Am 25. Februar werden in Belarus Parlaments- und Kommunalwahlen abgehalten. Es sind die ersten landesweiten Wahlen seit 2020. Damals waren die Präsidentschaftswahlen Auslöser für landesweite Proteste, die nur mit massiver Gewalt niedergeschlagen werden konnten. Seitdem haben zigtausende Bürgerinnen und Bürger das Land verlassen, Tausende wurden eingesperrt, das Regime setzt seine Jagd auf Andersdenkende fort. Wjatscheslaw Korosten gibt für das belarussische Portal Pozirk einen sarkastischen Ausblick auf eine Wahl, bei der sich das Regime noch nicht einmal mehr um den Anschein von Demokratie bemüht.
Einen Monat vor dem Einheitlichen Wahltag gibt es keinen Zweifel mehr: Die Wahlen zur zweiten Kammer des Parlaments und in die Lokalparlamente werden diesmal maximal ehrlich ablaufen. Die Behörden haben jede Imitation von Demokratie aufgegeben und verbergen nichts mehr: Sie werden die Kandidaten eigenhändig auswählen, die Abgeordneten selbst ernennen und die Wähler nicht unnötig mit der Illusion einer Willensäußerung verunsichern.
Und wenn jemand meint, von seiner Stimme würde irgendetwas abhängen, oder schlimmer noch, auf die Idee kommt, auf seine Rechte hinzuweisen, dann werden ihn spezielle Leute per „Alarmknopf“ umgehend eines Besseren belehren.
Nicht, dass es früher so viel anders gewesen wäre. Die Parlamentsabgeordneten wurden auch vorher selektiert und ernannt. Es wäre töricht zu glauben, die finale Liste würde durch die Wähler und nicht durch Alexander Lukaschenko persönlich abgesegnet.
Allerdings war der Herrscher vor 2020 noch gnädig und ließ seine Opponenten wenigstens auf dem Stimmzettel zu. 2016, mitten im Tauwetter, ließ er sogar zu, dass die gemäßigten Oppositionellen Jelena Anissim und Anna Kanopatskaja ein Mandat als Abgeordnete erhielten. Das änderte zwar nichts daran, dass die zweite Kammer des Parlaments ein Ort ist, wo Entscheidungen von oben im Fließbandverfahren abgesegnet werden, aber immerhin wehte einen Hauch von Pluralismus durch den Sitzungssaal.
Jetzt sind die Zeiten völlig andere. Es gibt nicht nur keine oppositionellen Kandidaten, es gibt im legalen Bereich gar keine Opposition mehr: Oppositionsparteien wurden aufgelöst, soziale Bewegungen abgeschafft, abweichende Meinungen sind de facto kriminalisiert. Sämtliche nennenswerte regimekritische Politiker sind entweder im Gefängnis oder im Ausland. Den weniger auffälligen wird klargemacht, dass sie besser die Füße stillhalten und nicht aufmucken. Der Bildung eines neuen Parlaments und der regionalen Räte nähert sich Belarus im Stechschritt in Reih und Glied und ohne Widerrede.
Am 15. Januar war die Nominierung der Kandidaten abgeschlossen. Die Zentrale Wahlkommission meldete munter: Auf 110 Abgeordnetensitze kämen insgesamt 298 Kandidaten – 2,7 auf jedes Mandat. Bei der Wahl 2019 waren es 2,4 Mal mehr – 703 Kandidaten und damit 6,4 pro Sitz.
Man bleibt unter sich, die Kandidaten sind handverlesen und linientreu. Bereit, Lukaschenko und seinem Kurs zu dienen, ihn zu wahren und zu mehren. Es sind Vertreter der vier regierungsnahen Parteien und der offiziellen Gewerkschaften, Beamte, Gesetzeshüter und Propagandisten. Dazu kommen der derzeitige Leiter der Lukaschenko-Regierung, Igor Sergejenko, und die Ministerin für Arbeit und soziale Sicherheit Irina Kostewitsch.
Wir halten die Wahlen für uns selbst ab
Weil den Behörden sonnenklar ist, dass man dem Westen diese „Wahlen“ unmöglich als solche verkaufen kann, machten sie sich nicht einmal die Mühe, OSZE-Beobachter einzuladen. Sie entschieden lieber gleich, nur Vertreter Russlands und anderer befreundeter Länder und Organisationen einzuladen.
Die Entscheidung, die OSZE aus dem Spiel zu lassen, kommentierte Karpenko offen: „Wir haben an sich kein Problem damit“, sagte der Chef der Wahlkommission. „Aber wozu, wenn wir die Wahlen in erster Linie für uns selbst abhalten?“, fragte er rhetorisch. „Für uns selbst“ – das klingt eher nach einer Betriebsweihnachtsfeier als nach einer nationalen Kampagne, an der theoretisch die gesamte erwachsene Bevölkerung des Landes teilnehmen kann.
Die OSZE nahm die rührende Direktheit des Beamten zur Kenntnis, schluckte die bittere Pille und brachte dienstfertig ihre „tiefe Besorgnis“ zum Ausdruck.
Die Silowiki haben indes ihre eigene Rhetorik, und alles deutet darauf hin, dass sich das Innenministerium auf die Wahlen wie auf eine Spezialoperation vorbereitet. Das Ziel ist, die Parlamentsmandate möglichst ungestört an die richtigen Leute zu verteilen.
Am 13. Januar kündigte Innenminister Iwan Kubrakow im Staatsfernsehen an, jedes Wahllokal mit einem „Alarmknopf“ auszustatten, wie ihn auch Bankangestellte für den Fall eines bewaffneten Raubüberfalls haben.
Außerdem seien dem Minister zufolge „bereits jetzt in allen Regionen Überwachungskameras im Umkreis der Wahllokale installiert“ worden.
Am Tag der Wahl, erklärte er weiterhin, würden „nach dem Vorbild von Minsk“, 50 Personen in einem „speziellen Raum“ untergebracht, die (offenbar an den Bildschirmen) jedes Wahllokal in Echtzeit überwachen werden. „Bei der kleinsten Gefahr“, so der General, würden „schnelle Einsatzgruppen“ die diensthabende Polizei verstärken, um eine „Störung der öffentlichen Ordnung“ zu verhindern.
Die Silowiki lassen derzeit keine Gelegenheit aus, um über die Wahlen zu sprechen. Am 17. Januar sprach der stellvertretende Innenminister, Gennadi Kasakewitsch, anlässlich eines Besuchs in Usda bei Minsk mit seinen Untergebenen über die Unzulässigkeit „extremistischer Äußerungen“ während der Wahlen. Am selben Tag besprach Karpenko mit Offizieren der Inneren Truppen und der Grenzschutzorgane das „Verfahren für die Organisation der Stimmabgabe von Wehrdienstleistenden und Vertragssoldaten“.
Ein paar Details: Die Namen der Mitglieder der Wahlkommissionen sind nun geheim – zu ihrer eigenen Sicherheit. Belarussische Staatsbürger, die sich im Ausland aufhalten, dürfen nicht wählen – dort kann man im Notfall ja nicht mal eben eine „schnelle Einsatztruppe“ hinschicken. Und natürlich kann von unabhängigen Beobachtern keine Rede sein.
Kurzum, es wird alles getan, um sicherzustellen, dass nichts die Aufrechterhaltung der „Verfassungsordnung“ (sprich: der Macht Lukaschenkos und seines Regimes) gefährdet.
Ist sie denn durch irgendetwas gefährdet? Aus Sicht der Machtvertikale offenbar schon.
Viele Karrieren hängen davon ab, ob die Wahlen glatt laufen
Die Verhaltensauffälligkeiten der Behörden vor den Wahlen lassen sich durch eine ganze Reihe von Gründen erklären. Einer der wichtigsten: Das System, das Lukaschenko errichtet hat, ist zu einer anderen Form der Mobilisierung gar nicht fähig. Ihr politisches Credo scheint zu sein: „Es kann gar nicht genug sein“.
Die belarussischen Behörden können weder flexibel noch nach dem Prinzip der Effizienz arbeiten. Vor allem nicht in letzter Zeit. Wenn Ideologie – dann in Überdosis und überall, bis in die Kindergärten. Wenn Wirtschaft – dann mit strengster Preisregulierung und Strafverfolgung wegen jedem Cent. Wenn Politik – dann ohne die kleinste Alternative, mit Säuberungen, willkürlichen Entlassungen und Razzien in Betrieben. Die Kahlschlag-Methode ist in den Augen der Staatsdiener eben die effektivste. Sie können gar nicht anders.
Man könnte es als Rückversicherung betrachten – nicht so sehr der Vertikalen, sondern ihrer einzelnen Vertreter. Für Karpenko ist es im Grunde die erste wichtige Prüfung im neuen Amt. Für Kubrakow ist es ebenfalls der erste Stresstest. Seit 2020 mussten sich viele aus Lukaschenkos Entourage verabschieden, und die Neuen wollen die Fehler ihrer Vorgänger nicht wiederholen. Viele Karrieren hängen davon ab, wie „elegant“ die nächste Wahl verläuft.
„Das Echo von 2020“ – so lautet eine verbreitete und im Prinzip treffende Erklärung dafür, warum sich das Regime auf die Wahlen wie auf einen Krieg vorbereitet. Die Situation nicht noch einmal erleben wollen, die Traumata loswerden, Rache üben – das sind durchaus logische Motivationen für ein Regime, das bereits am Rande des Abgrunds stand.
Ja, eine Wahlkampagne gab es nach diesen Ereignissen bereits: das Referendum von 2022. Sie haben es planmäßig durchgeführt und alle gewünschten Änderungen in die Verfassung geschrieben. Aber aus irgendeinem Grund hat das keine Ruhe gebracht. Vielleicht, weil vor dem Hintergrund des russischen Einmarsches in der Ukraine erneut Proteste im Lande ausbrachen. Nach einem ruhigen 2021 gingen viele Menschen auf die Straße, die Zahl der Inhaftierten schnellte wieder in die Tausende, und das Okrestina-Gefängnis öffnete wieder sperrangelweit seine Tore.
Sogar in der Kirche spricht Lukaschenko von den Wahlen
Aber die Angst der Machthaber wurzelt natürlich nicht nur in der Vergangenheit. Im Palast auf dem Prospekt der Sieger in Minsk versteht man sehr wohl, dass die Parlamentswahl kein Ereignis ist, das die Gemüter der Bevölkerung übermäßig aufwühlt. Man kann sogar getrost behaupten, dass sich die Belarussen aufgrund der dekorativen Rolle des Abgeordnetenhauses im Staatskonstrukt kaum dafür interessieren. Nicht umsonst wurde im vergangenen Jahr die Beteiligungsschwelle für die Wahlen zur Abgeordnetenkammer abgeschafft – so mussten die Behörden die Menschen nicht mehr zur Wahlurne treiben.
Es liegt auf der Hand, dass das Regime die Wahlen von 2024 als Prolog für den Präsidentschaftswahlkampf von 2025 versteht. Eine Generalprobe, die um jeden Preis jedes Lob von oben übertreffen muss.
Experten sind sich einig, dass Lukaschenko vorhat, zum siebten Mal zu kandidieren, auch wenn er im Oktober 2020 bei dem berühmten Treffen mit politischen Gefangenen im KGB-Gefängnis das Gegenteil versprochen hatte. „Ich gebe euch mein Wort, Jungs“, sollen seine Worte gewesen sein, wenn man dem Pseudo-Oppositionellen Juri Woskressenski glauben darf.
Doch die Zeit verging, und Lukaschenko hat sein Wort offenbar zurückgenommen. Und nun ist es der ewige Herrscher selbst, der am häufigsten in der Öffentlichkeit über die Präsidentschaftswahlen spricht.
Sogar als er an Weihnachten eine Kirche in der Agrarstadt Scherschuny besuchte, sprach er von weltlichen Dingen: „Sie werden an uns trainieren. Und wir müssen durchhalten. Sie werden an uns für die kommenden Präsidentschaftswahlen trainieren.“ Die Wahlen seien das Hauptereignis des Jahres, das man „würdig überstehen“ müsse.
Die Präsidentschaftswahlen werden spätestens am 20. Juli 2025 stattfinden, und in der Zeit bis dahin kann wirklich alles passieren.
Der Krieg in der Ukraine geht weiter, und niemand weiß, wohin das Pendel ausschlagen wird. Der belarussischen Wirtschaft stehen nach dem Aufschwung im Jahr 2023 voraussichtlich schwierige Zeiten bevor. Auch auf dem vielbeschworenen „weiten Bogen“ [in der Zusammenarbeit mit Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika] sind keine Durchbrüche zu erwarten. Im Westen nichts Neues. Die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland wächst und droht uns politisch teuer zu stehen zu kommen. Bis zu den Wahlen im Jahr 2025 muss zudem noch eine belarussische Volksversammlung gebildet werden, die dann auch noch einen Vorsitzenden braucht. Das alles macht das Machtsystem zusätzlich kompliziert und erfordert zusätzliche Kontrolle.
Zu allem Überfluss lässt den Herrscher hin und wieder seine Gesundheit im Stich, was Gerüchte von einer vorzeitigen Übergabe der Macht schürt. Diese werden durch das neue Gesetz über die lebenslange Immunität für den Staatschef und die erneute Beschränkung auf zwei Amtszeiten [für neu gewählte Präsidenten] in der Verfassung genährt.
Die Zeit rennt, und sie ist allzu sehr verdichtet. Der Preis für Fehler ist mittlerweile so hoch, dass man sich schlichtweg keine mehr leisten darf.
Entsprechend gibt es keinen Grund mehr, bei den Wahlen einen Wettbewerb zu imitieren. Die Zeiten sind andere.
Im letzten Jahr hat sich die Entwicklung des autoritären Regimes von Alexander Lukaschenko in Richtung Totalitarismus zusätzlich beschleunigt. Die Regierung sieht keinen Grund, diese Entwicklung zu stoppen, und dringt in alle möglichen Bereiche vor, einschließlich des Privatlebens der Menschen, ihrer Arbeitsbeschäftigung, ihrer Auslandsreisen, ihrer Bildung oder ihres historischen Gedächtnisses.
Der belarussische Politologe Artyom Shraibman analysiert, wie die Elemente des klassischen Totalitarismus durch die einer Diktatur im digitalen Zeitalter erweitert werden und ob dieser Prozess überhaupt gestoppt werden kann.
Ende 2022 beschrieb ich in einem dekoder-Artikel detailliert die zahlreichen Merkmale des totalitären Systems, die auf das Regime Alexander Lukaschenkos damals zutrafen. Dabei ging es nicht nur um das Ausmaß von tiefgreifenden Repressionen, wie Belarus sie seit der Stalin-Ära nicht mehr erlebt hatte, sondern auch um andere, weniger offensichtliche Merkmale. Regierungsnahe Aktivisten und professionelle Denunzianten beteiligten sich nun an den Repressionen und unterrichteten die Machthaber, auf wen sie ein Auge haben sollten.
Lukaschenko verankerte in der Verfassung ein neues, ohne Wahlen bestelltes Machtorgan, die Allbelarussische Volksversammlung – eine Art Hybrid aus dem sowjetischen Plenum des ZK der KPdSU und dem chinesischen Nationalen Volkskongress. Außerdem wurde landesweit ein System zur Überprüfung der politischen Unbedenklichkeit bei Neueinstellungen eingeführt. Mit einem Vermerk über Illoyalität oder Teilnahme an Protesten bekommt man nun keine Stelle im staatlichen Sektor mehr.
Im Verlauf des Jahres 2023 vermehrten sich die Anzeichen für eine Bewegung Richtung Totalitarismus. Dieser Trend war als Reaktion des autoritären Organismus auf die Erschütterungen von 2020 auszumachen, hatte sich dann aber nach einer ganz eigenen Logik weiterentwickelt. Der Prozess funktioniert exakt nach der Orwell’schen Formel „der Zweck der Macht ist die Macht“. Angesiedelt in einem Raum ohne Grenzen sieht die autoritäre Macht keinen Grund innezuhalten und dringt in Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ein, die sie vorher nicht berührte. Hier findet der belarussische Staat neue Nischen, um Verbote einzuführen, auch im Privatleben der Menschen, in der Bildung der Kinder, dem historischen Gedächtnis sowie der Berufs- und Reisefreiheit.
Digitale Diktatur und Ausreisehindernisse
Bereits seit drei Jahren erweitern die belarussischen Geheimdienste ihren Zugriff auf alle nur möglichen Datenbanken, die persönliche Informationen enthalten. Direkt nach den Protesten 2020 ließ die Regierung die Informationen aller Videoüberwachungskameras des Landes in ein System einfließen, mit dem gesuchte Personen mithilfe von Gesichtserkennungssoftware schnell identifiziert werden können. Ende 2022 erhielten die Geheimdienste das Recht des dauerhaften Zugriffs auf faktisch jede beliebige elektronische Datenbank. Theoretisch gab dieser Erlass Lukaschenkos den Silowiki die Möglichkeit, nicht nur auf Anfrage, sondern ständig Zugriff auf die Datenbanken von Krankenhäusern, Banken, Mobilfunkanbietern, Kurier- und Speditionsdiensten zu haben – mit anderen Worten also die volle Kontrolle über den digitalen Fußabdruck jedes Einwohners von Belarus. Im August 2023 unterzeichnete Lukaschenko einen Erlass, der den Sicherheitskräften Zugriff auf das Verwaltungssystem aller Banktransaktionen im Land gewährt. Die Geheimdienste erhalten die Möglichkeit, jede Zahlung bis zu zehn Tage lang zu blockieren, wenn der Verdacht auf einen Gesetzesverstoß vorliegt.
Ein weiteres klassisches Merkmal totalitärer Systeme ist die Ausreisebeschränkung der Bürger. Das belarussische System hat bislang keine Auslandsreisepässe und Ausreisevisa, wie es sie beispielsweise in der UdSSR gab. Dennoch werden die Auslandsreisen der Belarussen sehr viel gewissenhafter kontrolliert. Seit Frühjahr 2023 nach einer Drohnenattacke auf ein russisches Flugzeug auf dem belarussischen Flugplatz Matschulischtschi überprüfen die Silowiki stichprobenartig die Mobiltelefone einreisender und ausreisender Menschen an den Grenzübergängen. Finden sie etwas Verbotenes, verhaften sie die Person. Vorrangig unterliegen diesen verstärkten Kontrolle diejenigen, die bereits einmal aus politischen Gründen verhaftet wurden, sowie Bürger, die eine Verbindung zur Ukraine haben: die häufig dorthin reisen, einen ukrainischen Pass oder eine Aufenthaltserlaubnis haben.
Im Mai 2023 wurde ein Gesetz beschlossen, das den KGB berechtigt, die Ausreise einer Person „im Interesse der nationalen Sicherheit“ für die Dauer eines halben Jahres einzuschränken. Seit November dürfen einige Staatsbedienstete, Leiter staatlicher Betriebe und alle Silowiki Belarus nur mit dem Einverständnis ihres Vorgesetzten verlassen.
Geschichtsrevision als Teil der ideologischen Doktrin
Vor einem Jahr noch schrieben wir, dass die Entwicklung des belarussischen Regimes zum Totalitarismus unvollständig bleibt, da eine Schlüsselkomponente fehlt: eine mobilisierende Ideologie, die den gesamten öffentlichen Raum, den Bildungssektor und die Propaganda durchdringt. Diese Einschätzung ist weiterhin aktuell. Doch werden einzelne Komponenten eines vollwertigen ideologischen Fundaments immer deutlicher, zumindest in der Schaffung eines offiziellen historischen Narrativs und, mit dessen Hilfe, in der Indoktrinierung der Schüler.
In dieser Mischung aus sowjetischem und prorussischem Geschichtsbild wurde die belarussische Staatlichkeit nur dank des antiwestlichen Bündnisses mit Moskau möglich. Die Helden der belarussischen Geschichte, die gegen das Russische Imperium kämpften und die bis vor Kurzem noch offiziell geehrt wurden, wurden nun zu Feinden erklärt. Dazu gehören zum Beispiel die Anführer der antirussischen Aufstände im 18. und 19. Jahrhundert, Tadeusz Kościuszko und Kastus Kalinouski. Im Mai 2023 schlug der Chef der Präsidialadministration Igor Sergejenko vor, diese Personen aus dem Pantheon der Nationalhelden zu streichen, ebenso die Magnaten aus dem Geschlecht der Radsiwill, unter denen die belarussischen Gebiete im Großfürstentum Litauen vom 15.–17. Jahrhundert eine kulturelle und wirtschaftliche Blüte erlebten. Igor Sergejenko verglich Kalinouski mit Stepan Bandera, dem zentralen Antihelden des historischen Narrativs des Kreml.
Jeder historische Diskurs, der an politischen Notwendigkeiten ausgerichtet ist, braucht einen äußeren Feind
Seit September 2023 finden diese Ansichten Niederschlag in den neuen Instruktionen des Bildungsministeriums für Geschichtslehrer an belarussischen Schulen. Literarische Werke belarussischer Klassiker, die den Kampf gegen den russischen Imperialismus preisen, werden als „extremistisch“ bezeichnet und verboten. Romane, die ein positives Bild von Kalinouski zeichnen, werden aus dem Lehrplan verbannt. Die Regierung änderte auch die Regelungen für Touristenführer und die Organisation von Ausstellungen in Museen. Museumsmitarbeiter geraten unter anderem bei Führungen in Konflikt mit dem Gesetz, wenn sie vom offiziellen Geschichtsnarrativ abweichen.
Jeder historische Diskurs, der an politischen Notwendigkeiten ausgerichtet ist, braucht einen äußeren Feind. Für Lukaschenkos Regime ist Polen ein solcher Feind, ein ewiger Kolonisierer belarussischer Erde und Unterdrücker der belarussischen Kultur. Die Regierung ließ sogar einen Spielfilm produzieren, Auf der anderen Seite des Flusses (russ. Na drugom beregu) – über das Leiden der Bewohner von Westbelarus unter polnischer Herrschaft in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Im Herbst 2023 wurde dieser Film als Pflichtveranstaltung Schülern und Studenten im ganzen Land vorgeführt.
Der Mensch ist Ressource, Wünsche zählen nicht
Durch das demografische Tief – also die geringe Anzahl junger Menschen im arbeitsfähigen Alter – und die massenhafte Abwanderung von Fachkräften ins Ausland in den letzten Jahren steht die belarussische Regierung vor dem Problem eines ernstzunehmenden Arbeitskräftemangels, vor allem im medizinischen Bereich. Die totalitäre Logik der Weiterentwicklung des Regimes diktiert ein Verhältnis zum Menschen als ökonomische Ressource, für deren Lenkung nicht unbedingt die Berücksichtigung persönlicher Prioritäten der Bürger nötig ist.
Ein weiterer Teil im Kampf gegen das demografische Problem ist die konservative Wende im Umgang mit Familie, LGBT und Gender
Im September 2023 wies Lukaschenko an, den Universitätsabsolventen verstärkt Arbeitsplätze zuzuweisen. Bis heute müssen belarussische Studenten, die auf Staatskosten studiert haben, nach dem Abschluss zwei Jahre lang an einem vom Staat zugewiesenen Ort ihr Studium abarbeiten (sog. raspredelenije). Häufig werden die Absolventen an Orte auf dem Land verteilt, um dort das Problem des Fachkräftemangels zu lösen. Es ist möglich, sich von dieser Zuweisung zu befreien, indem man eine hohe Ausgleichssumme an den Staat zahlt, die die Kosten des Studiums übersteigt.
Nun hat Lukaschenko festgelegt, dass die Dauer der Pflichtzuweisung verlängert wird und die Regel für alle Absolventen gilt, unabhängig davon, ob sie auf eigene oder auf Staatskosten studiert haben. Junge Ärzte müssen seit Oktober 2023 nun nach Abschluss der Facharztausbildung fünf Jahre lang ihr Studium abarbeiten.
Ein weiterer Teil im Kampf gegen das demografische Problem ist die konservative Wende im Umgang mit Familie, LGBT und Gender. Die belarussische Regierung hatte, im Unterschied zum Kreml, diesen Themen nie große Bedeutung beigemessen, nun aber beschäftigt sie sich damit. An Schulen soll ein Kurs zu traditionellen Familienwerten eingeführt werden, den die Generalstaatsanwaltschaft ausarbeitet. Das Regime teilte zudem mit, dass bald „Propaganda“ für LGBT und Kinderlosigkeit verboten werden soll. Die Silowiki haben begonnen, Ausprägungen „nichttraditioneller“ Werte in den Medien aufzuspüren und zu verfolgen – es traf eine Reklame mit einem Mann im Kleid, oder einen Blogger und Sänger, der rosafarbene Kleidung trägt. Belarussische Staatsbeamtinnen rufen eine nach der anderen die Frauen dazu auf, mehr Kinder zu gebären und früher damit zu beginnen.
Ist ein Rückgang der Repressionen vorstellbar?
Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, in welche Richtung sich ein Regime wie das belarussische in Zukunft entwickeln wird. Personalistische Regime sind stark vom Schicksal ihres Herrschers abhängig. Und auch wenn die Geschichte erfolgreiche Fälle kennt, in denen sich das Regimes unter einem Nachfolger repliziert hat (Venezuela, Nordkorea, Iran, Syrien), gibt es auch zahlreiche Gegenbeispiele, wie Stalins UdSSR oder das maoistische China. Der institutionelle Rahmen dieser Regime blieb nach dem Tod des Führers erhalten, aber die Brutalität der Repressionen und die Totalität der staatlichen Kontrolle ließen entscheidend nach. Der belarussische Fall sticht zudem noch dadurch heraus, dass die Stabilität des Minsker Regimes von der Unterstützung des Moskauer Schutzherren abhängt. Der Krieg und Putins Alter erhöhen hier den Grad der Unberechenbarkeit.
Dabei ist durchaus ein Rückgang der Repressionen auch unter Lukaschenkos Führung vorstellbar. Immerhin hat er das in der Vergangenheit bereits getan, um die Beziehungen zum Westen zu reaktivieren. Heute allerdings wäre eine Freilassung der politischen Gefangenen wohl kaum ausreichend für eine vollständige Normalisierung, berücksichtigt man den Nachgang von 2020, die künstlich hervorgerufene Migrationskrise an den EU-Außengrenzen, die Zwangslandung der Ryanair-Maschine 2021 und die Beteiligung am russischen Krieg. Im Falle eines für Russland ungünstigen Kriegsausgangs in der Ukraine oder einer Krise im belarussisch-russischen Verhältnis könnte Lukaschenko durchaus wieder eine Bereitschaft zum Dialog mit dem Westen signalisieren, und dafür auch die Repressionen im Land reduzieren.
Die Silowiki könnten an einem gewissen Punkt außer Kontrolle geraten und wichtige Interessen der zivilen Bürokratie antasten
Ein zweiter Weg zum selben Ergebnis könnte sein, dass die Repressionen die für das System tragbaren Grenzen überschreiten. Ende der 1930er Jahre endete Stalins Großer Terror in der UdSSR nicht, weil Stalin den Dialog mit dem Westen suchte, sondern weil es für die Parteinomenklatura unerträglich geworden war, in Angst zu leben; die Repressionen hatten zu viele der eigenen Leute vernichtet. Dieses Szenario ist für Belarus nicht ausgeschlossen, die Silowiki könnten an einem gewissen Punkt außer Kontrolle geraten und wichtige Interessen der zivilen Bürokratie antasten.
Allerdings ist der Grad der Repressionen, der aus taktischen Gründen reguliert werden kann, bei Weitem nicht die einzige Komponente dieses Systems. Stalins Regime blieb auch nach dem Großen Terror eine totalitäre Diktatur. Sie blieb erhalten, weil sie maximal auf die Psychologie des kommunistischen Führers ausgerichtet war und ihm die verständlichste Art der Regierung war. Leider kann man dasselbe über die Elemente des Totalitarismus sagen, die Lukaschenko wiedererweckt hat. Für ihn ist es bequem, genau solch einen Staat zu regieren, der immer mehr an das sowjetische System erinnert, in dem er aufgewachsen ist.
Es ist schwierig, sich einen Anreiz vorzustellen, der Lukaschenko dazu bringen würde, diesen Prozess umzukehren: die von niemandem gewählte Allbelarussische Volksversammlung aufzulösen, den Geheimdiensten die Vollmachten zur totalitären Überwachung der Gesellschaft zu entziehen, das prorussische historische Narrativ aufzugeben, die Pflichtzuweisung der Absolventen oder die Überprüfung der politischen Loyalität bei der Arbeitsaufnahme abzuschaffen. All diese Attribute des Regimes zu demontieren, wird wohl die Aufgabe der nächsten belarussischen Regierung sein.
Nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten haben belarussische Sicherheitskräfte im Jahr 2023 mindestens 125 Personen, die aus dem Ausland zurückgekehrt sind, festgenommen. Einige wurden direkt an der Grenze abgeführt, andere wurden später verhaftet. Warum kehren die Menschen zurück, wenn der Machtapparat Lukaschenkos nach wie vor mit scharfen Repressionen gegen die eigenen Bürger vorgeht und es auch immer wieder zu regelrechten Massenverhaftungen kommt? Die Gründe sind vielfältig: Möglicherweise findet man keine Arbeit im Ausland, kann so sein Leben nicht sichern, vielleicht sind die Eltern krank, man will die eigene Wohnung verkaufen oder man muss dringende Amtsgeschäfte erledigen. Schließlich können belarussische Staatsbürger seit vergangenem Jahr keine neuen Ausweisdokumente an den Botschaften ihrer Heimat mehr beantragen.
Das Online-Portal Zerkalo hat eine Belarussin und einen Belarussen getroffen, die die Reise trotz allen Risikos gewagt haben. Aber wie plant man solch eine Reise, wie stellt man sicher, dass die Sicherheitskräfte nicht doch auf einen aufmerksam werden, wenn eigentlich vor allem ein Faktor über Gelingen oder Scheitern einer solchen Unternehmung entscheidet: die Willkür.
Die Namen der Befragten wurden zur Sicherheit anonymisiert.
Hier beschreiben sie Reiserouten und Vorsichtsmaßnahmen, die sie selbst gewählt und ergriffen haben. Wir empfehlen jedoch nicht, ihre Wege und Erfahrungen als Anleitung zu ähnlichen Reisen zu verstehen und ein Risiko einzugehen, wenn Sie davon ausgehen, in Belarus von einer Festnahme bedroht zu sein.
Schlimmstenfalls kommen die Maskierten direkt zum Notar
Seit zweieinhalb Jahren lebt Viktoria mit ihrem Mann im Ausland. 2020 nahmen sie an den Protesten teil, ein paarmal wurden sie festgenommen, aber sie hatten Glück, sagt Viktoria: „Mal war kein Platz, mal haben sie uns vergessen, wir kamen immer wieder frei.“ Doch auch mehrere Hausdurchsuchungen mit Beschlagnahme ihrer technischen Geräte musste das Paar über sich ergehen lassen. Die letzte Durchsuchung war so brutal, dass sie beschlossen, lieber doch das Land zu verlassen. Später kam der Entschluss dazu, ihre Eigentumswohnung in Minsk zu verkaufen. Allerdings gibt es ein neues Gesetz, laut dem man dazu entweder persönlich anwesend sein oder jemandem eine Generalvollmacht ausstellen muss, die man jedoch auch nur in Belarus bekommt. Viktoria und ihr Mann beschlossen also, dass einer von ihnen fahren müsse und die Reise für Viktoria weniger riskant sei.
„Wir hatten uns schon gefreut, alle Verbindungen zu kappen, hatten sogar einen Käufer gefunden und wollten in Polen zum Notar gehen, um die Vollmachten aufzusetzen, da kam auf einmal dieser Erlass und machte uns einen Strich durch die Rechnung. Das soll uns alles nur das Leben erschweren. Die Regierung ist schlau, aber wir sind schlauer“, scherzt unsere Gesprächspartnerin. „Immerhin steht viel auf dem Spiel – ich rechne damit, dass sie die Ausgewanderten früher oder später überhaupt enteignen werden. Wir alle wollten nur für ein, zwei Jahre weggehen, aber dann wird einem klar, dass man sich im Ausland ein neues Leben aufgebaut hat und hier alles findet, was man zum Leben braucht.
Einen Monat lang haben wir überlegt, dann fiel die Entscheidung. Wir planten jeden Schritt gründlich. Bekannte von uns sind schon seit einem halben Jahr in Polen, und jedes Mal, wenn sie nach Belarus fahren, fragt man ihnen an der Grenze Löcher in den Bauch – wieso sie schon so lange im Ausland leben und wieso sie jetzt zurückkommen würden. Daher wollte ich alle direkten Kontakte vermeiden, zumal ich ein humanitäres Visum habe.“
Im Dezember 2023 flog die Belarussin nach Hause. Über Georgien und Russland in die nächstgelegene belarussische Großstadt – sie entschied sich für Orscha. Diese Reise für ein einziges Dokument kostete sie hin und zurück insgesamt eine Woche.
„Den Flug zu buchen war ein Hindernislauf, die ersten Tickets stornierten wir wieder. Einerseits aus Vorsicht, denn wenn man ein Ticket für eine russische Fluglinie kauft, taucht man sofort im System auf. Sie sehen, dass man fliegen will. Also stornierten wir und kauften andere Tickets. Vielleicht wäre dieser Aufwand gar nicht nötig gewesen, aber wir wollten alles tun, damit die Reise möglichst ungefährlich ist. Ich nahm keine belarussische SIM-Karte mit, aber dann stellte sich heraus, dass man in Russland seine Seele verkaufen muss, um sich mit dem WLAN zu verbinden!“, lacht Viktoria.
Sie erzählt, dass auf dem Moskauer Flughafen eine Belarussin mit einem kleinen Kind so lange verhört wurde, dass sie ihren Anschlussflug verpasste. Viktoria traf sie erst auf der Heimreise wieder.
„Am meisten Misstrauen kommt von russischer Seite. Da werden die Pässe gescannt und Fragen gestellt – zehn bis fünfzehn waren es bei mir: Wohin ich fahre, zu welchem Zweck, wie es danach weitergeht, wieso ich kein Visum habe (weil ich einen dauerhaften Aufenthaltstitel in Polen habe). Wobei viele dieser Fragen ziemlich seltsam waren: Wie viele Passagiere an Bord waren, welche Farbe die Flugzeugtriebwerke hatten, wie hoch die Lufttemperatur in Georgien war, wie viel Gepäck ich dabei hatte. Keine Ahnung, was sie mit all diesen Infos wollten.“
Als dieses Stück geschafft war und Russland keine weiteren Fragen mehr hatte, erwartete Viktoria eine nicht minder schwierige Etappe: Sie musste in das Land einreisen, dessen Silowiki sie im Visier hatten, und so schnell wie möglich die Dokumente holen. Sie reiste noch am selben Tag wieder aus.
„Das Wichtigste ist, jemanden zu finden, der dich sicher durch Belarus bringt. Wir wurden von den Marschrutka-Fahrern gut instruiert, was wir sagen sollten, um keine Fragen zu provozieren. Ab da ging es leicht. Wir hatten im Voraus einen Notar in Orscha gebucht, einen privaten, den uns Bekannte empfohlen hatten. Der Termin war am Abend, weil man sehr schnell in den Datenbanken auftaucht und es jetzt Listen gibt. Ich wusste, wenn ich auf einer Liste stehe, kann mir mindestens die Ausstellung einer Vollmacht verweigert werden. Na, und schlimmstenfalls kommt die Maskenshow direkt zum Notar, egal, in welcher Stadt – angeblich sind die blitzschnell da. Davor haben uns die Immobilienmakler gewarnt. Aber wir haben uns abgesichert und kamen extra am Ende des Arbeitstages, damit ich am nächsten Morgen, wenn meine Daten im System auftauchen, schon außer Landes bin.“
Der liebe Gott ist natürlich groß, aber ich hab’ mich in dieser Woche auch ziemlich angestrengt!
Ihre Heimatstadt Minsk besuchte Viktoria nicht. Erst im letzten Moment, bevor sie wieder über die Grenze nach Russland reiste, gab sie ihren betagten Eltern und engsten Freunden Bescheid, die nach Orscha kamen, um sie zu sehen. Sie traf ihre Nächsten zum ersten Mal seit zweieinhalb Jahren.
„Meine Eltern sagten später, dass sei alles so hektisch gewesen. Aber so herzlich! Wenn du deine Angehörigen umarmst und sagst: ‚Du hast dich gar nicht verändert.‘ Da muss man schon eine Träne verdrücken. Das war das Wertvollste an der ganzen Reise!“, meint Viktoria. „Aber dass ich gespürt hätte, dass ich mein Heimatland furchtbar vermisse, das kann ich nicht behaupten. Alles war grau, in Russland und Belarus fiel dichter Schnee und es stürmte, daher sah ich nicht viel von draußen, von der Stadt. Heimat, das sind für mich heute die Menschen, die mich dort umgaben. Alles, was ich dort hatte, lasse ich gern hinter mir, nur nicht die Menschen.“
Obwohl alles schnell und problemlos vonstatten ging, erzählt Viktoria von einem Ansturm verschiedenster Emotionen, darunter natürlich die Sorge, die Angst, dass etwas schiefgeht und sie den Silowiki in die Hände fällt, wie so viele Belarussen vor ihr:
„Der Gipfel der Angst ist die Grenze, wenn dir ein Uniformierter in die Augen schaut, deinen ganzen Pass abfotografiert, anfängt zu notieren, zu telefonieren, weiterzuleiten. Und als würde dir nicht sowieso schon das Herz in die Hose rutschen, führen sie auch noch vor deinen Augen jemanden zum Verhör ab. Und du denkst, das kann dir genauso passieren. Ich wurde Gott sei Dank verschont, aber die Etappe in Russland war emotional am schlimmsten. Obwohl wir auf dem Rückweg nicht einmal im Stau standen und unsere Pässe gar nicht kontrolliert wurden. Wenn wir auf irgendwelchen ‚Terroristenlisten‘ gestanden hätten, wäre ich wohl nicht so einfach durchgekommen. Vielleicht half uns auch, dass in unserem Auto lauter Frauen saßen. Na, und als ich in die EU einreiste, auch auf Umwegen, machte ich mir dann Sorgen wegen meines russischen Stempels im Pass. Wir hatten alles durchgeplant – theoretisch hätte nichts passieren dürfen, aber trotzdem stand ich unter Stress. Am Ende bin ich sogar am Schnellsten durchgekommen.“
Nach der letzten Passkontrolle auf EU-Territorium konnte sich die Belarussin wieder entspannen, sie besuchte noch Freunde und fuhr dann nach Hause nach Polen. Aber was sie da eigentlich erlebt hatte, wurde ihr erst später bewusst, räumt sie ein.
„Die Emotionen holten mich erst ein, als ich schon zwei oder drei Tage zu Hause war – ich brach körperlich zusammen, meine Psyche forderte Ruhe, ich musste das alles verarbeiten“, erinnert sie sich. „Aber mittendrin war ich konzentriert, dachte kritisch, machte alles, was nötig war. Während ich unterwegs war, waren alle nervös, aber die größten Sorgen machten sich meine Eltern. Sie sagten: ‚Der liebe Gott hat dich beschützt.‘ Ich dachte: ‚Der liebe Gott ist natürlich groß, aber ich habe mich in dieser Woche auch ziemlich angestrengt!‘ (Sie lacht.) Mein Mann war am ersten Tag extrem kühl. Er begrüßte mich natürlich, umarmte und küsste mich, das schon, aber er war reserviert. Als mir dann am zweiten Tag zu dämmern begann, dass alles gut ausgegangen war, dass ich wieder da war, in meinem Bett schlief und nicht Gott weiß wo, da wurde auch er emotional – er hatte sich ja auch Sorgen gemacht, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. So zeigt ein Mann seinen Stolz, dass wir Frauen so zähe Geschöpfe sind! (lacht) Wenn es eine Aufgabe zu erledigen gibt, dann akkumuliert man plötzlich seine ganze Kraft. Meine Tat eröffnet uns hier andere Horizonte. Es war ein nobles Risiko. Oder ein kaufmännisches, ich weiß nicht.
Ich erinnere mich, wie wir in Orscha an einer Ampel standen und neben uns ein Polizeiauto hielt – und wie ich zusammenzuckte. Überhaupt frage ich mich, wie Leute, die irgendeine Vorgeschichte haben, einfach über die belarussische Grenze fahren. Ich bin eine Woche lang mit Bussen und Marschrutkas herumgegondelt, putzte mir die Zähne bei McDonald’s, um möglichst unentdeckt zu bleiben. Ja, ich war erfolgreich, aber vielleicht war es einfach Glück? Ich will diese Vorgangsweise niemandem empfehlen. Ich weiß nicht, was passieren müsste, dass ich diesen Trip wiederhole – das war physisch und psychisch sehr anstrengend“, sagt Viktoria.
Alle sagten, ich sei leichtsinnig … aber ich beschloss, dieses belarussische Roulette zu spielen
Igor kommt ebenfalls aus Minsk, im Winter 2023 waren es knapp drei Jahre, seit er das letzte Mal zu Hause gewesen war. Ende November fuhr er für zehn Tage nach Belarus – so lange dauert es, einen neuen Pass zu bekommen. „Mein Risiko war dasselbe wie für alle Belarussen – man weiß nie, was passiert. Ich war auf allen Demos, habe an Protestveranstaltungen in Hinterhöfen teilgenommen, ungefähr bis Februar“, erklärt er. „Aber ich dachte, lieber gleich fahren, weil die Repressionen später nur noch stärker werden. Die Gefahr, festgenommen zu werden, würde nur steigen. Trotzdem versuchten alle, mir das auszureden, sagten, ich sei leichtsinnig. Fand ich ja auch, aber ich beschloss, dieses belarussische Roulette zu spielen. Als es ein paar Wochen vor meinem Flug hieß, dass Leute bei der Zwischenlandung in Moskau auf einmal mit einem Ausreiseverbot konfrontiert wurden – manche hatten das Glück, das schon vor dem Flug zu erfahren –, da bekam ich es doch mit der Angst zu tun.
Igor wollte sich ebenfalls absichern und flog über die russische Hauptstadt. Dort setzte er sich in den Zug nach Smolensk, wo ihn Freunde aus Minsk mit dem Auto abholten.
„Bei der Passkontrolle auf dem Flughafen bekamen Staatsbürger Tadschikistans und der RF nur ein paar Fragen gestellt und wurden schnell durchgelassen. Als Belarusse musste ich deutlich mehr beantworten: Wohin, wozu, warum, wo ich arbeite, wann ich das Land verlassen habe, warum ich über Moskau fliege, warum ich ein litauisches Visum habe und was ich dort gemacht habe“, erzählt Igor. „Einer meiner Bekannten sagte irgendwas Dummes, da nahmen sie ihn sofort beiseite, holten ihren Vorgesetzten und verhörten ihn regelrecht. Aber sie verzichteten darauf, sein Handy zu durchsuchen, und ließen ihn nach zehn Minuten wieder laufen. Ich hatte Angst, ich könnte, ohne es zu wissen, in irgendwelchen Datenbanken auftauchen und festgenommen werden. Aber das war der einzige Moment, in dem ich mit einer Festnahme rechnete.“
Den Pass beantragte Igor in Minsk, wo er sicherheitshalber weder an seiner Meldeadresse noch bei Verwandten übernachtete. Er war darauf gefasst, auf dem Meldeamt gefragt zu werden, warum er schon so lange im Ausland lebe, doch keiner interessierte sich für ihn, und nach sieben Tagen bekam er im Schnellverfahren seinen Pass.
„Ich hatte Freunde gebeten, mir eine neue SIM-Karte zu besorgen, und benutzte sie mit einem fremden Handy, mein eigenes ließ ich ausgeschaltet. Ich entspannte mich: Niemand fragte nach mir, niemand suchte mich. Vielleicht täuschte das Gefühl. Man weiß ja nie, was passieren kann. Ich wunderte mich jedenfalls, dass ich während der ganzen Zeit fast keine Polizei auf der Straße sah, dabei hatte ich Flashbacks von 2020 befürchtet, von diesen Kleinbussen mit Uniformierten.“
Die Menschen sind nicht gebrochen, sie warten auf die nächste Möglichkeit aufzustehen!
Abgesehen davon registrierte unser Gesprächspartner eine andere Stimmung bei den Leuten auf der Straße. Er habe sich gefreut, vorübergehend zurück zu sein und seine Nächsten zu sehen, erzählt er, aber er habe gespürt, dass sich seine Beziehung zu Minsk verändert hätte:
„Ich traf Freunde und Verwandte, wobei ich maximal darauf achtete, nicht aufzufallen und mich abzusichern, wo es ging. Ich aß, was ich am meisten vermisst hatte, spazierte durch die Stadt. Es war kalt, daher war ich immer ganz eingemummt in Jacke und Schal. Keine Ahnung, vielleicht war es ein Placebo-Effekt, und sie hätten mich auch so gefunden, wenn sie gewollt hätten.
Insgesamt hat mir die Reise gut getan – endlich ließ das Heimweh nach, das mich in der Emigration so geplagt hatte. Da glaubt man, zu Hause ist das Gras grüner und alles ist schöner. Aber nach dem sonnigen Georgien sah ich diese ganze Düsternis hier, die unglücklichen, freudlosen Gesichter, die nie lächeln. Die Resignation, als wüssten alle, dass sie in einem Konzentrationslager leben und keine Perspektive haben. Diese Hoffnungslosigkeit, die in der Luft hängt …
Danach ging es mir besser, ich wusste, ich hatte alles richtig gemacht: dass ich weggegangen war und nicht mehr heim fuhr. Ich werde wohl die nächsten Jahre nicht mehr nach Belarus fahren. Ich habe auf einmal das Gefühl, dass mir alles fremd geworden ist. Nicht mehr das, was ich früher geliebt hatte – das ist alles zerstört. Wobei, wisst ihr, zuerst sah es aus, als hätten sie alles zerstört, als wäre alles verschwunden. Aber dann rief ich ein Taxi zum Meldeamt, und der Fahrer hörte Brutto. Leise, aber dennoch. Da dachte ich: Die Menschen sind nicht gebrochen, sie warten auf die nächste Möglichkeit aufzustehen! Ja, sie haben Angst, aber auch Hoffnung.”
Zurück reiste unser Gesprächspartner ebenfalls über Smolensk und Moskau. Die Grenzpolizei auf dem Flughafen stellte kaum Fragen, und die Zone der internationalen Abflüge war halbleer.
„Als ich nach Georgien zurückkam, war ich sehr erleichtert und froh, ich fühlte mich sicher, obwohl ich auch in Minsk nicht wirklich Angst gehabt hatte. Ich begriff, dass ich mich hier schon mehr zu Hause fühle als in Belarus“, berichtet er. „Ich war froh, in mein gewohntes Leben zurückzukehren. Aber ich träume davon, am Tag des großen Staus (wenn die Repressionen vorbei sind und es eine neue Regierung gibt – Anm. Zerkalo) nach Belarus zurückzugehen. Ich glaube daran, dass alles wieder gut werden wird und Minsk wieder aufblühen kann.“
Außerdem ist Igor froh, dass seine Reise glimpflich verlaufen ist und er jetzt einen neuen Pass in Händen hält, der zehn Jahre lang gültig ist. Aber er würde niemandem empfehlen, so vorzugehen wie er, sagt er.
„Objektiv betrachtet war das belarussisches Roulette. Jetzt, wo alles gut gegangen ist, kann ich natürlich sagen: Toll, das war es wert! Mit meinem neuen Pass kann ich beruhigt weiterleben und mich sicher fühlen“, sagt er. „Aber wenn es anders ausgegangen wäre, dann wären die Konsequenzen tragisch. Rein rational war es falsch und unvernünftig, was ich gemacht habe. Und das Schlimmste ist, dass meine Freunde und Bekannten, die Verwaltungsstrafen haben und unter Beobachtung stehen, von meiner Reise inspiriert ebenfalls nach Belarus fahren wollen. Es kostet mich enorm viel Mühe, ihnen klarzumachen, dass das gefährlich ist und sie es bleiben lassen sollen. Ich mache mir große Sorgen, jemand könnte meinem Beispiel folgen und in die Falle tappen. Es kommt oft vor, dass Leute fahren und nicht wissen, dass sie in der Datenbank erfasst sind, und dann werden sie festgenommen.”
Zehntausende Belarussen wurden nach den Ereignissen im Jahr 2020 Opfer von Repressionen und Verfolgungen, Hunderttausende haben aus Angst und Perspektivlosigkeit das Land verlassen. Auch der russische Krieg gegen die Ukraine beeinflusst die Stimmung in der belarussischen Gesellschaft. Eine Studie hat genau die untersucht. Sie zeigt, dass die Konfrontation zweier nationaler Ideen kritische Formen annimmt und einen Dialog zwischen Vertretern dieser polarisierten Gruppen praktisch unmöglich macht. Das Online-Medium Reform.by hat sich die Studie angeschaut. Hier die wichtigsten Ergebnisse.
Die Studie Belarussische nationale Identität im Jahr 2023 wurde im November von unabhängigen Soziologen mithilfe der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellt. Die Daten wurden mittels einer Online-Umfrage erhoben, bei der die Fragebögen von den Befragten selbst ausgefüllt wurden (Computer Assisted Web Interviewing – CAWI). An der Umfrage nahmen 1205 Personen aus belarussischen Städten mit über 20.000 Einwohnern teil. Die Stichprobe ist hinsichtlich von Geschlecht, Alter und Bildungsstand repräsentativ.
Die Soziologen stellen fest, dass die politische Krise, die 2020 in Belarus einsetzte, weiterhin die Lage im Land beeinflusst. Hinzu kommen der russisch-ukrainische Krieg und weltpolitische Veränderungen. Die Menschen in Belarus sind durch eine ganze Reihe von Ansichten polarisiert, eine zentrale ist dabei die nationale Identität. Diese wurde für viele zu einem Prisma, durch das die Bewertung des aktuellen Geschehens und der Zukunft des Landes erfolgt.
Zwei nationale Projekte
In Belarus existieren heute zwei konkurrierende nationale Projekte, die von Wissenschaftlern als russisch-sowjetisch bzw. als nationalromantisch beschrieben werden. Das erste greift auf das sowjetische Erbe zurück, ist auf Russland ausgerichtet und stellt den Staat als nationsbildende Institution in den Vordergrund. Das zweite ist eher proeuropäisch, bezieht sich auf die vorsowjetische Geschichte und betrachtet die belarussische Kultur als wesentliches Element der Nation. Der Kampf und die Wechselbeziehungen dieser Projekte wie auch der Einfluss der gegenwärtigen Identität Russlands, des Kosmopolitismus und national indifferenter Haltungen bestimmen die Besonderheiten der nationalen Identität der Belarussen.
An den äußeren Identitätspolen sind zwei Gruppen angesiedelt, die „[National]bewussten“ (13 Prozent) und die „Sowjetischen“ (37 Prozent). Erstere engagieren sich für einen nationalromantischen Entwurf und orientieren sich an der belarussischen Kultur und Sprache sowie an der vorsowjetischen Geschichte des Landes. Für sie sind nationale Symbole und bedeutsame Gedenkdaten wichtig, etwa das Pahonja-Wappen, die weiß-rot-weiße Flagge, volkstümliche und geschichtsbezogene Feiertage wie der Jahrestag der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik.
Die Gruppe der „Sowjetischen“ hängt – wie der Name schon sagt – einer Vorstellung an, die sich auf das russisch-sowjetische Imperium, das Erbe der belarussischen Sowjetrepublik und die Nähe zu Russland bezieht. Angehörige dieser Gruppe vertreten die Vorstellung von der Dreieinigkeit einer [ost]slawischen Nation. Zu ihren Symbolen und Gedenktagen gehören die rot-grüne Flagge, Staatsunternehmen, die Paraden [zum offiziellen Unabhängigkeitstag – dek] am 3. Juni und [zum sowjetischen Tag des Sieges – dek] am 9. Mai.
Zwischen diesen beiden Polen liegen die Gruppen der „sich Entwickelnden“ (19 Prozent), der „Gleichgültigen“ (27 Prozent) und der „Russifizierten“ (4 Prozent). Für die „sich Entwickelnden“ sind die Merkmale beider Nationalideen kennzeichnend, sowie ein beträchtliches Interesse an globaler Identität und Multikulturalität. In diesem Segment gibt es viele junge Leute, oft mit einem guten Bildungsniveau. Die „Gleichgültigen“ hingegen sind praktisch kaum in den nationalen Projekten involviert und ihr Bildungsgrad ist beträchtlich geringer. Die „Russifizierten“ schließlich halten sich schlichtweg für Russen, und nicht für Belarussen.
Linien der Spaltung
Abhängig vom Grad des Vertrauens in staatliche und nichtstaatliche Strukturen und Gruppen in der belarussischen Gesellschaft haben die Soziologen hier vier Bereiche eines sozialen Konflikts identifiziert. Zwei von ihnen befinden sich an den Polen der politischen Konfrontation: Es sind die „überzeugten Gegner“ der derzeitigen Regierung und deren „überzeugte Anhänger“.
Die „überzeugten Regierungsgegner“ machen 10 Prozent aus. Für sie ist einerseits ein hohes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen und Gruppierungen kennzeichnend, und andererseits ein Vertrauen zu nichtstaatlichen Strukturen. Die „überzeugten Regierungsanhänger“ belaufen sich auf 23 Prozent. Und hier ist es genau umgekehrt: Sie vertrauen staatlichen Strukturen und misstrauen nichtstaatlichen Akteuren.
Gleichzeitig habe sich – so die Soziologen – im Laufe des letzten Jahres die Anzahl der „überzeugten Regierungsgegner“ beträchtlich verringert, während die der „überzeugten Regierungsanhänger“ gestiegen ist. Zwischen diesen beiden Gruppen liegen zwei gemäßigtere. Das sind einerseits die „gemäßigten Regierungsgegner“ (28 Prozent). Diese ist die am stärksten zentristische Gruppe, die weder den staatlichen noch den nichtstaatlichen Strukturen groß vertraut. Wenngleich sie dazu neigt, eher den letzteren Vertrauen entgegenzubringen. Die Soziologen stellen fest, dass diese Gruppe in wesentlich geringerem Maß mit der Agenda der demokratischen Bewegung in Berührung kommt. Es wird für die Bewegung ein harter Kampf werden, Vertreter dieser Gruppe auf ihre Seite zu ziehen.
Wie sind also die Wechselbeziehungen zwischen den politischen und wertebezogenen Gruppen und die Haltung der Anhänger und Gegner der Regierung zu den beiden Ideen, der nationalromantischen und der russisch-sowjetischen? Wir sehen deutlich, dass die „überzeugten Regierungsanhänger“ hauptsächlich aus „Sowjetischen“ bestehen (69 Prozent), während die „überzeugten Regierungsgegner“ über die Hälfte „[National]bewusste” sind.
Dabei verweisen die Soziologen darauf, dass der Anteil [in Bezug auf die nationale Idee] von „Gleichgültigen“ angestiegen sei, und zwar unter den „gemäßigten Regierungsanhängern“ wie auch bei den „gemäßigten Gegnern“ [der Regierung]. Bei denen, die der aktuellen Regierung vertrauen, betrug der Anstieg 12 Prozentpunkte. Bei jenen, die nichtstaatlichen und oppositionellen Strukturen vertrauen, waren es 14 Prozentpunkte. Was bedeutet, dass die politischen Gruppen und die Identitätsgruppen eng zusammenhängen. Dies ist auch am Grad des Vertrauens in staatliche und nichtstaatliche Strukturen erkennbar.
Doch insgesamt halten die Soziologen fest: 2023 ist das Vertrauen in staatliche Strukturen und Gruppierungen im Vergleich zum Vorjahr weiter gestiegen. Das Vertrauen in sämtliche nichtstaatliche Strukturen hingegen ist deutlich zurückgegangen: Weniger als ein Drittel der Befragten ist geneigt, ihnen zu vertrauen. Gleichzeitig hat sich im Laufe des Jahres der Anteil „der überzeugten Regierungsgegner“ beträchtlich verringert und der „überzeugten Regierungsanhänger“ erhöht.
Hervorzuheben sind auch erhebliche Unterschiede zwischen „überzeugten Regierungsanhängern“ und „gemäßigten Regierungsanhängern“ hinsichtlich des Vertrauens in staatliche Organisationen und Institutionen. Das betrifft das Vertrauen in die staatlichen Medien und in die Beamtenschaft: Die „Gemäßigten“ bringen ihnen in erheblich geringerem Maße Vertrauen entgegen. Zudem äußert über die Hälfte der „gemäßigten Regierungsanhänger“ ein Misstrauen gegenüber nichtstaatlichen Strukturen. Am häufigsten werden dabei nichtstaatliche Medien genannt sowie Menschen, die aus Angst vor Repressionen das Land verlassen haben, und jene, die die Wahlergebnisse von 2020 nicht anerkennen.
Naturgemäß unterscheiden sich die Gruppen der „[National]bewussten” und der „Sowjetischen“ am stärksten voneinander. Im Grunde wiederholt sich hier das gleiche Muster wie bei den „überzeugten Regierungsgegnern“ und „überzeugten Regierungsanhängern“. Die „[National]bewussten” vertrauen in höherem Maße allen nichtstaatlichen Strukturen und vertrauen staatlichen Institutionen seltener. Die „Sowjetischen“ hingegen vertrauen staatlichen Strukturen in sehr hohem Maße und wesentlich seltener nichtstaatlichen oder oppositionellen Stellen. Für die „gemäßigten Regierungsgegner“ wiederum ist ein gleich großes Vertrauen gegenüber beiden Strukturen typisch.
Die Lage könnte wegen des Krieges und der Sanktionen nämlich beträchtlich schlechter sein. Das wird auch den Leistungen der Regierung zugeschrieben
Was ist der Grund für das gewachsene Vertrauen gegenüber staatlichen Institutionen? Einer der Autoren der Studie, der Soziologe Filipp Bikanow, ist der Ansicht, dass hier ein ganzes Bündel von Faktoren bestimmend sei. Zum einen wäre da der Konsens gegen den Krieg: Die Mehrheit ist überzeugt, dass sich die belarussische Armee so weit wie möglich aus dem russisch-ukrainischen Krieg heraushalten sollte. Und die Regierung unterstützt diese Haltung zumindest verbal. Zweitens steigt der Lebensstandard der Belarussen zwar nicht rapide, er sinkt aber auch nicht katastrophal. Und die Menschen spielen gedanklich verschiedene Szenarien durch – denn die Lage könnte wegen des Krieges und der Sanktionen beträchtlich schlechter sein. Das wird auch den Leistungen der Regierung zugeschrieben.
Bikanow nimmt an, dass das Jahr 2020 für viele schon der Vergangenheit angehört. Und alle, die nicht zur Gruppe der „überzeugten Regierungsgegner“ zählen, leben ihr eigenes, gewohntes Leben weiter. Aber auch die erzwungene Emigration sollte nicht außer Acht gelassen werden: Viele, die der Regierung nicht trauten und nicht trauen, haben das Land verlassen, was die Ergebnisse der Studie beeinträchtigt.
Informationskokon
Ein weiterer Faktor, den Bikanow anführt: Die meisten Belarussen befinden sich heute im Informationsraum der staatlichen belarussischen und der russischen Medien. Die Konfliktparteien leben in unterschiedlichen medialen Blasen: Die „überzeugten Regierungsanhänger“ sind hauptsächlich Konsumenten der staatlichen Medien, während die „überzeugten Regierungsgegner“ vorwiegend nichtstaatliche Medien nutzen.
Das ergibt sich aus der Säuberung des Mediensektors: In den vergangenen drei Jahren hat die Regierung der Bevölkerung den Zugang zu unabhängigen Medien aktiv versperrt, besonders zu jenen, die über Politik berichten. Gleichzeitig werden verstärkt die eigenen und die russischen Narrative verbreitet, die – das sehen wir jetzt – höchst destruktive Auswirkungen auf die Gesellschaft haben.
Mangel an Empathie
Ein Aspekt der Studie verdient besondere Aufmerksamkeit. Hier gibt es Grund zur Sorge.Die Studien vergangener Jahre haben gezeigt, dass die „überzeugten Regierungsanhänger“ und die „überzeugten Regierungsgegner“, die höchst unterschiedliche Ansichten zur Weiterentwicklung des belarussischen Staates haben, eine starke gegenseitige Abneigung hegen. Diese geht so weit, dass Kontakt vermieden wird. Dabei blieb diese Frage jedoch unbeantwortet: Wie tief geht diese Abneigung, und betrifft sie nur die politischen Meinungsunterschiede?
Die Forscher wollten überprüfen, wie schwer es Anhängern und Gegnern der Regierung fällt, Empathie und Mitgefühl für politische Opponenten zu bekunden. Empathie wurde in dieser Studie als Verständnis für das Unglück eines anderen Menschen definiert, und als Einfühlungsvermögen aus dem Bedürfnis heraus, die Leiden des Anderen vermindern zu wollen.
Es scheint, dass die Vertreter der beiden politischen Pole in geringerem Maße bereit sind, mit jemandem mitzufühlen, der in eine schwierige Lage geraten ist, wenn dieser der jeweils anderen Gruppe angehört. Das gilt übrigens unabhängig von der Art der schwierigen Situation, sei es eine politisch motivierte Entlassung oder eine Alltagssituation wie eine Erkrankung.
Mit der Zeit wird es immer schwieriger werden, auf einen konstruktiven Dialog zwischen den beiden Polen zu hoffen
Die Soziologen konstatieren, dass die gesellschaftspolitische und identitätsbezogene Spaltung auch von einer psychologischen unterfüttert wird. In dieser Hinsicht bilden die Vertreter der „überzeugten Regierungsgegner“ und der „überzeugten Regierungsanhänger“ die Protagonisten dieses heftigen gesellschaftlichen Konflikts. Sie zeigen die geringste Empathie füreinander. Auch wenn sie den eigenen Leuten gegenüber sehr empathisch sind. Wobei die „überzeugten Regierungsgegner“ sowohl gegenüber den Eigenen wie auch gegenüber einer außenstehenden Gruppe etwas empathischer sind als die „überzeugten Regierungsanhänger“.
Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass ein Dialog zwischen den beiden Gruppen praktisch unmöglich ist. Die „überzeugten Regierungsanhänger“, die ihre Gegner nicht verstehen, werden wohl dazu neigen, den „Fremdlingen“ sofort mit Aggression zu begegnen. Und die „überzeugten Regierungsgegner“, bei denen die Unterstützung für die eigenen Leute am größten ist, und die zusammenhalten, wenn sie angegangen werden, sehen sich genötigt, bei ihrem Kurs zu bleiben und sich zu verteidigen.
Die gemäßigten Gruppen sind erheblich empathischer gegenüber Menschen mit gegenteiligen Standpunkten. Somit ist ein aktiver gesellschaftlicher Dialog anscheinend nur zwischen den Gemäßigten möglich, weil sie ungefähr in gleichem Maße mit der eigenen und der anderen Gruppe mitfühlen. Gleichzeitig äußern auch die „Sowjetischen“ und “die „[National]bewussten” – ganz wie die „überzeugten Regierungsgegner“ und die „überzeugten Regierungsanhänger“ – gegenüber einer fremden Gruppe weniger Mitgefühl, Verständnis und empathische Regungen.
Die Polarisierung der belarussischen Gesellschaft beunruhigt die Soziologen. Das Vorgehen der Regierung und ihrer Propagandisten, das die Belarussen auseinanderbringen soll, bleibt nicht ohne Wirkung. Dadurch wird die identitätsbezogene Konfrontation der beiden nationalen Ideen zu einem Faktor, der sogar auf der Empathie-Ebene wirkt.
In Belarus sind zwei unversöhnliche Lager entstanden. Für die „sowjetischen“ Anhänger der Regierung würden politische Veränderungen ebenso ein Trauma bedeuten, wie die aktuelle Stagnation und die Repressionen für die „[National]bewussten” und die Verfechter der nationalromantischen Idee ein Trauma darstellen. Diese Eisschollen werden wohl weiter auseinanderdriften. Mit der Zeit wird es immer schwieriger werden, auf einen konstruktiven Dialog zwischen den beiden Polen zu hoffen. Die Lösung dieses Problems wird wohl eine der wichtigsten Aufgaben sein, die die derzeitige Situation im Land für die gesamte Gesellschaft ergibt. Die Frage ist äußerst weitreichend: Schließlich könnte die ideologische Konfrontation der beiden nationalen Ideen sehr wohl blutig enden.
Belarus ist nahezu vollständig aus der Diskussion um den russischen Krieg gegen die Ukraine verschwunden. Dabei ist das Schicksal des Landes eng mit dem Ausgang des Krieges verbunden. Die demokratische belarussische Opposition hat im Dezember 2023 ein lang angekündigtes Strategiepapier vorgelegt, in dem sie verschiedene Szenarien für einen Regimewechsel formuliert. Ausgehend von der Annahme, dass Russland den Krieg verliert oder in seinen Handlungsmögichkeiten stark eingeschränkt wird.
Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski hat sich das Papier für das Online-Medium Pozirk genau angeschaut – und er fragt sich, ob ein Machtwechsel in seiner Heimat tatsächlich unausweichlich ist, wenn Russland im Zuge des Krieges entscheidend geschwächt wird.
Im Dezember, kurz vor Jahresende, haben die demokratischen Kräfte um Swetlana Tichanowskaja endlich einen Strategieentwurf für den Übergang zu einem neuen Belarus vorgelegt. In dem Dokument wird umrissen, wie der Staat neu geordnet werden soll, wenn die demokratischen Kräfte an die Macht kommen. Für jene, die sich Veränderungen herbeisehnen, ist aber vielmehr die Frage wichtig, wie die derzeitige Tyrannei zu beenden wäre, damit der Weg in diese lichte Zukunft beschritten werden kann. Diese Frage wird jedoch nur sehr spärlich in Anhang 1 des umfangreichen Dokuments behandelt. Vier denkbare Szenarien werden skizziert.
Ist ein Dialog zwischen Opposition und Regime überhaupt denkbar?
1. Gehen wir die Szenarien einmal durch. Das erste geht davon aus, dass „Russland durch den Krieg geschwächt wird und dann nicht mehr in der Lage ist, Belarus im gleichen Maße wirtschaftlich, militärisch und politisch zu unterstützen“. Dadurch würde sich in Belarus die soziale und wirtschaftliche Lage verschlechtern. Die Nomenklatura würde versuchen, „Verhandlungen mit den Ländern des Westens und den demokratischen Kräften aufzunehmen, um ein Ende der Sanktionen und eine Wiederaufnahme der Beziehungen zu erreichen“. Es würde ein nationaler runder Tisch eingerichtet und eine Übergangsregierung gebildet, zu der laut dem Szenario Vertreter der Nomenklatura wie auch der demokratischen Kräfte gehören würden.
Hier stellt sich umgehend die Frage, ob es die Nomenklatura eilig haben wird, diejenigen zum runden Tisch einzuladen, die jetzt verächtlich als „Abtrünnige“ bezeichnet werden, und sie zudem noch an der Macht zu beteiligen. Die Einführung wie auch die Aufhebung der Sanktionen hängt in erster Linie von den Staaten des Westens ab. Die belarussische Opposition hat hierauf nur einen sehr mittelbaren Einfluss. Somit wäre wohl eher ein Deal mit den Führungen westlicher Staaten wahrscheinlich. Die Vertreter des Regimes dürften dabei eher auf Realpolitik setzen und versuchen, eine Demokratisierung zu vermeiden.
Es hat zwar auch 1989 in Polen einen runden Tisch zwischen der kommunistischen Regierung und der Gewerkschaft Solidarność gegeben. Doch stellte die Solidarność da eine einflussreiche Kraft dar. Das damalige Regime dort wurde durch wirkungsmächtige Streiks erschüttert.
In Belarus sind die Schrauben heute derart fest „angezogen“, dass nicht einmal eine individuelle Mahnwache möglich ist. Ganz zu schweigen von einem Massenstreik. Der ist undenkbar. Die oppositionellen Kräfte sind – anders als die Solidarność – ins Ausland verdrängt worden. Sie können kaum auf die Situation im Land einwirken, wo die Bevölkerung zunehmend entpolitisiert wird.
Wie wahrscheinlich ist ein Volksaufstand?
2. Das zweite Szenario geht davon aus, dass in Russland nach einer Niederlage im Krieg gegen die Ukraine ein Regimewechsel erfolgt: „Russland ist durch den Krieg und die Sanktionen erschöpft, und es kann sich nicht mit Belarus befassen“. Auch hier würde sich in Belarus die soziale und wirtschaftliche Lage drastisch verschlechtern, Streiks würden aufflammen und sich ausbreiten, was zu Zusammenstößen mit Truppen des Innenministeriums führen würde. Das Militär würde jedoch „seine Neutralität wahren“, „in den Sicherheitsstrukturen“ würde „eine Spaltung erfolgen“, Protestierende würden die Präsidialadministration und andere Objekte der kritischen Infrastruktur stürmen. Alexander Lukaschenko würde „entweder verhaftet oder ins Exil fliehen“.
Auch dieses Szenario wirft viele Fragen auf. Die Angst vor Repressionen ist jetzt in Belarus derart groß, dass es selbst bei einem beträchtlichen Absacken des Lebensstandards nicht viele sein werden, die sich den Schlagstöcken der OMON entgegenstellen. In Nordkorea ist das Leben mehr als aussichtslos, und dennoch probt die Bevölkerung nicht den Aufstand. Und Lukaschenkos Regime bewegt sich jetzt in Richtung Nordkorea.
Darüber hinaus sind die Sicherheitskräfte gut ausgebildet und ausgerüstet. Viele, besonders die mit Blut an den Händen, sind überzeugt, dass sie nach einem Machtwechsel vor Gericht landen (oder gar das Ziel von Selbstjustiz) würden. Sie würden erbittert um ihr Schicksal und das ihrer Familien kämpfen.
Und wenn die Armee, die schon 2020 an den Repressionen beteiligt war, nicht neutral bleibt? Lukaschenko hatte ja seinerzeit Schützenpanzer vor seinem Palast auffahren lassen und gezeigt, dass er bereit ist, auf Menschenmassen zu schießen. Und dass er nicht das Land verlassen werde, wie einst Janukowitsch die Ukraine. Der Ausgang eines solchen hypothetischen Maidan in Belarus ist also keineswegs ausgemacht.
Und wer sagt schließlich, dass nach einem Machtwechsel in Russland ein Liberaler oder Friedenswilliger in den Kreml einzieht? Was wäre, wenn dann ein völlig archaischer Imperialist an die Macht kommt, der beschließt, den Misserfolg in der Ukraine durch einen Anschluss von Belarus wettzumachen?
Was, wenn Belarus die Unabhängigkeit tatsächlich an Moskau verliert?
3. Das dritte Szenario geht davon aus, dass Lukaschenko – aus welchem Grund auch immer – nicht mehr das Präsidentenamt ausüben kann (wegen schwerer Krankheit oder durch sein Ableben) und sein aus der Nomenklatura stammender Nachfolger angesichts der Last der ererbten Probleme eine Deeskalation im Verhältnis zum Westen und einen Systemwandel unternimmt. Hierbei wird vorausgesetzt, dass „Russland durch den Krieg geschwächt ist und nicht mehr das volle Repertoire seiner Instrumente einsetzen kann, um auf Belarus einzuwirken“.
Aber halt! Wenn nun aber Lukaschenko stirbt und Russland noch stark genug ist? Und was, wenn der Nachfolger prorussisch gesinnt ist und beschließt, sich der ererbten Probleme dadurch zu entledigen, dass die Reste der belarussischen Souveränität einfach dem Kreml übertragen werden?
4. Das vierte Szenario postuliert, dass „die belarussische Armee sich unmittelbar und auf Seiten Russlands an dem Krieg in der Ukraine beteiligt und auf ukrainisches Territorium vorrückt“. Dann werde es Lukaschenko voll erwischen: „Ukrainische Truppen würden, mit belarussischen Freiwilligenverbänden an der Spitze, nach Belarus einmarschieren“, und die Zerschlagung des Regimes wäre dann nur noch eine Frage der Technik.
Mag sein, doch bislang hat es der belarussische Herrscher erfolgreich verstanden, eine direkte Beteiligung seiner Streitkräfte am Krieg zu vermeiden. Und es ist ja nicht so, dass Putin ihm deswegen an die Kehle geht. Im Gegenteil: Moskau ist so großzügig wie noch nie. Das heißt, es ist zufrieden mit den anderen Diensten seines Verbündeten.
Wie gefällt Ihnen diese Variante: Lukaschenko schließt sich der „militärischen Spezialoperation“ Russlands symbolisch in einer Phase an, in der Kyjiw am Rande einer Niederlage steht, nicht die Kraft zu einer Gegenoffensive hat und die beiden Verbündeten dann gemeinsam ihre Ziele erreichen?
Die Opposition hat kaum Einfluss auf das Geschehen
Ich kritisiere natürlich bewusst an diesen Szenarien herum, um aufzuzeigen, dass sie alle viel zu glatt sind und auf einer Menge Annahmen beruhen, die für die Regimegegner günstig sind. Es mag ja tatsächlich zu dieser Verkettung von Umständen kommen. Allerdings wäre es besser, von Anfang an auch höchst wahrscheinliche negative Hindernisse zu berücksichtigen.
Es fällt auf, dass sämtliche Szenarien mehr oder weniger auf der Annahme beruhen, dass Russland durch den Krieg geschwächt sein wird oder überhaupt eine Niederlage erleidet, also kurz gesagt, dass es sich überhaupt nicht mit Belarus befassen kann. Der Krieg ist jetzt aber in einer Phase, in der sich – seien wir ehrlich! – viele bereits fragen, ob die Ukraine standhalten wird. Also verdüstert sich die Aussicht auf ein Fenster der Möglichkeiten für einen Wandel in Belarus noch stärker.
Es stimmt zwar, dass sich die Lage in einer für die demokratischen Kräfte günstigeren Richtung verändern kann. Doch rechnen all diese Szenarien vor allem mit externen Faktoren wie etwa großen Erfolgen der Streitkräfte der Ukraine, einer durchschlagenden Wirkung der westlichen Sanktionen usw. Die demokratischen Kräfte können diese Faktoren aber nur unwesentlich beeinflussen. Es liegt auf der Hand, dass das Büro von Tichanowskaja die ukrainischen Streitkräfte nicht mit Storm Shadow-Raketen, Patriot-Systemen oder mit F-16 versorgen kann. Der Westen verhängt seine Sanktionen nach eigenem Gutdünken, flammende Aufrufe des Leiters des Nationalen Anti-Krisen-Management, Pawel Latuschka, spielen da keine große Rolle. Und es ist heute erkennbar, dass der Westen nicht in der Lage ist, Sanktionen gegen die [russische – dek] Atomwirtschaft durchzusetzen.
Hier ist zu erwähnen, dass auch Vertreter des Kalinouski-Regiments versuchen, eine Strategie zur Befreiung von Belarus zu entwickeln. Die Konferenz, die Ende November in Kyjiw stattfand, hat diese Aufgabe nicht bewältigt. Es wurde lediglich beschlossen, eine Arbeitsgruppe zur Entwicklung einer Strategie einzurichten. Auch das Kalinouski-Regiment macht keine großen Sprünge. Es gibt zwar die belarussischen Freiwilligen dort, doch ist es ein Teil der ukrainischen Streitkräfte. Kyjiw hat derzeit nicht Absicht, gegen Lukaschenko zu kämpfen, solange dieser nicht selbst vorrückt.
Wenn der Rückhalt durch den Kreml tatsächlich bröckelt
Mit der Präsentation der Strategie für den Übergang zu einem neuen Belarus hat sich Tichanowskajas Team deutlich Zeit gelassen. Logischer wäre es gewesen, dieses Werk auf der Konferenz Neues Belarus 2023 im August vorzustellen. Dort wurden aber lediglich einige Deklarationen verabschiedet. Gleichzeitig muss man verstehen, dass es grundsätzlich nicht möglich ist, sich eine Wunder wirkende Strategie einfach aus den Fingern zu saugen.
Putin und Lukaschenko sitzen derzeit fest im Sattel und feiern (wenn auch eindeutig zu früh). Die russische Wirtschaft hat den Schlag der Sanktionen überstanden und ist eine Stütze für die belarussische Volkswirtschaft. Die russischen Streitkräfte gehen in der Ukraine zum Gegenangriff über, während der Westen Zeichen der Ermüdung offenbart, was die Unterstützung der Ukraine angeht. Mehr noch: Ein Teil der westlichen Politiker möchte nicht, dass der Kreml eine ernste Niederlage erfährt, weil sie einen Zerfall Russlands und eine Verbreitung von Atomwaffen befürchten.
Auch dem Westen geht es letztendlich nicht um Belarus
Die Welt befindet sich heute in der dramatischen Phase einer Konfrontation der Autokratien mit den Demokratien. Die genannten Szenarien der demokratischen Kräfte gehen davon aus, dass es Russland nicht mehr um Belarus geht. Wir können es aber offen aussprechen: Auch dem Westen geht es letztendlich nicht um Belarus.
Die demokratischen Kräfte sollten einerseits – geb’s Gott – dafür sorgen, dass die belarussische Frage auf der Agenda des Westens bleibt. Andererseits sollten sie wenigstens irgendein Interesse der protestbereiten Bevölkerung für sich wecken. Es wäre gut, wenn sich die politisch motivierten Emigranten nicht untereinander überwerfen und sich endgültig marginalisieren würden, wenn die demokratischen Kräfte sich die nötigen Ressourcen zum Selbsterhalt sichern sollten, damit ihre Mission zur Stunde X denn erfüllt werde. Zudem ist es wichtig, nicht in ein klischeehaftes Pathos zu verfallen, dessen bereits viele Anhänger eines Wandels müde sind.
Wenn denn die Zeit eines Wandels anbricht, so werden sich zweifellos Führer finden, und das können ganz neue Leute sein. Aber sonst: Es wühlt sich der Maulwurf durch die Geschichte. Lukaschenko hat zwar die Kontrolle über die Gesellschaft verloren und das Land eingefroren. Bislang steht der Kreml hinter ihm. Das Regime zu zerstören ist kaum denkbar. Es ist ein Fest der Finsternis; das Böse könnte länger dauern.
Russland wird wohl früher oder später den Weg anderer Imperien gehen. Die Herausforderung, die Putin dem Westen entgegenschleudert, ist abenteuerlich. Sie verdammt Russland zum Niedergang und ist für den Kreml letztlich tödlich. Das Imperium muss sterben. Wichtig ist, dass für Tichanowskaja und ihr Team ein antiimperiales Narrativ zum Axiom wird.
Hunderttausende Belarussen haben nach den historischen Protesten von 2020 ihre Heimat verlassen müssen, um Verfolgung und Festnahme zu entgehen. Was macht das Leben in der Emigration mit der eigenen Sprache, mit der eigenen Kultur? Wie die Hoffnung auf einen politischen Wandel hochhalten, der die Rückkehr ermöglichen würde?
Mit welchen Herausforderungen das Leben im Exil verbunden ist, wenn man nicht weiß, ob man jemals in seine Heimat zurückkehren kann, darüber spricht die Sängerin Ketevan, die im Alter von fünf Jahren aus Georgien nach Belarus kam und aktuell in Polen lebt, mit dem belarussischen Online-Portal Budzma.
Budzma: Wie verlief deine Emigration? Abgesehen davon, dass du schon als Kind aus Georgien nach Belarus gezogen bist.
Ketevan: Das ist eine komplizierte Geschichte. Seit 2020 habe ich mehrfach das Land gewechselt. Zuerst bin ich nach Kyjiw gegangen, ohne auch nur irgendwie zu begreifen, was da vor sich geht. Ich nahm nicht einmal Sommersachen mit, suchte mir kein Zimmer – ich dachte überhaupt nicht in diese Richtung. Aber in der Ukraine lief es gut, wir probten sogar für ein Theaterstück. Mit einem Regisseur vom SChT (dt. Modernes Künstlertheater) in Minsk, zu einer Hälfte mit Belarussen, zur anderen mit Ukrainern besetzt. Ich war von Anfang an in dieses Projekt involviert, trat sogar mit auf. Ab und zu stellte sich das Gefühl ein, endlich aufzuwachen. Aber dann kehrte wieder dieses seltsame Unverständnis zurück.
Nach einiger Zeit zog ich nach Gdańsk, weil dort mein Freund war. Ich unterhielt mich gern mit dem Meer, aber ich hatte absolut nichts zu tun. Zum Glück konnte ich dann eine Künstlerresidenz am Theater in Warschau beginnen, da war ich unter Gleichgesinnten. Um mich herum waren Schauspieler, sensible Menschen, mit feiner Seelenstruktur. Wenn sie nicht zu Hause sind, noch dazu gegen ihren Willen, nehmen sie das doppelt schwer. Mir wurde klar, dass ich kein dummes kleines Mädchen bin, sondern einfach verloren, wie alle um mich herum.
Wie ich mich in der Emigration fühle? Es ist ein großes Durcheinander, als würde sich alles in einer anderen Realität abspielen – wie im Traum
Einen Monat später war Krieg. Ich begann, am Bahnhof in Przemyśl, nahe der Grenze, als Freiwillige zu helfen. Tausende Menschen, verlorene Gesichter – das war eine furchtbare, aber auch gute Erfahrung. Ich hatte dort wenigstens ein bisschen das Gefühl, die Realität zu begreifen. Das Gefühl, zu tun, was getan werden muss. Ich war sehr müde, in den ersten Monaten des Krieges leisteten wir 15 bis 16 Stunden Hilfe am Tag.
Einige Zeit später packte ich meine Sachen und fuhr nach Vilnius – um wieder im Unbekannten zu landen und von Null zu beginnen (lacht). In Litauen wohnte ich drei Monate lang bei Freunden, dann fuhr ich als Freiwillige an die Grenze, weil ich mich wieder nutzlos fühlte. Dann folgte noch ein Umzug nach Warschau – in Polen ist es einfacher mit der Bürokratie.
Wie ich mich in der Emigration fühle? Es ist ein großes Durcheinander, als würde sich alles in einer anderen Realität abspielen – wie im Traum. Alles ist in Bewegung, und du weißt nie, was dich morgen erwartet. Ich liebe mein Leben, ich jammere nicht, ich finde, mir geht es super. Aber dieses Leben ist surreal.
Der Surrealismus meines Lebens im Exil besteht wohl am ehesten darin, dass ich nicht das Gefühl habe, nicht mehr nach Hause zurückzukehren. Mein Leben im Ausland ist sehr seltsam – ich treffe mich mit Belarussen, mache belarussische Musik, lese belarussische Bücher. Dass ich nicht zu Hause bin, wird mir bewusst, wenn es um Bürokratie geht. Wital Karaban, ein belarussischer Dramaturg und Regisseur, hat mit uns das Stück Masaika (dt. Mosaik) inszeniert. Der Text basiert auf unseren Gesprächen, ich spiele darin letztlich mich selbst.
In dem Stück erzählen wir von den unangenehmen Seiten der Emigration, es richtet sich in erster Linie an das polnische Publikum, damit dieses die andere Seite unseres Lebens hier sieht. Manchmal sieht es aus, als würden wir hier durchdrehen, tanzen, trinken, und man könnte meinen: „Euch geht’s ja gut hier!“ Uns allen im Exil ist nicht immer klar, wie man solche verrückten Partys überhaupt noch feiern kann. Mit unserem Stück beleuchten wir viele solcher Fragen. Wir erhalten viel Dank für diese Möglichkeit, die Belarussen besser zu verstehen.
Durch künstlerisches Schaffen können wir die Verbindung zwischen den Belarussen im Ausland und den im Land Gebliebenen aufrechterhalten. Wir wollen wissen, was zu Hause passiert, und umgekehrt. Wir glauben immer, wir haben uns verändert, aber eigentlich sind wir absolut dieselben geblieben und werden auch so bleiben, wie wir immer waren.
Da wir über das künstlerische Schaffen sprechen: Kommen wir zu deiner Zusammenarbeit mit Lavon Volski und seinem Projekt Emihranty. Wie kam es zu dieser Kooperation?
Lavon habe ich zufällig kennengelernt. Er suchte für sein neues Album eine Frauenstimme. Beim ersten Treffen sang ich die betreffenden Songs und obwohl ich sie noch gar nicht richtig kannte, wusste ich: Ich verstehe das alles. Volski gefiel es, und wir nahmen sehr schnell alles auf.
Emihranty, das ist nicht nur Musik, das sind Szenen, die ich auch schon erlebt habe. Ich erhalte oft Nachrichten wie „Meine Mama klingt am Telefon genauso!“, „Meine Freundin sagt, dass ihr genauso alles zuwider ist wie der Frau in dem Lied“. Ich freue mich, wenn Kunst eine Reaktion auslöst.
In dem Lied Jak tam sprawy (dt. Wie läuft’s bei euch?) imitieren Ketevan und ihr Gegenpart Lavon Volski ein Telefongespräch zweier Belarussen, von denen sich die eine im Exil und der andere noch in Belarus befindet. Der erklärt zur Verwunderung der Gesprächspartnerin immer wieder, dass bei ihnen „alles normal” sei.
Es gab auch die folgende Situation. Im Song Jak tam sprawy (dt. Wie läuft’s bei euch?) fragt eine Person die andere: „Wie läuft’s bei euch, wieder jemand verhaftet?“ und die Antwort lautet: „Nein, alles gut, wir nehmen gerade einen neuen Kredit auf.“ Hörer schrieben mir: „Sind bei uns etwa nur mehr solche Leute übrig? Warum singt ihr so was?“ Ich antwortete, solche Leute gebe es überall zur Genüge. Und solche Gespräche auch – unangenehme, schwierige, die davon zeugen, dass die Menschen sich mit ihrer Situation abgefunden haben. Ich habe auch Freunde, die so kaputt sind, dass sie diese ganze Realität ausblenden.
Volskis Album handelt von dem, was ist, nichts darin ist erfunden. Die Zusammenarbeit mit Lavon fand ich sehr schön, vor allem, wie respektvoll alle im Team miteinander umgehen, das sind diese echten belarussischen Intellektuellen! Ich bin immer gern hingegangen, habe ihren Gesprächen zugehört, bei ihnen sind sogar die einfachsten Gespräche interessant.
In einem der Songs geht es um eine Frau, die emigriert ist und der an ihrem neuen Wohnort buchstäblich nichts gefällt. Gibt es in der Emigration etwas, das dich stört? Wie nah ist dir dieser Text?
Es gibt da ein Thema bei mir, nämlich Ärzte. Ich weiß nicht, wie ich an medizinische Versorgung komme, ehrlich gesagt wusste ich auch in Belarus nicht genau, wo ich hinsoll, wenn ich krank bin. Aber zu Hause gab es eine Poliklinik und ich wusste, wenn etwas passiert, kann ich den Rettungswagen rufen. Alles, was Essen angeht oder dass die Geschäfte sonntags geschlossen sind, stört mich nicht, weil mir in Belarus andere Dinge wichtig waren. Ich mag Nutella, in dieser Hinsicht ist jetzt alles paletti, weil es hier viel davon gibt (lacht). Bei einem Konzert in Wrocław haben Frauen im Publikum dieses Lied mitgesungen, vom Anfang bis zur letzten Zeile, und sehr professionell. Das war so krass!
Gab es zu diesem Songtext auch Fragen von Belarussen, die in Belarus geblieben sind, nach dem Motto: Wenn alles so schlimm ist, warum seid ihr dann noch dort?
Ja, die gab es wirklich. Mit Menschen, die solche Fragen stellen, gehe ich genauso um, wie mit denen, die überhaupt nicht verstehen, was abgeht. Ich antworte gar nicht. Wenn jemand sich für einen Freund hält und dann sagt: „Komm doch wieder zurück!“, was ist das dann für ein Freund? Er versteht offenbar gar nichts oder will, dass ich in den Knast komme.
Im Gegensatz dazu gibt es Belarussen, die sich im Ausland einleben, sich dort ein Leben aufbauen und gar nicht mehr vorhaben zurückzukehren. Was hältst du von denen?
Ich habe viele Freunde, die mit Kindern emigriert sind. Ich verstehe sie in dieser Hinsicht gut, weil sie für das Leben und die Zukunft ihrer Kinder Sorge tragen. Ich glaube weiterhin daran, dass der Wandel kommen wird – ich weiß, dass das einfach ein sehr langes Spiel ist. Was gerade auf der Welt passiert, ist ein Wahnsinn, und unsere Geschichte ist Teil dieses Wahnsinns, sie wird sich so schnell nicht ändern. Wenn alles gutgeht und wir nach Hause können, wird es auch noch einige Zeit dauern, bis alles bewältigt ist. Für kleine Kinder ist das alles nicht leicht. Ich freue mich sehr, wenn Leute sagen, dass sie zurückkehren wollen, darüber sprechen viele. Ich träume von langen Schlangen an den Grenzen, mit Gesängen und Flaggen.
An der Sprache erkennst du deine Leute, wenn du in einem anderen Land lebst
Eines ist mir aufgefallen: Kinder zieht es, egal wo sie aufwachsen, immer in die Heimat. Ich bin eine Georgierin, die in Belarus aufgewachsen ist, und habe mich immer für meine Sprache und Kultur interessiert, wollte immer nach Georgien reisen. Aus gewissen Gründen möchte ich im Moment nicht dort leben. Aber ich habe immer den Wunsch, hinzufahren und die Energie meines Landes zu spüren, es ist für mich ein Kraftort. So wird es auch den belarussischen Kindern gehen, von denen viele jetzt in Polen leben. Sie werden ganz bestimmt den Wunsch verspüren, nach Belarus zu fahren, und so Gott will, werden sie dort ihre neuen Erfahrungen aus dem Leben in einem freien, demokratischen Land einbringen können.
Was kann man im Ausland tun, um seine Kultur zu bewahren, um das Belarussische nicht zu verlieren?
Tatsächlich ist das gerade leicht: Ich weiß, dass es Leute gibt, die die künstliche Intelligenz mit belarussischer Geschichte und Sprache füttern. Die Sprache ist sehr wichtig. Wenn ich in Warschau Belarussisch höre, denke ich sofort: „Alles in Ordnung!“ Zu unseren Konzerten kommen tolle Leute, die Atmosphäre ist immer heimelig, alle singen zusammen, umarmen sich. Man muss regelmäßig Landsleute treffen, das Eigene unterstützen, mehr auf Belarussisch lesen, neue Projekte initiieren. Wenn ich Songs schreibe, dann weiß ich, dass dadurch die politischen Häftlinge nicht freikommen, aber die Geschichte unseres Landes weitergeht. Das sind kleine Schritte, aber sie sind wichtig. Man muss auch die Kinder unterrichten, damit sie ihre Sprache lernen und weitertragen.
An der Sprache erkennst du deine Leute, wenn du in einem anderen Land lebst. Wenn ich Georgier treffe, begrüße ich sie immer auf Georgisch. Dann drehen sich mir sofort glückliche Gesichter zu! Wenn wir einen Belarussen treffen und rufen „Oh, ein Belarusse!“ und ihn umarmen möchten, dann schreiben wir unsere Geschichte fort.
Ketevan bei einer Veranstaltung zum Dsen Woli im Jahr 2023 in Warschau
Woran arbeitest du gerade und welche Pläne hast du für die Zukunft?
Kürzlich habe ich den Song Datschka sonza (dt. Sonnentochter) veröffentlicht, das war super. Wir bereiten ein Album vor, an dem wir schon sehr lange arbeiten. Darauf geht es um soziale Themen – um die Freiheit des Lebens und ihre Einschränkungen. Auch um Liebe wird es gehen. Bei Musik und Kunst geht es für mich immer um Liebe. Es gibt einfache, aber großartige Songs über Verliebtheit, in guter, moderner belarussischer Sprache, manche basieren auf Gedichten von Dascha Bjalkewitsch. Wenn Teenager diese Songs hören, wundern sie sich, dass es im Belarussischen solche Wörter gibt. Ich habe auch einige Einpersonenstücke, die ich ins Belarussische übersetzen werde. Wir arbeiten, sind kreativ, tun was.
Andrej Chadanowitsch, 1973 geboren, ist einer der bekanntesten Vertreter zeitgenössischer belarussischer Lyrik. Seine Dichtkunst zeichnet sich durch Wortspiele, Humor, ihre stilistische Experimentierfreude und sensorische Tiefenschärfe aus. Auch hat er Gedichte und Werke von englischen, französischen oder polnischen sowie ukrainischen Lyrikern wie Serhij Zhadan oder Juri Andruchowytsch ins Belarussische übersetzt. Er betreibt zudem einen populären YouTube-Kanal, in dem er Klassiker der belarussischen Literatur und Kultur vorstellt, aber auch gesellschaftspolitische Themen diskutiert. Dieser Kanal wurde von den Machthabern in Belarus im Oktober 2023 als „extremistisch“ klassifiziert, also quasi verboten.
Chadanowitsch hat wie viele belarussische Kulturschaffende seine Heimat infolge der Repressionen verlassen müssen und lebt nun im Ausland. In seinem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft beschäftigt er sich mit Literatur und Schriftstellern, die in Belarus verboten wurden. Dabei stößt er auf geradezu unheimliche Hinweise darauf, wie nahe sich Literatur und Realität kommen können.
Warum werden heutzutage in Belarus Bücher und Autorenlesungen, Kunstausstellungen und Musikkonzerte verboten? Warum landen Dichter und Denker wieder und wieder hinter Gittern? Warum besteht ein Großteil unseres heutigen Schrifttums – genau wie der der hundertjährigen Klassiker – aus Gefängnisliteratur? Warum wird die belarussische Sprache diskriminiert, marginalisiert und letztlich noch konsequenter vernichtet, als zu Sowjetzeiten – und das in einem Land, das immerhin Belarus heißt?
Manche sagen: Weil bei uns ein ewiger und gnadenloser Kulturkampf herrscht, in dem sich eine der beiden Kulturen für überlegen hält und die andere zu unterwerfen und zu zerstören versucht. Andere sagen, man müsse eher von einem Krieg sprechen, den etwas gegen unsere Kultur führt, das der Kultur völlig entledigt ist. Ich möchte hier keine endgültigen Schlüsse ziehen, sondern beschränke mich darauf, zwei Leitgedanken zu entfalten. Zum einen, wohin die Angst vor Kultur und der Hass auf Bücher führen können. Zum anderen, wozu diese Kultur und diese Bücher manchmal fähig sind.
1) Calibanismus
Nein, diese Zwischenüberschrift ist kein Tippfehler. Oscar Wildes Aphorismus, die Kunst würde nicht das Leben, sondern den Betrachter spiegeln, fand ich immer hübsch, aber auf paradoxe Weise überspitzt. So spricht der Schriftsteller in diesem Zusammenhang von der Wut des shakespeare’schen Caliban, der im Spiegel sein Abbild erkennt (oder eben nicht).
Heute weiß ich, dass der Meister des Paradoxen keineswegs übertrieben hat. Denn jetzt haben die Belarussen diesen Caliban mit eigenen Augen gesehen, mehr noch – wir haben es mit dem Phänomen eines Staats-Calibanismus zu tun: Eine aus lauter Calibans bestehende Minsker Staatsanwaltschaft hat im August eine Reihe von literarischen Werken als „extremistisch“ verurteilt.
Auf der Liste landeten sowohl zeitgenössische Werke als auch Klassiker des 20. und sogar des 19. Jahrhunderts. Es kommt selten vor, dass längst verstorbene Autoren verurteilt werden; darunter beispielsweise der bekannte Dramaturg Winzent Dunin-Marzinkewitsch (1808-1884), nach dem zahlreiche Straßen in Belarus benannt sind und dessen Denkmäler die Stadtzentren zieren. Bislang musste das nicht einmal geändert werden – man fand eine elegantere Lösung für das Problem: Nicht das ganze Buch wurde als verbrecherisch eingestuft, sondern nur ein Fragment daraus, nämlich zwei Gedichte und das Vorwort zum Buch, das von einem zeitgenössischen Literaturwissenschaftler verfasst wurde. Fast wie im Club der toten Dichter: Und jetzt, liebe Studenten, reißen Sie alle zusammen die Seiten dieses Vorwortes aus Ihren Büchern, los, nicht so schüchtern, und vergessen Sie auch diese zwei Gedichte nicht, schön sauber entfernen!
Manchmal ist das Motiv, nämlich der Hass des Regimes auf den Autor, offensichtlich. Wie bei unserem Zeitgenossen Uladsimir Njakljajeu, der nicht nur als Dichter bekannt ist, sondern auch als politische Person, die 2010 für das Präsidentenamt kandidierte. Just am Wahltag wurde er von vermummten Geheimdienstmitarbeitern überfallen und musste in der Notaufnahme versorgt werden, von wo er dann entführt wurde; seine Angehörigen wussten tagelang nicht, ob er am Leben war. Njakljajeu saß derweil im Gefängnis des KGB; nach 40 Tagen Haft stand er noch mehrere Monate unter Hausarrest. Obwohl der Dichter an der Wahlkampagne 2020 nicht direkt beteiligt war, wurde er mehrfach zu Verhören abgeholt und faktisch aus dem Land getrieben. Jetzt lebt er bereits seit zwei Jahren in der Emigration (und das nicht zum ersten Mal in seiner Biografie). Ganz klar, ein Extremist!
Ebenfalls für „extremistisch“ erklärt wurde ein Buch von Laryssa Henijusch, einer Schriftstellerin und Emigrantin, die nach dem Zweiten Weltkrieg gewaltsam aus der Tschechoslowakei in die UdSSR zurückgeholt und zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, von denen sie achteinhalb tatsächlich verbüßte. Doch sie ließ sich nicht brechen, schrieb Gedichte zur Unterstützung anderer Häftlinge, die diese als „Glukose“ bezeichneten, so sehr halfen sie. Nach ihrer Freilassung weigerte sie sich, die sowjetische Staatsbürgerschaft anzunehmen und verbrachte ihr gesamtes Leben unter geheimdienstlicher Aufsicht. Bis heute wurde sie nicht rehabilitiert, das Urteil wurde lediglich auf die Haftstrafe reduziert, die sie tatsächlich abgesessen hat. Kein Zweifel, eine Extremistin!
Oder das Buch der Exil-Poetin Natallja Arsennewa, deren patriotisches Gedichtgebet Mahutny Bosha (dt. O mächtiger Gott) zur inoffiziellen Hymne mehrerer Generationen der belarussischen Opposition wurde, seinen größten Ruhm aber während der belarussischen Straßenmärsche 2020 erlangte. Es war dieses Gedicht, das bei Protestauftritten von maskierten Musikern und Sängern an belebten Plätzen vorgetragen wurde, dem Vorläufer des berühmten Wolny chor (dt. „Freier Chor“). Selbstverständlich muss die Autorin dieses durch und durch extremistischen Werks auch selbst eine Extremistin sein!
Der weiße Spitz Umka begann seine Medienkarriere im Frühjahr 2020
Als man mit denen fertig war, begann der interessanteste Teil: Der Staatsanwalts-Caliban trat selbst vor den Spiegel. Denn an fünfter Stelle in der Liste der extremistischen Literatur erscheint eine Sammlung von Werken der, so möchte man meinen, für das Regime absolut harmlosen Schriftstellerin Lidsija Arabei. Als ich das las, fiel ich fast vom Stuhl, denn ich war seinerzeit mit ihren Kinderbüchern aufgewachsen und konnte darin beim besten Willen nichts Anstößiges erkennen. Ein paar Tage später fiel mir das „verurteilte“ Buch in die Hände, ich blätterte es aufmerksam durch – und wäre wieder fast vom Stuhl gekippt, denn ich entdeckte eine Erzählung namens Der weiße Spitz.
Hier sei mir ein kleiner Exkurs in die Hundewissenschaft erlaubt. Es ist nämlich so, dass das drittbeliebteste Motiv für Witze und Memes in Belarus ein weißer Spitz ist, gleich nach dem illegitimen Präsidenten und seinem unehelichen Sohn. Der weiße Spitz Umka begann seine Medienkarriere im Frühjahr 2020 als Haustier und – wie es schien – einziger treuer Freund Lukaschenkas. Wenige Monate vor der jüngsten Wahlfälschung und dem Ausbruch der Proteste und Repressionen und auf dem Höhepunkt der Pandemie.
Der Diktator, der als einer von wenigen Politikern weltweit offen die Existenz des Coronavirus leugnete, pflanzte im April 2020 vor laufenden Fernsehkameras friedlich Kiefernbäumchen und hielt dabei ein Körbchen mit einem kleinen weißen Hund. Sofort fanden sich Verschwörungstheoretiker, die behaupteten, diese beiden – Hündchen und Diktator – wollten die Aufmerksamkeit der Bevölkerung vom Problem der Epidemie ablenken.
In einem anderen Fernsehbeitrag hackte Lukaschenka Holz, und neben ihm lief wieder fröhlich bellend der weiße Spitz herum. Später saß er (der Spitz, nicht Lukaschenka) herrschaftlich auf dem Tisch und naschte von Tellerchen, während sein Freund ausländischen Journalisten ein Interview gab. Am Dreikönigstag bot der Politiker dem Hündchen gar an, gemeinsam mit ihm vom geweihten Wasser zu trinken. Doch der weiße Spitz lehnte zu seinem großen Bedauern ab. Kurzum, Belarus hatte nun neben „Koljas Papa“ und „Kolja“ selbst einen dritten gehypten Medienstar.
Und hier kommt Lidsija Arabeis Erzählung ins Spiel. Stellen wir uns einmal die Reaktion der Calibans aus der Staatsanwaltschaft vor, als sie im Inhaltsverzeichnis des Buches diesen furchtbaren Titel entdecken. Sie schlagen den Band an der entsprechenden Seite auf und überzeugen sich davon, dass es keine Halluzination war, sondern der Text tatsächlich mit den Worten „Der weiße Spitz“ beginnt und zudem noch viel schrecklicher endet, nämlich mit den Worten: „Verrecken soll er“. Dass dieser Fluch nicht dem Spitz und auch nicht seinem Herrchen gilt, interessiert da niemanden mehr …
Was soll man sagen, eine schreckliche Zukunft zeichnete sich da ab. Umgehend verbieten!
Der Text stammt von 1975 und versetzt uns nach Minsk im Winter 1943, unter Nazibesatzung und Hungersnot, wo der Schwarzmarkt die einzige Überlebenschance ist. Eine Frau bringt eine große Kasserolle mit heißen, dampfenden Kartoffelpuffern … Das belarussische Zensorenherz beginnt freudig zu schlagen, beruhigt sich fast, doch dann taucht leider der vermaledeite weiße Spitz auf, und dann heißt es auch noch, er habe sein Herrchen verloren.
Wie kann das sein – das Herrchen verlieren? Das hieße ja, auch sie, die Staatsbeamten, die als Einzige das Unerlaubte suchen und ihn beschützen können, blieben ohne Arbeitgeber? Was sollten sie dann tun? Ihre Empathie mit dem Protagonisten der Erzählung wächst ins Unermessliche, doch was geschieht dann mit dem Spitz? Ich zitiere besser die „Extremistin“ Lidsija Arabei:
„Da wandte sich der Hund der Frau zu, der Herrscherin über die Kartoffelpuffer, und als würde er sich an etwas erinnern, stellte er sich auf die Hinterpfoten und machte Männchen.
Er tat es lange und ausdauernd, gleichsam stolz, es so lange in einer so unbequemen Haltung auszuhalten. Seine Augen blickten unterwürfig und ehrlich, voller Freude und Hoffnung … Seine Pfoten hingen schlaff herunter und zitterten, genau wie seine rosige Zunge; aus dem Maul tropfte Speichel, der Hund hielt sich tapfer, sein ganzer Anblick sagte: Schaut her, wie ich mich anstrenge, wie ich es euch recht machen will, habe ich dafür etwa keine Belohnung verdient? ‚Verschwinde!‘, rief die Frau schließlich und drohte mit der Gabel.“
Was soll man sagen, eine schreckliche Zukunft zeichnete sich da ab. Umgehend verbieten! Aber dann lesen die Staatsbeamten das Finale: Das Hündchen kennt offenbar ein Gefühl, das stärker ist als Hunger. Als plötzlich ein Besatzer vorbeiläuft, beginnt das Hündchen ihn aus voller Kehle anzukläffen. Schließlich bekommt der Soldat in der Feindesuniform Angst und zieht von dannen. Das gefällt den Belarussen auf dem Markt so sehr, dass das Hündchen eine unerwartete (und doch so lang ersehnte!) Belohnung erhält:
„Das Hündchen stand noch lange da und kläffte ihm nach, bellte mit all seinem Hundezorn, bis zur Heiserkeit, bis zur Verzweiflung. Als es sich ein wenig beruhigt hatte, hörte es hinter sich eine unbekannte Stimme: ‚Hier hast du, Hündchen …‘ Da landete neben ihm im Schnee ein Stückchen warmer, duftender Puffer. Und die Stimme fügte hinzu: ‚Was für ein kluges Hündchen! Verrecken sollst du …‘“
Die echten Kenner von Lidsija Arabeis Werk mögen vielleicht eine andere Erklärung für ihren „Extremismus“ vorschlagen. Sie mögen darauf hinweisen, dass es im Buch Erzählungen über die Epoche des Stalinismus und die Repressionen gibt, über die Verurteilungen der „Volksfeinde“ und die Trennung von Familien, als Kindern entweder befohlen wurde, sich von den „Verbrechereltern“ loszusagen oder sie neue Namen und Familiengeschichten bekamen, damit die Eltern sie nach ihrer Rehabilitierung nicht wiederfinden konnten. Es gibt die Erzählung Der kalte Mai, in dem die Arbeit der Geheimdienste beschrieben wird, die die Menschen zwingen, ihre eigenen Verwandten auszuspionieren und sie zu verraten. Ich stimme ihnen zu und ergänze, dass sich die heutigen Diener des diktatorischen Regimes als Nachfolger und Stammhalter der stalinschen Henker verstehen, weshalb Repressionen wieder zum Tabuthema geworden sind.
Und doch stelle ich mir lieber vor, wie unsere Calibans gerade an der Erzählung vom weißen Spitz hängenbleiben, an dem Gedanken, dass jedes Herrchen unausweichlich stirbt und seine Diener dann brotlos zurückbleiben, dass ihr Männchenmachen mit dem Ausruf „Verschwinde!“ enden kann. Und dass es schon lange an der Zeit ist zu entscheiden, ob man weiter Männchen machen soll oder doch den Besatzer anbellen. Vermutlich kam ihnen genau bei diesem Gedanken der Zorn auf die Autorin. Und er wird sie nie mehr verlassen.
2) Briefe der Hoffnung
Die Werke des großen belarussischen Schriftstellers Uladsimir Karatkewitsch (1930-1984) brennen noch nicht auf dem Scheiterhaufen, werden noch nicht in Speziallager der Bibliotheken verbannt und sind auch noch nicht als „extremistisch“ eingestuft. Doch sein wichtigster Roman, Kalassy pad sjarpom twaim (dt. Die Ähren unter deiner Sichel) verschwand dieses Jahr plötzlich vom Schullehrplan. Vielleicht, weil sich die belarussischen Staatscalibans in seinem Spiegel zweifelsfrei erkannten und die Gefahr sahen. Denn das Werk ist der geistigen und intellektuellen Abhärtung der belarussischen Elite gewidmet, jener jungen Generation, die am antirussischen Aufstand von 1863 beteiligt war. Ein Aufstand, der von den imperialen Truppen brutal niedergeschlagen und dessen Anführer – darunter auch Kastus Kalinouski, den der Schriftsteller in seinem Roman auftreten lässt – vernichtet wurden. Vielleicht hat Karatkewitsch keinen dritten Band verfasst, um den Mord an seinen geliebten Helden nicht beschreiben zu müssen.
Der Roman erlangte Kultstatus, genau wie die anderen Werke des Schriftstellers – zu Sowjetzeiten standen die Menschen in langen Schlangen nach jedem neuen Werk Karatkewitschs an. (Er selbst sagte einmal: „Man muss so schreiben, dass die Leute deine Bücher aus den Bibliotheken klauen. Das habe ich geschafft.“) Die Leserinnen und Leser, besonders Jugendliche, waren so stark beeindruckt, dass sie sich für die belarussische Geschichte und Kultur zu interessieren begannen und oft – auch wenn sie in russischsprachigen Familien aufwuchsen – ins Belarussische wechselten.
Im Jahr 2020, im Vorfeld der Wahlfälschungen, Massenproteste und brutalen Repressionen, zitierten die belarussischen Internetnutzer besonders gerne eine Stelle aus dem Roman, in der die reaktionäre Epoche des russischen Imperiums in der Mitte des 19. Jahrhunderts folgendermaßen charakterisiert wird:
„Es war eine furchtbare und schwere Zeit. Das ganze unermessliche Imperium erstarrte und verknöcherte unter dem schrecklichen politischen Frost, der es schon im sechsundzwanzigsten Jahr fest im Griff hatte. Jedem, der versuchte, aus voller Brust zu atmen, fror die Lunge ein. […] Glücklich war niemand. Alles wurde dem Abgott der Staatsmacht geopfert.“
Der Schlüsselbegriff hier ist „im sechsundzwanzigsten Jahr“, denn genau so lange herrschte zu diesem Zeitpunkt der illegitime Präsident über Belarus. Nach der erneuten Wahlfälschung und der Niederschlagung des Aufstands 2020 durch das Regime nahmen die Repressionen in ungesehenem Ausmaß zu, die letzten Reste der Rechtsstaatlichkeit hörten auf zu funktionieren, und die Präsenz des russischen Imperiums in Belarus wurde immer offensichtlicher.
Weder die Einen noch die Anderen können die Raketen aufhalten, die auf die Ukraine abgeschossen werden.
Der Beginn von Putins Krieg in der Ukraine zeigte, dass es kein politisch unabhängiges Belarus mehr gab, und die Diktatorenmarionette, fast gänzlich dem russischen Aggressor unterstehend, nur noch eine einzige Freiheit besaß: das eigene Volk uneingeschränkt zu terrorisieren. Tausende politische Gefangene, von denen einige unter ungeklärten Umständen in Haft starben; Hunderttausende Belarussen, die ihr Land verlassen mussten, während der Rest zu innerer Emigration verdammt wurde. Weder die Einen noch die Anderen können die Raketen aufhalten, die auf die Ukraine abgeschossen werden. Und immer öfter ist zu hören, in Belarus herrsche „die wilde Jagd“.
Dieses Bild führt uns wieder zu Karatkewisch und seinem historischen Thriller König Stachs wilde Jagd (Dsikaje palawannje Karalja Stacha). Warum sich Literatur und Realität immer wieder so nah kommen, könnte man ewig diskutieren. Liegt es an der Hellsichtigkeit des Schriftstellers oder seiner Fähigkeit, universell zu formulieren und dadurch nie an Dringlichkeit zu verlieren? Oder an der Geschichte selbst, die sich im Kreis dreht und keinen Ausweg aus dem ewigen Albtraum bietet? So oder so, jeder Belarusse, der bei klarem Verstand ist, spürt, dass Karatkewitschs Geschichte wieder aktuell geworden ist. Der koloniale Druck; der Verfall der „Elite“, die das eigene Volk unterjocht und dabei einem fremden Herren dient; die Mechanismen der Angst, die lähmt und unfrei macht; aber auch die kulturelle Rolle der Intellektuellen, die uns die von den Aggressoren und Besatzern schon fast ausgelöschte Erinnerung zurückgeben. Die Macht der Machtlosen, der gewaltfreie Widerstand, der eines Tages vielleicht nicht mehr genügen und keinen anderen Ausweg zulassen wird, als Gewalt mit Gegengewalt zu beantworten. Die „sanfte Macht“ von Liebe und Freundschaft, die im tiefsten Dunkel vor dem Wahnsinn bewahren. Die Solidarität und gegenseitige Unterstützung aller, die unter demselben Feind leiden. In Karatkewitschs Geschichte geht es, genau wie heute, um die Belarussen und die Ukrainer.
Als junger Mann kam Karatkewitsch aus Belarus an die Kyjiwer Taras-Schewtschenko-Universität, wo er sich unter dem Einfluss befreundeter Kyjiwer Intellektueller, die sich für die ukrainische Kultur begeisterten, für die belarussische Kultur zu interessieren begann. In dieser Zeit reifte sein Roman heran, durch den sich das Motiv der belarussisch-ukrainischen Einheit zieht, und dessen Schlüsselfigur, der junge Intellektuelle Andrej Swezilowitsch, ein ehemaliger Student der Kyjiwer Universität, autobiografische Züge trägt. Hier ein Dialog zwischen Swezilowitsch und dem Protagonisten des Romans, Andrej Belarezki:
„Weswegen hat man Sie exmatrikuliert, Pan Swezilowitsch?“ „[…] Es begann damit, dass wir beschlossen, das Andenken Schewtschenkos zu ehren. Wir Studenten waren, wie bekannt, unter den ersten. Man drohte uns, dass die Polizei in die Universität einziehen würde.“ Ihm stieg die Röte ins Gesicht. „Wir meuterten. Ich rief, wenn sie das in unseren heiligen Mauern wagen, würden wir diese Schande mit Blut abwaschen, und die erste Kugel werde dem gelten, der den Befehl dazu erteilte. Dann strömten wir aus dem Gebäude, es gab einen Aufruhr, ich wurde festgenommen. Als die Polizei nach meiner Nationalität fragte, antwortete ich: ‚Schreib auf: Ukrainer‘.“ „Sehr gut gesagt.“ „Ich weiß, das war sehr unvorsichtig gegenüber denjenigen, die sich zum Kampf erhoben hatten.“ „Nein, das ist auch gut für sie. Eine solche Antwort ist ein Dutzend Kugeln wert. Und es bedeutet, dass wir alle einen gemeinsamen Feind haben.“ 1
In Minsk gibt es übrigens keine Karatkewitsch-Straße. Bedarf das überhaupt einer Erklärung?
Die jungen Belarussinnen und Belarussen, die 2006, inspiriert vom ukrainischen Maidan, ihre Zelte auf dem Minsker Oktoberplatz aufstellten und ihn in Kalinouski-Platz umbenannten, hatten zweifellos Karatkewitsch gelesen. Und auch jene haben ihn gelesen, die heute für die Ukraine im Kalinouski-Regiment kämpfen.
Als man in der Ukraine vor dem Hintergrund des Krieges nachvollziehbarerweise begann, Straßen umzubenennen, startete Wjatscheslaw Lewyzki, ein ukrainischer Lyriker, Übersetzer und Karatkewitsch-Experte, eine Initiative, mit der er schließlich erreichte, dass die Dobroljubow-Straße in Kyjiw in Karatkewitsch-Straße umbenannt wurde.
„Ich hoffe“, so schrieb der Dichter, „dass dieses Toponym wenigstens etwas dazu beiträgt, die Missverständnisse zwischen Ukrainern und Belarussen, die sich den Diktaturen in ihrem Land widersetzen, zu nivellieren. Ich möchte, dass diese Umbenennung ein Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber dem Kalinouski-Korps und dessen Mut ist, gegenüber den belarussischen Partisanen und allen freiheitlich denkenden Belarussen, die die Möglichkeit finden, den Ukrainern zu helfen.“
In Minsk gibt es übrigens keine Karatkewitsch-Straße. Bedarf das überhaupt einer Erklärung? Dafür gibt es jetzt gleich zwei Opern auf der Grundlage von Karatkewitschs Erzählung König Stachs wilde Jagd. Die erste stammt aus der Feder des Komponisten Uladsimir Soltan und feierte bereits 1989 im Minsker Opernhaus Premiere. 2021 kehrte sie nach einer Pause auf die Bühne zurück, erweitert um Archivmaterial des Komponisten, mit neuem Bühnenbild und Spezialeffekten im klassischen Horror-Stil. Den wichtigsten Gruseleffekt trug allerdings das Leben selbst bei, als die Operninszenierung von der calibanistischen Zensur getroffen wurde. Aus dem Libretto verschwand ein zentraler Satz, der Ruf, mit dem die Reiter der wilden Jagd die Palastherrin erschrecken: „Raman im zwanzigsten Glied, komm heraus!“ Vielleicht, weil am 11. November 2020, auf dem Höhepunkt der Protestbewegung, „Unbekannte“ Raman Bandarenkagetötet hatten, der in den Innenhof seines Hauses gekommen war, nachdem er im Telegram-Chat geschrieben hatte: „Ich gehe raus!“ Seine maskierten Mörder erinnerten auffällig an die Antihelden aus Karatkewitschs Buch.
Die zweite Version der Oper entstand 2023, und ich hatte das Glück, an der Entstehung des Libretto mitzuwirken. Die Musik komponierte Volha Padhajskaja, Regie führten Mikalaj Chalesin und Natallja Kaljada, es dirigierte Wital Aleksjajonak. Die Uraufführung fand im Londoner Barbican Centre statt, und man hätte sich nur schwer ein besseres Ensemble für die heutige Zeit ausdenken können: belarussische Schauspielerinnen und Schauspieler des Belarus Free Theatre, das in der erzwungenen Emigration weitermacht, standen gemeinsam mit Opernsängern und -sängerinnen aus der Ukraine auf der Bühne.
Die belarussischen Theaterschauspieler sprachen den Text, die Ukrainer sangen – in belarussischer Sprache. In einer Zeit der Herausforderungen, Traumata, Verletzungen und künstlichen Spaltungen war es für die Belarussen sehr wichtig, das zu hören. Und ich denke, auch für die Ukrainer war es gut zu sehen, dass die Ukraine dem beliebten belarussischen Schriftsteller so viel bedeutete.
Der Autor des Librettos hatte die Freude und Ehre, mit den Ukrainern an der belarussischen Aussprache zu arbeiten. Unsere Sprachen ähneln sich in der Lexik stark, phonetisch sind sie aber völlig unterschiedlich, so dass man leicht ausmachen kann, wenn ein Ausländer spricht. Doch das musische Gespür der ukrainischen Künstler wirkte Wunder – und um ihre Aussprache auf der Bühne hätten sie selbst viele Belarussen beneidet.
Ich weiß nicht, welchen Anteil die hervorragende Komponistin und welchen die brillanten Sängerinnen Tamara Kalinkina und Alena Arbusawa daran hatten, aber die Figur der Nadseja Janouskaja wirkte auf der Opernbühne stärker, emanzipierter und strahlender als es die eher blasse Figur der Heldin in der Buchvorlage tut. Ihre Partien waren für meinen bescheidenen Geschmack die unvergesslichsten des Abends. Vielleicht war es nach den Protesten von 2020 und der Rolle, die die Frauen dabei spielten, auch gar nicht anders möglich.
Zur Premiere reisten Belarussen aus verschiedenen Städten, Ländern und gar Kontinenten an, es kamen Belarussen und Ukrainer aus London. Den Großteil des Publikums machten aber dennoch die Briten aus. Alle vier Spieltermine waren ausverkauft. Am Ende jedes Mal die Rufe: „Slawa Ukraini!“ und „Shywe Belarus!“ Und natürlich die Antworten: „Ruhm den Helden!“ und „Ewig lebe es!“ Ein paar Mal fand auch ein gewisses Kriegsschiff eines anderen Landes Erwähnung.
Jeden Zuschauer erwartete auf seinem Sitz ein Brief der Hoffnung – eine Postkarte, gestaltet und beschrieben von ukrainischen Kindern, die der Krieg getroffen hatte. Das eine hatte sein Haus verloren, das andere seinen Vater an der Front, das dritte beide Eltern bei einem Raketenangriff. Doch die Briefe beklagten nicht den Schmerz, sondern wurden vielmehr von dem Wunsch getragen, dem Lesenden Hoffnung zu geben – vielleicht hatte auch er es nicht leicht. Es waren Briefe voller Herzlichkeit, hier und da sogar mit einer Prise Humor.
„Manchmal muss man etwas verlieren, um etwas Neues zu finden.“ – Lew, 14 Jahre. „Mach dir keine Sorgen, ich bin immer für dich da!“ – Sascha. „Tu Gutes, und es kehrt zu dir zurück.“ – Walik, 9. Und Artjom aus dem Gebiet Cherson schrieb: „Gib niemals auf. Respektiere deine Familie. Wenn du sie nicht respektierst, komme ich und reiße dir ein Ohr ab.“
Der Saal des Barbican hat 1.500 Plätze, das macht bei vier Vorstellungen also insgesamt 6.000 Briefe. Ich habe vier davon und bewahre sie gut auf.
ANMERKUNG DER REDAKTION:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
1.Übersetzung in Anlehnung an die deutsche Ausgabe, übersetzt aus dem Russischen von Ingeborg und Oleg Kolinko, Verlag Neues Leben, Berlin 1985 ↑
Die Präsidentschaftswahl im Jahr 1994 gewann Alexander Lukaschenko unter anderem mit seinem Schlachtruf, der Korruption in Belarus endgültig das Handwerk zu legen. Seitdem hat er allerdings ein System geschaffen, in dem Korruption ein zentrales Instrument der Machterhaltung ist. Sie wird auf allem möglichen Ebenen geduldet – in der Beamtenschaft, in Staatsunternehmen, bei den Silowiki, im Gesundheits- oder Bildungssystem – solange sie nicht zum Problem für die Mächtigen selbst wird. So ist sie immer auch ein Hebel, um unliebsame Personen auszutauschen, indem man sie eben der Korruption bezichtigt.
Warum die Korruption im Apparat von Lukaschenko systemimmanent ist und wie dieses System funktioniert, erklärt der Politologe Waleri Karbalewitsch in einer Analyse für das belarussische Online-Medium Pozirk.
Alexander Lukaschenko hat dafür gesorgt, dass der Prozess zur „Milch-Affäre“ noch mehr Aufsehen erregt. Verdächtigt werden 26 Personen, von denen 15 in Untersuchungshaft sitzen. Der Hauptverdächtigte ist Gennadij Skitow, Generaldirektor des Unternehmens Babuschkina Krynka mit Standort in Mahiljou. Im Zusammenhang mit dem Verfahren wurde auch der ehemalige Landwirtschaftsminister und spätere Berater von Lukaschenko, der Inspektor des Gebiets Wizebsk Igor Brylo festgenommen.
Der Beamte entscheidet alles
1994 hatte sich Lukaschenko bekanntermaßen die Korruptionsbekämpfung auf die Fahnen seines Präsidentschaftswahlkampfes geschrieben. Er versprach, dieser Hydra den Kopf abzuschlagen und die mafiösen Clans auszumerzen. Das Bild des unversöhnlichen Kämpfers gegen die Korruption wurde zum Aushängeschild des belarussischen Präsidenten. Er versicherte russischen Journalisten wiederholt, dass es bei uns keine Korruption im großen Stil wie in Russland geben würde, weil er angeblich selbst nicht stehle und auch seine Beamten nicht davonkommen lasse. 2018 erklärte Lukaschenko bei einem Besuch in Sluzk: „Ich habe schon bei den ersten Präsidentschaftswahlen dem Volk klar gesagt, dass es in Belarus schlichtweg keine Korruption geben kann.“
Seit vielen Jahren liegt dem offiziellen ideologischen Konstrukt die These von einem starken Staat zugrunde, der für Ordnung sorgt. Nach dem Motto: Das Regime mag zwar autoritär sein, aber dafür kämpft es für Gerechtigkeit. Die staatlichen Güter würden nicht geplündert, es herrschte keine Willkür bei Privatunternehmern. Dabei gibt es in Belarus ganze neun Behörden, die mit Ermittlungs- und Fahndungsmaßnahmen befasst sind. Trotz alledem gedeiht die Korruption in unserem Land. Woran auch Lukaschenko nicht müde wird zu erinnern, indem er immer wieder neue Fakten über solche Vergehen enthüllt.
Warum? Weil der Boden für Korruption in Belarus in Wirklichkeit sehr fruchtbar ist. Schon das Gesellschaftsmodell selbst begünstigt Korruptionsprozesse. Schließlich ist ein System, in dem der Staat (also die Beamten) alle Bereiche des öffentlichen Lebens kontrolliert und der staatliche Sektor eine immense Rolle in der Wirtschaft spielt, wie geschaffen für Korruption.
Während sich in den meisten Ländern die sozialen und wirtschaftlichen Prozesse selbst regulieren, wird in Belarus alles von Beamten entschieden. Die riesige Macht der Bürokratie in einem geschlossenen, intransparenten System, in dem jede Information für geheim erklärt wird und es keine Rechtsstaatlichkeit gibt, führt dazu, dass die Korruption in einem solchen Land vorprogrammiert und quasi genetisch angelegt ist.
Der Fisch stinkt vom Kopf her
Die Instrumente zur Korruptionsbekämpfung sind seit langem bekannt: Verringerung der Rolle des Staates in der Wirtschaft, der Gesellschaft und dem öffentlichen Leben; Kontrolle des Staates durch die Gesellschaft; eine starke Opposition und Zivilgesellschaft sowie unabhängige Medien, die jeden Schritt der Bürokratie verfolgen; und ein Rechtsstaat mit unabhängigen Gerichten.
In Belarus gibt es das alles nicht. Schließlich kann die Kontrolle der Beamten durch die Gesellschaft schlecht durch deren Kontrolle durch einen autoritären Herrscher ersetzt werden. Selbst wenn dieser aufrichtig interessiert daran sein sollte, dieses Übel zu beseitigen.
Schauen wir nur, wie in Belarus das System der „Rechtsprechung“ – verzeihen Sie den Ausdruck – funktioniert. Es reicht, dass der Vorsitzende des KGB oder der Leiter der Staatlichen Kontrollkommission Lukaschenko einen Bericht über einen x-beliebigen Bürger vorlegt. Der Herrscher segnet es ab, und das war’s. Das Schicksal des Betreffenden ist besiegelt. Er bekommt keine Chance, sich zu verteidigen. Der Gerichtsprozess ist nichts weiter als eine Inszenierung, eine Fiktion. Das Gericht erlässt keine Freisprüche. Wenn man allerdings Geld hat, kann man sich freikaufen, was viele Reiche auch tun.
Auch das Verhalten von Lukaschenko selbst, der alle anderen zur Bescheidenheit und zum Dienst am Staate aufruft, taugt nicht als gutes Beispiel. Auf Staatskosten alle möglichen Marotten zu befriedigen, angefangen bei 16 Residenzen bis hin zum alljährlichen internationalen Eishockeyturnier zu Ehren seiner selbst – das korrumpiert die Beamten mehr als alles andere.
So drängt sich der Schluss auf, dass die korrupteste Behörde in Belarus das Präsidialamt selbst ist. Drei ihrer Leiter sind jeweils unter großem Aufsehen wegen Korruptionsvorwürfen entlassen worden. Die Einstellung zur Korruption in den Machteliten lässt sich anschaulich an der bekannten Siedlung im Minsker Stadtteil Drasdy demonstrieren, in der sich traditionell hohe Amtsträger des Staates niederlassen. Der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopf her. Deshalb stellt sich sofort die Frage, mit welchem Geld sich die Staatsbeamten in Drasdy und Wjasnjanka Häuser bauen, die eine Million Dollar kosten?
Lukaschenko scheint bei der Korruption in seiner Umgebung mitunter doch ein Auge zuzudrücken. Vielleicht deshalb, weil Menschen, gegen die man ernstzunehmendes Kompromat (kompromittierendes Material) in der Hand hat, am zuverlässigsten und loyalsten sind. Die können das U-Boot nicht verlassen.
Lukaschenko hat mehrfach erklärt, dass bei der Ernennung von Kandidaten für Posten aus dem Präsidialregister diese durch den KGB und anderen „zuständigen Behörden“ überprüft würden. Allem Anschein nach gibt es über jeden Beamten ein Dossier mit kompromittierendem Material. Manchmal kommt dieses Kompromat durchaus zum Einsatz. Oftmals geht es darum, dass hohe Beamte ihre eigenen, unabhängigen und Lukaschenko nicht bekannten Einnahmequellen haben, was bereits als Revolte gilt, weil es bedeutet, sich der Kontrolle zu entziehen. Und das muss bestraft werden.
Die Justiz funktioniert nicht. Es gibt keine gesellschaftliche Kontrolle
Ein weiteres schädliches Element ist, dass immer wieder Amtsträger begnadigt werden, die wegen Korruption im Gefängnis sitzen. Viele kommen sehr schnell wieder frei. Sie werden dann etwa dazu verdammt, rückständige Agrarbetriebe zu leiten. Den Beamten wird der Gedanke anerzogen, dass im Land allein der Wille Lukaschenkos gilt, und nicht das Gesetz. Und wenn man große Reue zeigt und ein Bittschreiben an den Zaren richtet, in dem man ganz besonders betont, wie barmherzig er ist, dann kommt man unter Umständen schnell frei.
Da wäre noch ein weiterer Umstand, der Korruption in Belarus begünstigt: Hier gilt ein sehr widersprüchliches Wirtschaftsrecht. Es gibt keine einheitlichen Regeln für wirtschaftliche Betätigung, die für alle gelten würden.
In jeder Region gibt es freie Wirtschaftszonen mit besonderen Steuerbestimmungen. Es gibt den Hightech-Park und den Industriepark Weliki Kamen. Steuerrechtlich sind das im Grunde Offshore-Gebiete. Im Kreis Orscha wurden per Dekret von Lukaschenko exklusive Wirtschaftsbedingungen geschaffen. Staatsunternehmen erhalten bei staatlichen Banken Kredite zu vergünstigten Zinssätzen und müssen sie meist nicht zurückzahlen. Ausländische Investoren versuchen, mittels Lobbyarbeit exklusive Wirtschaftsbedingungen für sich herauszuschlagen. Und so weiter und so fort. Die Grenzen sind hier fließend.
Zudem ist die Auslegung von Rechtsverstößen seitens Polizei und Justiz sehr subjektiv, beispielsweise bei Steuerhinterziehung. Dabei ist es unmöglich, deren Vorgehen anzufechten. Es sind zahlreiche Fälle bekannt, bei denen eine reiche Person hinter Gitter wandert und die Summe des Lösegelds genannt wird. Zahlt er, kommt er frei und es wird kein Strafverfahren eingeleitet. Es erübrigt sich, unter diesen Umständen von Recht zu sprechen.
Das Fehlen von gesellschaftlicher Kontrolle über die Arbeit staatlicher Einrichtungen, die Intransparenz, die starke Neigung des staatlichen Verwaltungssystems zur Geheimhaltung, das Justizchaos, die Abhängigkeit der Gerichte von der Exekutive, die Ungleichheit der Bürger vor dem Gesetz – all das sind Zutaten für den Korruptionscocktail. Und solange das System sich nicht ändert, werden der Hydra immer neue Köpfe wachsen.
„Meine Heimat ist das Haus, in dem meine Mutter wohnt“, sagt Tatsiana Tkachova. In ihrem Fotoprojekt Motherlanderkundet die belarussische Fotografin die Bindung zu dem Ort, an dem sie aufgewachsen ist und den vor allem ihre Mutter und ihre Verwandten zu ihrem Zuhause gemacht haben.
Tkachova wurde unter anderem mit dem World Press Photo ausgezeichnet. Aktuell lebt sie in Hamburg. Wir haben mit ihr gesprochen und zeigen eine Auswahl an Bildern aus dem Projekt.
dekoder: Wie ist das Projekt Motherland entstanden?
Tatsiana Tkachova: Das erste Foto entstand 2018 während meines Besuchs zu Neujahr. Ich weiß nicht mehr, was dazu beitrug, jedenfalls wollte ich das Leben meiner Mutter auf Kamera festhalten. An den Feiertagen zum Jahreswechsel besuche ich sie immer. Wir schmücken einen Tannenbaum, kochen Weihnachtsessen, reden viel und tauschen Nachrichten aus. Ich glaube, viele können sich sowas auch hier in Deutschland vorstellen. Ich mache immer Fotos, wenn ich bei meiner Mutter bin. Und dann hatte ich die Idee, meine Mama und ihre Schwestern in dem Haus zu fotografieren, in dem sie aufgewachsen sind. Aber dann kam die Corona-Pandemie, und die Schwestern konnten nicht zu Mama kommen, sie leben woanders in Belarus. Dann ging ich nach Deutschland. Ich hatte aber noch ein Archiv mit Fotos aus den letzten vier Jahren. Für mich war es wichtig, das, was jetzt vorhanden ist, zu einer runden Geschichte zusammenzufügen, soweit das möglich ist. Inspirierend waren für mich dabei Nadia Sablins Geschichte Tjotjuschki (dt. Tantchen) und Tarkowskis Film Zerkalo (dt. Der Spiegel).
Erzählt das Projekt auch eine besonders belarussische Geschichte?
Das weiß ich nicht, darüber habe ich nie nachgedacht. Wäre ich in einem anderen Land geboren, hätte ich wohl eine genauso enge Beziehung zu meiner Mutter und dem Ort, wo ich mein erstes halbes Lebensjahr verbracht habe. Ich liebe Belarus, ich bin hier geboren. Um genau zu sein, ist meine Heimat das Haus, in dem meine Mutter wohnt und ihre Schwestern und ihre Eltern gewohnt haben, meine Großeltern. Dieses Haus ist die Hauptfigur meiner Geschichte. Im Garten wachsen Blumen und Bäume, die mein Opa gepflanzt hat. Er und Oma sind längst tot, aber den Garten gibt es noch. Das kann man nicht erklären, das muss man fühlen. Deswegen finde ich es gut, dass Fotos visuelle Bilder erzeugen, die man schwer in Worte fassen kann, weil jeder eigene hat.
Geht es also in gewisser Weise auch um Verlust?
Ich würde nicht von Verlust sprechen. Ich glaube nicht, dass dieses Wort in diesen Kontext passt. Meine Mama lebt noch, und es geht ihr gut. Wir sprechen doch nicht von Verlust, wenn die Kinder zum Studieren in eine andere Stadt gehen oder in ein anderes Land. Das ist ein natürlicher Vorgang. Die Geschichte, die ich erzähle, ist zeitlos. Eine Verbindung zu dem Ort, an dem man seine Kindheit verbracht hat, und zu seiner Familie hat jeder. Das bleibt für immer in unserem Bewusstsein. Wenn wir Fotos ansehen, spüren wir die Nähe, die Intimität bestimmter Momente, die nur zwischen einander sehr nahestehenden Menschen passieren. Aber wenn man anfängt zu erklären, scheitert man immer, weil jeder seine einzigartige Erfahrung hat. Es ist das, was Umberto Eco in den Bekenntnissen eines jungen Schriftstellers beschrieb. Motherland ist ein Porträt meiner Familie und gewissermaßen ein Selbstporträt, das aus Erinnerungen an einen Ort besteht, den es nicht mehr gibt, weil man nicht in die Vergangenheit zurück kann.
Ein anderer Aspekt des Projekts scheint auch die Rolle der Mutter zu sein?
Mich fasziniert das Phänomen des Mutterseins und wie Frauen imstande sind, das Gerüst einer Familie aufrechtzuerhalten. In meiner Familie war das so. Ich weiß noch, wie jeden Sommer Mutters Schwestern mit ihren Männern und Kindern in unser Elternhaus kamen und wir alle beisammen waren. Irgendwann blieben die Frauen allein, weil die Männer sich mit Opa in die Garage verzogen, um an einem Motorrad herumzuschrauben. Wir saßen im Wohnzimmer, und Oma zeigte uns Stoffe, Kleider, Tücher. Das nannten wir: Schätze bewundern. Ich fragte mich immer: Wozu sollen wir das alles anschauen, wir haben es ja letztes Jahr schon gesehen. Aber die Großmutter fand immer etwas Neues. Sie lachten viel, erinnerten sich an ihre Kindheit, lasen Gedichte. Jetzt besuchen die Verwandten in diesem Haus meine Mutter.
Wie halten Sie Kontakt zu Ihrer Mutter?
Ja, meine Mutter hat mich zweimal hier besucht. Ich setze meine Arbeit an Motherland fort. Wir halten genauso Kontakt wie vorher, unterhalten uns oft per Videocall. Natürlich gibt es wegen der Visabeschränkungen ein paar Dinge zu beachten, aber ich hoffe, dass wir uns auch in Zukunft treffen können.
Haben Sie schon neue Projekte?
Ich arbeite an mehreren Projekten, aber es ist noch zu früh, davon zu erzählen. Ich hoffe, bald Ergebnisse vorzeigen zu können. Was Motherland betrifft, möchte ich unter anderem die ursprüngliche Idee umsetzen und Fotos von Mamas Schwestern hinzufügen, wenn sie sie besuchen. Und auch ein Buch zu Motherland entsteht gerade.
Waleri Salushny, Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, sorgte mit seinen Aussagen in einem Interview mit dem Economist und mit seiner Analyse von einer Pattsituation im Krieg in seiner Heimat für kontroverse Diskussionen. Sowohl in der Ukraine als auch im Westen. Was aber würde ein langanhaltender Stellungskrieg, in dem sich die Ukraine und Russland gegenseitig über längere Zeit aufreiben, für Belarus und für den dortigen Machthaber Alexander Lukaschenko bedeuten und vor allem für einen politischen Wandel, auf den die belarussische Opposition im Exil hofft? Dies fragt sich der Politanalyst Artyom Shraibman in seinem Beitrag für das belarussische Online-Medium Zerkalo.
Salushnys Aussagen müssen durch das Prisma seiner Rolle als Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte gelesen werden. Er ist dafür zuständig, sein Land zu befreien. Er ist weder Militäranalytiker noch hat er Spaß daran, das heimische und das westliche Publikum in tiefe Depressionen zu stürzen. Wenn dieser Artikel und das Interview veröffentlicht werden, dann bedeutet das, dass dahinter konkrete militär-politische Ziele stehen.
Diese werden offensichtlich, wenn man die ungekürzte Fassung des Textes auf Ukrainisch liest: Salushny erklärt ruhig und methodisch, welche Arten von Waffen und Kriegstechnik die ukrainischen Streitkräfte benötigen, um aus der aktuellen Sackgasse herauszukommen. Sein Text ist ein Versuch, den Bündnispartnern der Ukraine klarzumachen, dass sie keine besseren Ergebnisse auf dem Schlachtfeld erwarten können, wenn sie die Unterstützung Kyjiws mit Waffen nicht ernster nehmen. Dafür muss er den Westen wachrütteln, auch wenn das bedeutet, die unangenehme Wahrheit laut auszusprechen. Welche Folgen diese kalte Dusche haben wird, wissen wir nicht. Entweder die westlichen Partner helfen der Ukraine, aus dem von Salushny beschriebenen Dilemma herauszukommen, und der Krieg nimmt eine Wende. Oder sie machen weiter damit, die ukrainische Armee nicht für einen Sieg auszurüsten, sondern nur für die Vermeidung einer Niederlage. Wir wissen auch nicht viel über den Erschöpfungsgrad der russischen Truppen oder darüber, wie sehr ihnen die aktuelle Kriegsform langfristig schaden wird – mit regelmäßigen Angriffen mit Langstreckenraketen und Drohnen auf Lager, Schiffe und Stabsquartiere seitens der Ukraine. Ich sage das, damit wir den wichtigsten Aspekt jedes und insbesondere dieses Kriegs nicht aus den Augen verlieren: Wir können nicht in die Zukunft blicken. Was heute wie eine neue Realität auf Jahre aussieht, kann in ein paar Wochen ganz anders sein, und dann können wir alle Pläne und Prognosen, die wir in Erwartung einer jahrelangen Pattsituation erstellt haben, wieder vergessen.
Die Versuche mancher Stimmen im Westen, Druck auf Kyjiw auszuüben, doch endlich mit Moskau zu verhandeln, ignorieren die politische Realität sowohl in Russland als auch in der Ukraine
Aber es wäre auch falsch, ein solches Szenario zu ignorieren, und ich finde, es ist an der Zeit, ernsthaft darüber zu sprechen. Viele Belarussen, die sich den Wandel wünschen, so auch ich selbst, sind daran gewöhnt, sich die Zukunft im Format „vorher – nachher“ vorzustellen, mit Russlands Niederlage im Krieg als Zeitenwende. Auf lange Sicht hat diese Auffassung durchaus ihre Berechtigung. Doch Salushnys Artikel und eine nüchterne Analyse der Situation auf dem Schlachtfeld sowie der wirtschaftlichen Lage der kriegführenden Parteien legen nahe, dass das „Vorher“ noch viele Jahre lang andauern könnte.
Diese Jahre müssen nicht einmal von Waffenstillstand oder Feuerpausen begleitet sein. Die Versuche mancher Stimmen im Westen, Druck auf Kyjiw auszuüben, doch endlich mit Moskau zu verhandeln, ignorieren die politische Realität sowohl in Russland als auch in der Ukraine. Putin hat von sich aus keine Motivation, die Kampfhandlungen einzustellen – sein Regime ist untrennbar mit dem Kriegszustand verschmolzen, bezieht daraus Legitimität und Langlebigkeit. In der Ukraine wiederum ist es unmöglich, der Regierung oder den Wählern beizubringen, warum sie dem Kreml glauben sollten, dass er auch nur irgendwelche Vertragsbedingungen erfüllen und die Pause nicht für eine Nachrüstung nutzen und dann erneut zum Angriff übergehen wird.
Was die Aussicht auf Veränderungen in Belarus betrifft, ist diese Pattsituation wohl das aussichtsloseste Szenario. Ein auf Sparflamme dahinköchelnder Krieg ist für Lukaschenko politisch gesehen ein Geschenk. So haben jene Belarussen, die im Land geblieben und leicht zu verunsichern sind, stets ein Abschreckungsbeispiel vor Augen, dass das Leben noch schlimmer werden kann. Russland ist weiterhin mit dem Krieg beschäftigt und hat keine Zeit für andere Abenteuer wie etwa die Eingliederung von Belarus. Dabei ist Russlands Antrieb, Lukaschenko finanziell zu unterstützen, stärker als in Friedenszeiten, wenn eher die Buchhaltung den Ausschlag gibt. Gleichzeitig arbeitet die russische Rüstungsindustrie weiterhin auf Hochtouren und sichert auch für die belarussische Produktion eine stabile Auftragslage. Was könnten Triebfedern für einen Wandel in Belarus sein, wenn ein schwelender Konflikt im Ukrainekrieg auf Jahre zur Realität wird?
Mal abgesehen von Putins oder Lukaschenkos Tod, der irgendwann unausweichlich, aber nicht allzu vorhersehbar eintreten wird, gibt es zwei mögliche Problemquellen für Minsk: die Wirtschaft und das Wohlwollen Russlands. Wobei man sich eine Situation, in der nur einer dieser Pfeiler wegbricht und der andere bestehen bleibt, schwer vorstellen kann. Ja, eine hausgemachte Finanzkrise nach dem Muster von 2011, hervorgerufen lediglich durch Fehler der Wirtschaftsorgane, ist in Belarus durchaus möglich. Das Wachstum zum höchsten Ziel erhoben, überschwemmt die Regierung den Markt schon jetzt mit billigem Geld und hält die Preise mithilfe von administrativen Maßnahmen niedrig. Wirtschaftsexperten warnen vor der Gefahr, dass diese Blase platzen könnte.
Es gibt zwei Szenarien, die zu ernsthaften wirtschaftlichen Konflikten zwischen Minsk und Moskau wie in alten Zeiten führen könnten
Doch für sich genommen bringt eine Wirtschaftskrise zwar noch mehr Volatilität in die allgemeine Situation im Land, aber nicht zwangsläufig politische Probleme für Lukaschenko. Solange er die Gesellschaft fest in seiner Gewalt hat und die Loyalität zu Moskau aufrechterhält, wird Putin immer ein paar Milliarden übrig haben, um in Belarus einen Brand zu löschen.
Schlimmer für ihn wäre es, wenn die Krise durch eine bewusste Entscheidung Moskaus ausgelöst würde, den Hahn abzudrehen: Weniger Hilfe zu leisten, als Minsk gerne hätte, oder die Verluste durch eine sich verschlechternde Wirtschaftslage weltweit und in Russland nicht mehr auszugleichen. Eine solche Verschlechterung könnte vieles provozieren – von stark fallenden Rohölpreisen und einer neuerlichen russischen Rezession bis hin zur Verdrängung belarussischer Waren vom russischen Markt durch die Konkurrenz aus China.
Es gibt zwei Szenarien, die zu ernsthaften wirtschaftlichen Konflikten zwischen Minsk und Moskau wie in alten Zeiten führen könnten. Erstens, wenn Putin etwas fordert, das Lukaschenko ihm nicht geben will (eine stärkere Integration oder allzu unangenehme militärische Zugeständnisse), und zweitens, wenn Minsk allzu offen den Dialog mit dem Westen wiederherzustellen versucht. Ersteres hängt in hohem Maße von den Launen der russischen Regierung ab und ist deswegen schwer prognostizierbar. Hier gibt es viele Variablen – von Putins persönlicher Lust, den Retter zu spielen, bis hin zur Kriegsmüdigkeit der russischen Gesellschaft, die dazu führen könnte, dass der Kreml die Aufmerksamkeit auf neue außenpolitische Siege lenken will, etwa die Vereinigung mit Belarus. Beim zweiten Szenario – Moskau fühlt sich von einem neuerlichen Flirt zwischen Minsk und dem Westen provoziert – gibt es ebenfalls viele Unbekannte. Doch je länger der Stellungskrieg in der Ukraine dauert, desto höher stehen die Chancen für eine solche Neuaufnahme des Dialogs.
Nach den Wahlen 2025 werden die Proteste und die Gewalt von 2020 für die neue Generation europäischer und amerikanischer Politiker in ferner Vergangenheit und für die meisten vor ihrer Zeit liegen. Die politischen Gefangenen werden zum Teil wieder frei sein, also ist nicht ausgeschlossen, dass ihre Zahl im Vergleich zu heute geringer sein wird. Die belarussische Beteiligung am Einmarsch in der Ukraine 2022 wird den westlichen Regierungen, wenn Lukaschenko sie nicht selbst daran erinnert, noch weniger präsent sein als der Krieg selbst. In diesem Szenario wird der Krieg für den Westen leider genauso zur Routine werden wie vor dem 24. Februar 2022. Im Westen wird es immer mehr und immer einflussreichere Stimmen geben, die eine gezielte Lockerung der Sanktionen für Belarus wollen und dafür nur eine Forderung stellen: die Freilassung der restlichen politischen Häftlinge.
Wird Lukaschenko in seinem Dialog mit dem Westen Putins rote Linien überschreiten?
Bis dahin wird die Idee, dass man Lukaschenkos Regime mit Sanktionen zu Fall bringen kann, wenn man nur noch ein kleines bisschen ausharrt, endgültig verworfen sein. So werden die Sanktionen allmählich ihre heutige „Immunität“ verlieren. Minsk wird seinerseits immer noch an der Aufhebung dieser Beschränkungen interessiert sein, vor allem, wenn sich der wirtschaftliche Effekt durch das explosionsartige Wachstum der russischen Rüstungsindustrie und ihrer Nachfrage nach belarussischen Gütern langsam erschöpft.
Wird Lukaschenko in seinem Dialog mit dem Westen Putins rote Linien überschreiten? Werden diese roten Linien wiederum noch unflexibler werden, je älter Putin wird und je mehr sein Regime verpuppt? Wird es neue Phänomene geben, die den zivilen Widerstand in Belarus anheizen, so wie 2020 die Pandemie? An den „Krieg im Hintergrund“ wird sich mit der Zeit nicht nur der Westen gewöhnen, sondern auch die belarussische Gesellschaft, sodass das Argument von „Lukaschenko als Friedensgarant“ an Überzeugungskraft verlieren wird.
All diese Fragen sind für unsere Zukunft von größter Bedeutung. Im Moment müssen wir jedoch davon ausgehen, dass ein Wandel in Belarus kaum vorstellbar ist, solange Putin und Lukaschenko an der Macht und die Beziehungen zwischen Minsk und Moskau intakt sind. Was die Aussicht auf eine Demokratisierung in Belarus betrifft, so wird diese wiederum nur möglich, wenn sich Moskau entweder als unfähig erweist oder das Interesse daran verliert, eine prorussische Diktatur in unserem Land aufrechtzuerhalten. Die Fortsetzung eines festgefahrenen Stellungskriegs in der Ukraine, wie von Salushny beschrieben, befreit Lukaschenko nicht von allen potenziellen Problemen der nächsten Jahre. Von allen Alternativen dürfte sie jedoch das entspannteste Szenario für ihn sein.