 

    Im Januar 2020 war Pawlowsky erneut verhaftet worden. Die Staatsanwaltschaft verdächtigte ihn der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Vor Gericht sagte er aus, er sei in Untersuchungshaft von Leuten aufgefordert worden, nicht gegen Manher auszusagen. Andernfalls drohten sie ihm, das Genick zu brechen. 

    „Wie lange soll das noch dauern? Leute haben Geld gegeben und wollen Ergebnisse sehen“ 

    Aber Pawlowsky wurde nicht nur bedroht, sondern man habe auch versucht, ihn zu bestechen. Er behauptete, dass ihm Lewin persönlich nach seiner Festnahme 20.000 Dollar dafür angeboten habe, wenn er nicht gegen ihn und Manher aussagte, doch er weigerte sich. 

    Zwei von Pawlowskys Mitarbeitern berichteten ebenfalls von Morddrohungen. Beide bestanden darauf, dass es Lewins Idee war, sich die Aktivisten vorzuknöpfen. Pawlowsky habe nur gelacht und gemeint, dies sei Unsinn.  

    Die zwei behaupteten auch, dass sie kurz vor dem Angriff auf Handsjuk vor Pawlowskys Büro ein Gespräch zwischen Lewin und Torbin mithörten: „Serhii, wie lange soll das noch dauern? Leute haben Geld gegeben und wollen Ergebnisse sehen, Mykolajowytsch ist wütend“, berichtet Pawlowskys Mitarbeiter Pawlo Pylypenko später vor Gericht. Torbin habe Lewin gegenüber versichert, dass seine Jungs schon „arbeiten“ würden. 

    Beide Mitarbeiter Pawlowskys betonten vor Gericht, dass sie bedroht würden.  

    Pylypenko saß zu diesem Zeitpunkt wegen Ermittlungen zu gewaltsamen Protesten am 4. Mai 2018 vor der Bezirksverwaltung in Oleschky in Untersuchungshaft. Er behauptete, eines Tages sei ein Wachmann der Haftanstalt zusammen mit 14 anderen Personen in seine Zelle gekommen und habe gesagt, dass er in Schwierigkeiten sei. Er wählte die Nummer des stadtbekannten Banditen Wiktor Batar und stellte den Anruf auf laut.  

    „Bruder, ehrlich, ich flehe dich an. Du bist der Einzige, der mich aus der Scheiße rausholen kann“ 

    Batar drohte dann: Wenn Pylypenko „gegen einflussreiche Leute“ aussagen würde, würde er sich „kümmern“. Anschließend erhielt Pylypenko einige Ohrfeigen. Doch er ließ sich nicht beirren, stimmte einem Deal mit den Ermittlern zu und erhielt eine zweijährige Bewährungsstrafe. Im Gegenzug sagte er vor Gericht gegen Lewin und Manher aus. 

    Als weiterer wichtiger Zeuge der Anklage sagte Serhii Torbin vor Gericht aus, dass Lewin ihn 2021 per Telefon gebeten habe, nicht auszusagen. Zu jenem Zeitpunkt befand sich Lewin in Untersuchungshaft und Torbin im Gefängnis. Torbin zeichnete eines dieser Gespräche auf und präsentierte es während seiner Vernehmung vor Gericht am 15. Juni 2022: 

    „Bruder, ehrlich, ich flehe dich an. Du bist der Einzige, der mich aus der Scheiße rausholen kann. Mach verdammt nochmal keine Aussage. Lass dich nicht blicken, hau ab. Für mich gibt’s keinen anderen Ausweg. Gehe nicht vor Gericht“, zitierten Reporter des ukrainischen Onlinemediums Watchers die Stimme der Sprachaufnahme, welche der von Lewin ähnelt. 

    Richterin Julija Iwanina fragte Lewin, ob er sich hierzu äußern wolle, woraufhin dieser sich auf sein Recht nach Artikel 63 der Verfassung berief, sich nicht selbst belasten zu müssen und die Aussage verweigerte. 

    Nicht feststellen konnten die Ermittler, wie und wann Manher Lewin gesprochen und bezahlt hat 

    Wladyslaw Manher und Olexii Lewin bestritten, Druck auf Zeugen ausgeübt zu haben. Wenn jemand Druck auf die Prozessbeteiligten ausgeübt habe, dann seien es die Ermittler und Staatsanwälte gewesen.  

    Die Staatsanwaltschaft ging davon aus, dass Wladyslaw Manher erstmals Anfang Juli 2018 an einen Angriff auf Kateryna Handsjuk gedacht habe. Er habe dann Lewin vorgeschlagen, den Anschlag zu organisieren. Danach wendete sich dieser an Torbin und der wiederum an seine Kameraden. Nicht feststellen konnten die Ermittler allerdings, wie und wann Manher mit Lewin kommuniziert hatte.  

    Laut der Anklage bezahlte Manher die Dienste aller Beteiligten. Nicht festzustellen war jedoch, wie er Lewin bezahlt habe. 

     

    Mykolajowytsch 

    Serhii Torbin und Ihor Pawlowsky bezeugten vor Gericht, Lewin habe ihnen persönlich gesagt, dass Manher den Angriff auf Kateryna Handsjuk in Auftrag gegeben habe.  

    Torbin wurde noch einmal am 15. Juni 2022 vor Gericht befragt. Ende Februar 2023 wurde er in die Streitkräfte mobilisiert.  

    Torbin behauptete, dass Lewin und Manher eine „super Beziehung“ gehabt hätten. Oft habe man sie zusammen am Flussufer oder in Restaurants angetroffen. Torbin betonte, dass Lewin Manher oft Mykolajowytsch und manchmal Glatzkopf nannte.  

    „Bei einem unserer Treffen fragte ich Lewin, wer es denn nötig habe, Handsjuk eins auszuwischen? Lewin meinte, ‚Mykolajowytsch will es‘. Als ich nachfragte, ob das Manher sei, sagte er ‚Ja‘“, so Torbin vor Gericht.  

    Manher und Lewin bestritten nicht, dass sie sich kannten. Jedoch betonten sie, dass sie nicht befreundet seien, sondern sich nur gelegentlich über gemeinsame Freunde trafen, da ihre Ehefrauen befreundet waren.  

    Lewin sagte, er habe Manher bei seinem Vor- und Vatersnamen genannt: Wladyslaw Mykolajowytsch. In seinem Telefon habe er ihn als „Boss“ abgespeichert, weil er bestimmte, was in der Region geschah. Beide bestritten, dass Lewin Manher beraten habe. Auch konnten sie sich nicht daran erinnern, worüber genau sie am Tag des Angriffs auf Handsjuk am Telefon gesprochen hätten. Doch sei es sicherlich um Fragen im Zusammenhang mit der Unterstützung von ATO-Veteranen gegangen.  

    Richter beraten sich im Handsjuk-Prozess gegen Wladyslaw Manher 2019 in Kyjiw.  / © Sergii Kharchenko / IMAGO / Ukrinform 

    Ihor Pawlowsky bestätigte, dass Lewin Manher Mykolajowytsch nannte. Vor Gericht erinnerte er sich daran, dass er Manher nach der Kundgebung vor der Regionalverwaltung kennengelernt habe. Damals hatten Lewin und Torbin am 6. Juli 2018 die Kundgebung zur Unterstützung der Stadtoberen organisiert. Lewin hingegen bestritt, dass er die Kundgebung vor der Regionalverwaltung von Cherson organisiert und den Teilnehmern Geld gezahlt habe. Er habe lediglich bei den Unterstützern von Manher gestanden. Einige Tage nach der Kundgebung erhielt Pawlowsky einen Anruf von Lewin, dass er und Mykolajowitsch bald in seinem Büro vorbeischauen würden.  

    Während des Treffens, erinnert sich Pawlowsky, kamen sie auf Handsjuk zu sprechen, die Manher öffentlich der Korruption und illegalen Abholzung beschuldigte. „Genau kann ich mich nicht erinnern, ob es Manher oder Lewin war, der meinte, dass es Zeit sei, ihr das Maul zu stopfen“, sagte Pawlowsky vor Gericht. Er habe den Drohungen gegenüber Handsjuk aber keine Bedeutung beigemessen. 

    Lewin bestand darauf, dass sie bei diesem Treffen nicht über Handsjuk gesprochen hätten. Er wiederholte vor Gericht abermals die Geschichte, die er noch in Bulgarien den Journalisten von slidstvo.info über das Treffen in Pawlowskys Büro erzählte hatte. Er sei lediglich dafür gewesen, Handsjuk mit Seljonka zu übergießen. Pawlowsky und Torbin waren schließlich dafür gewesen, sie mit Fäkalien zu übergießen und anschließen zu fotografieren.  

    „Wir haben den Angriff bestellt. Sie hat einfach zu viel Lärm gemacht“ 

    Vor Gericht erinnerte sich Pawlowsky an einen anderen Vorfall, da Lewin in einem Gespräch mit ihm Mykolajowytsch erwähnte – am 3. August, dem Tag, an dem der erste Verdächtige, Nowikow, verhaftet wurde. An jenem Tag sei er mit einem Assistenten in seinem Büro gewesen. Plötzlich stürmte ein aufgeregter Lewin herein. Vor Gericht gab Pawlowsky das Gespräch wieder: 

    „Er fragte, ob wir einen Anwalt hätten und ob wir wüssten, was passiert sei. Wir fragten: ‚Was ist passiert?‘ Er sagte: ‚Sie haben Torbin verhaftet.‘ Ich stellte die Frage: ‚Warum wurde gerade der festgenommen?‘ Er antwortete: ‚Weißt du das denn nicht? Die haben Kateryna Handsjuk übergossen‘. Ich fragte: ‚Warum haben sie das getan?‘ Und ich zitiere hier wörtlich. Er antwortete: ‚Nun, wir haben einen Angriff auf Kateryna Handsjuk bestellt.‘ Ich fragte ihn: ‚Wer ist wir? Und warum?‘ Er antwortete: ‚Ich und Mykolajowytsch. Sie hat einfach zu viel Lärm gemacht.“ 

    Pawlowsky rief dann Torbin an, doch der nahm nicht ab. Schließlich erreichte er Torbins Frau, die ihm mitteilte, dass er betrunken sei und zu Hause schlief. Als Lewin feststellte, dass die Polizei Torbin nicht verhaftet hatte, beruhigte er sich. 

    „Ist dir klar, dass wir jetzt Komplizen in diesem Verbrechen sind?“ 

    Lewin bestritt das Gespräch nicht, sagte aber, es habe nur unter vier Augen stattgefunden. Als Pawlowsky Torbin weiter nicht erreichen konnte, sei er nervös geworden. 

    „Ich sagte ihm: ‚Ist dir klar, dass wir jetzt Komplizen in diesem Verbrechen sind?‘ Als es ihm klar wurde, liefen seine Lippen blau an und sein Gesicht wurde bleich. Er hatte schon immer Probleme mit seinem Blutdruck und ich fragte ihn, ob ich einen Krankenwagen rufen solle. Doch er machte nur eine Geste mit der Hand: ‚Setz dich“, so Lewins Version des Gesprächs. 

    Er behauptete, dass Pawlowsky mit Hilfe einer Wahrsagerin nach Torbin suchte. Die Frau hieß Anna, war zwischen 30und 35 Jahre alt und laut Torbin Pawlowskys Lebensgefährtin. Nach einigen Prozeduren versicherte sie Pawlowsky, dass Torbin nicht verhaftet worden sei. 

    „Als wir nach einiger Zeit Torbin fanden, sagte Ihor: ‚Siehst du, Anna hat es vorausgesagt. Sie sieht alles‘“, erklärte Lewin. Er bestritt, Pawlowsky gesagt zu haben, dass er und Manher Torbin den Angriff Handsjuk befohlen hätten.  

     

    Motiv 

    Manher betonte vor Gericht immer wieder, dass er den Angriff auf Handsjuk nicht befohlen habe und sie nicht mal gut kenne und deshalb kein Motiv gehabt habe, sie zu töten.  

    Doch der Staatsanwaltschaft zufolge wollte Wladyslaw Manher Handsjuk für eine Weile aus dem öffentlichen und politischen Leben der Region Cherson verschwinden lassen. Deshalb habe er den Angriff auf sie angeordnet. 

    Auch laut Kateryna Handsjuks Aussage im Krankenhaus hatte er ein Motiv, allerdings machte sie vor ihrem Tod keine näheren Angaben zum Konflikt mit Wladyslaw Manher. Erst ihr Vater Wiktor Handsjuk sowie mehrere Unterstützer berichteten Details  vor Gericht. 

    Der renommierte Chersoner Journalist Serhii Nikitenko erinnerte daran, dass der Konflikt bis ins Jahr 2014 zurückreichte. Nach dem Sieg der Revolution der Würde fanden im Frühjahr vorgezogene Präsidentschafts- und Kommunalwahlen statt. Im Herbst gab es Neuwahlen zur Werchowna Rada. Damals gab Kateryna Handsjuk ihre Arbeit in der regionalen Sportförderung auf und kehrte in die Politik zurück. Und kandidierte für die Partei Batkiwschtschyna für den Stadtrat und das Regionalparlament von Cherson.  

    Handsjuk war bereits nach der Orangenen Revolution 2006 in die Partei von Julija Timoschenko eingetreten und Stadträtin in Cherson geworden. Nach den Kommunalwahlen 2012 verließ Handsjuk jedoch die Politik und begann als Journalistin und Selbstständige mit internationalen humanitären Organisationen zusammenzuarbeiten.  

    Während des Euromaidan trat Kateryna Handsjuk häufig bei Protesten gegen prorussische Einflussnahme auf. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Herbst 2014 kandidierte sie nicht mehr, dafür aber Wladyslaw Manher. 2016 wurde sie Mitglied, Beraterin und Abteilungsleiterin im Chersoner Stadtrat. 

    Vor Gericht erklärte Nikitenko, dass Manhers Wahlkampfstab das vom Zentrum für politische Studien und Analysen entwickelte Konzept der Rechenschaftspflicht für öffentliche Gelder gestohlen habe, in welchem Nikitenko als Experte und Handsjuk als regionale Vertreterin tätig waren.  

    „Es war ein großes Projekt, an dem wir lange gearbeitet haben und in der Presse darüber berichteten. Später fanden wir auf Wahlkampfmaterialien heraus, dass Wladyslaw Manher das Konzept als das seine deklarierte“, so Nikitenko vor Gericht.  

    Jedoch half das Manher nicht. Er wurde nur Dritter bei der Wahl. 

    Wladyslaw Manher in der MOST-Recherche ”Es gibt Grenzen: Wer sind Sie, Mister Manher?” / Screenshot Youtube-Kanal MOST 

    Im folgenden Jahr, 2015, beschloss Wladyslaw Manher, für das Amt des Bürgermeisters von Cherson zu kandidieren. Nach der schlechten Erfahrung wollte er diesmal als Kandidat einer politischen Partei antreten. Im Sommer desselben Jahres bewarb er sich um die Mitgliedschaft in der Partei Batkiwschtschyna.  

    Dies rief den heftigen Protest einiger Parteimitglieder hervor, darunter von Kateryna Handsjuk. Auf einer Parteiversammlung, auf der über die Aufnahme von Manher in die Partei entschieden wurde, veranstaltete Handsjuk ein regelrechtes Verhör. Außerdem nahm sie die Sitzung auf und gab die Aufnahme später an Nikitenko weiter.  

    Handsjuk befragte da Manher zu seiner Mitgliedschaft in der Partei der Regionen und zu seiner Tätigkeit als Mitarbeiter von deren Abgeordeneten Shurawko.  

    Manher selbst sagte später vor Gericht, dass er nie Parteimitglied und nur elf Tage Assistent von Shurawko gewesen sei. Dies habe ihm 2013 geholfen, den Leitungsposten der Agrarinspektion in der Region Odesa zu bekommen. Da er Mitarbeiter eines Abgeordneten war, durchlief er ein vereinfachtes Auswahlverfahren. Gleichzeitig betonte er weiterhin, dass er sich an eine solche Befragung nicht erinnern könne und Handsjuk nicht kenne.  

    Manher kandidierte für Batkiwschtschyna, Handsjuk leitete Wahlkampf eines Konkurrenten. 

    Katerynas Vater und ihre Unterstützer betonten jedoch, dass Kateryna und mehrere andere Kollegen ihre Mitgliedschaft im September 2015 eben wegen der Aufnahme Manhers in die Partei beendet oder ausgesetzt hätten.  

    Daraufhin kandidierte Manher als Batkiwschtschyna-Kandidat für das Bürgermeisteramt in Cherson. Handsjuk leitete den Wahlkampfstab ihres ehemaligen Parteikollegen Wolodymyr Nikolajenko. Dieser kandidierte jedoch als parteiloser Kandidat und erhielt im ersten Wahlgang die meisten Stimmen, jedoch weniger als 50 Prozent, sodass ein zweiter Wahlgang die Entscheidung brachte. 

    Wladyslaw Manher belegte im ersten Wahlgang den dritten Platz, während der zweite Platz an den damaligen Bürgermeister Wolodymyr Saldo ging, der als Kandidat für die Partei Nasch Kraj antrat. Vor dem zweiten Wahlgang zog Saldo seine Kandidatur zurück, sodass am Ende Manher gegen Nikolajenko antrat. Doch die Intrige scheiterte und Nikolajenko gewann die Stichwahl. Manher wurde Mitglied des Regionalparlaments. Die Konfrontation zwischen Handsjuk und Manher blieb bestehen.  

    Nach der Wahlniederlage strebte Manher den Posten des Vorsitzenden des Regionalparlaments an. Handsjuk ihrerseits versuchte, ihn daran zu hindern. Sie schrieb kritische Beiträge über ihn auf Facebook und unterstützte den Journalisten Nikitenko bei investigativen Recherchen, die er unter anderem über Manher in seinem Nachrichtenportal MOST veröffentlichte. Dennoch wählten ihn die Abgeordneten am 27. September 2016 mit einer Mindestzahl an Stimmen zum Parlamentssprecher.  

    Kateryna Handsjuk führte ihre Kritik an Manher fort. Auf ihre Anregung hin veröffentlichte Nikitenko auf dem gemeinsamen YouTube-Kanal MOST einen mehrteiligen Investigativfilm mit dem Titel Es gibt Grenzen über den Kampf lokaler Clans um die Kontrolle der städtischen Wasserversorgers von Cherson.  

    Zu diesem Zeitpunkt hatte sich MOST bereits zu einem ernstzunehmenden Investigativmedium entwickelt. Handsjuk und Nikitenko widmeten den letzten Teil der Reihe ausschließlich dem Parlamentsvorsitzenden Manher. Die Folge Wer sind Sie, Mr. Manher? erschien am 16. Juli 2017. Kateryna Handsjuk, die offiziell Verwaltungsbeamtin war, wird im Abspann nicht erwähnt. 

    Kateryna ließ den Film direkt auf das Parlamentsgebäude projizieren. Darin behauptet Nikitenko, dass Manher den Posten des Vorsitzenden der Regionalversammlung durch politische Korruption erlangt habe und den Abgeordneten im Gegenzug für ihre Zustimmung die Kontrolle über kommunales Land und Unternehmen versprochen habe.  

    Kateryna sagte nach dem Angriff auf Nikitenko, sie sei als Nächste dran 

    Manher gefiel der Film nicht, und er klagte gegen MOST und Nikitenko. Nachdem die Journalisten die ersten beiden Instanzen verloren, entschied im Mai 2018 der Oberste Gerichtshof zu Gunsten der Journalisten und wies Manhers Klage wegen Verleumdung ab. Einen Monat später, am 18. Juni, wurde Nikitenko von Unbekannten überfallen und verprügelt. Handsjuk und er vermuteten Manher hinter dem Angriff. 

    Katerynas Vater Wiktor Handsjuk erinnerte sich vor Gericht daran, dass seine Tochter nach dem Angriff auf Nikitenko sagte, sie sei als Nächste dran.  

    Wladyslaw Manher betonte dagegen vor Gericht, dass er Handsjuks kritische Veröffentlichungen nicht ernst genommen habe. Er habe auch nicht gewusst, dass Kateryna Mitautorin von Nikitenkos Film war. „Das war eine einzige Lüge, deshalb rieten mir die Anwälte dies nicht zu ignorieren und wie zivilisierte Menschen vor Gericht zu ziehen“, betonte Manher vor Gericht und fügte hinzu, dass er nach der Entscheidung des Obersten Gerichts den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angerufen habe, der seine Klage zur Prüfung angenommen habe. 

    Im Januar 2020 wandte sich Manhers Anwalt tatsächlich an den EGMR. Doch konnte in keiner öffentlich zugänglichen Quelle eingesehen werden, ob das Gericht Manhers Klage annahm. 

    Manher bestand darauf, dass er nichts mit dem Angriff auf Nikitenko zu tun hatte.  

     

    Der General 

    Bei seiner Anhörung vor Gericht am 13. Februar 2019 präsentierte Wladyslaw Manher gar noch eine alternative Überlegung darüber, wer den Angriff auf Kateryna Handsjuk beauftragt habe. Er beschuldigte den SBU-General Danylo Dozenko für das Verbrechen verantwortlich zu sein.  

    Dozenko war 2017 Leiter der Hauptabteilung des SBU in der Region Cherson, zuvor Leiter des Geheimdienstes für die Krim, aber in Cherson stationiert. Im Jahr 2018 beförderte der Präsident Dozenko in den Rang eines Generalmajors. Zuvor war er als Offizier der Spionageabwehr nach Kyjiw versetzt worden, wo er schließlich die Abteilung für den Schutz der nationalen Staatlichkeit leitete. 

    „Nachdem der Angriff so schwerwiegende Folgen hatte, war Kateryna physisch zerstört und diese Tragödie wurde für politische Zwecke missbraucht“ 

    Manher behauptete, dass Kateryna Handsjuk mit dem SBU zusammengearbeitet habe und Dozenko direkt unterstellt gewesen sei. Laut Manher habe der Chersoner SBU-Chef kriminelle Vereinigungen gebildet, die in illegale Abholzung und Erpressung verwickelt gewesen seien. Dies sei der Grund, warum Dozenko in Konflikt mit der Polizei geriet.  

    „Ich glaube, dass Danylo Dozenko den Angriff auf Kateryna Handsjuk befohlen hat, um die Polizei zu diskreditieren. Nachdem der Angriff so schwerwiegende Folgen hatte, war Kateryna physisch zerstört und diese Tragödie wurde für politische Zwecke missbraucht“, sagte Manher und behauptete, „unwiderlegbare Beweise“ zu haben.  

    Eine SBU-Pressesprecherin bezeichnete die Aussage von Manher als absurd, unbegründet und verleumderisch. Und: „Ich schließe nicht aus, dass sein Ziel darin bestand, die zahlreichen Beweise, die der ukrainische Inlandsgeheimdienst gegen ihn gesammelt hat, zu diskreditieren, um zu erreichen das der Fall einer anderen Strafverfolgungsbehörde übergeben wird.“ 

    Während des Prozesses erzählte Manher seine Version der Geschichte: Er behauptete, Dozenko habe den Film Wer sind Sie, Mr. Manher? bei dem Journalisten Nikitenko bestellt. Auf Anweisung der Präsidialverwaltung sollte Manher als Mitglied der Oppositionspartei Batkiwschtschyna diskreditiert werden. Deren Vorsitzende Julija Tymoschenko wurde seinerzeit bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen als Hauptkonkurrentin von Petro Poroschenko gehandelt. 

    Manher behauptete, dass er nach der Veröffentlichung des Films den amtierenden Leiter der Agrarinspektion in der Region Odesa kontaktiert habe, der zuvor sein Stellvertreter gewesen sei. Dieser behauptete, er habe ein von Dozenko unterzeichnetes Schreiben erhalten, das Informationen über Strafverfahren gegen Manher abfragte. Da keine bekannt waren, schickte der Leiter der Agrarinspektion lediglich Informationen über Verfahren gegen Mitarbeiter der Inspektion.  

    „Diese Zahlen wurden in Nikitenkos Film so präsentiert, als seien dies Verfahren gegen mich gewesen“, argumentierte Manher vor Gericht. 

    Informationen über alle drei Strafverfahren, die laut Nikitenko während Manhers Tätigkeit bei der Agrarinspektion eröffnet wurden, waren im Register über Gerichtsentscheidungen nicht auffindbar. 

    Kateryna arbeitete als Aktivistin mit dem SBU in der Region Cherson zusammen, um gegen den Einfluss der „russische Welt“ zu bestehen 

    Katerynas Vater Wiktor Handsjuk bestätigte vor Gericht, dass sowohl er als auch seine Tochter Danylo Dozenko kannten und ein gutes Verhältnis zu ihm hatten. Er erklärte, dass Kateryna als Aktivistin mit dem Leiter des SBU in der Region Cherson zusammengearbeitet habe, um gegen den Einfluss der „russische Welt“ zu bestehen.  

    Dozenko wurde vor Gericht als Zeuge der Verteidigung vernommen und bestätigte, dass er Kateryna Handsjuk kannte, betonte jedoch, dass er mit ihr ausschließlich über offizielle Angelegenheiten kommuniziert habe. Dabei ging es um kommunale Unternehmen und eine mögliche Finanzhilfe an den SBU durch den Stadtrat.  

    Dozenko schloss nicht aus, dass er eine Anfrage an die Agrarinspektion des Gebiets Odesa bezüglich eines Strafverfahrens gegen Manher gestellt haben könnte, betonte aber, dass er keine Befehle erhalten habe, ihn zu diskreditieren.  

    „Als der Angriff auf Handsjuk stattfand, arbeitete ich bereits in Kyjiw und machte zu jenem Zeitpunkt Urlaub im Ausland“, sagte Dozenko vor Gericht. 

    Er betonte, dass er nicht schuldig sei. Einen Lügendetektortest lehnte er ab, weil er nicht glaube, irgendetwas beweisen zu müssen. 

     

    Das Urteil 

    Der Prozess gegen Lewin und Manher dauerte fast vier Jahre. Nach Russlands vollumfänglicher Invasion im Februar 2022 wurde er zunächst unterbrochen. Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus dem Gebiet Kyjiw wurden die Anhörungen fortgesetzt.  

    „Manher und Lewin haben die höchstmöglichen Strafen erhalten. Die unmittelbaren Täter wurden bestraft genauso wie die Mittäter und Anstifter“ 

    Am 26. Juni 2023 befand die Richterin Julia Iwanina sowohl Wladyslaw Manher als auch Olexii Lewin für schuldig, den Angriff auf Kateryna Handsjuk befohlen und organisiert zu haben und verurteilte beide zu je zehn Jahren Gefängnis. 

    Das Gericht gab auch der Zivilklage des Vaters, der Mutter und des Ehemanns von Kateryna Handsjuk gegen Manher und Lewin statt und verurteilte sie zur Zahlung von 15 Millionen Hrywnja [rund 370.000 Euro – dek] an die Angehörigen des Opfers. 

    Das Gericht beschlagnahmte das Eigentum der beiden Angeklagten. Da Manher außerdem gegen die Bedingungen seiner Auflagen verstoßen hatte, zog das Gericht den gesamten Betrag der Kaution zugunsten des Staates ein. 

    Richterin Iwanina ließ Manher und Lewin bis zur Vollstreckung des Urteils in Untersuchungshaft. Das Gericht rechnete Manher und Lewin zwei bzw. zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft an. 

    Aktion zum Gedenken an Kateryna Handsjuk vor dem Präsidialamt in Kyjiw  im April 2020 / ©  Henadii Minchenko / IMAGO / Ukrinform 

    Staatsanwalt Andrii Sinjuk erklärte gegenüber Graty, er sei mit dem Urteil zufrieden. Das Gericht gab dem Antrag der Staatsanwaltschaft in vollem Umfang statt. „Manher und Lewin haben die höchstmöglichen Strafen erhalten. Die unmittelbaren Täter wurden bestraft genauso wie die Mittäter und Anstifter. Ihor Pawlowsky, der die Strafermittlungen vereiteln wollte, wurde ebenfalls bestraft“, kommentierte Sinjuk.  

    Wiktor Handsjuk, der Vater der verstorbenen Kateryna, war im Gerichtssaal anwesend, als das Urteil verkündet wurde. Er lehnte es ab, das Urteil zu kommentieren und sagte er fühle nur Leere.  

    Aktivisten von Wer hat den Mord an Katja Handsjuk bestellt? in T-Shirts mit dem Konterfei von Kateryna Handsjuk sowie ihre Freunde und Familie applaudierten nach der Urteilsverkündung im Gerichtssaal. 

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