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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Russland braucht jetzt ein solches Belarus“

    „Russland braucht jetzt ein solches Belarus“

    Mit keinem anderen Staatsführer trifft sich Wladimir Putin derart häufig wie mit seinem belarussischen Kollegen Alexander Lukaschenko. Vor allem seit dem Beginn der Proteste in Belarus im Jahr 2020 und seit Beginn der russischen Großinvasion in die Ukraine hat die Anzahl der Besuche, die bis auf zwei Ausnahmen allesamt in Russland stattfanden, deutlich zugenommen. Die Gründe sind klar: Lukaschenko ist für Putin trotz aller Differenzen in der Vergangenheit der loyalste Verbündete; der russische Präsident hält dem belarussischen Diktator im Gegenzug den Rücken frei, unterstützt ihn wirtschaftlich, versucht aber gleichzeitig, den russischen Einfluss in Belarus weiter zu erhöhen. Erstaunlich ist dabei immer wieder, wie Lukaschenko für sich Vorteile auszumachen versucht, obwohl er weiß, dass er sich gegenüber dem Kreml in der deutlich schwächeren Position befindet. 

    Nun war Lukaschenko Ende vergangener Woche wieder in Moskau, es war bereits das zweite Treffen zwischen den beiden Staatenführern in diesem Jahr. Die Treffen werden in unabhängigen belarussischen Medien regelmäßig eingehend diskutiert. Dabei standen diesmal vor allem diese Fragen im Vordergrund: Welche aktuelle Rolle spielt Lukaschenko für Putin im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine? Könnte Belarus immer noch mit eigenen Truppen eingreifen? Oder wäre es dem Kreml dienlicher, wenn Lukaschenko Russland mit seinen industriellen Möglichkeiten im Kampf gegen die Sanktionsauswirkungen unterstützt und er für den Fall, dass es doch irgendwann zu Verhandlungen mit der Ukraine kommen sollte, die Rolle des „Friedensstifters“ für Putin übernimmt? Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski gibt in seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk Antworten auf diese und andere Fragen.

    Alexander Lukaschenko teilte bei seinem Besuch im Kreml am 12. April vor Journalisten mit: „Ich bestreite ja nicht, dass wir ein Co-Aggressor sind“. Dabei unterstrich er aber auch: „Jeder erfüllt seine Aufgabe.“ Anders gesagt, Wladimir Putin und Lukaschenko haben sich offenbar auf eine Aufgabenteilung in der ukrainischen Frage (und darüber hinaus) geeinigt. Diese spezielle Aufgabenteilung zeigte sich auch darin, dass der Gast während seines aktuellen Besuchs als Sprachrohr des Kreml zum Thema Friedensgespräche mit Kyjiw fungierte. Er trat vehement dafür ein, die Verhandlungen von Istanbul 2022 als Grundlage zu nehmen und diskreditierte die für Juni geplante Konferenz in der Schweiz, zu der Moskau nicht eingeladen wurde. Putin pflichtete – wie es sich für einen Zaren ziemt – großmütig bei. 

    Selbst wenn Lukaschenko zugibt, Co-Aggressor zu sein, hindert ihn das nicht daran, als Friedensstifter aufzutreten. Den ukrainischen Präsidenten, den er viele Male beleidigt und als politischen Jungspund deklassiert hat, nannte er diesmal höflich beim Vor- und Vatersnamen. Kurzum, er ist ein Großmeister im Herumlavieren. 

    Russland braucht jetzt ein solches Belarus

    Die Moskauer Journalisten fragten Lukaschenko, wie hoch er die Wahrscheinlichkeit einschätze, dass Belarus in die Kampfhandlungen eintreten müsse. Die Antwort lautete: „Eine solche Notwendigkeit gibt es nicht. Und eine solche Notwendigkeit wird es auch nicht geben.“

    Es folgten Argumente, die der belarussische Machthaber vermutlich wiederholt vor Putin von Angesicht zu Angesicht ausgebreitet hat. Heute scheint zwischen ihnen in dieser Hinsicht Konsens zu herrschen. Lukaschenko sagte: „Russland braucht jetzt ein solches Belarus – friedlich, still und ruhig, das seine Aufgabe erfüllt. Im Einzelnen werde ich Ihnen nicht erzählen, womit wir uns beschäftigen“. 

    Im Grunde kann man erraten, dass es vor allem um die Unterstützung des kriegsführenden Russland bei der Produktion von Nachschub geht – sowohl im zivilen Sektor (im Zuge der Sanktionen und der Abwanderung westlicher Firmen aus Russland sind einige Lücken entstanden) als auch im militärischen Bereich. Unter anderem hilft Minsk Moskau dabei, mithilfe von Grauimporten die Sanktionsauswirkungen zu mildern. 

    Des Weiteren erklärte Lukaschenko offen, dass es derzeit selbstmörderisch sei, sich von Belarus aus in der Ukraine einzumischen. Erstens sei „deren Grenze zu Belarus verbarrikadiert – da ist kein Rankommen. Sie ist vollständig vermint und zubetoniert, und es stehen 120.000 ukrainische Soldaten an dieser Grenze.“ 

    Zweitens, so erklärte er, würde sich in diesem Fall die Front um 1000 Kilometer – nämlich um die Länge der belarussischen Grenze mit der Ukraine, Polen und den baltischen Staaten – verlängern (jaja, die aggressiven NATO-Staaten warten nur darauf!): „Wenn wir in den Krieg eintreten, müssen wir diese Front sichern. Können wir das? Wir können das nicht. Ich sage Ihnen: Wir können das nicht. Wollen wir Probleme? Nein, wollen wir nicht.“

    Und ein weiterer Punkt: „Die Hälfte unseres Landes liegt im Hundertkilometerradius von Kyjiw (hier übertreibt er in seinem üblichen Stil – Anm. d. A.). Auch die Erdölraffinerie in Mosyr, die zum Glück bislang ohne Einschränkung arbeitet, sie wurde modernisiert, und auch die Russen tanken Benzin aus der Raffinerie Mosyr.“ Es ist anzunehmen, dass Lukaschenko faktisch wiederholt hat, was er auch Putin in ihren Tête-à-Têtes dargelegt hat. Und der ist mit dieser Argumentation bis heute mehr oder weniger einverstanden: Besser keine schlafenden Hunde wecken. Andernfalls hätte Lukaschenko keine solche Überzeugung ausgestrahlt. 

    Die Tatsache, dass der belarussische Machthaber wieder zwei Tage bei seinem Großen Bruder zu Gast war und gemeinsam mit ihm die Kosmonauten ehrte, spricht alles in allem dafür, dass zwischen ihnen gegenseitiges Verständnis eingekehrt ist. Die von einigen Kommentatoren überspitzte Version, Putin würde seinem Partner wieder und wieder verzweifelt die Daumenschrauben anziehen, erscheint eher unwahrscheinlich.

    Der Klassiker: Rückendeckung für die „russischen Brüder“ 

    Die beiden Herrscher reagierten auch auf die Äußerungen ihrer politischen Gegner und einer Reihe von Experten, dass laut Lukaschenko „Putin und Lukaschenko morgen Europa einnehmen wollen“. Der belarussische Regent versicherte, man habe „niemals solche Pläne besprochen“. Der Kremlchef bezeichnete diese Verdächtigungen als Unsinn. Auf der Gegenseite liegt das Vertrauen in die Aussagen der beiden Herrscher verständlicherweise bei Null. Die hatten auch vor dem Einmarsch in die Ukraine 2022 unverfroren versichert, nur gemeinsame Militärübungen durchzuführen

    Damals war jedoch offensichtlich, dass Truppen zusammengezogen wurden, und die Amerikaner warnten in Klartext vor einem anstehenden Überfall. Eine solch schlagkräftige Formation ist heute weder für einen erneuten Marsch auf Kyjiw von belarussischem Territorium aus noch für einen Blitzkrieg zur Einnahme von Vilnius (oder gar Warschau) ersichtlich. Sollte sich eine solche Formation bilden, dann dauert das länger als einen Monat, und würde zudem mit den heutigen Möglichkeiten der Aufklärung klar entdeckt werden. Aktuell ist es für Putin logischer, an den bestehenden Fronten in der Ukraine maximal voranzukommen, um im Falle von Friedensverhandlungen eine möglichst günstige Position zu haben. 

    Selbst wenn Russland eine neue Mobilisierung durchführt, würde das Kanonenfutter am ehesten in der Ukraine gebraucht, vielleicht für den erwarteten Angriff auf Charkiw. In dieser Situation eine weitere Front gegen die NATO zu eröffnen, wäre fraglos eine schlechte Idee.

    Lukaschenko wird hingegen mit Vergnügen den Anschein erwecken, die russischen Brüder vor einer potenziellen NATO-Aggression zu beschützen. Unter anderem behauptet er, sich den westlichen Truppen heldenhaft entgegenstellen zu wollen, sollten sie in der Ukraine auftauchen: „Jetzt haben sie begonnen, von der Verlegung eigener Truppen in die Ukraine zu reden, höchstwahrscheinlich an die Grenze zu Belarus. Wir warten, sollen sie nur kommen.“

    Doch diese Truppenverlegung ist bislang mit einer Heugabel auf Wasser geschrieben, und so oder so ist klar, dass die Franzosen oder auch die Briten nicht in die Offensive gehen würden. Doch Lukaschenko ist es wichtig, Moskau davon zu überzeugen, wie wertvoll seine Mission ist, die verdammten Westler zurückzuhalten, die an den Grenzen des Unionsstaates mit den Panzerketten rasseln. 

    Die Weltraumparty soll weitergehen – die Kosten trägt der große Bruder

    Derweil hat der belarussische Bündnispartner es eilig, Dividenden aus der aktuellen Situation einzustreichen. Am 11. April sagte er im Kreml zu Journalisten: „Wenn wir schon Aggressoren sind, sollten offen gestanden auch die gleichen Bedingungen für die Wirtschaftssubjekte und die Menschen gleich sein.“

    Zwar ist das doppelt gemoppelt, doch der Inhalt ist verständlich. Als einziger Verbündeter des kriegsführenden Imperiums will Minsk ein Maximum an Vorteilen. Im Gespräch mit Putin merkte Lukaschenko an: „Die Kredite, die für gemeinsame Projekte bewilligt wurden – 100 Milliarden Russische Rubel [circa 1 Milliarde Euro – dek] – sind schon zu über 80 Prozent in Projekten umgesetzt.“ Die Andeutung ist klar: Es wäre keine Sünde, noch ein paar Kreditmittel rüberwachsen zu lassen.

    Zudem ist Lukaschenko sichtlich euphorisch ob der Tatsache, dass es locker gelungen ist, auf das russische Raumfahrtprogramm aufzuspringen. Am 26. März rutschte ihm raus, dass der Weltraumflug Belarus 70 Millionen Dollar kosten würde, Russland allerdings diese Ausgaben übernehme. Jetzt überredet Lukaschenko Putin, wieder belarussische Kosmonauten in den Orbit zu schicken. Dem belarussischen Machthaber gefällt eindeutig das Image des Anführers einer Raumfahrernation, und er wünscht sich eine Fortführung der Party, zumal der große Bruder die Kosten dafür übernimmt. 

    Der Wohlstand wackelt, doch Lukaschenko ist es gewohnt, sich herauszuwinden

    In den ersten Wochen der großangelegten Invasion Russlands in der Ukraine, besonders, nachdem die Angreifer bei Kyjiw aufs Maul bekommen hatten, wirkte Lukaschenko nervös und gereizt. Jetzt ist er viel lockerer: Er konnte die Entsendung seiner Truppen in diesen Fleischwolf vorerst abwenden und von Russland neue Produktionsaufträge bekommen. Die russische Armee drängt die Ukrainer zurück. Ein Teil der westlichen Politiker tendiert scheinbar dazu, Kyjiw zu einem Frieden zu ungünstigen Bedingungen zu zwingen. Die Ansichten einiger Kommentatoren, dass Putin den belarussischen Vasallen im Falle eines Friedensabkommens mit der Ukraine weniger schätzen wird, die Subventionen streicht und Belarus als Trostpreis annektiert, kann man anzweifeln. 

    Eine friedliche Verschnaufpause würde Moskau am ehesten nutzen, um Kraft und Ressourcen für eine „Endlösung der Ukraine-Frage“ zu sammeln. Und dann weiterzumachen. Und bei solchen Plänen kann der belarussische Verbündete noch sehr nützlich sein. Warum ihn also verprellen? Wie man sieht, hat sich Lukaschenko, dieser Meister des Manövers, begabt im Springen zwischen Strömungen, unglaublich geschickt an die Situation des großen Krieges in der Nachbarschaft angepasst (und dabei der eigenen Wählerschaft noch das Image des weisen und starken Friedensschützers in die Köpfe gepflanzt). 

    Es steht auf einem anderen Blatt, dass sein Wohlstand arg wacklig ist. Auf dem russischen Markt verschlechtert sich langsam die Stimmung. Bei den Händlern dort haben sich große Produktionsvorräte angesammelt, worüber sich Lukaschenko kürzlich bei einem Branchentreffen empörte. Auch die belarussische Außenhandelsbilanz verschlechtert sich – Äquatorialguinea ist, auch wenn man hundertmal hinfliegt, ein schlechter Ersatz für EU und Ukraine. Die einseitige Orientierung auf den russischen Markt und die Bindung im Bereich der Exportlogistik verstärken die Abhängigkeit vom Imperium. Das Russische Imperium seinerseits, sieht man von der Weltraumprotzerei ab, kann im Bereich innovativer Technologien nicht behilflich sein. Zudem atmet es Aggression, sie ist sein Modus vivendi. Mit einem solchen Großen Bruder kann sich der ganze relative Wohlstand, der heute vorhanden ist, unversehens in Nichts auflösen.
     
    Doch Lukaschenko hat keine Wahl, nach Den Haag will er ja auch nicht. Er ist es gewohnt, sich herauszuwinden, und tut das auch heute, wenn er versucht, selbst aus dem Status des Co-Aggressors den größtmöglichen Gewinn zu pressen.

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  • „Vielen Dank ist nicht genug, um ein neues Leben zu beginnen“

    „Vielen Dank ist nicht genug, um ein neues Leben zu beginnen“

    Schätzungen zufolge kämpfen rund 1500 bis 2000 Freiwillige aus Belarus aktuell auf Seiten der Ukraine, beispielsweise im Kalinouski-Regiment. Nach ihrem Einsatz können sie nicht zurück in ihre Heimat, da sie dort politisch verfolgt werden würden, für die Ukraine erhalten sie häufig keine Aufenthaltsgenehmigung. Sie gehen also ins Exil, nicht selten nach Polen, wo infolge der Repressionen in Belarus bereits viele Belarussen gelandet sind. Dort müssen sie sich ein neues Leben aufbauen, was alles andere als leicht ist, da sie vom Krieg gezeichnet sind.  

    Wie hilft man solchen Menschen? Was brauchen sie, um im Alltag wieder ankommen zu können? Die Redaktion des belarussischen Auslandssenders Euroradio hat mit betroffenen Belarussen gesprochen und mit Aktivisten und Organisationen, die sich für sie einsetzen. 

    Manchmal schickte Zichi („der Stille”) Fotos mit neutralem Hintergrund nach Hause. Seine Familie dachte, der neutrale Hintergrund sei Warschau. Tatsächlich war die Mehrzahl der Bilder in der Südukraine aufgenommen. Der belarussische Freiwillige nahm an Militäroperationen teil, von denen wir in den Nachrichten gelesen haben – an der Befreiung des Gebietes um Cherson, der ukrainischen Sommeroffensive. Doch kürzlich tauchte wirklich Warschau auf seinen Fotos auf. Nach zwei Jahren Einsatz hatte er beschlossen, ins zivile Leben zurückzukehren, erhielt aber in der Ukraine keinen Aufenthaltsstatus. So musste er nach Polen gehen. In Warschau ist es schwieriger für Zichi als bei Cherson. Keine Arbeit, keine Waffenbrüder – nur eine Posttraumatische Belastungsstörung und Depressionen. Wenn Belarussen in der Emigration hören, wo Zichi die letzten zwei Jahre verbracht hat, sagen sie „vielen Dank“. Doch das ist nicht genug, um ein neues Leben zu beginnen.

    Die belarussischen Freiwilligen haben aber keinen Staat, der sich um sie kümmert

    Der Ehemann von Olha Haltschenko aus Kyjiw ging 2014 als Freiwilliger an die Front. Damals hatte er einen russischen Pass. 2022 meldete sich auch ihr Vater als Freiwilliger. Seit 2014 verfolgt Olha aufmerksam, wie in der Bevölkerung auf Wellen heißer Liebe zur Truppe Wellen ebenso starken Desinteresses folgen. „Das ist ein natürliches Verhalten in allen Gesellschaften. Zuerst ein Hoch der Popularität der Armee. Wenn die Soldaten dann heimkehren und versuchen, sich im zivilen Leben zu integrieren, kommt eine Gegenströmung. 2014 bis 2015 waren bei uns alle „die Liebsten, die Besten, unsere schönsten Jungs“. Dann ging es los: „Wir haben euch nicht dorthin geschickt“, „Warum bekommt ihr Ermäßigungen, warum könnt ihr kostenlos Bahn fahren? Das haben wir alles miterlebt.“ Als die Empathie der ukrainischen Gesellschaft weniger wurde, blieb den Soldaten noch der Staat mit seinen Garantien (auch wenn sie teilweise seltsam anmuten – das Veteranengesetz ist alt und garantiert den Teilnehmern von Kriegseinsätzen bis heute ein kostenloses Festnetztelefon und einen Rundfunkempfänger). 

    Die belarussischen Freiwilligen haben aber keinen Staat, der sich um sie kümmert. Und wenn in der Zivilgesellschaft die Empathie „abhanden kommt”, bleibt ihnen überhaupt nichts. „Der Veteran hat seine Zeit, seine Gesundheit, seine Karriere, manchmal sogar seine Familie geopfert. Was kann die Gesellschaft einen Menschen geben, um dieses Opfer zu kompensieren?“, überlegt Olha Haltschenko. „Die brennendste Frage ist zunächst die Unterstützung bei der Reha. Die Wiederherstellung der Gesundheit ist die erste Sorge des Veteranen und der Veteranin, sowohl physisch als auch mental. Man muss nicht der Staat sein, um finanziell zu helfen, den Menschen die Möglichkeit zu geben, einen Psychologen, Physiotherapeuten oder Ergotherapeuten (der Menschen mit Verletzungen hilft, ihre Fähigkeiten zurückzuerlangen) aufzusuchen. 

    Eine weitere wichtige Bitte von Seiten der Veteranen ist die Sicherung eines gewissen Zeremoniells in Bezug auf die gefallenen Kameraden und die Unterstützung ihrer Familien. Es ist ihnen wichtig, das Gedenken an ihre Freunde zu erhalten, die Leistung der Gefallenen zu ehren. Die dritte Bitte ist die Unterstützung bei der Umsetzung eigener Möglichkeiten jenseits der Front. Das kann Hilfe bei der Arbeitssuche sein, bei der Aufnahme einer geschäftlichen Unternehmung, bei der Ausbildung, beim Erwerb neuer Kompetenzen. Denn oft geraten die Menschen bei der Rückkehr in eine Welt, die sich verändert hat, besonders, wenn sie in Bereichen gearbeitet haben, die sich dynamisch entwickeln.“  

    Hat jemand beispielsweise im IT-Bereich gearbeitet, stellt er fest, dass seine Kenntnisse nach zwei Jahren veraltet sind und er Weiterbildung braucht, seine Fähigkeiten erweitern muss, um auf dem Arbeitsmarkt wieder wettbewerbsfähig zu sein. Dann ist es gut, wenn jemand hilft, passende Kurse und das Geld dafür zu finden. 

    Es ist gut, wenn die Familie wartet – doch nicht alle werden erwartet

    „Aber das Leben ist doch völlig anders“, dachte Zichi kürzlich, als er mit Belarussen und Ukrainern in Warschau zusammensaß. Aber wie es ist, das erzählte er niemandem in dieser Runde. Auch nicht, dass er im Schlafsack in der Südukraine bequemer schlief, als im Bett in Warschau. Soldaten kommen nicht gern in relativ friedliche Städte wie Kyjiw oder Lwiw, auch nicht zur Erholung. Sie haben sich an das stressige Leben im Feld gewöhnt und wissen häufig nicht, was sie tun sollen, wenn dieser Stress plötzlich fehlt, sagt Maryna, Neurologin im Rehabilitationszentrum Lanka. „Man muss einen Menschen nicht bis ins kleinste Detail ausfragen, was er erlebt hat. Mit der Zeit, wenn das Vertrauen stärker wird, erzählt er selbst von diesen Ereignissen, um sie zu verarbeiten.“ 

    Wenn nach der Rückkehr von der Front die Familie wartet, ist das Ankommen leichter. Doch unter den Freiwilligen gibt es auch solche, die nach dem Kriegsausbruch keinen Kontakt zu ihren Nächsten halten konnten. Es gibt solche, deren Verwandte in Belarus leben. Und es gibt Familien, die nicht wissen, dass der neutrale Hintergrund auf dem Foto im ukrainischen Mykolajiw ist, nicht in Warschau. „Natürlich hilft das Gefühl ungemein, dass du sicher bist, geliebt wirst, dass jemand auf dich gewartet hat. Wenn eine geliebte Person von der Front zurückkehrt, empfehle ich, sie in einfache Alltagshandlungen einzubinden. Bei uns im Lanka-Zentrum hat man erstmal einen Tag zum Ankommen, danach werden die Aufgenommenen gebeten, sich an der Alltagstätigkeiten zu beteiligen. Man kann der Person auch ein Haustier schenken, ja, das ist ein verantwortungsvoller Schritt. Aber einfache Tätigkeiten – du hast einen Hund, du musst mit ihm spazieren gehen, du musst ihn dressieren – erden hervorragend. 

    Ich weiß, viele Soldaten treffen sich gern mit ihren Kampfbrüdern, mit denen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Man sollte sich aber nicht auf die sozialen Kontakte innerhalb dieser Kleingruppe beschränken. Regelmäßige Treffen mit einem nachvollziehbaren Zeitplan vereinbaren zu können, ist aber eine gute Sache. Sie werden dann zur beruhigenden Routine.“  

    „Alle wenden sich von uns ab: Auf dem Konto sind Null Złoty“

    Wenn du nicht weißt, wohin du gehen kannst, suchst du dir Gleichgesinnte. In Polen gibt es eine Veteranenorganisation – die Assoziation der belarussischen freiwilligen Kämpfer. Man hilft sich gegenseitig, Unterkunft, Kleidung und Arbeit zu finden. Es ist einfach eine Chatgruppe in einem Messengerdienst. 

    „Vor kurzem suchte ein Kamerad Wohnung und Arbeit in der Umgebung von Warschau. Wir verbreiteten den Aufruf und konnten ihm helfen, wir fanden alles“, erzählt Pawel Marjeuski, ein Vertreter der Organisation. „Manchmal sammeln wir, um jemandem für einen Monat die Unterkunft im Hostel zu bezahlen. Gerade heute habe ich einem Kameraden Geld überwiesen, so viel ich konnte. Wenn größere Beträge notwendig sind, wenden wir uns an BYSOL und starten eine Sammlung für die Rehabilitation. Wir haben kein Zentrum, in das man kommen kann, um uns zu treffen, denn wir haben keine Finanzierung. Überhaupt keine. Wir haben eine Stiftung in Polen registriert, um die Probleme unserer Leute lösen zu können. Aber auf dem Konto sind Null Złoty. Es gibt keine Spenden und es ist uns auch nicht gelungen, Fördermittel zu bekommen, die Fördermittelgeber betrachten uns als Kombattanten und wollen nicht mit uns zusammenarbeiten. Unser Traum ist es, eine Finanzierung zu finden, um allen Leuten wenigstens ein bis zwei Wochen im Hostel bezahlen zu können. Aber bislang erhalten wir nur Ablehnungen.“  

    Zudem benötigen wir dringend Spezialisten für die Arbeit mit Suchterkrankungen

    Als Pawel selbst im Sommer 2022 aus der Ukraine zurückkam, kam er bei Freunden unter. Im ersten Monat ängstigten ihn die Geräusche der Flugzeuge und Hubschrauber, die über Warschau flogen. „Bei vielen tritt hier eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) auf. Den einen stören die Straßenbahnen, ein anderer hat Panikattacken, weil es vor dem Fenster so ruhig ist und niemand schießt. Eines der größten Probleme ist es, einen Psychologen zu finden. Auch wir helfen in erster Linie dabei, Psychologen zu finden, erst danach kommt die Arbeitssuche. Arbeiten kannst du auch morgen noch, aber ohne psychologische Hilfe Mist bauen, das kann sofort passieren.“ 

    Das Problem ist, dass der minimale Stundensatz für einen Psychologen in Warschau bei 70 Euro liegt, erklärt Pawel. Es gibt Psychologen, die belarussischen Veteranen kostenfrei helfen. Manchmal wenden sich die Männer an Organisationen, die politischen Häftlingen helfen, dort hilft man ihnen, Spezialisten zu finden. Im Reha-Zentrum Lanka wurde auch versucht, unter den Belarussen Psychologen für die Veteranen zu finden, die mit den Opfern der Repressionen von 2020 gearbeitet hatten. Aber es stellte sich heraus, dass die meisten von ihnen keine Kriegstraumata bearbeiten können. 

    „Bislang arbeiten wir nur mit ukrainischen Psychologen, die Erfahrung mit der Arbeit der ATO haben. Sie haben erprobte Methoden. Die Kameraden und Kameradinnen melden zurück, dass ihnen die Arbeit mit diesen Spezialisten passt, dass es ihnen im Laufe des Prozesses besser geht. Die Hilfe belarussischer Psychologen lehnten die Kämpfer häufig ab, da sie kein Vertrauensverhältnis aufbauen konnten.  

    Zudem benötigen wir dringend Spezialisten für die Arbeit mit Suchterkrankungen. Wenn sich eine PTBS ausprägt, kommt es leicht auch zur Ausprägung von Abhängigkeiten, beide Zustände gehen gerne Hand in Hand. In einer solchen Situation ist eine Abhängigkeit bösartig, sie verläuft sehr schnell und zerstörerisch. Wenn der Mensch das Problem erkennt und Hilfe sucht, ist es gut, wenn diese umgehend geleistet werden kann. Aber es ist schwierig, belarussisch- oder russischsprachige Spezialisten in Europa zu finden, und die Wartelisten sind lang.” 

    „Wir deklarieren nicht explizit, dass wir Jobs für Männer mit Kampferfahrung suchen” 

    Die Propaganda liebt die Geschichte von den Legionären, die um des Geldes Willen in der Ukraine kämpfen. Wie kann es dann sein, dass die Männer nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg oft nicht mal das Geld für ein Hostel haben? „Sie kommen nicht als Millionäre zurück, der Sold ist nicht sehr hoch. Seien wir ehrlich – wer würde, egal in welcher europäischen Stadt, für 2000 Dollar im Monat sein Leben riskieren?“, sagt Pawel Marjeuski. „Viele kaufen von diesem Geld Munition, die es im Lager oder über die Freiwilligen nicht gibt. Viele mieten Wohnungen, nicht alle leben im Feldlager. Deshalb kehren alle mit unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten von der Front zurück.“ 

    Der ehemalige Kämpfer Zichi bei seiner neuen Arbeit in Warschau / Illustration © Euroradio
    Der ehemalige Kämpfer Zichi bei seiner neuen Arbeit in Warschau / Illustration © Euroradio

    Wer heute in Warschau ein Uber bestellt, könnte auf Zichi treffen. Doch er ist anonym unterwegs: Seine Familie ist in Belarus geblieben, daher verbirgt er seinen wahren Namen und auch seinen wahren Kampfnamen. Wenn ihr ihm helfen wollt, im zivilen Leben anzukommen, schreibt an unsere Redaktion. Zichi braucht weniger Geld als eine Arbeit. Er hofft, dass ein halbwegs geordneter Tagesablauf und eine interessante Tätigkeit ihm helfen werden, sich in seinem neuen Leben zurechtzufinden.  

    Die Assoziation der belarussischen freiwilligen Kämpfer verfolgt die Entwicklung belarussischer Unternehmen in Polen und sammelt Stellenangebote. Aber während es in einem Staat Unterstützung für Veteranen bei der Aufnahme einer neuen Arbeit gäbe, können die belarussischen Exilgemeinschaften dies nicht leisten. „Wir deklarieren nicht explizit, dass wir Jobs für Männer mit Kampferfahrung suchen. Ich bitte die belarussischen Unternehmer einfach, mir etwas über die offenen Stellen zu erzählen, und die Männer bewerben sich dann ganz allgemein, ohne irgendeine Bevorzugung. Sie kommen also inkognito dort an“, erzählt Pawel.  

    Manchmal gelingt es den Freiwilligen auch, in Umschulungsprogrammen unterzukommen, aber in diesen Gruppen gibt es nicht für alle Platz. Gibt es denn irgendeine Priorisierung für Veteranen? „Wo, in Polen?“, wundert sich Pawel. „Das Einzige, was uns von anderen unterscheidet, ist, dass wir mehr Aufmerksamkeit seitens des polnischen Staates haben. Ich weiß, dass es für politische Häftlinge doppelt so schnell geht, internationalen Schutzstatus zu erhalten, als für Leute mit Kampferfahrung.“ 

    „Das Front-End einer Gesellschaft muss auf die Arbeit mit Veteranen vorbereitet sein“ 

    Kürzlich kehrte ein schwedischer Freiwilliger, der in der Ukraine gekämpft hatte, nach Hause zurück. Sofort nach seiner Ankunft in Schweden kontaktierten ihn mehrere Organisationen, die ihm psychologische Hilfe anboten. Er lehnte die Hilfe ab. „Ich habe wirklich keine Probleme“, versichert uns unser Gesprächspartner. Er schloss sich nicht einmal einer der Veteranenorganisationen an, die sich zum Zweck der gegenseitigen Unterstützung treffen, und meinte, er hätte auch so genug Unterstützung. Handelt es sich nicht um Freiwillige, sondern um Berufssoldaten – schwedische Soldaten nehmen an internationalen Missionen teil, zum Beispiel waren sie lange in Afghanistan präsent –, verpflichtet sich der Staat, die Rückkehrer für den Zeitraum von zehn Jahren zu unterstützen.  

    Heute gibt es in Polen etwa zehn belarussische Freiwillige mit Unterstützungsbedarf. Hauptsächlich geht es um Hilfe bei der Arbeitssuche, bei einigen um die Bezahlung von Arztrechnungen. Das ist wenig, es braucht keinen großen Staat, um zu helfen. Um den Bedarf der Kämpfer in der ersten Zeit zu sichern, würde es völlig genügen, wenn diejenigen, die Posts über die Befreiung Belarus‘ mit der Waffe in der Hand liken, etwas spenden würden.

    Ehemalige Kämpfen leider häufig unter posttraumatischen Störungen / Illustration © Euroradio
    Ehemalige Kämpfen leider häufig unter posttraumatischen Störungen / Illustration © Euroradio

    Insgesamt waren wenigstens 1000 Belarussen an den Kampfhandlungen in der Ukraine beteiligt, sagt Maryna. Zu verschiedenen Zeitpunkten können sie Hilfe der Diaspora und der Zivilgesellschaft benötigen. Zudem muss die Gesellschaft darauf vorbereitet sein, dass Menschen mit neuen Reaktionen aus dem Krieg zurückkehren. Olha Haltschenko insistiert: Nicht die Veteranen sollen denken, dass sie jemandem zur Last fallen, dass sie sich in das alte, schwer verständliche System integrieren müssen. Sondern die Gesellschaft muss verstehen, wie Menschen ticken, die im Krieg waren.  

    „Sie stottern unter Umständen, können in der Menge die Orientierung verlieren, fühlen sich vielleicht unwohl oder gestört, wenn es ringsum sehr laut ist. Sie können stark auf etwas reagieren, das anderen normal erscheint. Das Front-End der Gesellschaft – Ärzte, Juristen, Verkäufer – muss dafür bereit sein, dass nebenan Veteranen wohnen, dass sie zu ihrer Kundschaft gehören können. In den USA hat die Polizei besondere Vorschriften für die Gesprächsführung mit Veteranen. Man darf zum Beispiel nicht hinter ihrem Rücken gehen oder sie umzingeln, da das verständlicherweise aggressive Reaktionen hervorrufen kann.  

    Außerdem muss man darauf eingestellt sein, dass es Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft gibt. Auch in der Ukraine gibt es bis heute Probleme im Umgang mit diesen Menschen, man zeigt mit dem Finger auf sie oder fragt sie übergriffig aus.  

    Wie soll man sich also verhalten? 

    In der Ukraine gab es eine Kampagne: Beim Anblick eines Soldaten legten die Menschen die Hand aufs Herz, um ihren Respekt auszudrücken. Ich mache das auch: Wenn ich in der Menge einen Soldaten sehe, jemanden, der offensichtlich im Kampfeinsatz war, versuche ich zu nicken oder zu lächeln. Meist wollen die Veteranen keine große Aufmerksamkeit. Ihnen genügen Akzeptanz und Verständnis, angemessenes Verhalten, Respekt vor ihren Erfahrungen im Kampfeinsatz.“

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  • Die weiße Emigration: Warum Ärzte Belarus verlassen

    Die weiße Emigration: Warum Ärzte Belarus verlassen

    Auch Ärzte, Pflegekräfte und anderes medizinisches Personal hatten sich 2020 massenhaft den Protesten in Belarus angeschlossen. Trotz des eklatanten Personalmangels im Land gingen die Machthaber danach massiv gegen Augenärzte, Chirurgen, Psychologen oder Krankenpfleger vor. Bis heute kommt es zu gezielten Repressionen und Strafverfahren gegen medizinisches Personal. Ärzte werden entlassen, kommen hinter Gitter, werden zu Extremisten oder Terroristen erklärt, viele der Fachkräfte haben Belarus verlassen. In der Oblast Witebsk ist die Anzahl der Ärzte innerhalb eines Jahres um 700 zurückgegangen

    Die Journalistin Jana Machowa berichtet, was im belarussischen Gesundheitswesen vor sich geht, wohin und wovor die dringend gebrauchten Fachkräfte fliehen und welche Folgen dies für Patienten und Kranke hat.

    Russisches Original

    Tausende medizinische Fachkräfte fehlen 

    2023 ist das Einsetzen von Gelenkprothesen in Belarus eine Operation, die für den Durchschnittsbürger fast utopisch ist. „Schön realistisch bleiben! Vom Orthopäden-Prozess haben Sie gehört?“ So beschreibt eine Patientin, die ein neues Kniegelenk braucht, die Reaktion von Ärzten auf ihre Anfrage. Im Frühjahr 2023 rollte eine Verhaftungswelle durch die Orthopädischen Abteilungen des Landes, dutzende erfahrene Fachärzte landeten hinter Gittern – so wie kurz davor Psychologen und Psychotherapeuten, die die Silowiki in der Hoffnung, an Informationen zu „problematischen“ Patienten zu kommen, ebenfalls zahlreich festnahmen. Das zu Jahresbeginn geänderte Gesetz Über psychotherapeutische Hilfeleistung erlaubt es nun den Geheimdiensten, ohne Angabe von Gründen die Bereitstellung von Informationen über Klienten zu verlangen. 

    Den Orthopäden werden offiziell Bestechlichkeit und illegale Absprachen vorgeworfen. Inoffiziell spricht man in Medizinerkreisen über eine mögliche Umgestaltung des Marktes sowie die Vermutung, alle diese „Prozesse“ könnten den Zweck haben, die Privatmedizin sowie Mediziner, die 2020 mitsamt ihrer ganzen Abteilung protestierten, dem Staat zu unterwerfen.

    Die Massenverhaftungen haben die Wartezeit für Gelenkimplantate, die ohnehin bereits Jahre betrug, noch zusätzlich verlängert. Sogar den Daten des Gesundheitsministeriums zufolge warten an die 14.000 Menschen auf ein künstliches Hüftgelenk. Die Empörungswelle ist bis zu Lukaschenko durchgedrungen, der ganz typisch reagierte: „Bis Jahresende macht ihr mir all diese Gelenke!“, forderte er vom Gesundheitsminister, ohne sich für Details zu interessieren. „Aber zackig! Einer steht, zwei nähen. Los, organisieren Sie das.“ Das Gebrüll in der Sitzung verkürzte die Wartezeit für Operationen natürlich nicht.

    Ein Ärztemangel aufgrund von niedrigen Gehältern und jenseitigen Anforderungen, was den Umfang der zu leistenden Arbeit betrifft, bestand in Belarus auch schon vor 2020. Mit dem Beginn der Massenrepressionen nach den Präsidentschaftswahlen verschärfte sich die Situation. Im Herbst 2022 meldete die polnische Gesundheitsministerin Katarzyna Sojka, dass im Laufe des letzten Jahres rund tausend belarussische Ärzte eingereist seien. 

    Die Belarusian Medical Solidarity Foundation ByMedSol führte eine Studie zur Zahl der medizinischen Fachkräfte in Belarus durch. Als Grundlage dienten offen zugängliche Quellen und offizielle Statistiken. Die Ergebnisse sind ernüchternd. „Wenn das Gesundheitsministerium Ende 2022 von 48.000 praktizierenden Medizinern spricht, dann ist das gelogen. In Wirklichkeit sind es mindestens 10.000 weniger“, erklärt der Gründer der Stiftung, Andrej Tkatschow, und fügt hinzu, dass seit 2020 die Lügen in den staatlichen Strukturen immer größere Dimensionen annehmen und man, statt Probleme zu lösen, lieber die Statistiken manipuliere. 

    Seinen Daten zufolge haben in den letzten drei Jahren tausend bis mehrere tausend medizinische Fachkräfte Belarus verlassen. Indirekt bestätigen das die Daten der landesweiten Jobbörse: Der Suchbegriff „Arzt“ bringt rund 6500 Stellenangebote, für Krankenschwestern gibt es über 4000 freie Arbeitsplätze. „Äußerst vorsichtig geschätzt sind auf jeden Fall mehr als 1000 Mediziner ausgewandert. Es können auch bis zu 5000 sein. Man kann sie nur indirekt zählen, weil viele medizinische Fachkräfte den Job gewechselt, aber keine Möglichkeit zur Emigration haben“, erklärt ein Vertreter von ByMedSol.

    Medizinisches Personal bei einer Protestkundgebung in Minsk im Jahr 2020 / Foto © Natalia Fedosenko/ITAR-TASS/imago-images 

    26 Mediziner sind als politische Häftlinge anerkannt

    Slawomir Gadomski, stellvertretender Gesundheitsminister, sieht den Ausweg aus der personellen Not in einem größeren Angebot an staatlich finanzierten Studienplätzen, als „Zuckerl“ verspricht er eine soziale Förderung in Form von Wohnungen. Lukaschenko hat den Ärztemangel kommentiert, indem er Polen, wohin seine wertvollen Fachkräfte verschwinden, mit der Faust drohte. Im November 2020 erklärte er: „Wir haben keine überschüssigen Ärzte. Wir brauchen sie selber, für unsere Leute. Zurückhalten werden wir aber keinen … Wer abhaut, braucht nicht mehr wiederzukommen.“ Wiederkommen, das haben die Ärzte allerdings ohnehin nicht vor. Die meisten, die seit 2020 abgewandert sind, sind vor Repressionen geflüchtet.

    Die Mediziner stachen während der Proteste sehr ins Auge. Sie demonstrierten mit Plakaten direkt vor den Krankenhäusern. Wie sonst niemand wussten sie über das Ausmaß der Gewalt Bescheid, immerhin waren sie es, die die Opfer medizinisch versorgen mussten.

    „Es war unmöglich zu schweigen. Jeden Tag [im August 2020 – dek] kamen Verprügelte und Verletzte herein. Blaugeschlagen, mit Platzwunden und Schussverletzungen. Ich arbeite schon lange im OP, habe schon vieles gesehen, aber sowas … Vor der Arbeit stellte sich unsere Belegschaft vor den Haupteingang der Klinik, manche hatten Plakate gemalt: Nein zur Gewalt. Was hätten wir denn sonst tun können?“, erzählt ein Chirurg aus einer Minsker Klinik, der anonym bleiben will. Manche Kollegen, fügt er hinzu, hätten nach kurzer Haft gekündigt und das Land verlassen, andere hätten den Beruf gewechselt, und manche säßen noch immer hinter Gittern. 

    Andrej Ljubezki, eine Koryphäe im Bereich Kinder-Kiefer- und Gesichts-Chirurgie, rief dazu auf, die Verfolgung und Misshandlung der Menschen einzustellen. Woraufhin er zu fünf Jahren Strafkolonie verurteilt und zum Terroristen erklärt wurde. „Jeder von uns hat einen oder auch mehrere Bekannte, Freunde oder Nachbarn, die festgenommen wurden, die erniedrigt und geprügelt wurden“, schrieb Ljubezki, der inzwischen als politischer Gefangener gilt, auf Facebook noch vor seiner Verhaftung.

    Wegen Kleidung in den „falschen“ weiß-rot-weißen Farben wurde eine 71-jährige Fachärztin für Onkologie und Mammalogie mit einer Geldstrafe von 3770 Rubel (damals rund 1100 Euro) belegt. Die 51-jährige Psychiaterin Natalja Nikitina wurde an ihrem Arbeitsplatz im Minsker Psychiatrie- und Psychotherapiezentrum für Kinder festgenommen. Ein paar Stunden zuvor hatte sie eine Mitteilung über ihre Entlassung erhalten. Wegen Kommentaren im Internet wurde die Ärztin zu einem Jahr und zehn Monaten Strafkolonie und einer Geldstrafe in Höhe von 6400 Rubel (damals rund 1900 Euro) verurteilt. Das sind nur einige Beispiele.

    Im Oktober 2023 betrug die Zahl der aus politischen Gründen inhaftierten Ärzte rund 26. Vertreter von ByMedSol gehen davon aus, dass die Dunkelziffer höher ist. Aber Menschen, die einmal durch den Fleischwolf der Repressionen gedreht wurden, wollen oder trauen sich oft nicht, offen zu sprechen.

    Ich behandle meine belarussischen Klienten jetzt von Polen aus

    „Morgens um halb sieben kamen KGB-Bedienstete zu mir nach Hause, stemmten die Türen auf. Fünf Stunden Hausdurchsuchung, fünf Stunden Verhör. Ich wurde gegen Unterschrift entlassen, mit dem Zusatz: nicht für lange“, erzählt Jelena Gribanowa, Psychologin mit 20 Dienstjahren. 

    Nicht einmal nach diesem Vorfall wollte Jelena das Land verlassen, doch 2021 wurde ihr klar, dass man sie nicht in Ruhe lassen würde – und sie ergriff die Flucht: „Im Staatsfernsehen war ein Beitrag, in dem aufgrund meiner ehrenamtlichen Tätigkeit ein ‚psychologisches Zentrum der Protestbewegung‘ und eine ‚Koordinatorin des Litauer Puppenspielers‘ aus mir gemacht wurde. Und dann kam absoluter Nonsens von wegen, wir würden ‚von Europa finanziert‘.” 

    Die Psychologin lebt seit nunmehr zwei Jahren in Polen, hat belarussische und ukrainische Klienten, arbeitet als Psychologin und Supervisorin für eine Menschenrechtsorganisation in Charkiw. 

    Bevor sein Diplom in Polen anerkannt wurde, arbeitete ein ebenfalls lieber anonym bleibender Onkologe ein Jahr lang als Lieferant in Warschau. „Bis zur Anerkennung meines Abschlusses durfte ich arbeiten, was ich wollte, nur nicht als Arzt. Die medizinische Prüfung ist hier sehr schwer, beim letzten Mal haben von 800 Ärzten (großteils aus Belarus und der Ukraine) nur sechs sie geschafft. Daher kommt es oft vor, dass belarussische Ärzte bereits im Vorfeld, während sie noch in Belarus leben und arbeiten und ihre Migration planen, die Nostrifizierung in Polen beginnen. Die größte Herausforderung ist es, Wohnraum zu finden; ich hatte Glück, ich hatte schon zu Hause auf eine Wohnung gespart. Denn auch wenn das Diplom anerkannt wird, müssen alle im ersten Jahr ein Praktikum machen und verdienen nicht viel“, erzählte der Arzt.

    Private Ärztezentren wurden zur Entlassung von Ärzten gezwungen

    Die Repressionen betreffen medizinisches Personal auf allen Ebenen. Weil er nichts gegen Mitarbeiter unternahm, die Gewalt ablehnen, wurde einer der landesweit besten Herzchirurgen entlassen, Alexander Mrotschek, Direktor des RNPZ (Republikanisches Zentrum für Forschung und Praxis) für Kardiologie. Der Gründerin des RNPZ für pädiatrische Onkologie und Hämatologie, Olga Aleinikowa, sowie dem Direktor des RNPZ für Onkologie in Borowljany, Oleg Sukonko – das sind die beiden wichtigsten Onkologiezentren für Kinder und Erwachsene in Belarus – wurde erstmal die staatliche Prämie für 2020 gestrichen. Ihre Mitarbeiter wurden wegen Illoyalität und Kritik am Regime in Handschellen direkt aus ihren Dienstzimmern geführt. Bald musste auch die Leitung aus diversen Gründen ihren Platz räumen. Sogar private medizinische Einrichtungen wurden unter Druck gesetzt. 2022 wurde das beliebte Ärztezentrum Lode geschlossen. Nach umfassender Prüfung wurde der Verwaltung eine Liste zugestellt, anhand welcher umgehend eineinhalb Dutzend illoyale Ärzte gekündigt wurden. 

    Als Lode seinen Betrieb wieder aufnahm, gab der Gründer kurz darauf die Summe bekannt, die er an die Staatskasse berappen musste – 236.000 Rubel (damals rund 68.000 Euro). Hinter vorgehaltener Hand wurde diese Summe um ein Vielfaches vergrößert und vermutet, dass das wohl die Rache für 2020 sei, als die Verletzten, die aus der U-Haft in Okrestina kamen, im Lode kostenlos behandelt wurden. 

    Ebenfalls 2022 unterbrach das Gesundheitsministerium für sechs Wochen die Lizenz des Ärztezentrums Nordin, über zwei Monate standen auch Merci und Krawira still. Das Augenärztezentrum Nowoje srenije (dt. Neue Sehkraft) traf es am härtesten – ihm wurde die Lizenz entzogen. „Neugestaltung des Marktes? Oder feindliche Übernahme?“, fragten sich die Mediziner. Parallel dazu tauchten in Minsk Filialen einer neuen Privatklinik auf. In Medizinerkreisen wird gemunkelt, dass sie von „familiennahen“, also aus Lukaschenkos Umfeld stammenden, Personen betrieben werden. 

    „Betrachtet man die Situation als Versuch, die feudale Ordnung wiederherzustellen, dann passt alles zusammen. Es gibt einen Feudalherren und seine Vasallen. Diese verteilen die verfügbaren Ressourcen mithilfe von Zwang, Selbstbehauptung auf Kosten anderer und Sadismus. Alle anderen sind Bauern, sozusagen Verbrauchsmaterial. Wieso also nicht eine eigene Klinik bauen und den Gewinn untereinander aufteilen? So entstehen neue, regierungstreue Privatkliniken“, sagt Lidija Tarassenko, Koordinatorin von ByMedSol; als ausgebildete Gastroenterologin leitete sie die Endoskopie-Abteilung im Alexandrow-RNPZ für Onkologie und Radiologie (dem wichtigsten onkologischen Gesundheitszentrum in Belarus) und arbeitete in einer Privatklinik. „Die Ärzte werden eingesperrt, die Gesundheitszentren aus denselben Gründen ‚gemolken‘. Früher schrieben sie verschämt die Summe auf ein Zettelchen, heute sagen sie einem direkt ins Gesicht, wie viel man zahlen muss, um ‚einstweilen‘ seine Ruhe zu haben.“ 

    Absolventen werden an Arbeitsplätze verpflichtet

    „Die Fremdsprachenkurse sind voller Medizinstudenten, die nach dem Abschluss sofort auswandern wollen – der eine nach Polen, die andere nach Deutschland. Deswegen entscheiden sich viele für eine kostenpflichtige Ausbildung“, berichtet anonym ein Professor an einer medizinischen Universität.

    Doch auch die Behörden haben die ungünstige Tendenz bemerkt und versuchen, zukünftige Spezialisten zu verpflichten. Bildungsminister Andrej Iwanez hat bereits angekündigt, dass nun alle Studenten, egal ob sie auf eigene oder auf Staatskosten studiert haben, verpflichtet werden, eine gewisse Zeit an einer ihnen zugewiesenen Stelle zu arbeiten. Auch davon, dass diese Zeit fünf und nicht mehr wie bisher zwei Jahre betragen soll, war schon die Rede. Vor ein paar Jahren schlug Lukaschenko vor, die verpflichtende Arbeitszeit für Absolventen medizinischer Hochschulen auf zehn Jahre zu verlängern. Wer der Zuweisung nicht folgt, wird gerichtlich dazu gezwungen, eine Riesensumme zu bezahlen, die der Staat angeblich in seine Ausbildung investiert hat.

    Der Personalmangel besteht überall, vor allem bei hochspezialisierten Fachkräften; am drastischsten ist die Situation in den Regionen. „Die Ausbildung zum hochspezialisierten Facharzt dauerte früher Jahre. Heute genügt es, sich zu einem viermonatigen Kurs anzumelden und im Namen des Chefs einen Antrag zu stellen. So wird versucht, mit einer schnellen Umschulung die personellen Lücken zu stopfen“, erzählt eine anonyme Fachärztin aus einer Minsker Klinik. Bisher ist nur ein steigender Bedarf an Ärzten zu beobachten, während die Zahl der Einstellungen sinkt. Die Statistik wird manipuliert, indem unbesetzte freie Stellen aus den Personalplänen verschwinden. So wird die Kurve des steigenden Personalmangels optisch begradigt. 

    Gleichzeitig gibt es weiterhin immer mal wieder Nachrichten über einzigartige chirurgische Eingriffe, die in Belarus durchgeführt werden, zum Beispiel Herzoperationen an Kindern. Die finden auch tatsächlich statt. Nur sind solche Operationen punktuelle, einzelne Beispiele für die Arbeit hochqualifizierter Fachärzte, die noch im Land und nicht von Repressionen betroffen sind und an die der Durchschnittsbürger nur sehr schwer herankommt. 

    Den Patienten bleibt nichts anderes übrig, als sich selbst zu helfen

    Die abwandernden Ärzte stehen am Höhepunkt ihrer Karriere und hätten gerade ihr Wissen weitergeben und ihre Ablöse vorbereiten können. „Mit einer ordentlichen medizinischen Versorgung kann man in Belarus auch deswegen nicht rechnen, weil die Nachfolge fehlt. Die Ärzte verlassen ihre Posten, verlassen das Land. Und zwar im arbeitsfähigsten Alter von 30 bis 45 Jahren“, erklärt Lidija Tarassenko. 

    Für die verbleibenden Ärzte, sagt sie, wird es aufgrund der Überlastung immer schwieriger. Sie müssen alle Funktionen erfüllen: die Patienten untersuchen, die Instrumente bereitstellen und sterilisieren, die Dokumentation erstellen. „Noch dazu wird der Beruf gern heroisiert, und das ist ungünstig. Es führt zu überzogenen Erwartungen: ‚Ihr seid Ärzte, ihr müsst das machen!‘ Der menschliche Organismus ist aber nicht dafür gemacht, 24 Stunden am Stück zu arbeiten, und das für drei“, meint Tarassenko.

    „Ich sehe, wie die Kluft zwischen der zivilisierten Welt, der fortschrittlichen Technik und dem, wie unser Gesundheitssystem aufgebaut ist, immer größer wird. Die Situation von Krebspatienten ist ungeheuerlich. Zur Linderung brauchen sie opioide Schmerzmittel. Zu solchen Patienten kommt dreimal am Tag ein Krankenwagen, angeblich zur Beobachtung, als wären sie drogensüchtig.“ Aber das sei nur ein Beispiel für eine maßlose Herangehensweise, dafür, wie das Gesundheitssystem nicht aussehen soll, erklärt sie. 

    „Es fehlen ganze Fachgebiete. Wir haben und hatten nie ausgebildete Experten für Ernährung oder Schmerztherapie. Und kaum jemand versteht, dass wir sie brauchen würden – es war ja nie anders. Alles wird schlechter, aber das versuchen sie zu ignorieren. Solange die Junta an der Macht ist, kann man nicht viel machen. Denen ist egal, was mit den Menschen passiert. Wir haben ja gesehen, wie das bei Covid lief. Jetzt sind dieselben Leute an der Macht, und von ihren Fehlern haben sie sich eines gemerkt: Sie sind damit durchgekommen. Selbst wenn Leute ins Gesundheitswesen kommen, die etwas verändern wollen – die sind dem System fremd und werden hinausgedrängt. Den Patienten bleibt nichts anderes übrig, als sich selbst zu helfen“, zieht Lidija Tarassenko ihre unerfreuliche Bilanz. 

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  • „In Belarus ist eine moderne Zivilgesellschaft entstanden”

    „In Belarus ist eine moderne Zivilgesellschaft entstanden”

    Polen ist Belarus nicht nur geographisch nahe, sondern auch kulturhistorisch. Jahrhunderte waren die beiden Länder in der Polnisch-Litauischen Adelsrepublik verbunden. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entschied sich Polen für eine demokratische Entwicklung und eine Orientierung gen Westen, während Belarus mit einem diktatorischen System dem postsowjetischen Raum vehaftet blieb und sich vor allem ab 1994 verstärkt Richtung Russland orientierte. 

    Trotz dieser offensichtlichen Nähe scheint das Ausmaß der Repressionen in Belarus für viele Polen unbegreiflich zu sein. Auch würden sie nicht verstehen, dass es womöglich den Belarussen zu verdanken sei, dass Russland sich nicht schon längst bis an die polnische Grenze ausgedehnt hat. Diese Beobachtungen erörtert der belarussische Journalist und Autor Sewjaryn Kwjatkouski auf der Online-Plattform von Nowy Tschas

    Aktuellen Ergebnissen des polnischen Sozialforschungsinstituts CBOS zufolge stehen 47 Prozent der Polen den Belarussen feindselig gegenüber. Dabei ist allerdings nicht näher benannt, um welche Belarussen es geht – diejenigen, die erst kürzlich nach Polen migriert sind oder Belarussen im Allgemeinen oder die Belarussen, die Lukaschenko unterstützen.  

    Das erste Mal begegnete mir Fremdenfeindlichkeit in Polen komischerweise in Białystok. Das ist merkwürdig, weil Belarussen in der Grenzregion eigentlich schon seit dreißig Jahren fest zum Landschaftsbild gehören. Es gibt dort viele Verbindungen zwischen den Menschen, sowohl familiär als auch durch den kleinen Grenzhandel. Ich musste damals für einige Tage ins Krankenhaus und rief beim Personal reges Interesse hervor – ein Schriftsteller und Journalist aus Belarus war dort zum ersten Mal. Es war der elfte Monat des russischen Angriffskriegs in der Ukraine und mehr als zwei Jahre seit Beginn der Massenrepressionen in Belarus.  

    Tatsächlich haben sich die Belarussen enorm verändert, aus der postsowjetischen Bevölkerung ist eine moderne Zivilgesellschaft geworden 

    „Und, was haben Sie vor – vielleicht weiter nach Deutschland?“ Zuerst dachte ich, dass man mich für einen Wirtschaftsflüchtling hält. Dann wurde mir klar, dass die Menschen hier über den Zustrom verschiedener Migrantengruppen besorgt waren. Die Ukrainer flüchten vor den Raketen, die Belarussen vor … Aus den Gesprächen begriff ich, dass im Krankenhaus kaum jemand wirklich eine Ahnung hatte, was gerade einmal 40 Kilometer Richtung Osten passierte. Die polnischen Medien haben das Leben in Belarus in den vergangenen dreißig Jahren zwar ausführlich beleuchtet. Und natürlich beginnt und endet jeder Beitrag mit dem Wort „Lukaschenka“. Doch im Unterschied zu anderen Nachbarländern von Belarus wird in Polen auch rege über die belarussische Gesellschaft berichtet. Die polnischen Leser der Auslandsrubrik kennen im Zusammenhang mit Belarus also die Worte „Diktatur“ und „Repressionen“. Erzählt man von den belarussischen Realia, erhält man in der Regel mitfühlende Blicke und etwas wie „ja ja, wir wissen Bescheid“. Doch sind die Ereignisse von 2020 und das, was heute passiert, völlig verschiedene Epochen.  

    Tatsächlich haben sich die Belarussen enorm verändert, aus der postsowjetischen Bevölkerung ist eine moderne Zivilgesellschaft geworden. Vielleicht stehen deshalb vierzig Kilometer östlich von Białystok noch keine russischen Panzer. Im Herbst 2020 nannte die polnische Regierung die Zahl von einer halben Million Belarussen, die Polen bereit sei, als Geflüchtete aufzunehmen. Heute wissen wir, dass in den letzten drei Jahren insgesamt etwa 350.000 Belarussen ihr Land verlassen haben

    Unabhängig davon, welche Partei regiert, war Polen auf staatlicher Ebene der belarussischen nationaldemokratischen Bewegung gegenüber immer positiv eingestellt. Das liegt vermutlich daran, dass alles Belarussisch-Demokratische automatisch als anti-imperial und damit Polen verbunden wahrgenommen wird. Angenommen, von den 350.000 emigrierten Belarussen haben sich 200.000 in Polen niedergelassen. Zusammen mit den ukrainischen Geflüchteten ist das eine sehr große Zahl. Aber es sind weit weniger Menschen, als Polen anfangs erwartet, und auch als die Lukaschisten erhofft hatten. „Belarussen“ und „Lukaschisten“ – diese Unterscheidung treffen Belarussen jetzt in Gesprächen.  

    Russische Panzer stehen noch nicht an der Grenze zu Polen, weil die Lukaschisten es nicht geschafft haben, die Struktur der Gesellschaft zu ihrem Vorteil zu verändern. Was ist dort, hinter der Wand? Diesem Zaun, der gegen die gezielt organisierten Migranten aus Asien gebaut wurde. Dort, hinter der Wand, werden täglich Menschen verhaftet. Dutzende Menschen werden gleichzeitig eingesackt. Architekten, Ärzte, Anwälte, Arbeiter aus verschiedenen Betrieben werden angeklagt. Kinderreiche Eltern, alte Menschen, Minderjährige werden zu Haftstrafen verurteilt. 

    Man spricht von etwa 50.000 Menschen, die eine Untersuchungshaft durchlaufen haben, und etwa 5000, die aufgrund von Strafsachen verurteilt wurden und einsitzen. Über die Anführer der Bewegung von 2020 gibt es kaum Informationen, von einigen gibt es nicht einmal die Auskunft, ob sie noch am Leben sind. Ja, in Belarus gibt es keine Erschießungen auf offener Straße wie bei den deutschen Nazis, aber die Folter der „Politischen“ in den Gefängnissen nähert sich dem Niveau der stalinschen Lager. 

    Im August 2020 war im Süden von Minsk, bei der Stadt Sluzk, bereits ein Konzentrationslager eingerichtet worden, es bestand drei Tage lang. Die Proteste waren so massiv, dass die Lukaschisten einfach nicht wussten, wie sie die große Anzahl an Festgenommenen bewältigen sollten. Doch vor dem Konzentrationslager schreckten sie zurück. Bis zum heutigen Tag. Auf sechs Millionen erwachsene Staatsbürger kamen in den ersten vier Monaten der revolutionären Ereignisse 2020 mehr als eine Million Menschen, die äußerst aktiv daran teilnahmen. Nehmen wir noch jene hinzu, die die Familien der Verhafteten finanziell oder logistisch unterstützten, und die, die Menschen in ihren Wohnungen versteckten. Und wie viele fühlten mit, auch wenn sie nicht teilnehmen konnten! 

    Heute mit einer politischen Einstellung in Belarus zu bleiben – das ist auch ein Akt des Widerstandes 

    Weder Politologen noch Soziologen haben Zweifel daran, dass dort, östlich von Białystok, die absolute Mehrheit der Menschen Lukaschenko nicht unterstützt. Und es ist keine gleichgültige, sondern eine aktive Haltung. Und sie bedeutet, dass diese Mehrheit auch den Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht akzeptiert. Zum Zeitpunkt der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 hatte die Repressionswalze in Belarus bereits totalen Charakter angenommen. Man konnte für alles hinter Gitter kommen: für einen roten Streifen an weißen Socken, für eine weiß-rot-weiße Fernseherverpackung auf dem Balkon, für rote und weiße Schneeflöckchen im Fenster. Die weiß-rot-weiße nationale Flagge war zum Symbol des Freiheitskampfes geworden. Mit Beginn des großangelegten Krieges gingen die Menschen in Belarus auf die Straße, um die Ukraine zu unterstützen, auch wenn sie wussten, dass sie festgenommen und gefoltert würden (mit Schlägen, Hunger, Kälte, Chlorwasser auf dem Zellenboden). 

    In der erzwungenen Emigration hatte ich Gelegenheit, mit Ukrainern zu sprechen, die den Bombardements entkommen waren. Wenn wir, die Belarussen, ihnen erzählten, was die Lukaschisten selbst mit jenen machen, die nur Administrativstrafen absitzen, stehen den Menschen, über denen Bombensplitter hinweggeflogen sind, die Haare zu Berge. Heute mit einer politischen Einstellung in Belarus zu bleiben – das ist auch ein Akt des Widerstandes. Unter den Belarussen zweifelt kaum jemand daran, dass sie Ereignisse von 2020 den Beginn der russischen Invasion in der Ukraine verzögert haben, da Putin ruhiges Hinterland brauchte. Doch auch heute, 2024, ist Belarus kein zuverlässiger Aufmarschort für potenzielle Interventionen im Baltikum oder Polen.  

    Im Krankenhaus von Białystok antworte ich auf die Frage, ob ich nicht weiter in den Westen ziehen wolle, dass Belarus doch sehr nah sei und ich dorthin müsse. Jetzt gilt es nur noch zu verstehen, wie das gehen kann. Aber das ist nicht nur eine belarussische, sondern eine kollektive Frage an alle, die verstehen, dass Russland, und mit ihm Lukaschenko, gestoppt werden müssen. 

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  • „Es spielen nicht die Besten, sondern die politisch Verlässlichsten”

    „Es spielen nicht die Besten, sondern die politisch Verlässlichsten”

    Im Gegensatz zu russischen Vereinen und der russischen Nationalmannschaft dürfen Vertreter des Fußballs aus Belarus weiterhin an europäischen Wettbewerben teilnehmen. Belarussische Vereine und der Verband wurden im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und der Verstrickung der belarussischen Staatsführung in die Großinvasion nicht sanktioniert. Während es ein Verein wie BATE Borissow in der Vergangenheit sogar in die Gruppenphase der Champions League schaffte und sich auch andere Vereine für die Gruppenphasen der europäischen Wettbewerbe qualifizieren konnte – mittlerweile befindet sich der belarussische Fußball in einer tiefen Krise. Ein entscheidender Grund dafür ist auch die enge Verstrickung des Fußballs mit dem politischen und staatswirtschaftlichen System von Alexander Lukaschenko. Die Führung über den Fußball übernehmen also keine Experten, sondern vor allem staatliche Funktionäre, die auch die politische Kontrolle sicherstellen sollen. Die organisierten Fanszenen des Landes wurden durch Repressionen und Verfolgung nahezu vollständig zerschlagen, sodass die Spiele der höchsten Klasse des Landes kaum noch Zuschauer anziehen.   

    Lukaschenko, der sich bekanntlich eher für Eishockey begeistert, zeigte sich bei einem kürzlich einberufenen Treffen mit Sportfunktionären wenig begeistert vom Zustand des Fußballs im Land. In einem Beitrag für das Online-Medium Reform.by erklärt Igor Lenkewitsch nicht nur dem Leser, sondern indirekt eben auch Lukaschenko, warum der Staatschef und sein Machtwahn das eigentliche Problem für den Fußball sind. Ein tiefer Einblick in die Machtspielchen des belarussischen Fußballs.

    Kürzlich lenkte Alexander Lukaschenko die Aufmerksamkeit wieder einmal auf „die beliebteste Sportart unserer Bevölkerung“. Die Ergebnisse seien mau, die Spielergehälter unangemessen hoch. Und noch dazu habe der neue Chef des Fußballverbands dem Sportminister irgendeine Information vorenthalten. Dabei ist es ausgerechnet das staatliche System mit seinen Entscheidungen, das den belarussischen Fußball immer tiefer und tiefer in den Abgrund reißt.  

    Keine der bisherigen Manöverkritiken Lukaschenkos hatten positive Auswirkungen auf den hiesigen Fußball. In Erinnerung geblieben ist eine Konferenz zur Entwicklung des Fußballs im Jahr 2018, an deren Beginn Lukaschenko den damaligen Vorsitzenden des Belarussischen Fußballverbandes Sergej Rumas sowie die anderen anwesenden Funktionäre und Trainer fragte: „Schämt ihr euch nicht für den Zustand des Fußballsports in unserem Land?“ Aus den Fotos dieser Veranstaltung kann man schließen, dass sie sich schämten. Sie sitzen mit gesenkten Köpfen da. 

    Im belarussischen Fußball stecken zu viel Staat und äußerst wenig Eigenständigkeit 

    Bei dieser Konferenz wurde beschlossen, eine einheitliche Trainingsmethodik für den Fußballnachwuchs einzuführen. Damit sollte, so die Idee, der Fußball aus seinem Tief geholt werden. Zudem erklärte Lukaschenko damals, der Belarussische Fußballverband müsse reorganisiert werden. „Es müssen kompetente Leute gefunden und ein guter Verband geschaffen werden, der die Trainer unterstützt, kontrolliert und steuert“, sagte er. Ein Jahr später legte Rumas sein Amt nieder. Als Nachfolger kam der ehemalige Militärkommissar der Oblast Brest, der Parlamentsabgeordnete Wladimir Basanow. Die im Land etablierte Tradition, ehemalige Sicherheitskräfte und Militärs an der Spitze von Sportverbänden zu installieren, ist schon zum Gegenstand allgemeinen Spotts geworden. Die jahrelange Praxis zeigt, dass es keinen Effekt hat, auf militärische Ordnung und harte Disziplin zu setzen, um eine bestimmte Sportart voranzubringen. Im Sport genügt es nicht, „Im Laufschritt Marsch“ zu rufen und das Wort „schnell“ zu ergänzen. Da müssen Profis ran. Das heißt auch, dass sie sich an der Arbeit beteiligen, auf Positionen unter dem jeweiligen Militärkommissar. Ab da greift die Theorie der negativen Auslese – diejenigen, die dem Militärkommissar widersprechen, leben sich im System nicht ein. An der Oberfläche schwimmen die, die noch das dümmste Unterfangen unterstützen. Wir ergänzen noch das dünne politische Eis, auf dem sich die vaterländischen Sportler und Funktionäre bewegen und erhalten die zwei Schlüsselprobleme des belarussischen Sports: In ihm steckt zu viel Staat und äußerst wenig Eigenständigkeit.  

    Bankier – Artillerist – Tierwirt

    Der Bankier Rumas wurde gegen den Artilleristen Basanow ausgetauscht – und für den einheimischen Fußball schämte man sich immer mehr und mehr. Es gibt den Ausdruck „Fremdschämen“, bei uns müsste man dafür den Begriff „Fußballscham“ einführen. Die Ergebnisse der Nationalmannschaft und der anderen Ligen wurden immer schlechter. Zu dem Zeitpunkt, als die bereits erwähnte Konferenz stattfand, in der Spielzeit 2018/19, spielte BATE Borissow noch in der Europe League. Seitdem ist kein belarussischer Verein mehr über die Qualifikationsrunde hinausgekommen. Von der Nationalmannschaft ganz zu schweigen – die Anzahl der Spiele ohne Sieg droht als Errungenschaft ins Guinness-Buch der Rekorde einzugehen.  

    2021 machte Lukaschenko dem neuen Vorsitzenden des Belarussischen Fußballverbands (ABFF) Basanow bereits die Hölle heiß. Und wieder ging es um Scham. „Ich verstehe nicht, warum du die Spieler gestern aufs Feld gelassen hast. […] Es war beschämend, zuzuschauen“, maßregelte er den Verbandschef. „Es ist erbärmlich, was der Fußball heute bietet, das geht gar nicht.“ Auch der Sportminister, Sergej Kowaltschuk, bekam da sein Fett weg. Und was brachte es? Nichts. Sie plauderten und gingen ihrer Wege. Umgehende organisatorische Konsequenzen folgten nicht. Bassanow blieb nur eine Amtszeit in seiner Funktion als Verbandschef. 2023 wurde schon der dritte Fachmann Vorsitzender des ABFF: Nikolaj Scherstnjow, ehemaliger Vorsitzender der Witebsker Gebietsverwaltung, Absolvent der tierwirtschaftlichen Fakultät der Witebsker Staatlichen Akademie für Veterinärmedizin.  

    Als Kommentar zu diesem Ringelspiel an der Spitze des Belarussischen Fußballverbands stellte ein Bekannter von mir eine interessante Hypothese auf. Zuerst wurde beschlossen, dass es dem Fußball an finanziellen Mitteln mangele, und man ernannte einen Bankier. Dann, dass man lernen müsse, zielgenau zu treffen. Da wurde ein Artillerist engagiert. Und dann begriffen sie, dass Selektion notwendig sei. Also holten sie einen zuchterfahrenen Tierwirt. Lustig? Nun ja. Obwohl es in dem beschriebenen Konstrukt, anders als in der Realität, wenigstens eine gewisse Logik gibt. Von Selektion hatte man ja schon 2018 gesprochen. Sogar ein entsprechendes Programm war ausgearbeitet, bestätigt und eingeführt worden. Und nun, sechs Jahre später, fordert Lukaschenko wieder ein, dass innerhalb von sechs Monaten Ordnung ins System des Fußballtrainings gebracht werden müsse.  

    Negative Selektion 

    Nach den Ereignissen von 2020 riefen viele belarussische Fußballer dazu auf, die Gewalt im Land zu stoppen. Wohlbemerkt – sie forderten keinen Machtwechsel oder eine Überprüfung der vom Regime verkündeten Wahlergebnisse. Sie hofften einfach nur, das Land könne in einen gewissen Gesetzesrahmen zurückkehren. Und schon das genügte, um auf „schwarze Listen“ zu gelangen. Die Spieler blieben faktisch arbeitslos zurück – ihnen wurde verboten, für die Klubs zu spielen, bei denen sie unter Vertrag standen.  

    Die Geschichte zieht sich nun schon längere Zeit hin. Ein gefragter Spieler hat das Land verlassen, um bei ausländischen Meisterschaften für eine zweit- oder drittklassige Mannschaft anzutreten. Ein anderer kehrte dem großen Sport gezwungenermaßen den Rücken. Ein dritter zeigte offen Reue, um sich von der Schuld freizukaufen.  

    Dem Vernehmen nach rührt aus dieser Gemengelage auch der Konflikt des neuen Verbandschefs Scherstnjow mit dem Sportministerium und dessen Oberhaupt Kowaltschuk, den Lukaschenko in seiner Ansprache erwähnte. Scherstnjow kann man zum Vertreter einer Politik des „eine neue Seite aufschlagen” zählen – er tritt dafür ein, dass alle Spieler, gegenüber denen politische Zweifel bestanden, ohne zusätzliche Auflagen eine Amnestie erhalten. Kowaltschuk wiederum forderte „aktive Buße“, beispielsweise sollen die Spieler eine Begnadigungskommission durchlaufen. Bislang steht es 1:0 für das Sportministerium: Die Rückkehrkommission der Republik Belarus entschied im Januar, sieben Fußballspieler wieder spielen zu lassen. Allerdings stehen auf der „schwarzen Liste“ bedeutend mehr Namen. Es ist anzunehmen, dass die unterschiedlichen Auffassungen dazu die Ursache des Konflikts zwischen Verbandschef und Sportminister sind.  

    Verlierer dieses verdeckten Machtgerangels ist der Fußball 

    Wobei es auch in der Vergangenheit Konflikte zwischen Ministerium und Verband gab: Es war ein Kampf um Einflusssphären. Tatsache ist, dass der Fußballverband einen Großteil der finanziellen Mittel für seine Tätigkeit und Projekte von der FIFA und dem Europäischen Fußballverband (UEFA) erhält. Dadurch ist der Verband weniger abhängig vom Staat und vom Sportministerium als andere unserer nationalen Sportverbände. Das ärgerte die Chefetage des Ministeriums. Zu Zeiten des einflussreichen Verbandschefs Sergej Rumas wurde dem Ministerium oft mit klaren Worten eine Abfuhr erteilt. Mit Basanow änderte sich die Situation deutlich, der Belarussische Fußballverband hob nun bei jeglichen Anordnungen des Ministers oder seiner Vertreter die Hand zum Mützenrand. Es ist anzunehmen, dass das Sportministerium jetzt, indem es mit Scherstnjow bricht, die Bewahrung eines für sich selbst günstigen Beziehungsmodells einfordert. Der Verbandsvorsitzende wiederum bemüht sich, nach Möglichkeit der Hyperaufsicht des lästigen Ministeriums zu entkommen. Zumal Scherstnjow größeres Gewicht hat als sein Vorgänger Basanow.  

    Es spielen nicht die Besten, sondern die politisch Verlässlichen 

    Verlierer dieses verdeckten Machtgerangels ist der Fußball. Die Spieler, darunter auch starke, gemessen an unserer Nationalliga, sitzen auf der Ersatzbank. Oder sie verlassen das Land. Letztlich sinkt dadurch das Niveau der Landesmeisterschaft. Und darin besteht die negative Selektion – es spielen nicht die Besten, sondern die politisch Verlässlichen. Die Fans ignorieren demonstrativ die Spiele und zeigen damit ihre Einstellung zu alldem. Das Regime sollte sich also zunächst selbst an die These der Trennung von Sport und Politik erinnern, bevor es sie auf internationaler Ebene einfordert. 

    Als weiteres Problem kommt die Begrenzung der Trainer- und Spielergehälter hinzu, die der Staat ab der Saison 2021 eingeführt hat und bis heute unablässig weiter herabsetzt. Das zieht starke Legionäre aus der Landesliga ab, die oft noch weitere Landsleute mitnehmen. Zudem sind die Möglichkeiten der Klubs zur Sponsorensuche durch die allgemeine wirtschaftliche Situation des Landes eingeschränkt. So verlor Naftan Nowopolozk beispielsweise vor Kurzem das Unternehmen als Sponsor, dessen Namen der Fußballklub trägt. Auch die Beschränkung des Einsatzes von Nachwuchsspielern auf dem Platz ist nicht förderlich, da es dazu zwingt, die Spieler abhängig vom Geburtstag und nicht von Fähigkeiten und Trainingsstand einzusetzen. Und das ist nur die Spitze des Eisberges. Die vom Staat ergriffenen Maßnahmen, die die Entwicklung des einheimischen Fußballs fördern sollten, gereichen ihm also in Wirklichkeit zum Nachteil.  

    Die Regierung soll den Fußball besser aus ihrem Interessenfeld streichen 

    Dennoch suggeriert man weiterhin lebhafte Geschäftigkeit. Heute wurde zum wiederholten Mal entschieden, die „Technologie zur Ausbildung des Fußballspielers“ zu ändern. Zum wievielten Mal? Auch der aktuelle Anlauf im Fußball wird also offensichtlich ohne Erfolg bleiben. Häkchen gemacht, geredet, weitergezogen. Mit weiteren Rücktritten, Umbesetzungen und Programmen ist der Sache auch nicht zu helfen. Denn die Praxis zeigt: Je mehr sich der Staat in eine Handlungssphäre einmischt, desto schlimmer wird die Situation in dem Bereich.  

    Die Regierung soll den Fußball besser endlich vergessen, aus ihrem Interessenfeld streichen, so als würde er überhaupt nicht existieren. Kein Geld geben, aber auch keine Ratschläge. Dann lernt die Fußballwelt entweder, selbständig zu schwimmen, oder sie geht unter. Wohin der Weg eben führt. Ein solch radikaler Ansatz wäre übrigens der Entwicklung des gesamten belarussischen Sports zuträglich, nicht nur im Fußball.

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    Um einem Strafverfahren zu entgehen, verließ die Aktivistin Kira Bojarenko ihre Heimat Belarus. Weil sie von jetzt auf gleich abreisen musste, musste sie ihre Ausweisdokumente zurücklassen. Den 24. Februar 2022, den Beginn der russischen Invasion in die Ukraine, erlebte sie in Kyjiw. Sie flüchtete aus der Ukraine und kehrte nach einiger Zeit dorthin zurück, wurde bei einem Raketenangriff verletzt und wird zurzeit in Polen behandelt.

    Im Interview mit dem belarussischen Ableger des Online-Mediums Mediazona erzählt die Belarussin davon, wie es ist, wenn das Schicksal alle Lebenspläne durchwirbelt, wenn man einfach durchkommen muss, dabei aber seine Ideale nicht aus dem Blick lässt.

    Vor zwei Jahren erwachten die Bewohner eines Kyjiwer Hauses von Explosionsgeräuschen. In dem Haus lebten vor allem Belarussen, die vor den Repressionen geflüchtet waren. Niemand hatte ernsthaft daran geglaubt, dass ein Krieg beginnen würde. Einige Hausbewohner besaßen aus verschiedenen Gründen nicht einmal Papiere, darunter auch die damals 31-jährige Kira Bojarenko. Ihr Pass war bei den belarussischen Sicherheitsbehörden geblieben, als sie das Land überstürzt verlassen hatte, da sie wegen Störung der öffentlichen Ordnung angeklagt worden war. 

    Viele der Hausbewohner beschlossen, die Ukraine zu verlassen. Alle zusammen hatten nur ein Auto, daher sollten zuerst die Kinder und die Erwachsenen ohne Papiere an die polnische Grenze gebracht werden. Noch am selben Tag erreichten sie den Grenzübergang in Hruschiw, mussten dort aufgrund der langen Warteschlange aber bis zum 27. Februar warten. 

    „Es war hart: kleine Kinder im Auto, kaum Sachen dabei, wir hatten nur ein paar Flaschen Wasser eingepackt, und die waren alle. Alle wollten essen und trinken, aber an der Grenze gab es keine Geschäfte, keine Häuser. Die Tankstellen waren schon leergekauft“, berichtet Kira.

    An der Schlange durften nur jene vorbei, die Kinder unter drei Jahren dabeihatten. Eine Frau bat eindringlich darum, vorgelassen zu werden, obwohl ihr Kind älter war, erinnert sich Kira. Die Ukrainerin sagte, dass sie das Kind zur Grenze bringen und dann zurückkommen würde. Letztlich wurde die Frau vorgelassen und kehrte einige Zeit später in Begleitung mehrerer Autos mit Wasser und Nahrung zurück, die sie an die wartenden Menschen verteilte. Die Belarussin erinnert sich, dass ein ukrainischer Grenzer am Kontrollpunkt sagte: „Was wollt ihr eigentlich, ihr Belarussen. Wir haben euch reingelassen, und ihr schießt auf uns.“ 

    „Ich sagte ihm damals: Hier gibt es keine Belarussen, die nicht unter diesem Regime gelitten hätten und die der Ukraine nicht dankbar sind. Was sollen wir denn tun – an die Grenze zurückkehren und die Raketen mit bloßen Händen abfangen?“

    „In Polen ist die Integration schwerer.“ – Rückkehr in die Ukraine

    In Polen erhielten die belarussischen Geflüchteten Hilfe von Freiwilligen – Wasser, Essen und eine Unterkunft in einem Schulgebäude, das als Aufnahmeeinrichtung diente, später dann in einem Dorf bei Warschau. „Unsere größte und einzige Bitte war damals, nicht getrennt zu werden. Wir wollten als Hausgruppe zusammenbleiben, erst einmal zu uns kommen.“

    In Polen erhielt Kira internationalen Schutzstatus. Während ihre Anerkennung geklärt wurde, arbeitete sie in einem Call Center der Organisation Helping to leave, die Ukrainern dabei half, die besetzten Gebiete zu verlassen. Die Belarussin sprach mit Menschen, die Hilfe brauchten, und half bei der Zusammenstellung von Evakuierungsrouten. 

    Im vergangenen Jahr empfahl ihr eine Freundin, die selbst ein Auto für die ukrainischen Streitkräfte überführte und humanitäre Hilfsgüter in die Ukraine brachte, bei einem Transport mitzufahren. Kira fuhr mit Papieren der Organisation, für die sie arbeitete, in die Ukraine und beschloss schließlich, in Kyjiw zu bleiben. In Polen sei es schwierig gewesen, sich zu integrieren, erzählt sie, die Ukraine sei ihr näher, zudem waren da noch Freunde.

    Freiwilligendienst in Cherson: „Unterwegs musste ich mich um Alte kümmern, sie füttern, Windeln wechseln, weil sie oft bettlägerig waren“

    In Kyjiw beschloss Kira, dass sie mehr tun könne als nur Telefondienst. Die Organisation schlug ihr vor, nach Cherson zu fahren und bewegungseingeschränkten Menschen bei der Evakuierung aus der Stadt zu helfen. Kira willigte ein. 

    Die Arbeit bestand darin, Alte und Menschen mit Behinderung bei der Evakuierung aus gefährlichen Stadtteilen von Cherson zu begleiten. Kira zufolge waren das manchmal Leute, die ihr Haus verloren hatten, Menschen, die aus Kellern geholt wurden. Die Freiwilligen (Kira nennt sie „Blutsbrüder“) sammelten die Leute in jenen Stadtteilen ein, die am häufigsten beschossen wurden, und brachten sie zum Bahnhof. Kira fuhr dann gemeinsam mit ihnen mit dem Zug und übergab sie am Zielpunkt anderen Freiwilligen, die sie dann in Gruppenunterkünften unterbrachten. „Unterwegs musste ich mich um sie kümmern, sie füttern, Windeln wechseln, weil sie ganz oft bettlägerig waren.“

    Auf jeder Fahrt begleitete die Freiwillige drei bis sieben Personen. Jede von ihnen hatte ihre eigene Geschichte, einige davon sind Kira besonders im Gedächtnis geblieben. Die erste Geschichte ist die von einem Großmütterchen, das 104 Jahre alt war. „Sie hatte schon einen Krieg überlebt, und jetzt erlebte sie wieder Beschuss und hatte ihr Zuhause verloren.“

    Die zweite Geschichte ist die von einer Frau mit einem schweren Beckenbruch, die zuerst mit der Evakuierung einverstanden war, dann aber die ganze Reise über nach Cherson zurückwollte, weil dort kürzlich ihr Ehemann gestorben war. „Sie war sogar böse auf mich, als ich sagte, dass ihr Mann tot sei und sie nun weiterleben müsse, dass man sie an einen guten Ort brächte. Wir waren ja keine ausgebildeten Psychologen.“

    „Im Bein steckten Splitter.“ – Die Verletzung

    Im Juni 2023 erlitt Kira in Cherson eine Verletzung. Sie war gerade auf dem Heimweg von der Migrationsstelle, als sie unter Beschuss geriet. Sie wartete an einer Haltestelle auf den Bus, als ein Geschoss in ein nahegelegenes Haus einschlug. Im ersten Moment war der Schock so stark, dass sie nichts begriff oder spürte. Ein Ukrainer, der gerade mit dem Auto vorbeikam, bot Kira Hilfe an, brachte sie nach Hause, da bald der nächste Angriff beginnen konnte. Und so war es auch: Kira kam in ihre Wohnung, ging auf den Balkon, um zu rauchen und sich nach dem Erlebten zu beruhigen, als die Stadt erneut von Raketen angegriffen wurde.

    „Ich nahm ein Kopfkissen und eine Decke und ging zum Ausruhen ins Badezimmer, da das der sicherste Ort ist. Dort begriff ich schließlich, dass etwas nicht stimmte. Es stellte sich heraus, dass in meinem Bein ein Splitter steckte.“ 

    Kira erzählt, dass sie selbst ein Tourniquet anlegte, das sie damals immer bei sich trug, und den Fremdkörper aus der Wunde entfernte. Sie wählte den Rettungsdienst, kam aber nicht durch, da das Netz beeinträchtigt war. Am nächsten Morgen rief sie dann andere Freiwillige an, die sie ins Krankenhaus Tropinki brachten. „Der Arzt sagte, ich hätte alles richtig gemacht, ich solle die Wunde reinigen, frisch verbinden und in einer Woche wieder zu ihm kommen.“
    Aber nach zwei Tagen hatte Kira stark erhöhte Temperatur und ihr Bein war aufs Doppelte angeschwollen. Sie musste schnell ins Krankenhaus. 

    „Da ich nicht alle Splitter erwischt hatte, war eine Entzündung entstanden, die Wunde war infiziert. Ich musste im Krankenhaus bleiben.“ Einige Tage später hatten Kiras Freiwilligenfreunde erreicht, dass sie nach Kyjiw verlegt werden konnte, um nicht unter dauerhaftem Beschuss im Chersoner Krankenhaus bleiben zu müssen. Nach Kyjiw reiste die Belarussin allein. Sie kam in das Krankenhaus, in dem sie im Endeffekt mehrere Monate blieb, die Ärzte entfernten eitriges Gewebe, reinigten die Wunde, gaben ihr Medikamente gegen Schmerzen und gegen die Schwellung. Kira zufolge hätte sie eine Hauttransplantation benötigt, aber in Kyjiw gab es Probleme mit einer solchen Operation. Kira beschloss, nach Polen zurückzukehren. In einem Krankenhaus in Białystok bekam sie schließlich eine Hauttransplantation. 

    Im Moment lebt die Belarussin in Polen und macht ihre Reha. Wenn die Wunde geheilt und ihr psychischer Zustand stabilisiert sind, plant sie, in die Ukraine zurückzukehren. „Ich habe Sehnsucht nach der Ukraine, dort sind meine Freunde, und das Land ist mir sehr vertraut. Aber noch ist da eine Art unterschwellige Angst. Selbst als hier in Polen zu Silvester überall die Feuerwerke krachten, habe ich mich unwohl gefühlt.“

    Das Leben in Cherson war nicht leicht: Die Geschäfte schlossen bereits um 15 Uhr, nur die ukrainische Kette ATB hatte bis 19 Uhr geöffnet. Ab 21 Uhr herrschte in der Stadt Ausgangssperre, niemand durfte mehr auf die Straße. Und ständig Beschuss. Im Februar 2021 war Kira in Minsk festgenommen worden, sie verbrachte ein halbes Jahr in Untersuchungshaft. Dann wurden ihre Haftbedingungen geändert, sie kam aus der Untersuchungshaft frei und nutzte diese Chance, um Belarus zu verlassen, ungeachtet dessen, dass ihr Pass bei den Sicherheitsbehörden verblieben war. „Ich verglich Cherson mit Minsk, mit dem Stadtteil, in dem ich aufgewachsen bin. Es war sehr ähnlich, die gleichen Häuser, nur dass bei vielen Fensterscheiben fehlten und in den oberen Etagen häufig Wohnungen durch Angriffe ausgebrannt waren.“

    Nach Minsk kann Kira nicht zurück. Deshalb möchte sie wenigstens in Cherson leben, der Stadt, die sie an ihr Zuhause erinnert, trotz Krieg.

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  • Grenzen, Sprachen und das Schweigen: Eine Kartografie unserer Zukunft

    Grenzen, Sprachen und das Schweigen: Eine Kartografie unserer Zukunft

    Hanna Yankuta, 1984 geboren in der westbelarussischen Stadt Hrodna, hat sich als Autorin, Übersetzerin und Literaturkritikerin einen Namen gemacht. Zu ihren Werken gehören Essays, zahlreiche Kinderbücher sowie Romanübersetzungen von Jane Austen oder Sally Rooney ins Belarussische. 2023 hat sie ihren Debütroman Tschas pustasellja (dt. Unkrautzeit) im Verlag Januškevič veröffentlicht, der von der Kritik vielfach gelobt wurde.

    „Um öffentlich über Belarus zu sprechen, muss man die Worte abwägen, um niemandem zu schaden“, schreibt sie in ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft. Gerade die, die heute im Exil sind, können sich zwar vermeintlich frei über die Vorgänge in Belarus äußern. Allerdings muss ihnen dabei klar sein, dass sie keine Namen derjenigen nennen, die in Belarus geblieben sind, um sie so möglicherweise nicht zu gefährden. Die neue Mauer zwischen Belarus und den Belarussen, die ins Exil geflohen sind, ist das zentrale Thema dieses Textes. Wie können die Belarussen wieder zusammenfinden, wenn diejenigen, die draußen sind, nur noch das Belarus ihrer Vergangenheit erinnern und gleichzeitig nicht mehr am täglichen Leben in Belarus teilhaben können und damit an der Zukunft des Landes und seiner Gesellschaft? 

    беларуская версія

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Mich fasziniert schon seit langer Zeit, dass Karten nicht das wiedergeben, was ich um mich herum sehe. Nicht nur die auf Papier gedruckten, die einen bestimmten Moment festhalten und genau einen Moment später schon ungenau geworden sind, sondern auch Online-Apps, die sich ständig erneuern und der unsteten Realität anpassen. Karten, die eigentlich eine Art schematische Kopie der Welt sein müssten, bleiben in Wahrheit immer hinter ihr zurück. Auf ihnen abgebildete Objekte sind längst wieder verschwunden, und neue, bereits existierende, Objekte erscheinen noch nicht auf der Karte, obwohl wir sie auf unseren Streifzügen schon finden. Da ist ein Laden – auf der Karte gibt es ihn, in Wirklichkeit ist er schon weg. Ist er pleite? Oder umgezogen? Dort ein Gutshaus aus dem 19. Jahrhundert – wurde es abgerissen? Da eine ukrainische Stadt an der Frontlinie – dem Erdboden gleichgemacht? Klickt man Marjinka auf Google Maps an, sieht man Fotos von Häusern, Kirchen und Parks. Aber bereits im März 2023 war ein Video im Internet mit endlosen schwarzen Ruinenfeldern aufgetaucht, dem heutigen Antlitz von Marjinka. Karten sind ein Fenster in die Vergangenheit. Unsere Welt ist eine Welt der Karten, auf denen verschiedene Zeiten koexistieren. 
            Mit Voraussagen über die Zukunft ist es dasselbe.


           ***
           Bald wird es drei Jahre her sein, dass ich Belarus verlassen habe, und schon anderthalb Jahre, dass ich zum letzten Mal dort war. Aktuell lebe ich in Polen. Noch 2022 ist es mir gelungen, zwei Mal die polnisch-belarussische Grenze zu passieren, um Verwandte zu treffen, Dinge zu erledigen und zu sehen, wie es meinem Land geht. Damals gelangte ich über den Grenzübergang Bobrowniki – Berastawiza nach Belarus, den man leicht auf der Karte findet. Seit dem 10. Februar 2023 ist er geschlossen. Die Grenzübergänge werden immer weniger, Reisen nach Belarus immer riskanter, Menschen werden direkt an der Grenze festgenommen, oder zu Hause, einige Tage nach der Rückkehr ins Land. Und ich weiß nicht, wie lange es noch riskant sein wird, wie viel Zeit noch vergehen wird, bis ich wieder hinfahren kann. 
            Belarus stelle ich mir jetzt so vor, wie ich es vor anderthalb Jahren gesehen habe, auch wenn sich dort seit dieser Zeit sicher viel verändert hat. Das Land hat sich verändert, meine Sicht darauf – doch mein Bild von ihm nicht. Wenn ich mir eine Rückkehr vorstelle, dann sehe ich veraltete Bilder – wie ich früher in Minsk lebte. Belarus lebt schon in der Zukunft, ich lebe in seiner Vergangenheit. Ich meine nicht, was die Nachrichten melden, sondern was wirklich passiert. Wir können nicht mehr in derselben Zeit leben, zumindest für eine gewisse Dauer gehen unsere Zukünfte getrennte Wege. Ich gehe meinen, Belarus seinen. Eine Zukunft, die wir nicht miteinander teilen können – ich darf nicht in Belarus‘ Zukunft hinein, und Belarus interessiert sich nicht für meine. 
            Wir haben nur eine sehr kleine Auswahl an Mitteln, um auf die jeweils andere Zukunft Einfluss zu nehmen. 2023 wurde beispielsweise ein Gesetz erlassen, dass belarussische Pässe nicht mehr in den Auslandsvertretungen erneuert werden können, sondern nur noch persönlich im Land. Wenn die Gültigkeit meines Reisepasses abläuft, kann ich also keinen neuen mehr erhalten. So versucht der Staat, Einfluss auf mich zu nehmen, mir etwas zu beweisen. Es verkompliziert mein Leben, aber irgendwie werde ich damit zurechtkommen. Meine Art, mit Belarus zu interagieren, sind Bücher. Wenngleich sie derzeit, wenn überhaupt, dann nur noch als geheime Schmuggelware ins Land gelangen. Es ist viel leichter, Bücher aus Belarus herauszubringen, als welche hinein. Und ich kann nicht mehr Teil ihres Lebens sein, meine Teilhabe wird gefiltert, diejenigen, die an der Macht sind, nehmen meine Bücher als schädlich wahr. 
            Auch zu diesem Zweck existieren Grenzen.


           ***
           Vielleicht sind Landkarten aber auch ein Fenster in die Zukunft?
           Belarus grenzt an fünf Länder, die längste Grenze teilen wir mit Russland, darauf folgt, etwas kürzer, die zur Ukraine. Dann kommen Litauen, Polen und – mit der kürzesten gemeinsamen Grenze – Lettland. Diese Grenzen sind sehr aufschlussreich. Belarus – das sind 1283 Kilometer Russlands, 1084 Kilometer der Ukraine, etwa 679 Kilometer Litauens, etwas mehr als 398 Kilometer Polens und fast 173 Kilometer Lettlands (gemäß Informationen des Belarussischen Grenzschutzkomitees und Wikipedia). Wir haben also 1250 Kilometer Europäische Union, etwas weniger als Russland, aber sobald sich die Ukraine der EU anschließt, wird das Übergewicht offensichtlich sein. Die Grenze hat natürlich zwei Seiten. Polen verbinden etwas mehr als 398 Kilometer mit Belarus (etwa elf Prozent der Gesamtlänge der polnischen Staatsgrenze), Russland 1283 Kilometer. Prozentual gesehen ist die belarussische Grenze mit Russland länger als die russische Grenze mit Belarus. Geografie ist gnadenlos. 
            Die Funktionen von Grenzen: sich selbst abgrenzen und sich von anderen abgrenzen. Die eigenen Konturen genau umreißen, kein Eindringen und Durchdringen zulassen – von Menschen, Ideen, Einflüssen. Das Innere zum Monolithen machen, zu einer eigenen Angelegenheit. Zu einer Art Gefängnis. Belarus ist ein Ort mit sehr deutlich umrissenen Grenzen, nicht jede Person darf dort leben, selbst die Staatsbürgerschaft bietet keine Garantie. Viele finden sich jenseits der Grenzen wieder: die Grenzen betreffen nicht nur Staaten, sie zerteilen auch unsere Gemeinschaften. Die belarussische Welt ist jetzt in Teile zerlegt, und über die Grenzen hinweg den Kontakt zu halten – mit Familie, Freunden, Kollegen – ist aktuell unsere Aufgabe.
            Die Grenze zwischen Belarus und Russland ist, mit einigen Ausnahmen, offen und wird kaum kontrolliert. Die Grenze zwischen Belarus und der Ukraine ist vermint. An der Grenze zwischen Belarus und Polen ist ein Zaun, an der Grenze zwischen Belarus und Litauen ein Zaun, an der Grenze zwischen Belarus und Lettland ein Zaun. Und doch sind wir noch nicht vollkommen isoliert, auch wenn alles in diese Richtung führt. Bis zur völligen Isolation braucht es viel mehr.

     
            ***
            Es gibt eine Zukunft, die wir mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit voraussagen können. Diese Zukunft ist jedoch sehr fern und wird von den exakten Wissenschaften prognostiziert. In 24.000 Jahren wird sich in der Zone um Tschernobyl die Anzahl des radioaktiven Elements Plutonium-239 um die Hälfte verringert haben. In 100.000 Jahren wird sich die Karte der Sternbilder am Himmel bis zur Unkenntlichkeit verändert haben. In 250 Millionen Jahren wird sich alles Festland auf der Erde zu einem Superkontinent vereint haben, den wir heute, in seiner fernen Vergangenheit, Pangaea Proxima nennen. In etwa einer Milliarde Jahre wird die Sonne heller werden, die Ozeane auf unserem Planeten verdampfen, und noch einige Milliarden Jahre später bläst sie sich zu einem Roten Riesen auf, um dann zu einem Weißen Zwerg zusammenzuschrumpfen. Und wenn die Erde bis dahin noch nicht in den höllischen Sonnenstrahlen zu Asche zerfallen ist, beginnt sie schrittweise abzukühlen und wird schließlich zu einem kalten, von Finsternis umgebenen Stück Materie, auf dem niemals wieder Leben in einer uns bekannten Form entstehen können wird. 


            ***
            Die Sprache weiß auch etwas über die Zukunft. „Nie wieder soll Krieg sein“ ist eine in Belarus wohlbekannte Phrase. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je jemand auf Russisch gesagt hätte. Eine weitere: „Wollt ihr ukrainische Verhältnisse?“ Wenn über etwas viel gesprochen wird, dann geschieht das nicht grundlos, die Sprache ebnet der Zukunft den Weg. Man muss nur aufmerksam hinhören. 


            ***
            In letzter Zeit schreiben Soziologen und Politologen immer häufiger, die Zukunft der belarussischen Proteste sei bereits angebrochen, es existiere eine neue Norm. Die Welt habe sich verändert, sei schon eine andere. Aber wenn man Google Maps öffnet und eines der Minsker Stadtviertel anklickt, kann man noch ein Foto der in Belarus verbotenen weiß-rot-weißen Flagge finden, die über einem Gebäude weht, als hätte 2020 nie geendet. Damals schien es, man könne nun für immer solche Symbole aus dem Fenster hängen, wider jegliche Repression.
            Die Zukunft zerfällt in Fragmente, wie dieser Text. Sie schreibt sich wie ein Gedicht – denn manchmal kann nur die Poesie dieser Wirklichkeit beikommen. 
            Was ist Zukunft für politische Emigranten, für Geflüchtete? Entweder Kopf voran in den Strudel des neuen Lebens springen, oder mit aller Kraft, den Umständen zum Trotz, am Alten festhalten. Viele wählen immer wieder die zweite Variante, leben in der Vergangenheit, in Erwartung einer Möglichkeit zur Rückkehr. „Die Epoche hat uns im Griff“, sagen wir. Aber sie ist es nicht, die uns im Griff hat, sondern wir sind es, die sich an ihr festklammern. Wir wollen im Jahr 2020 bleiben, Realität und Zeitrechnung zum Trotz. Denn das, was wir um uns herum sehen, entspricht nicht dem, wie wir in unserem Inneren leben. Und dafür gibt es eine Erklärung – die Trägheit der Psyche, die nur schlecht mit Veränderung zurechtkommt. 
            Um nach Belarus zurückkehren zu können, dürfte ich diesen Text nicht schreiben. Immer wenn ich öffentlich etwas sage, bezahle ich dafür mit meinem Recht auf Heimkehr. Letztlich ist das aktuell kein allzu hoher Preis, die Einsätze steigen täglich. Ich muss jeden Tag die Entscheidung treffen: Lebe ich, als gäbe es Belarus nicht, und füge mich in den Alltag des neuen Landes ein, oder aber entsage ich einem normalen, privaten Leben. Und bislang entsage ich noch, denn ich will dieses normale, private Leben nicht, das die Realität mir anbietet. Und wenigstens bislang hat es mir seine spezifischen Verpflichtungen noch nicht auferlegt. 


            ***
            Selbst am Rande einer Diktatur (und so könnte ich das Leben politischer Emigranten beschreiben) erfordert das Leben Disziplin, selbst bei Kleinigkeiten. Ich treffe ständig auf sie. Ich kaufe Weihnachtspostkarten, um sie nach Belarus zu schicken, auf vielen sind weiße und rote Details, wie die weiß-rot-weiße Flagge. Ich schaue mir die Postkarten mit der Lupe an und überlege: ist das erlaubt oder nicht? Wenn ich jemandem in Belarus eine Nachricht schreibe, überlege ich mir jedes Wort, besonders, wenn es entferntere Bekannte sind, mit denen ich nicht regelmäßig in Kontakt bin. Ist es sicher oder nicht? Ich weiß nicht, wer in diesem Moment ihr Mobiltelefon in den Händen hält. „Kann ich dir gerade schreiben?“ In der Korrespondenz erinnere ich immer wieder daran: nach dem Lesen löschen. In den Sozialen Medien schreibe ich immer dazu: Wenn ihr in Belarus seid, liked das nicht. Bevor ich darüber nachdenke, was erlaubt ist, denke ich darüber nach, was verboten ist. Ich bin ein Mensch der Diktatur und auch meine Ängste (sowohl die eigenen, als auch die von den Vorfahren geerbten) sind in der Diktatur geboren. 


            ***
            Wenn ich jetzt Google Maps öffne, sehe ich alle Namen auf Polnisch, entsprechend meinem Standort. Es ist durchaus bedeutsam, in welcher Sprache die Ortsnamen auf einer Karte stehen. Sonst hätten die Russen in den besetzten ukrainischen Gebieten die Wegweiser und Ortsschilder nicht ausgetauscht – von ukrainischen in russische. In der Minsker Metro würden die Beschriftungen in belarussischer Lacinka nicht mit den russischen, kyrillischen Bezeichnungen überschrieben. Sogar das Alphabet hat eine Bedeutung. 


            ***
            Wir leben in einer Situation, in der wir aktiv kolonisiert werden. Unser Nachbarstaat Russland (1283 Kilometer Zukunft mit Russland) gibt Unmengen an Ressourcen dafür aus, dass wir unter seinem Einfluss bleiben. Diesem Prozess können wir uns nicht entziehen, denn unsere Ressourcen – egal welcher belarussischen Community oder gar des gesamten Staates Belarus – reichen dafür nicht aus. Die Möglichkeiten Russlands, des Russischen Imperiums, waren immer unvergleichlich größer als unsere. Und wenn jemand will, dass es dich – so, wie du dich selbst siehst – nicht geben soll, und viel Kraft und Ressourcen in dieses Ziel investiert, dann ist Widerstand sehr schwer.
            Russifizierung ist nicht nur Sprache und Kultur, es ist auch die Art zu Denken. In einer solchen Situation wächst die Sprache stets über sich hinaus. Es ist nicht nur die Sprache Belarussisch oder Russisch. Es ist auch die Sprache der Liebe, zum Eigenen und zum Fremden, oder die des Hasses, auch auf das Eigene und das Fremde. Am 13. Februar 2023 sprach der belarussische Menschenrechtler und Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki bei seinem Gerichtsprozess über nationale Aussöhnung – auch dazu ist Sprache fähig. Er wurde zu zehn Jahren Straflager verurteilt. Aber die Sprache kartografiert auch die Unmöglichkeit dieser Versöhnung, den Unwillen, wie die „andere Seite“ zu sein, das Verlangen, alles von sich abzuwaschen, was irgendwie mit dem anderen verbinden könnte. Da sind sie, da sind wir (Wos jany, a wos my) – so heißt ein Gedicht von Alhierd Bacharevič aus dem Jahr 2020. Dieses Gedicht ist auch heute noch aktuell. 
            Sprache legitimiert und spaltet, und diese Spaltung ist schwer zu überwinden.
            Wenn die Realität zerbricht, in tausend Scherben zersplittert, wie soll man diese dann benennen? Worte werden gleichzeitig bedeutungsvoll und bedeutungslos, Wörterbücher neu zusammengestellt. Ein Gefängniswörterbuch, ein Kriegswörterbuch. Manchmal denke ich, wenn man alles korrekt beschreibt, allem eine sinnhafte Bezeichnung gibt, hat unsere Sicht eine Chance, an Klarheit zu gewinnen. Vielleicht würden wir dann auch sehen, in welcher Welt wir leben und wo die Wege sind, die irgendwohin führen. Aber es ist unmöglich, alles zu beschreiben, immer wieder bleibt etwas nicht greifbar, bleibt blind voranzugehen eine unserer heutigen Herausforderungen. Wir wissen nicht einmal, welche Sprache(n) wir und unsere Kinder in zehn Jahren sprechen werden. Vielleicht werden viele schon die Sprachen der Länder sprechen, in die wir heute flüchten: polnisch, litauisch, deutsch und andere. Doch uns steht bevor, über uns zu sprechen, unter anderem, um uns und unsere Zukunft auf Worten aufzubauen.
            Wenn ich versuche, meine Welt zu beschreiben, dann feilsche ich scheinbar mit der Sprache, bitte sie darum, mir ein wenig mehr zu erlauben, als ich vermag.


            ***
            Es ist bereits unmöglich zu erinnern, was 2020 wirklich geschehen ist. Die Erinnerung verzerrt diese Zeit, wie auch Karten die Realität verfremden, und später wird uns nur noch übrigbleiben, dokumentarische Zeugenaussagen zu sammeln und den eigenen Erinnerungen die fremden gegenüberzustellen. Später – wann wird das sein? Die Zukunft der Proteste – wann werden wir uns erlauben, uns an sie zu erinnern? Wann wird man das ohne Leerzeichen tun können, ohne Namen auszulassen und ohne Fotos unkenntlich zu machen? Die Leerzeichen verfestigen sich im Gedächtnis, bleiben als weiße Flecken darin zurück, unbezwingbar. Im besten Fall kann man vielleicht die Karte dieser weißen Flecken etwas verändern. Das ist das Ergebnis zahlreicher Faktoren, darunter Propaganda und Lügen. Sie wachsen in unser Leben, als würden wir uns nicht widersetzen und uns nicht von ihnen abgrenzen. Und wir müssen auch das berücksichtigen: Wir verändern uns unter ihrem Einfluss, oft unbemerkt für uns selbst. Eine Korrektur daran sollte man überall vornehmen – in der Emigration, innerer wie äußerer, in Belarus und jenseits der Landesgrenzen. Denn für Lügen, wie auch für Gewalt, ist jeder Raum zu eng, sie streben nach draußen, wollen immer neue Territorien erobern. Sie sind fähig, sogar aus Entfernung Einfluss auszuüben. Doch dasselbe kann man auch über die Freiheit sagen, so, wie wir sie sehen. Und in diesem Sinne erleiden Grenzen – und die, die sie bauen, auf beiden Seiten – eine Niederlage. 


            ***
            Ich kann nichts über Belarus erzählen, nur über die Belarussen, die im Ausland leben. Über mich selbst. Denn über Belarus weiß ich nichts mehr, und wenn ich etwas weiß, muss ich die Zunge im Zaum halten. Um öffentlich über Belarus zu sprechen, muss man die Worte abwägen, um niemandem zu schaden. Oft überprüfe ich, bevor ich etwas ausspreche, und sei es nur ein unschuldiger Fakt, ob jemand diese Information schon einmal öffentlich geteilt hat. Bestenfalls in einem Bericht von Menschenrechtsorganisationen, denn ihnen traue ich: Wenn sie etwas veröffentlichen, heißt das, dass man darüber sprechen kann. Bei öffentlichen Auftritten wähle ich meine Formulierungen sorgfältig, aus Angst, etwas preiszugeben, unnötig Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken – Namen, Bücher, Ereignisse, oder irgendwelche Tricks und Kniffe, die im Land helfen. 
            Ich kann nur mit Pausen sprechen, wäge jeden Satz ab. Manchmal ist das Wichtigste die Pause selbst.
            Jedes ENTER in diesem Text ist eine Pause, drei Sternchen sind eine lange Pause.
            Ich muss langsam sprechen.
            Das Schweigen betrifft nicht nur jene, die in Belarus geblieben sind, es überschreitet auch die Grenzen und wird zum charakteristischen Zug der Zeit der Diktatur.
            Das Schweigen hat viele Gesichter.
            Es gibt das Schweigen von den einstigen Opfern der sowjetischen Repressionen und das Schweigen von den anderen Völkern, die auf unserem Gebiet lebten. Geschlossene Archive. Verborgene Statistiken. Durchgestrichene Erinnerungen an die ersten Tage nach den Wahlen 2020, als tausende Menschen Folter und Qualen durchlebten. Die Vernichtung der unabhängigen Medien und ihre Abstempelung als „extremistisch“ (einem unabhängigen Medium ein Interview zu geben, einfach nur etwas zu sagen – ist schon ein Verbrechen). Augenzeugen werden weggesperrt. Incommunicado – das gewaltsame Blockieren jeglicher Kontakte der politischen Gefangenen mit der Außenwelt und das Fernhalten jeglicher Nachrichten und Informationen.
            Wir wissen nichts: Nicht, wie viele Menschen an Covid gestorben sind, nicht, wie viele das Land verlassen haben, nicht, wie viele im Gefängnis sitzen. Wir haben keine genauen Zahlen, wir haben nur Dunkelziffern, die anhand von geschätzten Angaben gemessen werden, mathematisch oder intuitiv.
            Jemand in Belarus schweigt aus Sprachlosigkeit. Weil es ihm an Worten fehlt, das zu beschreiben, was vor sich geht, weil es nicht in Worte zu fassen ist.
            Jemand erlegt sich ein Tabu auf, über Gefängnisse und Repressionen zu sprechen, weil das eine direkte Erfahrung unendlichen Leids ist, über die zu theoretisieren wie Blasphemie erscheint.
            Jemand entscheidet sich zu schweigen, nachdem Russland die Ukraine überfallen hat, um so den ukrainischen Stimmen mehr Raum zu geben.
            Schweigen ist aktives Handeln.


            ***
            Das Schweigen hat Zukunft.
            In dieser Zukunft kommen alle belarussischen politischen Häftlinge aus den Gefängnissen frei und erzählen, was man mit ihnen all diese Zeit über gemacht hat. Es gibt offene Gesprächsrunden über die Gewalt während und nach den Wahlen im Jahr 2020. Die Archive werden geöffnet, man kann sich ein vollständiges Bild von den Repressionen der Sowjetzeit machen, ebenso von allen anderen Zeiten, die bei uns Spuren hinterlassen haben. 
            Das Schweigen ist vielschichtig, früher oder später holt es jeden ein.
            Und wir müssen bereit sein für das Grauen, wenn wir erfahren, was das Schweigen vor uns verbirgt, wenn es endlich gebrochen wird. 


            ***
            Außerdem gibt es noch die Unsichtbarkeit, sie hat zwei Formen. Die erste besteht darin, wenn du dich versteckst, dich in ein Chamäleon verwandelst, dich unsichtbar machst, absichtlich unerreichbar für fremde Augen. Das ist eine Art Macht über die Welt, manchmal die einzige, die man sich erkämpfen kann. Die zweite Form ergibt sich daraus, dass man dich nicht sehen will, dich von den Karten und aus der Geschichte streicht. Wenn jemand sich weigert, dich zu sehen, dann gibt es dich scheinbar nicht. Auch das sind aktive Handlungen – sowohl das Unsichtbarsein, als auch das Nicht-sehen-Wollen. Das Nicht-sehen-Wollen ist der erste Schritt zur Isolation.
            Es ist sehr leicht, nicht zu sehen, was hinter der Mauer passiert. 


            ***
            Aber es ist unsere Zeit, es ist unsere Geschichte, und wir müssen sie durchleben, unsere Träume mit den Karten abgleichen. Bei uns wird es nicht wie in Warschau. Wir werden nicht wie die in Berlin. Wenn wir eine Chance kriegen und es schaffen sie zu nutzen, dann werden wir vielleicht nicht wie die im „Moskauer Umland“. Und wie wird es dann? Wie in Minsk, wie in Slonim, wie in Shabinka. Wenn nicht für mich, so doch für jemanden, der nach mir kommt. Das kann mir die Zukunft nicht wegnehmen. Denn das Wichtigste, was ich als Belarussin seit 2020 habe, ist das Vertrauen in die Menschen. Ich glaube wirklich an die Belarussen, an die drinnen wie draußen. Ich glaube, dass wir alles nur Mögliche tun, uns vorantasten auf der Suche nach unserem weiteren Weg. Wir gehen, wie wir es vermögen und wie wir es uns ausmalen, selbst wenn wir manchmal einander nicht verstehen oder unterschiedliche Routen wählen, auf unser Ziel zu. 

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    Die Angst der Macht vor der Wahl

    Die belarussischen Machthaber mögen keine Überraschungen, spätestens seitdem hunderttausende Belarussen bei den letzten Präsidentschaftswahlen ihren Unmut unter Beweis und diesen bei ihren Massenprotesten in den Straßen des Landes zur Schau stellten. Entsprechend wurde bei den Wahlen am 25. Februar 2024, bei denen neben 110 Abgeordneten des Parlaments auch etwa 12.000 Vertreter von Regionalversammlungen neu bestimmt wurden, nichts dem Zufall überlassen. Die USA sprechen von einer „Scheinwahl“. 

    Lukaschenko nutzte seinen Auftritt im Wahllokal in Minsk dazu, eine „Sensation“ bekannt zu geben: Er werde bei den Präsidentschaftswahlen 2025 kandidieren. Nichts anderes war selbstredend erwartet worden. Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja – so beschreibt es der Journalist Alexander Klaskowski – habe spöttisch reagiert: „Na, dann krön’ dich mal schön“. 

    In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk zeigt Klaskowski, welchen eigentlichen Sinn die Parlamentswahlen verfolgten und welche Folgen dies für die nahe Zukunft in Belarus hat.

    Kein Witz: Die aktuellen Wahlen zum Repräsentantenhaus und zu den Regionalparlamenten sahen schon von Vornherein wie ein Spiel mit nur einem Tor aus. Dabei trainierte der Regent seine Mannschaft für die ihm viel wichtigeren Wahlen 2025. Und die Machtvertikale strampelte sich einen ab, um zu zeigen, dass sie für das notwendige Ergebnis sorgen kann. 

    Der Wahlprozess als existenzielle Bedrohung

    Die Parlaments- und Regionalwahlen verliefen ganz im sowjetischen Geiste: kein Kampf um die Macht, sondern ein Festtag. An erster Stelle stehen das Büffet mit den Fleischtaschen und das Konzert der Laienkünstler, den Wahlzettel wirfst du nebenbei ein, als symbolische Geste: alles steht schon vorher fest. 

    Sicher, in der Sowjetunion gab es vor der Perestroika auf den Wahlzetteln immer nur einen Kandidaten, das heutige Regime in Belarus imitiert bislang noch Konkurrenz. Aber grobschlächtig und mit Ach und Krach. Alle Kandidaten sind durch und durch regierungsnah und gründlich auf Loyalität geprüft. Lukaschenko, der 1994 sensationell die Präsidentschaftswahl gegen den damaligen Premierminister Wjatscheslaw Kebitsch gewann, hat die ganze Macht des demokratischen Wahlprozesses am eigenen Leib gespürt: Aus einem Niemand kann ein Alles werden. Und so untergrub der Herrscher diese Prozedur immer mehr und kastrierte sie. Jetzt hat der Prozess fast seinen Höhepunkt erreicht. Bei dieser letzten Wahlkampagne waren die Gegner der Regierung schlicht abwesend, sowohl unter den Kandidierenden wie auch unter den Beobachtenden.

    Am 25. Februar hatte Lukaschenko mitgeteilt, die OSZE habe keine Anfrage für eine Beobachtung gestellt. Dabei hatte Minsk das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) schon im Januar offiziell in die Wüste geschickt. Und der Vorsitzende der belarussischen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, Andrej Sawinytsch, erklärte kürzlich ganz offen: Die Wahlbeobachter wurden nicht eingeladen aufgrund der Sanktionen gegen das Regime (in Beamtensprache heißt das natürlich „gegenüber der Republik Belarus“).

    Dabei hatte das Regime vor dem erstmals durchgeführten Einheitlichen Wahltag die Stimmung hochgekocht, ganz nach dem Motto „wenn morgen Krieg ist“. Den Ton gab der Anführer des Regimes selbst an, beschwor die Bedrohung durch Spionage, Terroranschläge und sogar einen Staatsstreich, was die Generäle und zivilen Amtsträger dann nachplapperten. Das klingt ganz nach 2020, als nichts nach Plan lief. Heute nimmt Lukaschenko Wahlen als existenzielle Bedrohung wahr. Er trifft zehnfach Vorkehrung, um sich abzusichern.

    Die größte Sabotageaktion der Opposition bei diesen Wahlen war der Zugriff auf öffentliche Monitore in Belarus (in Einkaufszentren, der Metro usw.) am 24. Februar, bei der ein Aufruf Swetlana Tichanowskajas gezeigt wurde, „NEIN zu gefälschten Wahlen“ zu sagen. Den Angriff hat angeblich BelPol durchgeführt. Wenigstens ein bisschen Salz in der Suppe. 

    Wozu die hochgepeitschte Wahlbeteiligung?

    Einer der Oppositionsführer in der Emigration, Pawel Latuschko, teilte unter Berufung auf Informationen aus dem Land mit, die Belarussen seien kaum zur Wahl gegangen, die Wahllokale, besonders in Minsk, seien leer geblieben. Die vom Regime vermeldeten offiziellen Zahlen sind allerdings tipptopp. Das Zentrale Wahlkomitee teilte mit, 72,98 Prozent der Wähler hätten abgestimmt. Zudem krönte ein zweifelhafter Rekord die Wahlkampagne: Offiziellen Zahlen zufolge haben 41,71 Prozent der Wähler vorfristig abgestimmt (das war an den fünf Tagen vor dem Wahltag möglich). 

    Der Anteil der Wähler, die vor dem Wahltag wählten, ist höher als bei den Wahlen 2020. Aber damals gab es wirkliche Schlangen an den Wahllokalen, einen ehrlichen Aufbruch, viele waren mit weißen Armbändchen gekommen, dem Symbol der Abstimmung für Tichanowskaja. Jetzt herrschte in großem Maße Zwang. Früher wurde die vorzeitige Wahl als Option für diejenigen beworben, die am Sonntag nicht die Möglichkeit haben, ins Wahllokal zu gehen. Heute preist die offizielle Propaganda diese Möglichkeit als Zeichen für hohes Verantwortungsbewusstsein und bürgerliche Reife. Die staatlichen Medien brachten schillernde Überschriften wie „Die Jugend steht in vorderster Reihe“. Überhaupt erinnern die vom belarussischen Regime gesteuerten Medien immer mehr an Nordkorea. 

    Wozu wurde die vorzeitige Stimmabgabe so forciert? Früher, sagen die Regimegegner, wurde die vorzeitige Abstimmung genutzt, um die Wahlergebnisse zu fälschen: Es war dadurch einfacher, nachts die Stimmzettel auszutauschen. Heute beschäftigt sich das Regime nach Ansicht seiner Opponenten gar nicht mehr mit solchen Kleinigkeiten. Es werden einfach die gewünschten Zahlen im Ergebnisprotokoll eingetragen. 

    Warum also werden die vom Staat abhängigen Bürger vorfristig in die Wahllokale gescheucht, noch vor dem Einheitlichen Wahltag, und das Ergebnis der Wahlbeteiligung künstlich aufgeblasen? Vermutlich ist es dem Regime wichtig, die Illusion zu schaffen, dass breites Interesse an den Wahlen besteht und der offizielle Kurs landesweite Zustimmung genießt. Zudem liebedienert hier die Machtvertikale vor dem großen Chef. Ist die vorfristige Wahlbeteiligung in einer Region niedrig, wird der zuständige Lokalchef sofort vor die Frage gestellt, ob er seinen Platz denn auch verdient hat, wenn er es nicht schafft, die Untergebenen und die Bevölkerung zu mobilisieren. 

    Für Lukaschenko war diese Wahlkampagne eine wichtige Durchlaufprobe vor der Präsidentschaftswahl 2025. Deshalb war es in seinem Interesse, die Beamten maximal anzuspannen und ihre Fähigkeit zu testen, einen nationalen Aufschwung zu imitieren. 

    Für das Regime ist es ein Kampf um Selbsterhalt

    Parlaments- und Regionalwahlen riefen in der Vergangenheit auch in für Belarus entspannteren Zeiten keine große Politisierung der Gesellschaft oder Massenproteste hervor. Dennoch bereitete sich das Regime auf diese Wahlen vor, wie auf einen Krieg. Wahllokale und umliegende Bereiche wurden von Videokameras ins Visier genommen. Zudem wurden überall Milizeinheiten abgestellt, die zuvor eifrig trainiert hatten, potentielle Aufwiegler festzunehmen. Auch mobile Einsatzkommandos mit Maschinengewehren standen bereit. Der Kommandant der Inlandstruppen, Nikolaj Karpenkow, drohte damit, dass bei Bedarf auch Wagner-Söldner aktiviert werden könnten. 

    Wenn du an Machtwechsel denkst, bist du ein Extremist

    Die Silowiki wiederholten in Dauerschleife, man habe seine Lehren aus 2020 gezogen und würde nichts Vergleichbares zulassen. Überhaupt betrachtet das System Lukaschenko Wahlen nicht als legales Mittel zum Machtwechsel, sondern als Kampf um den Selbsterhalt. Wenn du an Machtwechsel denkst, bist du ein Extremist, ein Verbrecher, ein Angreifer auf die Verfassungsordnung. So sieht es aus: Die herrschende Klasse setzt ihre auf Fälschung und Gewalt beruhende Herrschaft mit der Verfassungsordnung gleich. 

    Rumflennen wird der Herrscher nicht

    Bis Sommer 2025 wird noch viel Wasser den Bach hinunterfließen. Es ist ungewiss, wie sich der Krieg in der Ukraine entwickelt, wie es Wladimir Putin oder der belarussischen Wirtschaft bis dahin geht. Bei seinen Vorkehrungen für die Absicherung einer nächsten Amtszeit scheint Lukaschenko vom schlimmsten Szenario auszugehen, modelliert das Zusammentreffen negativer Umstände. Immer wieder betont er, „sie werden versuchen, die Lage ins Wanken zu bringen“. Die Feinde sollten bloß nicht darauf hoffen, dass „wir rumflennen und für Demokratie und eine flüchtige Freiheit kämpfen werden“.

    Der belarussische Herrscher ist ein eher misstrauischer Mensch, der einen Hang zu Verschwörungstheorien hat und sich von Feinden umgeben sieht – in weiten Teilen glaubt er seine eigenen Schauergeschichten. Und er versteht, dass er keinen Ausweg hat: Zu viel hat sich angehäuft, zu viele wünschen ihm alle möglichen Leiden an den Hals. Und daraus folgt, dass das Regime noch härter durchgreifen wird als bisher.

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  • „Ich bleibe, um die Zukunft von Belarus vor Ort mitzugestalten“

    „Ich bleibe, um die Zukunft von Belarus vor Ort mitzugestalten“

    Auch über drei Jahre nach den Protesten von 2020 und deren Niederschlagung durch die Staatsmacht vergeht in Belarus kaum ein Tag ohne neue Festnahmen. Wie aber ist die Stimmung im Land? Wie lebt man unter einem hochrepressiven System? Ist Opposition überhaupt noch in irgendeiner Form möglich? Artikel und Reportagen, die die Atmosphäre im Land selbst beschreiben, gibt es eigentlich nicht mehr, da die Medien ins Exil gedrängt und in vielen Fällen zu „extremistischen Organisationen“ erklärt wurden und die Menschen Angst haben, Interviews zu geben. 

    Der belarussische Ableger von Mediazona hat mit drei Belarussen gesprochen, die in Belarus geblieben sind, und die Auskunft geben – über ihre Ängste, über gesellschaftlichen Widerstand und über den Blick von außen auf das, was in Belarus passiert.
     

    Die Namen der Personen im Text wurden geändert, ihre Geschichten anonymisiert. Alle drei waren vor den Repressionen Leiter von Veranstaltungsorten oder Kulturorganisationen.

    „Ich verlasse Belarus nur, wenn Lebensgefahr droht.“
    Igor, Unternehmer im Kulturbereich:

    Ich habe mich vor einiger Zeit dafür entschieden, in Belarus zu bleiben. Weil ich im Kulturbereich arbeite, weiß ich, dass ich im Ausland für die belarussische Kultur nichts bewirken könnte. Im Exil kann man kulturelle Errungenschaften nur bewahren. Wie Ausstellungsstücke im Museum, mehr nicht. Ich verlasse Belarus nur, wenn Lebensgefahr droht.

    Derzeit ist es schwer, in Belarus Geld zu verdienen: die Preise steigen, der Lebensstandard sinkt, manche Waren sind verschwunden oder sehr teuer geworden. Aber ein vollständiger Zusammenbruch droht nicht. Und wo hat man es schon leicht und schön? 

    Die Behauptung, Belarus sei ein Konzentrationslager, ist Unsinn. Sogar das gegenwärtige Belarus ist von so einer Klassifizierung noch sehr weit entfernt. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Situation je vollkommen anders gewesen wäre. Schon immer konnten Initiativen von unten wegen unzähliger Widrigkeiten nur mit Ach und Krach umgesetzt werden. Deswegen liegt den Belarussen Einfallsreichtum aber auch im Blut. 

    Ich brauchte einige Zeit, um mich an die neuen Bedingungen zu gewöhnen, bis ich für meine Arbeit eine neue Routine fand. Wir versuchen etwas, wir kämpfen, wo wir können, wir erringen kleine Erfolge, freuen uns und machen den nächsten Schritt. Man kann eine Wiese noch so dick asphaltieren, das Gras kommt trotzdem durch. Erfreulich aber ist, dass vielen mittlerweile klargeworden ist, dass asphaltierte Wiesen nicht normal sind. 

    Sicher, es gibt heute weniger Menschen, die aktiv sind und denen nicht alles egal ist; viele haben das Land verlassen. Aber vieles ändert sich gerade, es bilden sich neue Kontakte, neue Formen der Vernetzung und der gegenseitigen Unterstützung. Und das hat zugenommen, denn es betrifft fast alle. Diese neuen kleinen Welten sind weiterentwickelte, verbesserte Versionen der alten. Deswegen stehen die Dinge bei uns gar nicht so schlecht, wie es scheint. 

    Es gibt zwei Belarus: das wirkliche und das erfundene

    Seit 2020 sind drei Jahre vergangen. Die Jugendlichen von damals haben mittlerweile die Schule abgeschlossen und studieren. Ich sehe neue Menschen, die sich für ihre belarussische Identität interessieren. Wegen der Umstände passiert das heutzutage im Untergrund, der Prozess ist von außen nicht sichtbar. Doch er findet statt, er ist nicht verschwunden, hat sogar Fahrt aufgenommen. Allerdings haben die Menschen Angst, ihre Überzeugungen und Interessen im öffentlichen Raum zu zeigen – zurecht. Deswegen entsteht der Eindruck, alles wäre erstickt, verstummt und alle wären gleichgültig geworden. Aber der Schein trügt. 

    Es sieht nicht so aus, als würde sich jemand außerhalb von Belarus groß für die realen Zustände im Land interessieren. Man könnte sogar meinen, den Belarussen im Exil gefalle die Vorstellung von einem Belarus als Konzentrationslager, wo alles Lebendige vernichtet, verbrannt und unter einer dicken Schicht Asphalt verborgen ist. Aber so brutal die Ereignisse von 2020 auch waren, finde ich trotzdem, dass sie gut waren für die Entstehung einer belarussischen Identität und für Belarus. Diese ganze Bewegung für ein neues Belarus im Exil hingegen erscheint mir ein Fischen im trüben Sumpfwasser zu sein. 

    Es gibt zwei Belarus: das wirkliche und das erfundene. Die beiden haben sehr wenig Berührungspunkte. Ich würde mir weniger Heuchelei, weniger Dramatisierung und mehr Zusammenarbeit wünschen.

    „Ich bleibe, um die Zukunft von Belarus vor Ort mitzugestalten.“
    Alexander, Person des öffentlichen Lebens:

    Die Stimmung in Belarus ist derzeit alles andere als beflügelnd: Sie ist gefährlich und depressiv. Man könnte die Situation auch mit einer Geiselhaft vergleichen. Man ist gezwungen, so zu tun, als gehorche man den Terroristen, zu versuchen, sie nicht zu verärgern und möglichst wenig aufzufallen, damit sie einen nicht erschießen. Andererseits weiß man, dass man das eigene Land ist, und dass man dort leben möchte. Deswegen beflügelt mich derzeit nur eins: Hier zu bleiben, um die Zukunft von Belarus vor Ort mitzugestalten, wenn sich ein kleines Fenster für solche Möglichkeiten öffnet. 

    Der Regierung geht es nicht darum, alle Menschen zu vernichten, sie sollen nur eingepfercht werden und brav Befehle ausführen. Menschen, die schon lange eingepfercht sind, können aufrichtig behaupten, in Belarus hätte sich nichts verändert.

    Jetzt haben es alle schwer: die Menschen im Exil, und die Menschen, die geblieben sind

    Schwieriger ist es für die Menschen, deren Vorstellung von Freiheit über Essen und Schlafen hinausgeht. Sie spüren dieses Konzentrationslager, weil sie ihre Bürgerrechte nicht wahrnehmen können. Man zwingt sie zu schweigen, und das ist für sie am schlimmsten. Denn nicht einmal im Bekanntenkreis ist es üblich, auszusprechen, was man denkt. 

    Das ist übrigens erstaunlich, denn früher war es anders. Ich bin seit 2001 Aktivist; es war immer möglich, gegenüber Bekannten, in der Partei oder im Netz, seine Meinung zu sagen, niemand sah darin was Schlechtes. Jetzt haben es alle schwer: die Menschen im Exil, und die Menschen, die geblieben sind. Einige meiner Verwandten sind im Exil, ich weiß, was das bedeutet. Es ist sehr schwer, seine Heimat zu verlassen und im Ausland anzukommen

    Was die Zukunft von Belarus betrifft, so muss ich immer an ein Sprichwort denken: Als erstes sind die gestorben, die dachten, es geht bald vorbei. Nach ihnen sind die gestorben, die dachten, es wäre für immer. Geblieben sind die, die gar nichts dachten und taten, was sie konnten.

    „Das Wichtigste in Belarus sind die Menschen.“
    Stanislaw, Kulturaktivist:

    In Belarus inspirieren mich die Menschen. Wenn du zu Hause sitzt und Nachrichten liest, erscheint alles furchtbar. Aber sobald du auf die Straße gehst, die Menschen siehst, wie positiv sie beim Einkaufen auf die belarussische Sprache reagieren, wie sie dich anlächeln – das inspiriert mich und das gibt mir Kraft. 

    Ich habe eine Zeitlang im Ausland gelebt, aber dort schnell den Mut verloren. Hier sehe ich die Stories von Menschen, die etwas machen, die sich zeigen, und möchte dabei sein. Manchmal, wenn ich an einem Feld vorbeifahre, einen Wald sehe, denke ich daran, dass ich jetzt nur ein Prozent davon verwirkliche, was ich könnte. Aber dieses eine Prozent verwirkliche ich in Belarus – das ist der wichtigste Antrieb, um hier zu bleiben.

    Vor einem Jahr war ich bei einem Konzert von Nejro Djubel. Es war großartig: ein voller Saal, Slam, eine Wahnsinnsatmosphäre. Danach lese ich in den Medien, das Konzert sei von Spezialkräften aufgelöst worden. Das stimmt überhaupt nicht. Spezialkräfte waren zwar da, aber wegen einer anderen Veranstaltung, die erst danach stattfand. Das ist natürlich auch schlimm. Aber wenn du im Ausland sitzt und liest, ein Konzert von Nejro Djubel sei aufgelöst worden, denkst du nur: wie furchtbar. Aber in Wirklichkeit war es ein super Konzert. 

    Deswegen scheint es, wenn man nur die Nachrichten liest, als wäre alles im Arsch, aber wenn man hier ist, sieht man die Möglichkeiten. Natürlich merkt man, dass das Leben stillsteht, vieles findet nicht mehr öffentlich statt. Aber das Wichtigste in Belarus sind die Menschen. Und ich meine gar nicht die Aktivisten und Aktivistinnen, das Wichtigste ist das Publikum. 

    Ich habe Mitgefühl mit jedem Menschen, der erzwungenermaßen ins Exil gegangen ist

    Ich fahre ab und zu ins Ausland und kenne viele Leute, die immer mal wegfahren und wiederkommen. Für sie ist das wie ein Häppchen Freiheit: Sie fahren weg, wenn es hart ist, erholen sich und kommen wieder. Das kann man finden, wie man will, aber es ist eine Tatsache, dass es solche Leute gibt. 

    Das politische Geschehen im Exil verfolge ich nicht und kenne auch niemanden, der sich dafür interessiert. Die Menschen, die in Belarus geblieben sind, haben ihre eigenen Sorgen, sie müssen zusehen, wie sie überleben, und vielen ist es grundsätzlich schnurz, was im Ausland los ist. 

    Ich habe Mitgefühl mit jedem Menschen, der erzwungenermaßen ins Exil gegangen ist. Auch im Laufe dieses Jahres werden Menschen Belarus verlassen, auch welche, die es jetzt noch gar nicht vorhaben. Aber in fünf Jahren sehe ich eine positive Perspektive: Ich hoffe auf Veränderungen und darauf, dass viele Belarussen und Belarussinnen zurückkehren.

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    Eine junge Frau steht in einem Treppenhaus, auf Wände und Decken fällt kühlweißes Neonlicht, andere Bereiche liegen im Schatten, wo auch diese Frau steht, die nur schwer zu erkennen ist. Dieses eindrucksvolle Foto ist das Cover des Buches, das enstanden ist aus dem Projekt Connecting einer belarussischen Fotografin, die anonym bleiben möchte. Das Foto steht metaphorisch für die Schwierigkeiten des Ankommens in einem anderen Land, an einem fremden Ort, für das Dazwischensein, in dem Migranten leben, für die Suche nach lichten Orten, die einem helfen anzukommen, sich selbst zu finden in einer neuen Umgebung. 

    Die Fotografin hat sich genau dies zur Aufgabe gemacht: Menschen, die aus vielen anderen Ländern in die polnische Stadt Wrocław gekommen sind, an den Orten zu fotografieren, zu denen sie auf der Suche nach Halt und Orientierung eine Verbindung aufgebaut haben. Es ist auch ein Prozess, den Hunderttausende Belarussen durchmachen, die nach den Ereignissen im Jahr 2020 ihre Heimat verlassen mussten. Wir haben mit der Fotografin gesprochen und zeigen eine Auswahl von Bildern aus ihrem Projekt.

    Wassilissa Swiridowa, Belarus
    „Wrocław hieß mich herzlich willkommen. Der Umzug hierher glich einer großen, fröhlichen Reise, und es fühlte sich ganz natürlich an, hier zu sein. Vielleicht, weil ich Studentin war und alle um mich herum die gleichen Erfahrungen machten. Wir haben die Stadt erkundet und uns in sie und ineinander verliebt.“ / Foto © KK

    dekoder: Wie ist Ihr Projekt entstanden?

    KK: Das Projekt Connecting entstand, als ich aus Belarus nach Polen zog. Ich hatte mich für den Studiengang für bildende Kunst MFA (Master of Fine Arts) an der Akademie für bildende Kunst und Gestaltung in Wrocław beworben und wurde zu meinem Erstaunen angenommen – zusammen mit elf weiteren großartigen Künstlerinnen und Künstlern aus der ganzen Welt. Ich hatte nicht vorgehabt, nach Polen zu ziehen, aber ich konnte mir diese Chance nicht entgehen lassen. Und mein Mann dachte damals schon, dass es für uns immer schwieriger werden würde, in Belarus zu leben und unsere Kinder dort großzuziehen.
    Als ich Ende August 2019 in Wrocław ankam, fühlte ich mich – abgesehen von der Begeisterung über das neue Studium – vollkommen fremd. Wir kannten dort keine Leute, die wir um Unterstützung hätten bitten können. Ich hatte gedacht, ich sei organisiert und verantwortungsbewusst genug, um all die bekannten Probleme rund um die Auswanderung vorherzusehen und damit umzugehen. Aber die Wirklichkeit war dann ganz anders. Ich kam da nicht raus – ich fühlte mich völlig verloren. Um diese Situation psychisch zu bewältigen, traf ich andere Leute an der Akademie und anderen Orten. Ich begann, sie zu fragen und Erfahrungen auszutauschen, die ich bei dem Versuch machte, mich in der neuen, schönen, seltsamen und bis dahin entfernten Stadt Wrocław selbst zu finden.
    Die Kamera diente als Vorwand sich zu treffen und zugleich als Tool, um meine Gedanken und Gefühle zu analysieren.

    Warum haben Sie Belarus schließlich vollends den Rücken gekehrt?

    Ich bin in Minsk geboren und habe mein ganzes Leben dort verbracht. Und ich hatte wie gesagt auch nicht vor, Belarus zu verlassen. Aber im nächsten Jahr dann, 2020, passierte die Sache mit den Präsidentschaftswahlen. In der ersten Nacht der Anti-Regierungs-Proteste hielten meine Töchter die Schüsse für Feuerwerk. Da wurde uns klar, dass es kein Zurück mehr gab. Am nächsten Tag fuhren wir nach Polen, ohne moralisch oder finanziell darauf vorbereitet zu sein.

    Wie war das Ankommen in einem fremden Land für Sie?

    Ich kam also zweimal an, und beide Male waren schwierig. Beim ersten Mal war es dieser typische Migrationsprozess. Du glaubst, du weißt, was du tust und hältst dich für halbwegs vorbereitet. Aber du hast nie darüber nachgedacht, was es eigentlich wirklich heißt, bei Null anzufangen. Ganz einfache Dinge – das Lebensmittelgeschäft, die Apotheke, die Werkstatt, das Verwaltungsbüro, die Schule – musst du dir neu zusammensuchen. Du musst alle Formalitäten auf einmal erledigen, noch dazu in einer Fremdsprache. Mein Studium war auf Englisch, deshalb konnte ich kein Polnisch und hatte auch keine Menschen zum Üben.
    Ich habe einmal gelesen, dass eine Migration so etwas wie ein kleiner freiwilliger Tod ist. Heute kann ich das absolut verstehen. Auch wenn ich damals nicht begriff, warum Leute von Entbehrungen, Sorgen, Depressionen und Psychologen reden.

    Das Fehlen jeglicher Zukunftsvorstellung führt immer wieder zu depressiven Zuständen

    Ich weiß nur noch, dass ich zu dieser Zeit wie besessen Bilder mit einer Polaroid-Kamera aufnahm. Vielleicht war das für mich der einzige Prozess, den ich mehr oder weniger unter Kontrolle hatte und bei dem ich schnell Ergebnisse erzielen konnte. Du drückst auf den Auslöser und hast das Foto. Anders als bei all den anderen Sachen, die sich lange hinzogen und deren Ausgang ungewiss war.
    Die zweite Ankunft war für mich die Rückkehr nach Polen nach den Wahlen von 2020. Diesmal war es wegen des politischen Hintergrunds und der Covid-Einschränkungen einfach nur furchtbar. Plötzlich begreifst du, dass du etwas für alle Zeiten verlassen hast oder es dir vielleicht sogar gestohlen wurde. Das Fehlen jeglicher Zukunftsvorstellung führt immer wieder zu depressiven Zuständen. Wir bekamen mit, was mit unseren Freunden, mit den Menschen in Belarus, geschah, und empfanden Hilflosigkeit, Scham und Frustration.
    Ich brauchte eine Weile, um auf all diese Ereignisse zu reagieren. 2022 begann ich mit dem Projekt My Hut is on the Edge, in dem ich die zeitgenössische Ignoranz gegenüber sozialen und politischen Themen visuell interpretiere. 

    Wie haben Sie die Menschen für Ihr Projekt ausgewählt?

    Die Menschen, die ich für das Projekt Connecting fotografiert habe, waren unterschiedlicher Herkunft. Ich begann mit Leuten aus dem Ausland, die in irgendeiner Beziehung zur Akademie standen, und ihren Bekannten. Wrocław ist eine sehr internationale Stadt. Durch das Zusammentreffen mit meinen Protagonistinnen und Protagonisten wurde die Erfahrung, sich in einer fremden Stadt selbst zu finden, zu einer gemeinsamen, und zugleich lernte ich die Stadt auf diese Weise kennen. Für mich ist auch Wrocław eine Protagonistin dieses Projekts. Es hat eine einzigartig komplexe Geschichte mit zahlreichen Migrationsbiografien, mit denen ich mich später auch in meinem Fotoprojekt Locals beschäftigt habe.

    Die Ausländerinnen und Ausländer, die ich getroffen habe, kamen aus allen Regionen der Welt – zum Beispiel Yukako Manabe aus Japan, Polina Schumkowa aus Russland, Fatima García aus Costa-Rica, Maryam Abid aus Pakistan oder Filippo Gualazzi aus Italien. Die meisten waren zum Studium nach Polen gekommen, aber manche arbeiten auch in internationalen Unternehmen.
    Eines ist interessant: Ich dachte, je weiter das eigene Land entfernt ist, desto weniger spürt man Wrocław. Aber ganz so ist es nicht. So hat etwa Nicolas Crocetti aus Italien gesagt, die großen Unternehmen wie McDonalds und Zara seien das Einzige, was seinen Heimatort und Wrocław verbinde. Ausländer und ein paar offene Menschen aus Polen machen ihm das Leben zwar leichter, aber im Großen und Ganzen fühlt er sich in dieser Stadt wie ein Fremder.

    Was sind das für Orte, zu denen Sie selbst eine Verbindung spüren?

    Ich suche noch immer nach meinem Ort. Oder genauer gesagt, mir ist klar geworden, dass mein Ort zurzeit vielleicht keine geografischen Koordinaten hat. Er ist immer bei mir, und ich nehme ihn überall hin mit. Zumindest kann ich mir so meine Beziehung zu Wrocław erklären. Natürlich bewundere ich seine Architektur und Geschichte. Aber vor kurzem habe ich festgestellt, dass mich viele nostalgische, sentimentale Gefühle überkamen, als ich durch die Plattenbauviertel lief. Der Stil ist dort eher postsowjetisch, aber er ist mir so verständlich und nahe. Vielleicht arbeite ich deshalb jetzt an meiner Serie Betonia.

    Sehr viele Belarussen mussten ihre Heimat verlassen. Kann solch ein Projekt auch Ihnen helfen, Orientierung in einem neuen Leben zu finden?

    Viele sagen, dass Fotografie eine Art Therapie ist. Sie sehen die Arbeit an Fotoprojekten als Heilungsprozess. Ich würde dem zustimmen und zugleich widersprechen. In einer Therapie arbeitet man die Probleme durch und reflektiert sie nicht nur. Bei der Arbeit an einem Fotoprojekt kann es vorkommen, dass man intensiv über den Stoff nachdenkt und zu bestimmten Schlüssen kommt. Aber vielleicht passiert das auch nicht. Wenn man ein Problem fotografisch bearbeitet, wird man es nicht unbedingt los. Deshalb überrascht es mich nicht, dass viele meiner Kolleginnen und Kollegen psychologische Hilfe in Anspruch nehmen mussten.
    Fotografie ist ein großartiger Vorwand, um eine Zeitlang vor seinen Problemen zu fliehen und bringt eine gewisse Freude und Befriedigung. Aber sie hat vielleicht nicht so großartige Heilkräfte.
    Trotzdem finde ich es wichtig, solche fotografischen Praktiken zu unterstützen – für die Künstlerinnen und Künstler, aber auch für das Publikum, damit es erfährt, dass solche Schwierigkeiten, Situationen, Probleme und Gefühle existieren.
    Die Erfahrung der Umsiedlung wird meiner Meinung nach die Belarussen auf alle Fälle verändern. Nicht nur wegen des Traumas, das wir durchleben, sondern auch wegen des neuen Umfelds, der Menschen und Erfahrungen, die uns bereichern.

    Wie reagieren die Menschen auf die Fotos in dem Projekt?

    Ich glaube, mein Projekt ist ein etwas naiver, aber aufrichtiger Versuch, mich mit mir selbst und der Stadt anzufreunden – offen zu sein für neue Erfahrungen, für Menschen und das Leben überhaupt. Ich bin in diesem Projekt eher eine Beobachterin und Fragenstellerin. Die Menschen oder Orte, die ich zeige, stehen für unterschiedliche Ansätze, sodass viele Menschen einen Bezug dazu finden können. Zudem geht es nicht nur um Migranten. Auch wenn man in seiner eigenen Stadt lebt, kann man sich darin fremd fühlen. Die Verbindung zwischen einer Person und einem Ort hat in meiner Arbeit also eine viel breitere Bedeutung. 
     

    Maria Koupidou, Griechenland
    „Wrocław war für mich wie ein Traum. Schöne Orte, schöne Menschen. Alles war einzigartig. Ich vermisse die Stadt jeden Tag. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich hier wie zu Hause fühlen würde.“ / Foto © KK

     

    Links: Nelin Bayraktar, Türkei
    „Von zu Hause weg zu sein ist beides: verlockend und traurig. Zunächst schaue ich nach etwas Neuem, Anderem, Spannendem. Bald werden Dinge, die ich interessant finde, irgendwie mit meinem eigenen Zuhause verbunden. Wie Brücken und Wasser.“ / Foto © KK
    Rechts: Belichteter Film
    Alles hat ein Anfang und ein Ende. Jeder Umzug tötet etwas in dir und lässt etwas Neues wachsen. / Foto © KK

     

    Links: Yula Lee, Italien
    „In unserem Leben gibt es viele Scheidewege. Welchen Weg du auch wählst, du könntest immer etwas verpassen, aber der Nutzen ist dennoch viel größer.“ / Foto © KK
    Rechts: Blick aus dem Renoma
    Ein Einkaufszentrum in Wrocław. In der Vergangenheit die größte und exklusivste Shopping-Mall in der Stadt. / Foto © KK

     

    Inna Wlassowa, Russland
    „Ich mag die Architektur, die Kultur. Außerdem erinnert mich die polnische Sprache an meine Muttersprache.“ / Foto © KK

     

    Links: Dilay Kocogullari, Türkei
    „Mein Herz ist zu Hause, mein Kopf ist hier. Menschen und Verabredungen sind Dinge, die mir helfen zu überleben.“ / Foto © KK
    Rechts: Gebäude „Grüner Tag“ in Wrocław / Foto © KK

     

    Wrocław / Foto © KK

     

    Links: Katarzyna Lukojko, Polen
    „Ich will diese Stadt immer verlassen und komme immer wieder hierher zurück.“ / Foto © KK
    Rechts: Nächtliche Straßen in Wrocław / Foto © KK

     

    Ein Bau-Element der berühmten Haus-Galerie bei Powstanców Śląskich, genannt Titanic. Das 16-stöckige Galeriegebäude ähnelt dem berühmten Schiff, so auch die Absicht des Designers. / Foto © KK

     

    Links: Wrocław / Foto © KK
    Rechts: Regina Vutanyi, Ungarn
    „Zuhause war für mich immer ein schwammiges Konzept. Sobald ich auf banale Dinge stoße, merke ich, dass ich eine Routine entwickelt habe und bereit bin wegzuziehen. Wrocław war für mich immer wie zu Hause. Alles, was ich Tag für Tag sah, wurde für mich zu einem gewohnten Anblick, so wie ein gewohnter Anblick für alle wurde, die hier lebten.“ / Foto © KK

     

    Links: Korridor in einem ehemaligen Industriegebäude
    In Wrocław kommt es häufig vor, dass verfallene, verlassene Gebäude neben brandneuen, frisch gestrichenen Fassaden stehen. / Foto © KK
    Rechts: Maryam Abid, Pakistan
    „Als ich nach Wrocław kam, war alles neu und anders. Ich konnte nicht viel interagieren, aber ich mochte, wie hilfsbereit die Menschen dennoch waren und dass sie sich große Mühe gaben. Das weiß ich bis heute zu schätzen.“ / Foto © KK

     

    Wrocław ist einer der sich am schnellsten entwickelnden Ballungsräume in Polen. Seine attraktive geographische Lage gewährleistet Investoren die Nähe zum deutschen und zum tschechischen Markt, eine gute Infrastruktur und Zugang zu Mitarbeitern. / Foto © KK

     

    Links: Die Odra ist der wichtigste Fluss in Wrocław.
    Die Stadt wird oft „Venedig des Nordens“ genannt. Derzeit gibt es zwischen 118 und 130 Brücken und Fußgängerbrücken. / Foto © KK
    Rechts: Yukako Manabe, Japan
    „Ich war so glücklich, als ich sah, dass es in Wrocław Zierkirschen gibt! Sie lassen mich die Frühlingsstimmung spüren …“  / Foto © KK

     

    Links: der Fluss Odra, Wrocław / Foto © KK
    Rechts: Polina Schumkowa, Russland
    „Jeder Ort, den ich besuche, hinterlässt Spuren in meiner Seele. All diese Spuren machen aus, wer ich bin.“ / Foto © KK

     

    Nicoleta Puiu, Moldau
    „Menschen sind die größten Schätze der Städte. Jede Stadt hat ein menschliches Gesicht. Wrocław hat das beeindruckendste.“ / Foto © KK

     

    Fotos: KK
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Ingo Petz
    Veröffentlicht am: 15.02.2024

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