дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Der 9. Mai war schon vor dem 24. Februar ein Trauertag

    Der 9. Mai war schon vor dem 24. Februar ein Trauertag

    „Nie wieder Krieg“ waren einmal die Worte, die den 9. Mai, den „Tag des Sieges“, über Jahrzehnte hinweg in vielen Familien des (post-)sowjetischen Raumes bestimmten. Eigentlich war es immer schon ein Mythos – mehr Wunschdenken denn Realität: In Wirklichkeit kämpften hunderttausende sowjetische und später russländische Soldaten etwa in Afghanistan und in Tschetschenien, viele Militärangehörige (sog. Wojenspezy) beteiligten sich an Kriegen in Afrika.  

    Außerdem brachen nach dem Zerfall der Sowjetunion zahlreiche regionale Kriege aus. Bergkarabach und Georgien waren bis Februar 2022 die bekanntesten Beispiele. 

    Doch erst der vollumfängliche Krieg Russlands gegen die Ukraine seit dreieinhalb Jahren legt endgültig offen, wie hochproblematisch die Erinnerungskultur in manchen Teilen des postsowjetischen Raums ist: Einige Aspekte dienen Russland im aktuellen Krieg als Rechtfertigung dafür, ein Volk anzugreifen, das zusammen mit dem russischen und vielen anderen eine entscheidende Rolle im Kampf gegen den Faschismus Nazi-Deutschlands gespielt hat. So benutzt die (pro-)russische Propaganda das 80. Jahr nach Kriegsende auch, um nicht nur an die Befreiung Europas 1945 zu erinnern, sondern vielmehr an die imperialen Ambitionen des heutigen Russlands. 

    Dekoder-Redakteur Dmitry Kartsev spricht anlässlich des heutigen Gedenktages mit dem Historiker Alexej Uwarow, der derzeit in Deutschland zur Erinnerungskultur in Osteuropa forscht.  

    dekoder: Die russische Propaganda rechtfertigt den Angriffskrieg gegen die Ukraine als angeblichen Verteidigungskrieg gegen „Nazis“ und verweist dabei systematisch auf angebliche Parallelen zum Großen Vaterländischen Krieg. Inwieweit hat sich die Geschichtspolitik des Kreml seit dem Zerfall der Sowjetunion verändert?  

    Alexej Uwarow: Das ursprüngliche geschichtspolitische Konzept, mit dem Russland 1991 angetreten ist, ist in den Hintergrund geraten und hat sich schließlich inhaltlich substanziell verändert. Ich habe eine Zeit lang die Reden der Präsidenten Putin und Medwedew zum 12. Juni verglichen, dem Tag Russlands. In den frühen 2000er Jahren fanden sich dort noch viele Wörter wie Demokratie, Föderalismus, Recht und Freiheit.   

    Seit der berüchtigten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, vor allem aber seit 2014 wurde der Ton immer aggressiver:  Russland sei mehr als die Russische Föderation, es gebe ja noch das „historische Russland“, für das die Grenzen der 1990er Jahre nicht gelten würden etc. Solche Begriffe wie „Zone privilegierter Interessen“, „russki mir“, „nahes Ausland“ wurden zunehmend wichtiger und verdeutlichten den imperialen Anspruch Russlands. Vor diesem Hintergrund ist der Sieg im Zweiten Weltkrieg teilweise zu einem Vehikel zur Legitimation des aktuellen Krieges verkommen, und dieser bildet nun in der neuen Geschichtspolitik einen neuen Gründungsmythos, im Rahmen dessen die Ausweitung Russlands auf etwas Größeres, möglicherweise bis hin zu den Grenzen des Russischen Reichs als etwas Normales und Wünschenswertes gilt.  

    Gleichzeitig sehe ich aber keine wirklich neuen gesellschaftlichen und sozialen Praktiken im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg. Es findet zwar eine aggressive Militarisierung der gesamten Gesellschaft statt, doch diese kommt hauptsächlich von oben. Breitenwirksame Grass Roots Initiativen wie Georgsbändchen oder das Unsterbliche Regiment (die natürlich schnell verstaatlicht worden sind) gibt es heute nicht.  

    Es ist nicht auszuschließen, dass in Zukunft Elemente aus dem aktuellen Krieg ins gesellschaftliche Bewusstsein zum „Tag des Sieges“ Einzug halten werden, bislang sehe ich aber keine Hinweise dafür, dass die Gesellschaft besonders aktiv auf die politischen Angebote reagiert, die beiden Kriege zu einer gedanklichen Einheit zu verschmelzen. 

    Der Kult um den Sieg im sogenannten Großen Vaterländischen Krieg galt vielen Beobachtern als die Heilige Kuh der russischen Geschichtspolitik unter Putin. Falls die Menschen diese geschichtspolitische Verschmelzung weiterhin jedoch nicht annehmen und die Erzählungen in Konkurrenz geraten – würde der Kreml da nicht diese zentrale geschichtspolitische Ressource verlieren? 

    Wie sich die russische Erzählung über den Krieg gegen die Ukraine entwickelt, zeigt, wie eklektisch sie ist. Betrachten wir zum Beispiel, wie der russische Staat in den eroberten Gebieten vorgegangen ist, also in den okkupierten Teilen der Oblasten Cherson und Saporischschja. Denn dort gab es erstaunliche Pirouetten: Militärs kamen, um eine sogenannte „Denazifizierung“ vorzunehmen, und sie griffen dabei zu quasi-sowjetischer Rhetorik.

    Dazu brachten sie es fertig, Flaggen und Wappen aus der Zarenzeit hervorzuholen sowie Bilder von Potjomkin oder Suworow. Nicht nur der Zweite Weltkrieg und der andauernde Krieg haben darin Platz. Da finden auch alle möglichen anderen Helden aller erdenklichen Epochen der russischen Geschichte ihren Platz. So werden sicherlich auch die von der Ukraine-Front zurückkehrenden Soldaten als Helden stilisiert und damit in das vorhandene Pantheon aufgenommen.

    Die russische Geschichtspolitik hat weniger ideologische Beschränkungen als das sowjetische. Und das macht es flexibler. 

    Schauen wir auf die Betroffenen der aktuellen russischen Aggression, die Ukraine – wie wurde und wird dort des Zweiten Weltkriegs gedacht? Früher wurde in der Sowjetunion gemeinsam in allen Republiken der „Tag des Sieges“ gefeiert. Wie hat sich das seit den 1990er Jahren – besonders in der Ukraine – verändert? 

    In der Ukraine gab es ab 1999 – unter Viktor Juschtschenko erst als Ministerpräsident, später dann als Präsident – Versuche, zwischen den Veteranen der Roten Armee und den Veteranen, die in den Reihen der OUN und UPA gekämpft haben, zu vermitteln – der sogenannten Division Halytschyna und anderen antisowjetischen Formationen. 

    Ich erinnere mich noch, wie die russische Propaganda das schon Mitte der 2000er Jahre als Gleichsetzung der beiden Seiten, eine Relativierung bis Heroisierung des Nazismus darstellte. 

    In der gesamten Amtszeit von Juschtschenko ging es um die Stärkung des ukrainischen Nationalbewusstseins, insbesondere auf Grundlage der historischen Ereignisse im 20. Jahrhundert. Juschtschenko konzentrierte sich dabei auf die Ukrainische Volksrepublik, auf die Westukrainische Volksrepublik, und auf die Fortsetzung des antisowjetischen nationalen Befreiungskampfes. Vor seiner Amtszeit hatte die UPA keine große Aufmerksamkeit bekommen, Juschtschenko war der erste ukrainische Präsident, der sie in die staatliche Erinnerungspolitik integrierte.  

    Schon damals führte das zu Kontroversen, weil die UPA, die gegen die Sowjetmacht kämpfte, auch Verbrechen gegen Juden und Polen beging. Aber es war nicht Juschtschenkos Absicht, das Gedenken an die sowjetischen Veteranen durch ein Gedenken an die UPA zu ersetzen. Eher war es der Versuch, all das im Sinne einer ukrainischen Nationalerzählung zu verbinden. 

    Der Zusammenhang sollte darauf basieren, dass alle Ukrainer sind, dass alle Teil einer ukrainischen Nation und einer ukrainischen Geschichte sind – mit all ihren tatsächlichen Widersprüchen und Konflikten. Das ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass es, stark vereinfacht, Gruppen im Land gibt, die den Zweiten Weltkrieg grundverschieden betrachten. Damit muss man einen Umgang finden. Man braucht man eine nationale Erzählung, die nicht spaltet, sondern eint.  

    Leider widersprach dieser Ansatz der Einstellung vieler, die in der Sowjetunion aufgewachsen und sozialisiert waren. Russland indes hat diese Zerwürfnisse für seine Interessen genutzt und die Konflikte weiter geschürt

    Und wie entwickelt sich der Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg in Belarus? 2020 klang es ja an, als gäbe es eine Spaltung zwischen der staatlich verordneten Erinnerungspolitik und dem, was die Menschen für richtig halten: Als Lukaschenko die weiß-rot-weiße Flagge verbieten wollte, das Symbol der Massenproteste und der alten national-demokratischen Opposition. Er tönte, dass die Flagge auf die Nazi-Kollaborateure zurückgehe und seine heutigen Gegner ebenfalls Neonazis seien und so weiter. 

    In Belarus gab es schon 1996 erste Tendenzen Lukaschenkos, den Tag der Freiheit am 25. März, an dem 1918 die Belarussische Volksrepublik ausgerufen wurde und der auf national-oppositionelle Initiativen zurückgeht, durch den Tag der Unabhängigkeit am 3. Juli zu verdrängen, an dem die Befreiung von Minsk von der deutschen Besatzung begangen wird. In der Folge wurden Museen bis hin zu Geschichtsbüchern in einer Weise umgestaltet, die selbst russischen Hurra-Patrioten Sorgen bereitete. Denn manche belarussischen Schulbücher konzentrierten sich in der Darstellung des Zweiten Weltkriegs weitgehend auf die Ereignisse in Belarus  –  also auf die sowjetische Besatzung von Westbelarus ganz zu Beginn, dann die deutsche Besatzung, die Partisanenbewegung, die Operation Bagration, während alles andere, etwa die Schlachten um Moskau und Stalingrad, die Belagerung von Leningrad, in den Hintergrund rückte. Und obwohl die Glorifizierung der Heldentaten im Zweiten Weltkrieg in dieselbe Richtung ging wie in Russland, entstand eine besondere, nationale Version.  

    Es ist zwar eine Geschichte gemeinsamer Helden, der belarussischen Partisanen, die ja auch im russischen Pantheon vertreten sind, aber doch auch eine Abgrenzung vom russischen Narrativ. Das betrifft sogar die Symbolik. Das Georgsband hat sich in Belarus nicht durchgesetzt, dort hält der Staat dazu an, eine Apfelblüte auf einer rot-grünen Schleife auf dem Revers zu tragen. Ähnlich der Mohnblume, die in Großbritannien an die Opfer des Ersten Weltkriegs erinnert und mittlerweile auch das Gedenksymbol der Ukraine für ihre Opfer des Zweiten Weltkrieges ist.   

    Trotz der gestiegenen Abhängigkeit vom Kreml versucht Lukaschenko diese seine nationale Variante der Erinnerungspolitik gegenüber dem sowjetischen Erbe weiterzuverfolgen.   

    Zurück zur Ukraine: Was passierte dort seit Juschtschenko? 

    Da muss ich an ein Video aus dem Jahr 2015 denken, in dem einem alten Offizier, gespielt von Wolodymyr Talaschko aus dem sowjetischen Kultfilm W boi idut odni stariki (dt.: Erfahrene Hasen des Geschwaders), von seinem Enkel, einem jungen Soldaten der ukrainischen Streitkräfte zum Tag des Sieges gratuliert wird. Der Opa setzt sich die Schirmmütze der sowjetischen Armee auf und sagt „Slawa Ukrajini“.

    In dieser Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs findet die sowjetische Bildsprache mit dem ukrainischen Nationalbewusstsein nicht nur ein Auskommen, sondern unterstützt es sogar. Während früher die Verwendung solcher Bilder Teile der Bevölkerung vor den Kopf stieß und eher spaltend wirkte, verloren sie nach der Annexion der Krym und dem Kriegsbeginn im Donbas dieses Konfliktpotenzial.  

    Wolodymyr Selensky setzte diese Linie fort, als er am „Tag des Sieges“ 2022 über den Kampf gegen Eroberer von außen sprach, gegen Faschisten und Raschisten

    Sie leben und arbeiten in Bonn, forschen zur russischen Geschichtspolitik. Wie sehen Sie den Einfluss der russischen Aggression gegen die Ukraine darauf, wie man in Deutschland nun die Rolle Russlands im Kampf gegen den Faschismus wahrnimmt? Auch die Rolle der Ukraine, natürlich.   

    Soweit ich das anhand meiner Gespräche mit Deutschen und anhand dessen, was ich in den Medien sehe, beurteilen kann, ist das Hauptproblem, dass Russland als einziger Rechtsnachfolger der Sowjetunion gilt: als wichtigster Erbe nicht nur, was Eigentum und den Sitz im UNO-Sicherheitsrat angeht, sondern auch, was die Nachkriegszeit und den Sieg über den Faschismus angeht. So wurde Russland der Löwenanteil der Aufmerksamkeit zuteil, bei allem, was den Krieg an der Ostfront betraf. Immer wieder wird Russland oder russisch synonym anstelle von Sowjetunion bzw. sowjetisch verwendet. 

    Erst jetzt fängt das an, sich zu verändern. Auch andere Länder rücken in den Fokus, vor allem natürlich die Ukraine.  

    Als ich dieses Jahr an einer Podiumsdiskussion zum historischen Gedenken im Museum Karlshorst teilnahm, hatte ich dort nicht den Eindruck, dass die deutschen Kollegen dazu geneigt wären, Russland durch die Ukraine zu ersetzen oder die Landkarte der Erinnerung abzuändern. Meinem Eindruck nach unterscheiden sie den heutigen Staat der Russischen Föderation, der einen Angriffskrieg führt, von der Sowjetunion als Befreier von Nazi-Deutschland. Und die Russen als jene Menschen, die heute dort leben, von den Russen als Nachkommen der Opfer des Faschismus. Das ist eine komplexe Angelegenheit mit feinen Nuancen.  

    Trotzdem, ich sehe einfach keine grundsätzliche Möglichkeit, Russland vollends von dieser Erinnerungskarte zu tilgen. Offenbar bleibt uns nichts anderes übrig, als den Staat außen vor zu lassen und mit jenen Vertretern der russischen Gesellschaft zu interagieren, die zum Dialog bereit sind. Ich habe das Gefühl, in Europa besteht Bedarf an neuen Repräsentanten genau da, wo früher Abgeordnete des russischen Staates saßen: Vor nicht allzu langer Zeit ist ein Freund von mir als Memorial-Mitarbeiter zu einer Zeremonie nach Auschwitz gefahren, zu der früher ein russischer Diplomat eingeladen worden wäre, wo aber jetzt er die russische Zivilgesellschaft repräsentierte. Das ist alles ziemlich merkwürdig und noch recht neu.  

    Den Anspruch auf eine eigene Stimme im Dialog über den Zweiten Weltkrieg können nun alle unabhängigen Länder erheben, die einst zur UdSSR gehörten, alle, die das wollen – die Ukraine, Belarus, Usbekistan, Kirgisistan, Kasachstan, Georgien, Armenien … Es hat einfach früher eines davon die meiste Aufmerksamkeit bekommen, das gleicht sich jetzt aus. 

    Sie sprechen von einem Dialog mit der russischen Zivilgesellschaft. Aber glauben Sie, dass die Russen, die gegen den Krieg sind, irgendeine andere Interpretation des Zweiten Weltkriegs entwickeln könnten, abseits der revanchistischen und expansionistischen Bestrebungen des Staates?  

    Ich glaube, die Menschen, die oppositionell und regierungskritisch eingestellt sind, haben das alles immer schon differenzierter, komplexer und widersprüchlicher wahrgenommen. Der 9. Mai war schon vor dem 24. Februar ein Trauertag. Aber natürlich hat der Krieg gegen die Ukraine das alles verschärft. Die Frage ist, ob eine komplexe Sicht auf den Krieg das ablösen kann, was der Staat heute als Begründung für den Kampf gegen den „kollektiven Westen“ durchsetzen will.   

    Aber selbst wenn: Ich befürchte, dass es in der russischen Geschichte sehr viele Kriege gibt, die sich instrumentalisieren und als Teil eines jahrhundertelangen Widerstands abbilden ließen, in dem die Russen und die Sowjetbürger ziemliche Helden waren … Das ist ein Problem, da muss man was tun, ich glaube nicht, dass es darauf schon eine Antwort gibt.  

    Weitere Themen

    Tag des Sieges

    Bystro #24: Wie wird der Tag des Sieges in Belarus gefeiert?

    Krieg im Namen des Sieges von 1945

  • Soll der Westen wieder mit Lukaschenko reden?

    Nach wie vor kommt es in Belarus fast täglich zu politisch motivierten Festnahmen und Verurteilungen mit langen Haftstrafen. Gleichzeitig wurden in den vergangenen Monaten dutzende politische Gefangene freigelassen.  

    Experten deuten dies als Signale von Alexander Lukaschenko, den Kontakt zur EU und zu den westlichen Demokratien zu suchen. Warum passiert dies gerade jetzt? Ist eine neuerliche Annäherung nach der brutalen Niederschlagung der Proteste 2020 und der Flucht von hunderttausenden Belarussen tatsächlich denkbar? Welches Interesse könnte die EU daran haben? 

    Über diese und andere Fragen haben wir mit dem belarussischen Ex-Diplomaten und Politanalysten Pavel Matsukevich von der Initiative Center for New Ideas gesprochen.

    Alexander Lukaschenko bei einem Treffen mit Wladimir Putin im Mai 2024 in Minsk / Foto © xPavelxBednyakovx/ IMAGO 

    dekoder: Lukaschenko hat in den vergangenen Wochen dutzende politische Gefangene freigelassen. Warum? Der Diktator wird doch wohl nicht altersmilde? 

    Pavel Matsukevich: Noch nicht. Ein klares Anzeichen dafür sind die Repressionen in Belarus, die weiterlaufen. Aber die Freilassungen sind ein deutliches Signal, dass Lukaschenko bereit ist, weicher zu werden. Es könnte ein gewisses Tauwetter geben, und zwar aus dem einfachen Grund, weil es in Belarus schon mehr als einmal solche Perioden gegeben hat. Die gesamte Geschichte der 30-jährigen Herrschaft Lukaschenkos ist die Geschichte des Wechsels von Zeiten des Tauwetters und des verstärkten Drucks. Dank dieser Tauwetterperioden konnte sich auch die Zivilgesellschaft entwickeln, die 2020 ihre Bürgerrechte eingefordert hat.  

    Aber zu der Zeit vor 2020 lässt sich kaum zurückkehren, wenn man an das Ausmaß der Repressionen denkt. 

    Kein Tauwetter war wie das andere. Ich glaube also nicht, dass wir in das Jahr 2018 zurückkehren können, einer Zeit der weitreichenderen Liberalisierung. Aber wir könnten zu einer insgesamt besseren Situation im Vergleich zum heutigen Klima kommen, nicht zu einer idealen natürlich, zu einer besseren, indem die Leute endlich aus den Gefängnissen entlassen werden und die brutalen Repressionen aufhören. Die belarussischen Behörden können theoretisch fast allem zustimmen, solange es nicht ihre Macht betrifft. In dieser Hinsicht wird es keine Öffnung oder Kompromisse geben. Darüber muss man sich im Klaren sein. Lukaschenko wird sich nicht zum Demokraten entwickeln. Aber andere Öffnungen sind zumindest denkbar. In der Zeit, als die Existenz unabhängiger Medien geduldet wurde, hat das Regime beispielsweise auch eine gewisse öffentliche Kritik zugelassen.  

    Gleichzeitig wurden Kritiker aber auch weggesperrt und in früheren Zeiten sogar umgebracht. 

    Ja, auch das passierte: Politiker verschwanden, Proteste wurden niedergeschlagen. Aber dann gab es eben wieder Phasen des Tauwetters. Lukaschenkos Regime ist de facto nicht das Regime Stalins, wo es nur Repression und Terror in einem unvorstellbaren Ausmaß gab.  

    Warum sendet Lukaschenko gerade jetzt solche Zeichen? 

    Es gab in den vergangenen drei Jahren immer wieder Anzeichen dafür, dass das Regime den Kontakt zur EU und zum Westen sucht. Zum Beispiel der Brief des damaligen Außenministers Wladimir Makei im Frühjahr 2022, mit dem er sich an seine Kollegen, die Außenminister der EU-Länder, wandte und vorschlug, einen Neuanfang zu versuchen. Seine Begründung: Andernfalls würden die Repressionen weitergehen, die Zivilgesellschaft werde in der Folge vernichtet und Europa würde schließlich vollkommen aus Belarus verschwinden und Belarus selbst in Russland aufgehen. 

    Eine Situation, die wir aktuell fast so vorfinden in Belarus.  

    Und diese schafft ein sehr gefährliches Ungleichgewicht, nicht nur für Lukaschenkos Macht, sondern auch für die Souveränität von Belarus und die belarussische Gesellschaft. Der Wunsch, in einen Dialog einzutreten, hat für das Regime vor allem eine Motivation: die eigene Macht zu stärken. Denn wenn der Westen auf den Vorschlag zum Dialog eingeht, haben die belarussischen Behörden die Möglichkeit, ein Gleichgewicht, eine Balance herzustellen – zwischen Russland und der EU. So konnte Lukaschenko auch in der Vergangenheit seine Macht sichern – durch das Lavieren zwischen Ost und West. Das gilt auch für Belarus aufgrund der geopolitischen Lage des Landes: der Ausgleich zwischen Ost und West ist sozusagen eine Formel für die Wahrung der Unabhängigkeit, der Souveränität.  

    Warum sollte die EU Interesse daran haben, die Macht von Lukaschenko zu stärken? 

    Das ist eine Frage der Abwägung. Und hier geht es nicht um moralische Faktoren. Hier treffen sich die Regime-Interessen einerseits und Interessen, Belarus als souveränes Land zu erhalten, andererseits. Die Isolierung von Belarus steigt stetig. Wir haben heute bereits einen Zaun an der Grenze zur EU. Belarus wird immer abhängiger von Russland, vor allem im Bereich Wirtschaft, der Finanzkredite und so weiter. Die Unabhängigkeit von Belarus ist tatsächlich ernsthaft bedroht. Die EU hat Interessen, die sich über ein souveränes Belarus besser realisieren lassen, wo man zumindest etwas Einfluss geltend machen könnte, als über ein Belarus, das in Russland aufgeht.  

    Welches Interesse hätte die EU daran, in einen Dialog einzutreten? 

    Es gibt gemeinsame Interessensbereiche, in denen Belarus eine bedeutende Rolle spielen kann. Der erste ist die Sicherheit. Die EU hat Interesse daran, das Risiko einer Wiederholung des Jahres 2022 zu verringern, als Russland das Territorium von Belarus nutzte, um in die Ukraine einzumarschieren. Wenn Russland an die EU-Grenze heranrückt, steigt die Unsicherheit für die EU. Der zweite Bereich ist das Thema Migration. Lukaschenko hat die Migrationskrise an den Grenzen zur EU als Reaktion auf den Sanktionsdruck organisiert. Bei einer Dialogaufnahme könnte also die gemeinsame Sicherung der EU-Grenze verhandelt werden. Und die dritte gemeinsame Interessensphäre ist der Warentransit zwischen der EU und China. Der Eisenbahntransit stellt eine gute Alternative zum Seetransport dar, besonders wenn er wie aktuell am Roten Meer bedroht ist.  

    Würde die EU nicht die demokratische Opposition diskreditieren, die sich im Exil befindet und die derart unter den Repressionen leidet, wenn man auf Lukaschenko zugehen würde? 

    Der Dialog zwischen den belarussischen Machthabern und den westlichen Ländern ist im Prinzip unvermeidlich. Es ist nur eine Frage der Zeit, da es, wie gesagt, um drängende regionale und globale Interessen geht. Die demokratischen Kräfte können sich nur die Frage stellen, ob sie diesen Prozess unterstützen oder ob sie bei ihrem Versuch bleiben, ein Regime zu demokratisieren, das sich nicht demokratisieren lässt. Es ist denkbar, dass sich das Regime als Bedingung für einen Dialog zumindest auf die Frage eines perspektivischen Machttransits gegen 2030 einlässt. Lukaschenko weiß, dass er nicht unsterblich ist. Aber nochmal: Eine schnelle Demokratisierung wird dabei nicht herausspringen. Und es besteht auch die Gefahr, dass das Regime, wenn es sich bedroht fühlt, wieder mit Repressionen reagiert. Das ist sogar sehr sicher. Es geht aktuell darum, die Menschen aus den Gefängnissen freizubekommen, und eine weitere Verschlechterung der Lage zu verhindern. 

    Was will denn eigentlich die belarussische Bevölkerung? 

    Soweit man das anhand der Umfragen von Chatham House beurteilen kann, wünschen sich die Menschen die Rückkehr zu einer gewissen Normalität in den Beziehungen zwischen Belarus und dem Westen. Sie leben ja unter diesen Repressionen und haben deshalb ihre eigenen Interessen. Wir hier draußen denken darüber nach, wie wichtig es ist, Belarus zu demokratisieren, während die Belarussen im Land vielleicht eher darüber nachdenken, wie wichtig es ist, einen Krieg zu vermeiden. So entsteht natürlich eine Diskrepanz der Interessen. 

    Putin wird es nicht gefallen, wenn Lukaschenko auf den Westen zugeht. 

    Das stimmt. Es ist wichtig zu verstehen, dass jeder Dialog mit den westlichen Ländern in der aktuellen Situation seine Grenzen haben wird. Er muss ja auch nicht öffentlich passieren. Das Regime hängt an der Leine Russlands und die Leine ist sehr kurz. Lukaschenko ist kein Selbstmörder. Er weiß, was passiert, wenn er sich dem Westen zu sehr nähert. Russland würde ihm das nicht durchgehen lassen. Aber aktuell ist Putin mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigt, viele Kräfte und Ressourcen sind konzentriert. Wenn es zu Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland kommt, werden die Kräfte neu gemischt. Es wird neue Dynamiken geben, auf die sich Lukaschenko möglicherweise jetzt schon vorbereiten will, um seine Macht zu stärken. Dafür könnte er den Dialog mit dem Westen gut gebrauchen. Und der Westen könnte ihn gut gebrauchen, um Belarus nicht ganz zu verlieren, um dafür zu sorgen, dass Europa auch künftig noch eine Rolle in Belarus spielt.  

    Weitere Themen

    Alexander Lukaschenko

    Grenzverschiebungen

    Bystro #42: Wie groß ist die Wirtschaftskrise in Belarus?

    Die unglaubliche Revolution

    „Die Repressionen lassen nicht nach“

    Drohkulissen und Inszenierungen – Was passiert in Belarus?

  • „Der Belarusse im Exil befindet sich in einem Kokon der Vieldeutigkeit“

    „Der Belarusse im Exil befindet sich in einem Kokon der Vieldeutigkeit“

     

    Viele Belarussen, die mittlerweile im Exil in Polen, Litauen oder Georgien leben, engagieren sich für die Demokratiebewegung. Im Belarus selbst ist Engagement gefährlich und öffentlicher Protest nicht mehr möglich. Lukaschenko hat seinen Machtapparat vor allem auf eines eingeschworen: auf politische Verfolgung. Verlässliche Informationen darüber, wie es sich unter derart hochrepressiven Bedingungen lebt, wie sich die Sichtweisen der Belarussen seit 2020 entwickelt haben, gibt es kaum. 

    Im Interview erklärt der Soziologe Andrei Wardomazki vom Belarusian Analytical Workroom die Tücken seiner Arbeit: Wie lassen sich die Einstellungen und Stimmungen der Belarussen ermitteln? Tut sich tatsächlich eine Kluft zwischen den Belarussen im Exil und denen im Land auf? 

    Der belarussische Soziologe Andrei Wardomazki im Gespräch / Foto © GasetaBY
    Der belarussische Soziologe Andrei Wardomazki im Gespräch / Foto © GasetaBY

    dekoder: Die Belarussen in ihrem Land und außerhalb ihres Landes nehmen die Situation in Belarus unterschiedlich wahr, einige Experten nennen die Differenz zwischen den Sichtweisen sogar „katastrophal“. Woher kommt das? 

    Andrei Wardomazki: Der Begriff „Katastrophe“ hat eine subjektive emotionale Aufladung. Ich sage lieber „bedeutender“ oder „wesentlicher Unterschied“.  

    Unterschiedliche Meinungen gibt es immer. In den USA zwischen Republikanern und Demokraten, in Großbritannien zwischen Tories und Whigs … Das gilt auch für Belarus. Seit wann es diesen bedeutenden Unterschied in der Wahrnehmung der Belarussen gibt – es ist schwierig, hier einen Anfangspunkt zu markieren. Ein Faktor war bestimmt die zunehmende Emigration nach 2020. Damals tauchten einige Merkmale auf, die auf eine erhebliche Differenz zwischen der Sichtweise der Belarussen im und außerhalb des Landes hindeuteten. Erhebliche Unterschiede, die sich vielleicht irgendwann zu wesentlichen entwickeln.  

    Der nächste Meilenstein war der Beginn des großangelegten russischen Angriffs auf die Ukraine. Ab da prägten sich zwei unübersehbare Informations- und Weltanschauungskokons heraus. 

    Wie kann man diese Kokons beschreiben? 

    Ich nenne sie „Nein zum Krieg“ und „Es gibt keinen Krieg“. Es gibt auch Kokons zu anderen weltanschaulichen Positionen. Zum Beispiel zur geopolitischen Ausrichtung, zur Einstellung zu Europa. Die Menschen sehen verschiedene Realitäten. Während ein Belarusse im Exil das Lächeln der westlichen Politiker vor Augen hat, sieht man von Belarus aus den Gesichtsausdruck eines EU-Grenzbeamten beim Grenzübertritt. 

    Der nächste Kokon betrifft das Thema Wirtschaft. Jenseits von Expertenkreisen (die die Situation nüchtern beurteilen) besteht unter den Durschnittsbelarussen im Ausland die Vorstellung vom wirtschaftlichen Niedergang in Belarus, dass es immer schlimmer wird. Die Bevölkerung im Land bewertet die wirtschaftliche Lage anders, sie nimmt keine Verschlechterung wahr. Die Statistik gibt ihnen übrigens recht. 

     

    Der nächste Unterschied ist, dass die Exil-Belarussen von extremen Repressionen und der totalen Entbelarussifizierung in Belarus ausgehen. Aus dem Land selbst hingegen gibt hört man immer wieder, dass Gras darüber gewachsen sei. Aus verständlichen Gründen führe ich keine Beispiele an. 

    Die Auswanderer sind im Jahr 2020 steckengeblieben, in Belarus herrscht schon eine „neue Normalität“ 

    Worin liegt der Unterschied im Denken der Belarussen innerhalb und außerhalb des Landes, wie und warum bilden sich diese Kokons? 

    Es gibt den Parameter der sozialen Zeit. In vielerlei Hinsicht kann man die Diaspora charakterisieren als erstarrt im Jahr 2020. Alles blieb dort und damals stehen – die Menschen, das Weltbild, die Psychologie. Aber innerhalb von Belarus passieren Veränderungen, die zu einer Art „neuen Normalität” führen. Der Belarusse im Exil befindet sich in einem Kokon der Vieldeutigkeit, mit vielen Interpretationsmöglichkeiten. Er bewegt sich in einem Informationsstrom, der ihm vielfältige Interpretationen anbietet, verschiedene Perspektiven auf ein und dasselbe Phänomen.  

     

    Der Belarusse in Belarus bewegt sich im Strom der Zensur und Begrenzung. Putin soll man nicht kritisieren, über Selensky lieber nichts Gutes sagen. Das Jahr 2020 darf man nicht positiv bewerten, und zu manchen Persönlichkeiten sollte man sich gleich gar nicht äußern. Das ist Zensur, vermischt mit Selbstzensur. 

    Generell sind der Grund für solche Kokons einerseits diese verschiedenen, manchmal diametral entgegengesetzten Informationsströme, andererseits gehen die persönlichen Erfahrungen auseinander. Die Kombination aus beiden erzeugt eine Kluft. Ein wichtiger Grund hat mit Sicherheit damit zu tun: mit dem Überleben. In Belarus ist es schlicht gefährlich, blockierte ausländische Medien und nichtstaatliche belarussische Auslandsmedien zu lesen oder zu konsumieren, die Mehrheit ist als „extremistisch“ gelistet. Man richtet daher seine Aufmerksamkeit auf andere Quellen, wechselt den Kokon. 

    Sie sprechen über die Belarussen im In- und Ausland, erwähnen aber diejenigen nicht, die in Belarus geblieben sind und dennoch dasselbe lesen und schauen wie die Emigrierten. 

    VPN-Dienste verringern das Problem der Blockierungen erheblich, aber die Gefahr bleibt bestehen. Ich denke, den Anteil derer, die dieselben Medien konsumieren wie die Emigranten, kann man bei 30 Prozent verorten. Übrigens ist das Vertrauen in die unabhängigen belarussischen Medien genauso hoch wie das in die russischen Medien. Trotz aller Einschränkungen bleibt das Interesse also bestehen. Das ist ein wichtiger Indikator.  

     

    Es wirken aber auch psychische Schutzmechanismen. Manche Menschen sind nicht in der Lage, Fotos aus Butscha anzusehen oder viel negative Information aufzunehmen. Hält ein Mensch das nicht aus, zieht er sich zurück in einen ruhigeren, positiveren Kokon. Beim Entstehen dieser Kokons wirken also zwei Arten von Selbstschutz. Erstens das existenzielle, lebensnotwendige Sicherheitsbedürfnis – sich die Freiheit zu bewahren, die man verlieren kann, wenn man Medien nutzt, die in Belarus blockiert sind oder als extremistisch gelten. Zweitens der psychische Selbstschutz – die Unfähigkeit, das Negative in den Medien auszuhalten. 

    So bewegt man sich in einer Art Korridor zwischen dem gerade noch Erträglichen und dem Interesse daran, informiert zu bleiben. In diesem Korridor zwischen Unerträglichkeit und Neugier wird alles genutzt, was an Medien zugänglich ist.  

    Welche Gründe gibt es noch, dass Leute aus einem Kokon in einen anderen wechseln? 

    Wenn die Interessen auseinandergehen und die Probleme, die die Menschen beschäftigen, nicht den Themen entsprechen, die die nichtstaatlichen Medien anbieten. Zum Beispiel interessiert man sich für Wirtschaft, aber hört nur von politischen Gefangenen. Dann entfernt man sich von dieser Information und landet in einem anderen Kokon. 

    Kann man einen Point of no Return prognostizieren, an dem die Belarussen im In- und Ausland einander endgültig nicht mehr verstehen werden? 

    Bei sozialen Phänomenen gibt es keine „hundert Prozent“, kein „absolut schlecht“ und „absolut gut“, kein „endgültig”. 

    Gab es bei den Deutschen einen Point of no Return? Gibt es ihn in Nordkorea? Dort sind die Menschen überzeugt, dass sie besser als der Rest der Welt leben, das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Aber das heißt nicht, dass sich die Situation nicht irgendwann, in einer langen Zeitspanne, ändern kann. Über die russische öffentliche Meinung sagt man heute: „Das ist der Point of no Return, du kannst sie nicht mehr ändern.“ Aber das gibt es nicht. Was es gibt, sind Punkte, die eine Annäherung schwieriger oder leichter machen, die Veränderungen wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen. 

     

    Hier muss man noch die gegenseitigen Vorbehalte zwischen Emigranten und Gebliebenen erwähnen. Beide Seiten beschuldigen die jeweils andere, konform mit dem Regime zu sein, meinen damit aber unterschiedliche Dinge. Die Emigrierten sagen, ihr seid geblieben und zahlt Steuern, ihr unterstützt das Regime. Die Gebliebenen wiederum sagen, ihr Konformisten seid abgehauen, wer wird dann unser Land erhalten oder sogar kämpfen? Nach demselben – sozialpsychologischen und logischen – Prinzip haben sich die gegenseitigen Anschuldigungen schon 2020 eingebürgert, damals zwischen den Unterstützern des Wandels und den systemtreuen Jabatki. Heute beschuldigen einander Inlandsbelarussen und Auslandsbelarussen. 

    Es ist ein einzigartiges Phänomen: Dass die einen Belarussen die anderen Belarussen zu erforschen beginnen. Darin liegt die Besonderheit dieser Untersuchung, sowohl für die Wissenschaft als auch insgesamt für die belarussische Gesellschaft. Ich wiederhole, es gibt keinen Point of no Return. Es gibt eine Verweildauer in einem Zustand, die länger oder kürzer sein kann. Aber dass eine Situation für immer festfriert, das gibt es nicht. Dasselbe gilt für Konformismus- und Kollaborationsvorwürfe. 

    Erzeugen die Informationskokons die Trennlinie oder verstärken sie sie nur? Zum Beispiel Präferenzen bei der außenpolitischen Orientierung oder bei ökonomischen Veränderungen. 

    Das sind so Stimmungen, die schwanken und sich nicht stabil in eine Richtung bewegen. Einmal reagiert Europa anders auf die Situation in Belarus – schon ändert sich die Einstellung in Belarus. Grafiken, die diese Schwankungen der geopolitischen Präferenzen illustrieren, zeigen keine kontinuierliche, lineare Ausrichtung, es gibt ein Auf und Ab. 

    Nur ein Parameter bleibt konstant: Belarus und seine Armee sollen nicht direkt am Krieg in der Ukraine teilnehmen. Die Haltung zur Nutzung belarussischer Infrastruktur oder zur Stationierung russischer Truppen kann sich hingegen ändern. Sie kann sich auch verschlechtern. 

    Welche Stereotype über die Sichtweisen von Emigrierten und in Belarus Gebliebenen wurden im Verlauf der Studie aufgebrochen? 

    Jede Forschung ist in gewisser Weise ein Brechen mit Stereotypen. Ich habe schon das Beispiel der Repressionen angesprochen. Von außen besteht die stereotype Ansicht, dass die Situation in Belarus maximal schlimm ist und sich noch weiter verschlimmert. Aber die Befragten in Belarus geben nicht nur negative Einschätzungen ab. Und trotz der zahlreichen katastrophalen Wirtschaftsprognosen empfinden die Einwohner die Lage nicht als absoluten Zusammenbruch. 

    Alles ist vielfältiger und komplexer als die Stereotype polarisierter Meinungen 

    Was die geopolitische Ausrichtung angeht, so nehmen die Belarussen beispielsweise Europa ganz unterschiedlich wahr, meist je nach persönlichen Erfahrungen und je nach Informationsquellen. Ich möchte hier keine Antworten zitieren, aber es gibt viele Details abseits von Stereotypen. 

    Über Russland sagen die einen, dass davon die Kriegsgefahr ausgehe, die anderen, dass die Freundschaft mit Russland Garant dafür sei, dass das belarussische Territorium von den Kämpfen verschont bleibe. 

    Im Rahmen unserer Forschungen, unter anderem zum Thema „Informationskokons in Belarus und im Ausland“, tragen wir Berge von detaillierten Informationen zusammen und denken bereits über die Entwicklung einer Kokontheorie nach. Alles ist vielfältiger und komplexer als die Stereotype polarisierter Meinungen. 

    Weitere Themen

    Neues belarussisches Wörterbuch – Teil 2

    Hier kommt Belarus!

    Das Massaker von Butscha

    Bystro #38: Proteste in Belarus 2020. Was ist vom Widerstand geblieben?

    Meinst du, die Belarussen wollen Krieg?

    Der Abgrund ist bodenlos

    „Ich bleibe, um die Zukunft von Belarus vor Ort mitzugestalten“

  • Drohkulissen und Inszenierungen – Was passiert in Belarus?

    Drohkulissen und Inszenierungen – Was passiert in Belarus?

    Belarus ist mal wieder in den Nachrichten: Staatsführer Aljaxandr Lukaschenka hat bekanntgegeben, dass fast ein Drittel der belarussischen Armee an die Grenze zur Ukraine verlegt wurde. Laut Geheimdiensten wurden auch russische Söldner der Wagner-Gruppe an der Grenze im Gebiet Homel zusammengezogen. Warum dieses Manöver von Lukaschenkas Seite?  

    Zudem wurden für den 23. Februar 2025 sogenannte Präsidentschaftswahlen angekündigt, die weder frei noch fair werden, weil im Land keine Opposition mehr möglich ist. Diese muss aus dem Exil heraus agieren. Wie tut sie das? Wie hat sich die Opposition insgesamt entwickelt? Und welche Strategien hat sie für die anstehende Wahlinszenierung?  

    Auf diese und andere Fragen antwortet die belarussische Politologin Victoria Leukavets vom Stockholm Centre for Eastern European Studies (SCEEUS). 

    dekoder: Anscheinend hat Lukaschenka Truppen an der belarussisch-ukrainischen Grenze aufmarschieren lassen. Warum? 

    Victoria Leukavets: Die Spannungen zwischen Belarus und der Ukraine haben sich nach dem Einmarsch der Ukraine in die russische Region Kursk verschärft. Letzte Woche erklärte Lukaschenka, dass Belarus etwa ein Drittel seiner Streitkräfte an die Grenze zur Ukraine verlegt habe. Er warf der Ukraine eine aggressive Politik vor: unter anderem die Verletzung des belarussischen Luftraums bei ihrem Angriff auf die russische Region Kursk und die angebliche Entsendung von mehr als 120.000 ukrainischen Soldaten an die Grenze zu Belarus. Verteidigungsminister Viktor Chrenin erklärte, Belarus sei bereit, Vergeltung zu üben, falls ukrainische Soldaten in das Hoheitsgebiet des Landes eindringen sollten. Die Ukraine hat die belarussischen Anschuldigungen zurückgewiesen und erklärt, sie habe keine 120.000 Soldaten an die Grenze geschickt.  

    Alles nur ein Psychospiel oder besteht tatsächlich die Gefahr, dass Lukaschenka in den Krieg eingreifen könnte?

    Das Vorgehen Lukaschenkas kann auf verschiedene Weise interpretiert werden. Erstens ist ihm bewusst, dass belarussische Freiwillige eine aktive Rolle beim Einmarsch der Ukraine in die russische Region Kursk gespielt haben. Das Hauptziel der Freiwilligen ist es, nicht nur die Ukraine, sondern auch Belarus zu befreien. Daher versucht Lukaschenka, ein deutliches Signal zu senden, dass er die Lage an der belarussischen Grenze unter Kontrolle hält, falls die ukrainische Offensive auf belarussisches Gebiet übergreift. Zweitens könnte er durch die zunehmenden Spannungen an der belarussisch-ukrainischen Grenze Russland helfen, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit von dem Rückschlag abzulenken, den Russland beim Einmarsch in die Region Kursk erlitten hat. Dies erklärt die aktive Präsenz russischer Streitkräfte und russischer Söldner wie Wagner an der ukrainisch-belarussischen Grenze. 
    Insgesamt ist es unwahrscheinlich, dass Belarus eigene Truppen in den Krieg schicken wird, da das Land für Moskau als Ausgangspunkt für militärische Operationen viel wertvoller ist als aktiver Teilnehmer an militärischen Aktionen. Letzteres könnte das Risiko der Instabilität in Minsk erhöhen und eine harte internationale Reaktion auslösen, die der Kreml nicht unbedingt gebrauchen kann.  

    Aljaxandr Lukaschenka bei einer Militärparade im Juli 2024 in Minsk / Foto © president.gov.by
    Aljaxandr Lukaschenka bei einer Militärparade im Juli 2024 in Minsk / Foto © president.gov.by

    Eigentlich war die sogenannte Präsidentschaftswahl für den Sommer 2025 in Belarus angekündigt. Nun wurde bekannt, dass sie am 23. Februar 2025 stattfindet. Hat Lukaschenka Angst, dass der Sommer den Protestwillen der Belarussen beflügeln könnte? 

    Lukaschenka versucht tatsächlich, die Risiken einer Wiederholung des Szenarios von 2020 zu minimieren. Damals wurde Belarus von einer Welle noch nie dagewesener Proteste erfasst. Diese Erfahrung war ein Schock für das politische System, das Lukaschenka seit Mitte der 1990er Jahre aufgebaut hat. Es gelang ihm, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Der Preis dafür allerdings war sehr hoch. Der Westen verhängte umfassende Sanktionen. Auf internationaler Bühne geriet er in die völlige politische Isolation. Rückblickend auf das Jahr 2020 könnte Lukaschenka also denken: Wenn er damals vorsichtiger gewesen wäre, wenn er weniger Risiken eingegangen wäre, hätte er diese Krise vermeiden können. Und deshalb wird er dieses Mal keinerlei Risiken eingehen und alle noch so kleinen Schritte unternehmen, die Situation vollständig unter Kontrolle zu halten. Dazu gehört auch das Kalkül, dass die Menschen im Winter möglicherweise nicht so protestwillig sind wie im Sommer. 

    Alle oppositionellen Parteien wurden verboten, die Repressionswelle rollt weiterhin. Warum braucht Lukaschenka solche Wahlinszenierungen überhaupt noch? 

    Wahlen in nicht-demokratischen Umgebungen sind Instrumente und Rituale, mit denen sich Diktatoren an der Macht halten. Autokratien mit Wahlen gelten in der Wissenschaft tatsächlich als beständiger als solche ohne Wahlen. Bei Belarus sehe ich drei wesentliche Funktionen, die solche Wahlen haben: Das Regime will damit seine Unbesiegbarkeit signalisieren. Allein durch das Abhalten der Wahl sendet das Regime eine starke Botschaft sowohl an die Bevölkerung als auch an die politische Opposition. Und die besagt: Wir sind stark genug, diesen Stresstest durchzustehen, und wir haben die Lage vollständig unter Kontrolle. 

    Zudem nutzt das System solche Wahlen sicher, um Informationen über die Opposition zu sammeln? 

    Richtig. Das Regime sammelt Informationen zur Loyalität in der Bevölkerung und vor allem unter den eigenen Anhängern. Die Wahlen geben dem Regime die Möglichkeit, die Taktiken der Opposition zu studieren, daraus zu lernen und so die eigenen Taktiken zu testen, anzupassen und infolgedessen insgesamt widerstandsfähiger zu werden. Außerdem helfen solche Wahlen Lukaschenka, sich im In- und Ausland zu legitimieren: Sie stärken die Verbindung zum loyalen Teil seiner Wählerschaft, aber übermitteln auch den internationalen Partnern wie Russland und China die Botschaft, dass das Regime stark ist, dass es die völlige Kontrolle hat und dass die vertrauensvolle Zusammenarbeit fortgesetzt werden kann. 

    Seit Juli wurden zahlreiche politische Gefangene entlassen. Muss man dies auch in Zusammenhang mit dem bevorstehenden Wahlereignis sehen? 

    Es gibt Gerüchte, dass es eine dritte Welle von Freilassungen geben wird. Zum Tag der nationalen Einheit am 17. September. Lukaschenka verfolgt damit zwei Hauptziele. Er versucht, die Spannungen in der Gesellschaft ein wenig abzubauen und den Boden für die Wahl zu bereiten. Aber ein wahrscheinlicheres, vielleicht ein realistischeres Ziel ist dieses: Er ist bestrebt, die Kommunikationskanäle mit dem Westen wieder zu öffnen. Es ist seine Art, dem Westen zu signalisieren, dass er zu Verhandlungen bereit ist, um den Sanktionsdruck zu verringern. Dazu gehört auch, dass er sehr genau beobachtet, was auf dem Schlachtfeld zwischen Russland und der Ukraine passiert. Vor dem Hintergrund der mutigen Offensive der Ukrainer in Kursk kalkuliert er seine eigenen Schritte. Wenn Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland unvermeidlich werden, würde dies die geopolitische Konfiguration in der ganzen Region beeinflussen, was sich wiederum auf Lukaschenka auswirken würde. Er sendet deswegen im Voraus Botschaften an den Westen. Als ernsthafte Schritte zur Einleitung eines tiefgreifenden Öffnungsprozesses würde ich diese aber nicht interpretieren. Er will ja keinen politischen Selbstmord begehen. Vielmehr hat er kleinere, pragmatische Ziele im Blick.  

    Bevor wir über die Taktik der Opposition sprechen – wer oder was ist die belarussische Opposition eigentlich? 

    Die Opposition ist kein homogener Körper, sondern besteht aus verschiedenen Strukturen und Organen. Zum einen ist da das Team von Swjatlana Zichanouskaja, der anerkannten nationalen Führungsfigur der Opposition. Dann gibt es ihr Vereinigtes Übergangskabinett, eine Art Exilregierung, deren Mitglieder wie Minister zu unterschiedlichen Fachbereichen agieren. Dazu kommt der Koordinationsrat, der sich quasi zu einem Exilparlament entwickelt, in dem Gruppierungen und Fraktionen mit unterschiedlichen politischen Interessen vertreten sind. Im Mai wurden erstmals Wahlen zu diesem Koordinationsrat abgehalten. Die Wahlbeteiligung war sehr gering, aber nichtsdestotrotz ist dies eine spannende demokratische Übung, die sich weiterentwickeln wird und die den hohen Organisationsgrad der Opposition zeigt. Weitere Gravitationszentren sind das Nationale Anti-Krisen-Management, das sich in Warschau befindet und das von Pawel Latuschka geleitet wird, das Kalinouski-Regiment, das auf Seiten der Ukraine kämpft und das auch im Koordinationsrat vertreten ist, und Sjanon Pasnjak, ein prominenter Vertreter der alten Opposition. Er ist einer der lautesten Kritiker von Zichanouskaja, wird aber von der Mehrheit in der Demokratiebewegung nicht ernst genommen. 

    Wie sieht also die Strategie der Opposition in Bezug auf die Wahlinszenierung aus? 

    Wenn es keine neuen Entwicklungen geben wird und die Situation so bleibt, wie sie ist, wären die Wahlen im Grunde eine One Man-Show. Die Opposition hätte so nur ein sehr begrenztes Instrumentarium, um die Situation vor Ort zu beeinflussen. Eine Strategie, die aktuell diskutiert wird, ist daher die Entwicklung einer effizienten Kommunikationskampagne, die sich an die belarussische Bevölkerung innerhalb des Landes, aber auch an das externe Publikum richtet. Das Hauptziel dieser Kampagne wäre es, Lukaschenka weiter zu delegitimieren, indem man die ganze Welt daran erinnert, wie repressiv dieses Regime ist, wie viele politische Gefangene es immer noch gibt, welche Rolle Lukaschenka beim Angriffskrieg gegen die Ukraine spielt und so weiter. 

    Wie stark ist eigentlich die Anhängerschaft von Lukaschenka? Es gibt Zahlen, die sie auf 20 bis 30 Prozent bemisst. 

    Wir können keine eindeutige Antwort auf diese Frage geben, und zwar aus dem einfachen Grund, weil Belarus wie jedes andere autoritäre Land eine Blackbox ist. Unter den gegenwärtigen Bedingungen der Unterdrückung kann man die Stimmung in der Gesellschaft einfach nicht genau messen, Die Leute haben Angst, ihre Meinung zu sagen. Meinungsumfragen werden nur online durchgeführt. Und das bedeutet bereits, dass sie nicht vollständig repräsentativ sind. Die Zahlen, die Sie nennen, stammten aus Umfragen von 2021, die von Chatham House durchgeführt wurden. Präzise werden dort 27 Prozent auf Seiten der Lukaschenka-Unterstützer genannt. 

    Einige in der Opposition fordern, dass sich auch Swjatlana Zichanouskaja als Oppositionsführerin zur Wahl stellen müsse. Wäre das nicht kontraproduktiv? 

    Es gibt diese Stimmen. Aber viel wichtiger ist, dass am Ende der Konferenz Neues Belarus, die im August in Vilnius stattfand, von den Teilnehmern ein sehr wichtiges Dokument verschiedet wurde, mit dem Zichanouskaja als Anführerin bestätigt wurde. Und zwar bis zu dem Zeitpunkt, wenn wirklich demokratische Wahlen in Belarus abgehalten werden können oder wenn sie selbst das Amt niederlegt. Die Mehrheit ist also der Ansicht, dass solch eine Wahl unter den derzeitigen Umständen riskant wäre. Sie könnte den inneren Zusammenhalt der demokratischen Bewegung untergraben. 

    Swjatlana Zichanouskaja bei der Konferenz der belarussischen Opposition im August 2024 in Vilnius / Foto © Pressedienst Swjatlana Zichanouskaja
    Swjatlana Zichanouskaja bei der Konferenz der belarussischen Opposition im August 2024 in Vilnius / Foto © Pressedienst Swjatlana Zichanouskaja

    In den vergangenen Jahren gab es immer Kritik am Team Zichanouskaja. Was sind die wesentlichen Kritikpunkte? 

    Bei der Kritik geht es um die angeblich intransparente Verwaltung der von westlichen Gebern bereitgestellten Mittel, um die angeblich mangelnde Koordination zwischen all den Institutionen der Opposition, über die wir vorhin gesprochen haben. Zudem wird vor allem die nicht gleichberechtigte Vertretung oppositioneller Stimmen auf internationaler Ebene bemängelt. Der Druck auf das Team von Zichanouskaja ist sehr hoch, die Erwartungen sind groß, die Exilsituation ist für alle sehr schwierig. Ich will die Kritikpunkte nicht abmildern, aber Kritik ist unter diesen Umständen normal, und sie ist ein Zeichen für die Vitalität und Diversität der Opposition. Wenn wir über den Erfolg oder Misserfolg der Opposition sprechen, müssen wir andere Kriterien heranziehen. 

    Und die wären? 

    Kriterium Nummer eins: Die belarussische Oppositionsbewegung wird von einem starken Zusammenhalt getragen und hat eine effektive Koordination entwickelt. Nummer zwei ist die hohe Anerkennung im Ausland und erfolgreiche Lobbyarbeit auf internationaler Ebene. Tatsächlich ist Swjatlana Zichanouskaja ständig unterwegs, wird sogar auf höchster politischer Ebene von politischen Amtsträgern und Vertretern empfangen. Es ist gelungen, stetige Kommunikationskanäle mit Regierungen aufzubauen. Das dritte Kriterium: Die Oppositionsbewegung ist bemüht, regierungsähnliche Strukturen zu schaffen, die auf Grundlage demokratischer Prinzipien funktionieren. Auch hier sehen wir, dass die Oppositionsbewegung mit demokratischen Aushandlungsprozessen und Vertretungsformen experimentiert. Die russische Oppositionsbewegung beispielsweise macht keinen einzigen Schritt in diese Richtung. Und das letzte Kriterium, das wohl fundamentalste und schwierigste: Jede Oppositionsbewegung kann als erfolgreich angesehen werden, wenn sie effektive Mechanismen entwickelt, um die Verbindung zur Bevölkerung im Heimatland aufrechtzuerhalten.

    Kritiker bemängeln, dass die Opposition immer mehr zu einer Interessensvertretung der Exilbelarussen wird und den Kontakt zur Bevölkerung verliert. 

    An dieser Kritik ist natürlich etwas Wahres dran. Aber die Aufrechterhaltung der Kommunikation mit den Menschen im Land und deren Unterstützung hatte immer hohe Priorität. Es werden ständig neue Mechanismen entwickelt und getestet, um neue Kommunikationskanäle zu schaffen. Als die russische Vollinvasion begann, wurden verschiedene Antikriegs-Initiativen unterstützt, einschließlich der Eisenbahn-Partisanen und der Cyber-Partisanen. Diese Aktivitäten wurden in enger Abstimmung mit dem Büro von Zichanouskaja umgesetzt. Zudem werden ständig finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt, um politischen Gefangenen und deren Familien zu unterstützen. Es wird auch mit neuen Plattformen und Kanälen experimentiert, um die Menschen im Land mit Informationen abseits von Propaganda zu versorgen. Ich würde also nicht sagen, dass die Kommunikation mit den Menschen im Land ein völlig weißer Fleck ist. Ja, sie hat ihre Grenzen, weil das Regime derart repressiv ist. Aber die Opposition ist bemüht, diese Grenzen zu verschieben und aufzuweichen.  

    Lukaschenka hat in letzter Zeit häufiger gesagt, dass sich die Belarussen an einen neuen Anführer gewöhnen müssten. Er will doch nicht etwa zurücktreten? 

    Diesen Aussagen sollte man nicht ernst nehmen. Er hat in der Vergangenheit ähnliche Aussagen getätigt. Er versteht, dass Belarus eine sehr entscheidende Phase durchläuft. Und dies ist kein guter Zeitpunkt für einen Machtwechsel. Ich würde sagen, dass der Zweck solcher Aussagen im Grunde nur darin besteht, einen sehr ehrgeizigen Teil seiner Eliten in Schach zu halten. Indem er ihnen vermittelt, dass er zwar kein ewiger Anführer ist, dass er aber irgendwann für eine stabile Nachfolge sorgen wird, dass er die Kontrolle hat. Ein Rücktritt oder eine Machtübergabe werden ganz sicher nicht im Rahmen der Wahlen oder in baldiger Zukunft geschehen. Lukaschenka hat Angst, dass, wenn er loslässt, etwas Unvorhergesehenes passieren könnte. 

    Weitere Themen

    Swetlana Tichanowskaja

    Hier kommt Belarus!

    Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland seit 1991

    Alexander Lukaschenko

    Sjanon Pasnjak

    FAQ #5: Welche Rolle spielt eigentlich Belarus im Ukraine-Krieg?

    Im Schienenkrieg gegen Putin

    Alternative Wahlen für Belarus

    Die Identitätskrise der belarussischen Opposition

  • „Russlands Resilienz hat Grenzen“

    „Russlands Resilienz hat Grenzen“

    Russland hat die Sanktionen wegen des Angriffskrieges auf die Ukraine bislang besser weggesteckt als erwartet. Das Haushaltsdefizit fällt in diesem Jahr geringer aus als geplant, der Entwurf für das kommende Jahr sieht noch einmal deutliche Steigerungen bei den Verteidigungsausgaben vor. Das liegt vor allem am hohen Ölpreis und an der schwachen Währung. Der Ökonom und Russland-Experte Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik erklärt, wo dabei die Risiken liegen und was was diese Entwicklung für die russischen Bevölkerung bedeutet.

    dekoder: Russland kurbelt seine Rüstungsproduktion massiv an. Im Haushaltsentwurf für 2024 wurden die Ausgaben für Verteidigung fast verdoppelt. Mehr als jeder dritte Rubel wird für Militär und Sicherheit ausgegeben. Ist das schon Kriegswirtschaft? 

    Janis Kluge: Aus meiner Sicht sind wir noch nicht an diesem Punkt. Um von Kriegswirtschaft zu sprechen, müssten etwa zivile Industrien per Dekret verpflichtet werden, für das Militär zu produzieren. So etwas hat es im Zweiten Weltkrieg gegeben. Wenn Fabriken, die vorher Autos herstellten, auf staatliche Anordnung hin gepanzerte Fahrzeuge vom Fließband ließen, wäre das Kriegswirtschaft. Letztlich ist das Planwirtschaft. In Russland sind aber marktwirtschaftliche Mechanismen bislang noch weitgehend in Kraft. Die Rüstungsproduktion läuft größtenteils über staatliche Unternehmen und gewöhnliche Marktprozesse. Im kommenden Jahr wird Russland insgesamt wahrscheinlich knapp zehn Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Militär und Rüstung aufwenden. Da kann man schon davon sprechen, dass die Wirtschaft auf das Kriegführen ausgerichtet wird. Aber obwohl die Kosten enorm sind, ist der wirtschaftliche Alltag davon noch relativ unbeeinträchtigt. Das wäre bei einer Kriegswirtschaft nicht mehr der Fall. 

    Wie finanziert Moskau diese Ausgaben?

    Trotz steigender Militärausgaben sollen die Ausgaben in anderen Bereichen nur leicht sinken. Dafür plant das Finanzministerium mit Mehreinnahmen in unterschiedlichen Feldern: Es gab im vergangenen Jahr eine Stundung von Sozialbeiträgen, die 2024 fällig werden. Im Öl- und Gassektor gibt es kleinere Steuererhöhungen. Dazu kommt eine neue Exportsteuer für viele Industrien, die steigt, wenn der Rubel fällt, und damit die Wechselkursgewinne der Exporteure abschöpft. Große Defizite sind nicht geplant, im Gegenteil: Das russische Haushaltsdefizit fällt in diesem Jahr sogar geringer aus als erwartet. Das Finanzministerium hatte für 2023 ein Defizit von zwei Prozent eingeplant, aktuell rechnet man nur noch mit einem Prozent. Die Kriegsausgaben lenken den Staat jedoch davon ab, nachhaltigen Wohlstand für die Bevölkerung zu schaffen.

    Welche Rolle spielt dabei der schwache Rubel?

    Der Staat profitiert von der schwachen Währung, weil er für jeden Dollar aus dem Export von Öl und Gas mehr Rubel in die Kasse bekommt. Umgekehrt werden Importprodukte teurer und der Lebensstandard der Bevölkerung sinkt. Auch Unternehmen spüren die Währungsschwäche, wenn sie zum Beispiel Maschinen aus China kaufen. Hohe Preise auf dem Weltmarkt und eine schwache Währung machen es für russische Unternehmen attraktiver, ihre Produkte zu exportieren. Der Staat hat deshalb zeitweilig den Export von Getreide und Benzin beschränkt. Denn wenn die Unternehmen mehr Geld mit dem Export verdienen können, sagen sie sich: Okay, dann erhöhe ich auch meine Preise im Inland. Für die Verbraucher wirkt die Rubelschwäche wie eine versteckte Besteuerung, im Ergebnis führt sie zu einer Umverteilung von den Bürgern in den Staatshaushalt.

    Wie lange macht die Bevölkerung das mit?

    Auf lange Sicht kann sich die Inflation zu einem Problem entwickeln. Der Staat wird deshalb auch die Renten und die Löhne staatlicher Bediensteter anpassen müssen. Auch deshalb will das Finanzministerium trotz der kurzfristigen Mehreinnahmen nicht, dass der Rubel weiter an Wert verliert. Im nächsten Jahr stehen außerdem Präsidentschaftswahlen an, und da ist es schlecht, wenn die Bevölkerung die gestiegenen Preise allzu sehr im Supermarkt spürt. 

    Wie sieht es mit dem Arbeitsmarkt aus? 

    Russlands Arbeitslosigkeit befindet sich derzeit auf einem Rekordtief, an vielen Orten herrscht Arbeitskräftemangel. Der ergibt sich aus mehreren Faktoren: Hochqualifizierte Fachkräfte verlassen das Land, weitere Arbeiter verschluckt die Mobilisierung. Außerdem treten aufgrund des demografischen Wandels aktuell ohnehin wenig junge Leute in den Arbeitsmarkt ein. Die niedrige Arbeitslosigkeit bedeutet auch: Viele Arbeitnehmer profitieren von der auf Krieg ausgerichteten Wirtschaft, denn durch die Knappheit steigen ihre Reallöhne stärker als die Inflation. Das trifft vor allem auf diejenigen zu, die in kriegsrelevanten Branchen arbeiten. Wenn einem der politische Hintergrund egal ist, ist die aktuelle Situation sogar ein guter Moment, um Karriere zu machen. Denen, die gut vernetzt sind und dem Krieg positiv gegenüberstehen, bieten sich durch die Abwanderung ausländischer Investoren viele Gelegenheiten. Deswegen fühlt es sich für viele Russinnen und Russen nicht wie eine Krise an.

    Welchen Einfluss haben da die Sanktionen?

    Von den Sanktionen sind besonders die Sektoren betroffen, die eng mit dem Westen verflochten waren, zum Beispiel die Automobilindustrie. Aber auch in vielen anderen, wirtschaftlich weniger wichtigen Branchen gibt es Auswirkungen: Kinos können sich zum Beispiel jetzt nicht mehr auf legalem Weg westliche Filme beschaffen. Hinzu kommt, dass die Sanktionen Fachleute dazu zwingen können, das Land zu verlassen, wenn sie weiterhin bestimmte westliche Software-Dienstleistungen nutzen oder Teil der vernetzten Welt sein wollen. Das macht sich vor allem in der IT-Branche bemerkbar. 

    Je nach Schätzung sind im letzten Jahr bis zu einer Million Russinnen und Russen emigriert.

    Ja, aber es haben auch einige Unternehmen ihre Zelte im Land abgebrochen. Es sind also nicht unbedingt so viele Stellen tatsächlich frei geworden, denn einige sind zurückgekehrt, nachdem sie den Schock der Teilmobilisierung überwunden hatten. Oder sie arbeiten aus der Ferne weiter für ihre russische Firma. Es ist also nicht so ganz klar, wie viele nun wirklich weg sind vom Arbeitsmarkt, deswegen ist der Effekt auf die Wirtschaftsleistung nicht eindeutig. Bei den weniger qualifizierten Berufen funktioniert weiterhin die Arbeitsmigration. Auch dieses Jahr sind wieder sehr viele Arbeitsmigranten vorrangig aus Zentralasien und dem Kaukasus nach Russland gekommen, die sind ein wichtiger Ersatz für russische Männer, die in die Armee eingezogen wurden. 

    Wo weniger gearbeitet wird, kann weniger produziert werden. Der Staat muss seine Verluste also irgendwie kompensieren. Da ist zum Einen die wachsende Rüstungsindustrie. Was noch?

    Der Staat versucht zu verhindern, dass die Produktion ausländischer Unternehmen wegfällt. Deshalb versucht die russische Führung, internationale Konzerne dazu zu zwingen, im Land zu bleiben oder ihre Unternehmen zu Spottpreisen an russische Eigentümer zu verkaufen, die das Geschäft fortführen sollen. Damit wird auch der Rubelkurs geschützt. Normalerweise müsste ein russischer Käufer, der ein deutsches Unternehmen übernimmt, erst einmal Euros besorgen, um es auszubezahlen. Der Abfluss ausländischen Kapitals schwächt aber weiter den Rubel, und das möchte man vermeiden. De facto werden Firmen wie Danone oder Carlsberg, die jetzt ihre Geschäfte aufgegeben haben, dadurch enteignet, selbst wenn sie nach den offiziellen Regeln spielen wollten.

    Volkswagen hat seine Produktion in Russland nach Beginn des Angriffskrieges eingestellt. Das Werk in Kaluga könnte an einen chinesischen Hersteller gehen / Foto © Boevaya mashina/Wikimedia (CC BY-SA 4.0)
    Volkswagen hat seine Produktion in Russland nach Beginn des Angriffskrieges eingestellt. Das Werk in Kaluga könnte an einen chinesischen Hersteller gehen / Foto © Boevaya mashina/Wikimedia (CC BY-SA 4.0)

    Und das funktioniert?

    Die Fortsetzung des Geschäfts nach so einem Eigentümerwechsel funktioniert unterschiedlich gut. Um das zu beurteilen, schaut man sich am besten die Lieferketten an. Je mehr das Unternehmen in westliche Lieferketten integriert ist, desto schwieriger ist es, die Produktion komplett vom vorherigen Eigentümer unabhängig zu betreiben. In der Automobilindustrie ist es bisher kaum gelungen, sie unter russischer Führung wieder in Gang zu bringen. Anders ist das zum Beispiel bei McDonald’s, weil es da von vornherein lokale Lieferketten gab. Aber das ist nicht alles, denn langfristig hat diese Unternehmen sicher noch mehr ausgezeichnet, als nur ein westliches Label auf irgendwelche russischen Dinge draufzuschreiben. Weil die Kommunikation mit dem Mutterkonzern jetzt abgeschnitten ist, werden wichtige Prozesse in den russischen Zombie-Unternehmen nicht weiter verbessert und dadurch fehlen Innovationen. 

    Wie lange kann der Westen den wirtschaftlichen Druck aufrechterhalten? 

    Für den Westen steht wirtschaftlich erst einmal nicht so viel auf dem Spiel wie für Russland, weil die Kosten der Sanktionen sich auf eine viel größere Volkswirtschaft verteilen, während der Schaden in Russland konzentriert auftritt. Für den Westen ist auch die Unterstützung der Ukraine nicht sehr teuer.

    Ist die Belastung des Westens durch den Krieg, die viel diskutierte „Ukraine fatigue“, nur Einbildung?

    Wenn die Unterstützer der Ukraine dauerhaft nur 0,3 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Ukrainehilfen aufbringen würden, wäre das immer noch mehr, als Russland aktuell für den Krieg ausgeben kann. Das spürt der einzelne Bürger nicht in seinem Portmonee. Aber die Frage „Unterstützen oder nicht?“ ertrinkt immer mehr in Symbolik und wird zu einem Streitthema in Wahlkämpfen. Tatsächlich kommt Deutschland trotz des Sondervermögens nur mit Ach und Krach auf die von der NATO empfohlenen 2 Prozent an Verteidigungsausgaben. Der Westen schöpft seine wirtschaftlichen Möglichkeiten, sich dem Krieg entgegenzustellen, nicht aus.

    Wann könnte Russland doch noch in Schwierigkeiten geraten?

    Der Ölpreis ist entscheidend. Russland hat aktuell kaum Reserven, um niedrige Preise abzufedern. Früher hat der Staat bei hohen Ölpreisen Reserven in ausländischen Währungen gebildet. Wenn die Preise wieder sanken, wurden die Reserven in Rubel umgetauscht, um den Rubel zu stärken. Diesen Ausgleichsmechanismus kann Russland jetzt nicht mehr auf die selbe Weise nutzen, denn durch die Sanktionen kann die Zentralbank die noch vorhandenen Reserven nicht mehr verkaufen und zumindest selbst auch keine neuen Reserven in liquiden Währungen wie Dollar und Euro anhäufen. Wenn der Preis für Öl plötzlich einbräche, wie etwa 2014, würde das Russland jetzt viel stärker treffen. Danach sieht es zwar aktuell nicht aus, aber dennoch: Russlands wirtschaftliche Resilienz hat Grenzen.

    Experte: Janis Kluge
    Interview: Alexandra Heidsiek
    Veröffentlicht am 2.11.2023

    Weitere Themen

    „Man setzt darauf, dass die Europäer einknicken“

    Wie Nowy Burez lebt – und stirbt

    Putins Ökonomie des Todes

    Wo Arbeitslosigkeit und Wirtschaft gemeinsam schrumpfen

    Zufluchtsort Tbilissi: Junge Russen im Exil

    Für den russischen Pass in den Krieg

  • Ist Russland totalitär?

    Ist Russland totalitär?

    Als der Begriff „Putler“ in den 2000er Jahren im russischsprachigen Internet aufkam, klang es vielen wie ein Kalauer. Mit der Zeit häuften sich die Hitlervergleiche, auch mit Stalin wurde Putin immer wieder verglichen. Heute ist es gewissermaßen normal, das System Putin als faschistisch und/oder stalinistisch zu bezeichnen. Was sind die Gemeinsamkeiten dieser drei Diktaturen? dekoder hat mit dem Historiker Matthäus Wehowski gesprochen, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung. 

    Das System Putin wird heute häufig als faschistisch oder stalinistisch bezeichnet / Foto © Mikhail Metzel/ZUMA Wire/imago-images

    dekoder: Was ist Totalitarismus und worin unterscheidet er sich vom Autoritarismus?

    Matthäus Wehowski: Es gibt verschiedene Definitionen von Totalitarismus. Ganz grob gesagt, sind das Staatswesen, die auf Massenmobilisierung setzen und dazu alles anhand einer bestimmten Ideologie ausrichten. Die Ideologie durchdringt hier alles, jedes einzelne Leben. Manche Forscher beschreiben Ideologien als politische Religionen: Sie haben einen Ausschließlichkeitsanspruch, die Deutung ist quasi monopolisiert. Eine Ideologie ist weitgehend widerspruchsfrei, ihre einzelnen Komponenten können aufeinander bezogen werden. In der Theorie hat sie also ein Mindestmaß an Konsistenz und Kohärenz. 

    Als „Klassiker“ des totalitären Staates gelten das sogenannte Dritte Reich und die Sowjetunion unter Stalin. Im „Dritten Reich“ war die Ideologie des Nationalsozialismus auf ausnahmslos alle Sphären von Politik und Gesellschaft ausgerichtet. Ob etwa eine Person „Wert“ hatte oder nicht – im Dritten Reich hat man das anhand der Abstammung, von „Blut und Volk“ und dieser ganzen sozialdarwinistischen Ideen definiert. Im Stalinismus gab es eine besondere Färbung des Marxismus-Leninismus und der sogenannten Diktatur des Proletariats. Der „Wert“ einer Person wurde daran gemessen, inwieweit er im Sinne der Staatspartei in diese Ideologie hineinpasst oder nicht. Ob das eine kohärente Ideologie gewesen ist, ist in der Wissenschaft in vielen Punkten umstritten. Wichtig ist aber unter anderem, dass sie allgegenwärtig war: Die Gesellschaft war mobilisiert, es gab ständig Paraden und Indoktrination, die Ideologie war überall, alles wurde durch das Prisma der Ideologie gesehen, ohne Ausnahmen und Nischen. Dies ist wohl auch der Unterschied zum Autoritarismus: Beides sind diktatorische Herrschaftsformen, im Autoritarismus gibt es aber noch ein Mindestmaß an Pluralismus – dieser ist zwar eingeschränkt, aber es gibt ihn eben. Totalitäre Systeme kennzeichnen sich dagegen durch ein Deutungsmonopol. 

    Sie haben das Stichwort politische Religion genannt. Hat eine Ideologie auch ein Heilsversprechen oder eine Zukunftsvision? Will sie unbedingt einen neuen Menschen? 

    Wenn wir uns diese klassischen historischen Beispiele anschauen, dann gehört das wohl dazu. Der Stalinismus hatte einen Anspruch auf die Bildung einer neuen Gesellschaft, auf die Schaffung des sogenannten Sowjetmenschen. Der neue Mensch ist natürlich ein utopisches Element, und wenn man will, auch eine Art Heilsversprechen. Im Nationalsozialismus ist es etwas anders: Hier gab es die Idee einer glorreichen idealen Vergangenheit, die wiederhergestellt werden sollte. Das sogenannte Urvolk sei demnach eine „reine Rasse“ gewesen, ohne Einflüsse von außen – und da, so die NS-Vision, müsse man wieder hin. Gleichzeitig gab es natürlich das Versprechen von moderner Technik. Wir haben diese Ideen von utopischen Umgestaltungen – zum Beispiel Berlin, das zur „Reichshauptstadt Germania“ umgebaut werden sollte. Es war also ein Mix aus romantisierter Vergangenheit und einer utopischen Zukunft. Im Stalinismus haben wir dagegen diesen extremen Blick nach vorn: Dem Anspruch nach wollte der Stalinismus komplett mit der Vergangenheit brechen und aus dieser Tabula Rasa eine neue Gesellschaft, einen vollständig neuen Menschen schaffen. 

    Wenn man diese Prinzipien zugrunde legt, dann ist Russland also nicht totalitär. Richtig? 

    Ja. Aus vielen Gründen. Es gab früher diesen sogenannten „Gesellschaftsvertrag“: Ihr könnt alles machen und reden, was ihr wollt, dafür mischt ihr euch aber nicht in die Politik ein – und wir sorgen für euren Wohlstand. 2014 kam noch der sogenannte „Krim-Konsens“ dazu: Wer für die „Angliederung“ ist, ist auch für Putin – fertig, aus. Das Regime hat also jahrzehntelang dezidiert darauf gesetzt, die Gesellschaft eben nicht zu mobilisieren, sondern sie zu depolitisieren und apolitisch zu halten. Es gibt daher auch keine klare Ideologie, mit der man mobilisieren könnte. 

    Seit 2014 sinkt das Realeinkommen in Russland, der Kreml kann sein Wohlstandsversprechen also nicht halten. Auch der „Krim-Konsens“ scheint zu bröckeln. Das Regime ideologisiert sich zwar scheinbar – man nehme etwa die Diskussion um die Einheitlichkeit der Geschichtsbücher an den Schulen – insgesamt ist der Prozess aber sehr versatzstückartig, Schaffung einer Ideologie aus einem Guss scheint mir da eher unwahrscheinlich. Und eigentlich braucht der Kreml auch keine Ideologie, um sich zu legitimieren: Es ist zynisch, aber der Machterhalt kann auch durch Repressionen gesichert werden. 

    Aber es gibt doch die sogenannte Russische Welt – ist das denn keine Ideologie? 

    Wie man’s nimmt, kohärent ist diese Anschauung jedenfalls nicht: Hier etwas Mystizismus, da ein bisschen Orthodoxie, eine Prise Stalinismus, noch etwas Sowjetnostalgie etc. Für eine kohärente Ideologie reicht das nicht, eigentlich gibt es im aktuellen Russland überhaupt keine Ideologie im klassischen Sinne. Das ist eine ganz wichtige Sache, die wir uns immer wieder vor Augen halten müssen. Mark Galeotti, der britische Russland-Historiker, spricht von Adhocracy. Ich finde, dieser Begriff passt sehr gut: Zuerst konstruiert man eine gefällige russische Geschichte, und dann bedient man sich daraus nach Belieben – man nimmt aus dieser Mottenkiste einfach das, was einem gerade ad hoc in den Kram passt, mal Peter den Großen, mal Katharina, mal Gumiljow, mal Dsershinski. Das ist keine kohärente Ideologie mit einem festen Fundament. Wenn es so etwas heute überhaupt noch gibt, dann wohl nur in Nordkorea.

    Der Journalist Andrej Archangelski hat kürzlich von einem Totalitarismus 2.0 gesprochen: Die Ideologie des Putinismus speise sich aus der Ablehnung von progressiven Werten. 

    Das machen doch auch andere Regierungen, in Ungarn oder Polen zum Beispiel. Feindschemata können zwar auch Solidaritätseffekte stiften und damit eine Eigengruppe formen, das macht das Ganze aber noch lange nicht zu einer Ideologie. Eine Ideologie ist vom Anspruch her konstruktiv, sie ist für etwas – und nicht nur gegen. Der Kreml legitimiert sich aber zunehmend nur noch durch ein schlichtes Feindschema: Russland, so heißt es, sei eine belagerte Festung, der Westen wolle es unterwerfen und plündern. Auch die Aggression gegen die Ukraine verkauft die Propaganda doch als einen Verteidigungskrieg. So ein Feindschema kann zwar einen Rally ‚round the flag-Effekt stiften und auch die Repressionen im Inneren legitimieren, eine Zukunftsvision bietet es aber nicht. Außerdem legitimiert sich das System im Grunde ex negativo: Es braucht einen konstituierenden Anderen.

    Damit macht es sich doch letztendlich auch abhängig von diesem Anderen. Ist es nicht eine recht unzuverlässige Methode des Machterhalts? 

    Es gibt diesen wunderbaren Spruch von Alexei Yurchak: „Everything was forever until it was no more“. Der Zusammenbruch einer Diktatur kann ganz plötzlich passieren oder auch gar nicht. Das klingt jetzt trivial, aber im Sommer 1989 hätte eine Mehrheit aller Beobachter wohl gesagt, dass die Mauer natürlich die nächsten 100 Jahre noch stehen bleiben wird, so wie Honecker das erklärt hat. Hätte man vor dem Arabischen Frühling Experten um ihre Einschätzung zur Dauerhaftigkeit der libyschen Diktatur gefragt, hätten sie die wohl auch als stabil eingestuft. Natürlich kann Putin ein Gaddafi-Schicksal ereilen. Denkbar ist aber auch, dass er bis zu seinem natürlichen Tod an der Macht bleibt. Oder gar darüber hinaus, es gibt da wirklich ganz absurde Fälle: Der algerische Präsident Bouteflika war jahrelang aus der Öffentlichkeit verschwunden und hat trotzdem noch geherrscht. Die Bevölkerung wusste nicht mal, ob der Mann überhaupt noch lebt, er blieb trotzdem an der Macht. Und Mugabe war zuletzt völlig senil und hat nur noch Unsinn geredet. Aber regiert hat er bis zu seinem Exitus. Wir hatten das in der Sowjetunion mit Tschernenko, der schon todkrank war, als er überhaupt zum Generalsekretär der KPdSU wurde. 

    Es gibt so viele Faktoren, die völlig unkalkulierbar sind. Putin hat zwar funktionierende Instrumente des Machterhalts: Propaganda, Feindschema, Repressionsapparat, Geheimdienste etc. – dann kommt aber so ein Prigoshin, und das Regime gerät ins Wanken. So etwas kann in autoritären Regimen mit ihrem typischen Mangel an echten politischen Institutionen eben schneller passieren. Kann passieren, muss aber nicht. 

    Experte: Matthäus Wehowski
    Interview: Anton Himmelspach
    Veröffentlicht am 24.10.2023

    Weitere Themen

    BYSTRO #36: Putinismus und die frühere Sowjetunion – ein Vergleich

    Lukaschenko auf den Spuren des Totalitarismus

    Prigoshins Aufstand: eine Chronologie der Ereignisse

    Außerhalb von Schwarz und Weiß

    Der Traum vom apolitischen Protest

  • Das Ende der Republik Arzach und die Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach

    Das Ende der Republik Arzach und die Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach

    Mit einer handstreichartigen Operation hat das aserbaidschanische Militär am 19. September 2023 die Regierung der selbsternannten Republik Arzach in Bergkarabach zur Kapitulation gezwungen. Der Quasi-Staat hört zum Jahresende auf zu existieren. Fast alle Armenier sind aus der Enklave geflohen. Die Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft blieben gleichwohl verhalten. Welche Rolle spielen Russland, die Türkei und der Iran bei dem Konflikt, und wie groß ist die Gefahr für Armenien? 
    Sieben Fragen an die Politikwissenschaftlerin Cindy Wittke, die sich am Leibnitz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung mit eingefrorenen Konflikten in der Region beschäftigt. 

    1. Am 19. September, als Aserbaidschan die Enklave eroberte, waren Sie zu einem Forschungsaufenthalt in Jerewan. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

    Die Stimmung war bereits angespannt, als ich Anfang September nach Armenien eingereist bin. Ich führe für meine Forschung unter anderem Interviews mit lokalen Expert*innen und auch mit Vertreter*innen von internationalen Organisationen in der Region. Meine Gesprächspartner*innen hatten für den September mit einer erneuten Eskalation des Konfliktes um Bergkarabach gerechnet. Schon der letzte Krieg um die zumeist von Armenier*innen bewohnte Region im Jahr 2020 hatte im September begonnen und wurde im November durch das von Russland vermittelte Trilaterale Statement zunächst beendet. Aserbaidschan sah sich selbst als Sieger des sogenannten 44-Tage Kriegs. Ein weiterer Ausbruch des Konfliktes war jedoch absehbar, da Aserbaidschan noch immer keine effektive politische und militärische Herrschaft über die Region Bergkarabach hatte. Im September 2022 gab es aserbaidschanische Angriffe auf das armenische Kern-Territorium an der Kontaktlinie und seit Dezember 2022 wurde der Latschin-Korridor, der Zugang von Armenien nach Bergkarabach, trotz der Anwesenheit sogenannter Friedenstruppen aus Russland durch Aserbaidschan blockiert. Die Lage war also seit 2020 nie vollkommen befriedet, sondern hatte stets Eskalationspotential.

    Dass der Konflikt immer im September eskaliert, hat unter anderem mit dem Klima zu tun: In den Bergen sind die Sommer sehr heiß und die Winter sehr kalt. Der Übergang zwischen den Jahreszeiten ist kurz. Die Situation, die man von September bis November militärisch schafft, wird sehr wahrscheinlich den ganzen Winter und darüber hinaus politisch eingefroren. Dazu kommt, dass der Winter den Armenier*innen in Bergkarabach und auch in Armenien jedes Mal ihre Verletzlichkeit vor Augen führt. Die Bevölkerung von Bergkarabach litt im vergangenen Winter unter Strom- und Gasmangel aufgrund der Blockade und auch Armenien selbst ist arm an Ressourcen und abhängig; die Energie-Infrastruktur ist weitgehend in russischer Hand.

    Eine weitere Rolle unter den Eskalationsfaktoren wird gespielt haben, dass sich in der Woche um den 19. September die internationale Staatengemeinschaft zur jährlichen Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York getroffen hat. Schon im Vorfeld gab es eine Sondersitzung des Sicherheitsrates zur Situation in Bergkarabach, auf der die Frage behandelt wurde, ob es sich bei der Blockade von Bergkarabach durch Aserbaidschan um einen Genozid durch Aushungern handelt, wie es der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Moreno Ocampo, in einem öffentlichen Statement schrieb. Letztlich ging es Aserbaidschan meiner Ansicht nach darum, mit militärischen Mitteln Fakten zu schaffen und vor neuen international vermittelten Verhandlungen, sei es in Moskau, Washington oder Brüssel, faktisch das ganze Gebiet von Bergkarabach unter seine politische und militärische Kontrolle zu bringen.

    2. Tatsächlich gab es aus New York kaum Reaktionen. Der Sicherheitsrat hat nicht einmal ein Statement veröffentlicht. Liegt der Karabach-Konflikt zu sehr im Schatten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine?

    Die gleiche Frage habe ich meinen Gesprächspartner*innen in Jerewan auch gestellt. Einige waren der Ansicht, der 44-Tage-Krieg Aserbaidschans gegen Armenien 2020 sei der eigentliche Auftakt für die Zeitenwende gewesen. Damals habe Russland gesehen, dass die internationale Staatengemeinschaft weder mit Sanktionen und schon gar nicht militärisch einschreitet, wenn ein Land entscheidet, in einem ungelösten Territorialkonflikt, oder sogenannten eingefrorenen Konflikt, mit militärischen Mitteln abseits von Verhandlungen Fakten zu schaffen. Daraus schloss man, dass sich die Welt – insbesondere der sogenannte Westen – auch im Hinblick auf die Ukraine weitgehend auf Appelle beschränken und nicht militärisch intervenieren würde. Aktuell steht meiner Ansicht nach dieser Konflikt und sein Eskalationspotential über die humanitäre Katastrophe in Bergkarabach hinaus im Schatten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Die überregionalen Verflechtungen werden übersehen.

    3. In Aserbaidschan werden seit einiger Zeit Stimmen laut, die behaupten, es gäbe gar kein Armenien und keine Armenier. Sie bezeichnen Armenien als „West-Aserbaidschan“. Das erinnert an die russische Propaganda, die das Existenzrecht der Ukraine infrage stellt. Muss man fürchten, dass Aserbaidschan seine Angriffe auf armenisches Territorium ausweitet?

    Ich denke, dass man hier tatsächlich in gewisser Hinsicht dem Moskauer Vorbild folgt: Rhetorisch und diskursiv werden Bilder und Narrative geschaffen, denen dann militärische Operationen folgen – interessanterweise wurde das Vorgehen gegen Bergkarabach als militärische Anti-Terror-Operation bezeichnet. 2020 konnte Präsident Ilham Alijew argumentieren, dass Aserbaidschan lediglich seine territoriale Integrität in den international anerkannten Grenzen herstellen wolle und Bergkarabach von Armenien okkupiert sei. Das war nun in 2023 schon anders, und selbst wenn Bergkarabach de jure aserbaidschanisches Territorium ist und die Verfassung des Landes Aserbaidschan zum Beispiel keinen Autonomiestatus für ethnische Minderheiten vorsieht, heißt das nicht, dass Aserbaidschan mit den auf diesem Gebiet lebenden Menschen – also den Armenier*innen – tun und lassen kann, was es will. Trotzdem ist auch dieser weitere „Test“ aus aserbaidschanischer Sicht erfolgreich verlaufen; innerhalb von 24 Stunden hat Bergkarabach kapituliert und die de facto Regierung hat die Auflösung der selbsternannten, nicht anerkannten Republik Arzach für 2024 verkündet.

    International gab es im Vergleich zum Krieg gegen die Ukraine nur leisen oder mahnenden Protest im Hinblick auf die humanitäre Lage der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach, die nach heutigem Stand weitgehend nach Armenien geflohen ist. Die dringende Frage ist jetzt aber, ob Aserbaidschan noch weiter geht, und mit militärischer Gewalt etwa einen Korridor in die Exklave Nachitschewan herstellt, die von Armenien und Iran umschlossen ist und nur eine sehr schmale Grenze mit der Türkei hat. Wenn man Alijew zuhört – und ich glaube, das sollte man genauso tun, wie man Wladimir Putin vor 2022 hätte aufmerksam zuhören sollen – dann gibt es gute Gründe hier tatsächlich um die territoriale Integrität des armenischen Staates besorgt zu sein.

    Die Niederlage von 2020, der effektive Verlust Bergkarabachs im September 2023 und die verkündete Auflösung der Republik Arzach führen zu einer politischen und gesellschaftlichen Identitätskrise und setzen die Regierung von Nikol Paschinjan unter enormen Druck / Foto © Cindy Wittke

    4. Wer könnte Alijew stoppen?

    Die Akteure, die das tun könnten, sind zuvorderst unmittelbar in der Region zu suchen: die Türkei, Russland und der Iran. Ich fand es bemerkenswert, dass der russische Verteidigungsminister, einen Tag nachdem Aserbaidschan seine militärische Operation gegen Bergkarabach begonnen hatte, in Teheran war. Ich denke, dass man hier eventuell versichert hat, dass iranische Interessen hinsichtlich des Transits von Gütern durch Armenien oder Aserbaidschan gewahrt werden, und dass es keinerlei Ambitionen gibt, Aserbaidschans Territorium auch auf iranisches Territorium auszudehnen. Man darf nicht vergessen, dass im Iran eine Minderheit von circa fünf Millionen Aserbaidschaner*innen lebt. Wenn Alijew seine Visionen eines größeren Aserbaidschans skizziert, wird man in Teheran natürlich hellhörig. Die Balance der Kräfte ließe durchaus zu, dass unterschiedliche Akteure sich dafür einsetzen, dass Aserbaidschan nicht noch den nächsten Schritt tut.

    5. Das hört sich nicht so an, als könnte das die Armenier wirklich beruhigen.

    Armenien ist in einer der misslichsten politischen Lagen, die man sich denken kann. Die armenische Innen- und Außenpolitik hat das Schicksal des Landes immer eng mit dem der Karabach-Armenier*innen verbunden. Die Niederlage von 2020, der effektive Verlust Bergkarabachs im September 2023 und die verkündete Auflösung der Republik Arzach führen zu einer politischen und gesellschaftlichen Identitätskrise und setzen die Regierung von Nikol Paschinjan unter enormen Druck.

    In dieser Situation muss das Land nun noch Hunderttausend Flüchtlinge aufnehmen. Armenien hat Erfahrungen mit dem Zuzug von Flüchtlingen. Es hat eine große Zahl von Christen aufgenommen, die vor dem Krieg in Syrien geflohen sind. Vor einem Jahr sind dann viele Russen vor der Mobilmachung und im Zuge der Sanktionen gegen Russland aus ihrer Heimat nach Jerewan gekommen. Armenien hat von den Sanktionen gegen Russland indirekt profitiert. Die IT-Branche boomt, die Wirtschaft wächst, und die Währung ist stark. Aber das ist kein nachhaltiges Wachstum, von dem die Gesamtbevölkerung und das Land nachhaltig profitieren. Die Mehrzahl der Menschen, die jetzt aus Stepanakert und anderen Orten aus Bergkarabach ankommen, haben oftmals alles zurückgelassen und blicken auf Krieg und Blockade zurück. Sie brauchen Unterkunft, sie müssen versorgt werden und irgendwann werden sie auch Wohnungen brauchen. Bei den Protesten, die ich in Jerewan mitbekommen habe, haben die Demonstrant*innen der Regierung vorgeworfen, das Land nicht ausreichend auf diese Situation vorbereitet zu haben.

    Sicherheitskräfte vor dem Regierungsgebäude in Jerewan, auf deren Schildern die Arzach-Flagge zu sehen ist, werden von aufgebrachten Demonstrierenden mit Bildern aus Karabach konfrontiert und als „Türken“ beschimpft / Foto © Cindy Wittke

    6. Wird die Regierung Paschinjan das überstehen?

    Ich war schon früher in Krisensituationen in Armenien, aber ich habe noch nie erlebt, dass sich Armenierinnen und Armenier auf der Straße angesichts ihrer unterschiedlichen Positionen anschreien. Diese emotionale Aufgeladenheit und Aggressivität kannte ich nicht; mir wurde berichtet, dass es 2020 nach dem Abschluss des Trilateralen Statements in Moskau – aus dem verlorenen Krieg – bereits ähnlich war. Menschen, die eine besonders starke Position für Arzach einnahmen, beschimpften gemäßigtere Armenier*innen sowie Polizei und Sicherheitskräfte als „Türken“. Das Land ist wirklich in einer Identitätskrise. Wenn das jetzt in einen politischen Selbstzerstörungsmodus umschlägt, käme das Moskau zupass, das gern wieder eine pro-russische Führung unter seiner Kontrolle installieren würde. Andererseits muss man sagen, dass die Regierung die Situation derzeit noch relativ gut gemanagt hat. Es wurden keine Wasserwerfer oder gepanzerten Fahrzeuge gegen Demonstrant*innen eingesetzt, die den Sitz der Regierung auf dem Platz der Republik stürmen wollten. Die Plätze der Hauptstadt wurden nicht gesperrt, die Regierungsgebäude wurden mit Menschenketten geschützt und die nach 2018 neu aufgestellte Polizei hat auf Dialog gesetzt, auch wenn es zu gewaltsamen Zusammenstößen und Verhaftungen kam. Die Situation ist existenziell für Armenien. Dennoch möchte ich die Hoffnung auf die Resilienz der Armenier*innen und des Demokratieprozesses nicht aufgeben. 

    7. Was war eigentlich Ihre Forschungsfrage, mit der Sie nach Jerewan gereist sind? 

    Seit mehreren Jahren untersuche ich die oft widersprüchlichen Völkerrechtspolitiken von Staaten im sogenannten postsowjetischen Raum aus einer vergleichenden Perspektive. Meine Fallstudien sind Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldau, die Ukraine und Russland. Das Projekt basiert auf der Beobachtung, dass die Staaten, die aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion (wieder) hervorgegangen sind, seit 1991 vor der enormen Herausforderung stehen, im Rahmen ihrer Staatsbildungs- und umfassenden Transformationsprozesse ihre eigene Völkerrechtspolitik zu formulieren und umzusetzen. Konflikte um Territorien wie um Bergkarabach haben diese Prozesse entscheidend geprägt. Für meine Forschung führe ich unter anderem Experten-Interviews mit Völkerrechtler*innen in der Region durch; so auch in Armenien. Die jüngere Generation – häufig im Westen ausgebildet – hat sich sehr dafür eingesetzt, Armeniens Position und die der in Bergkarabach lebenden Armenier*innen mithilfe des Völkerrechts zu stärken und Aserbaidschans politischen und vor allem militärischen Handlungsspielraum einzuschränken. Aber wenn es um mögliche politische Verhandlungslösungen zwischen Armenien und Aserbaidschan geht, herrscht auch unter diesen Expert*innen keine Einigkeit. Das unterstreicht einmal mehr die Zerrissenheit des Landes in dieser konflikthaften Gemengelage. Im Moment schauen wir vor allem auf die Vertreibung der Karabach-Armenier*innen und auf die humanitäre Katastrophe. Aber es geht noch um mehr. Es geht wirklich auch um den demokratischen Weg und letztlich um die bedrohte Staatlichkeit Armeniens.

    Expertin: Cindy Wittke
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am 04.10.2023

    Weitere Themen

    Tschüss, Russki Mir?!

    „Nach einem Sieg der Ukraine befreien wir Tschetschenien“

    Im Schwebezustand – Südossetien

    Was ist eigentlich im Nordkaukasus los?