дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Zukunft von Belarus: Jonglieren mit Zeitbomben

    Zukunft von Belarus: Jonglieren mit Zeitbomben

    Vor 30 Jahren wurde Alexander Lukaschenko bei der bis heute wohl offensten und fairsten Wahl in der Republik Belarus zum Präsidenten gewählt. Damals hatte das Land 10,2 Millionen Einwohner, heute sind es nur noch 9,2 Millionen. Wegen der scharfen politischen Verfolgung seit 2020 haben bis zu 500.000 Menschen ihre Heimat verlassen. Die Geburtenrate sinkt seit Jahren. Lew Lwowsi, Direktor der Organisation BEROC gibt düstere Prognosen: „Wenn wir die aktuelle Geburtenrate beibehalten, wird es am Ende des Jahrhunderts nur noch 3 bis 3,5 Millionen Einwohner geben.“ Die Vielzahl an Menschen, die entweder im Gefängnis sitzen oder das Land verlassen, stellt auch das System Lukaschenko vor enorme Herausforderungen. Vor allem im Hinblick auf die für 2025 angekündigten Präsidentschaftswahlen. 

    In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk zeigt der Wirtschaftsjournalist Ales Gudija, welche wirtschaftlichen und sozialen Minenfelder Lukaschenkos Zukunft bedrohen.

    Der Wirtschaftsjournalist Ales Gudija sieht in den drängendsten wirtschaftlichen Problemen Belarus Parallelen zum Computerspiel Minesweeper / Foto © imago-images/Pond 5 Images

    Wie im Spiel Minesweeper

    Der Vergleich der Zukunft mit einem Minenfeld entspricht vollkommen der militaristischen Rhetorik, die Einzug gehalten hat, seit Russland mit seiner vollumfänglichen Invasion in der Ukraine eine geopolitische Krise in Europa hervorgerufen hat. Ähnliche Vergleiche verwenden auch Wirtschaftsexperten, etwa Konstantin Sonin, wenn er über Zeitbomben spricht, die Wladimir Putin der russischen Wirtschaft als Erbe hinterlässt. Auch die belarussische Wirtschaft wird vom aktuellen Regime ein komplexes und gefährliches Minenfeld erben.

    Bei der Analyse der brennendsten Probleme kann man Parallelen zu dem alten Computerspiel Minesweeper ziehen: Bereits heute kann eine Reihe zukünftiger Probleme mit Fähnchen markiert werden. Ein großer Teil des Problemfeldes ist jedoch noch nicht aufgedeckt, es bleibt ein Rätsel, wo die Gefahren lauern. Dennoch wollen wir versuchen, die Schlüsselprobleme zu benennen, die der Wirtschaft in Belarus unausweichlich bevorstehen und deren Wurzeln in Fehlentscheidungen der Führungsebene im Verlauf der letzten 30 Jahre liegen – der Epoche Alexander Lukaschenkos.

    Die Politik des Regimes hat das demografische Problem verschärft

    Erstes und wirklich entscheidendes Problem, das die belarussische Wirtschaft lösen muss, ist die Demografie. Obwohl ihr natürliche Ursachen zugrunde liegen, werden die negativen Folgen durch die repressive Politik des herrschenden Regimes um ein Vielfaches verstärkt. Hunderttausende Belarussen waren gezwungen, das Land zu verlassen. Der eklatante Mangel an qualifizierten Fachkräften, die einen Kurs der wirtschaftlichen Regeneration unterstützen könnten, wird zur dauerhaften Gefahr für die Zukunft.

    Die demografischen Probleme sind eng mit sozialen Problemen verbunden. Wenn die Zeit der Reformen erst kommt, wird sich die Transformation des Wirtschaftssystems unweigerlich auf das Lebensniveau auswirken. Je länger Reformen aufgeschoben werden, desto schmerzlicher wird später die Anpassung an neue wirtschaftliche Realitäten. Es ist kein Geheimnis, dass die Entwicklung der Marktwirtschaft üblicherweise zu einer stärkeren Ungleichheit der Einkommen führt. Das aktuelle, scheinbar gute Niveau ökonomischer Gleichheit in Belarus stellt in Wirklichkeit eine Gleichheit der Armen dar, daher kann es nicht die Basis für eine sozialverträgliche Zukunft sein.

    Geklärt werden müssen Sanktionen, Schulden und die Anbindung an Russland

    Ein offensichtliches Problem, das wir von der aktuellen politischen Führung erben werden, sind die vielfältigen Sanktionen, die gegen die belarussische Wirtschaft verhängt wurden. Setzt eine neue Generation von Führungskräften eine Politik fort, die den internationalen Standards widerspricht, so wird der Sanktionsdruck bestehen bleiben oder sich gar verstärken. Dies wirkt sich wiederum negativ auf den Außenhandel und den Zugang zu internationalen Märkten aus. Nur eine Aufhebung der Sanktionen ermöglicht eine Entwicklung der belarussischen Wirtschaft. Aber dafür braucht es politischen Willen.

    Ein weiteres hausgemachtes Problem, für das die jetzige Führung Verantwortung trägt, ist die feste Anbindung der Wirtschaft an die Russische Föderation. Belarus hängt enorm von der wirtschaftlichen Unterstützung aus Moskau ab, unter anderem von Energielieferungen zu günstigeren Preisen, von Haushaltszuschüssen und dem Zugang zum russischen Markt. Russland ist der Hauptabnehmer für belarussische Exportwaren und stellt den einzigen großen Handelsweg dar, der Zugang zu Drittstaaten ermöglicht.

    Ein Wechsel des wirtschaftlichen Paradigmas in Belarus würde unweigerlich zu einer Änderung im Verhältnis zu Russland, zu einer Reduzierung der Unterstützung und der Begünstigungen führen. Das Beispiel anderer osteuropäischer Staaten zeigt allerdings, dass selbst eine starke Abhängigkeit vom „Energieimperium“ überwunden werden kann, wodurch schließlich eine normale Entwicklung nach Marktprinzipien möglich wird.

    Auch die hohe Schuldenbelastung wird an die zukünftige Generation der belarussischen Führungskräfte vererbt. Seit das Land Ende der 2000er Jahre seinen Zugang zu billigen russischen Energieträgern verlor – die Vergünstigungen blieben zwar bestehen, aber in geringerem Umfang –, ist die Auslandsverschuldung beträchtlich gestiegen. Dass sie in den letzten Jahren leicht zurückging, ist eher ein negatives Zeichen, da es davon zeugt, dass sich die belarussische Wirtschaft am Rande der Welt befindet und für Investoren uninteressant ist. Auch wenn die aktuelle Auslandsverschuldung kein kritisches Ausmaß hat, muss der Staat für die Bedienung der Kredite unbedingt am globalen Kapitalmarkt teilnehmen. Hier steht Belarus offensichtlich vor Schwierigkeiten, da die Zusammenarbeit mit den führenden internationalen Wirtschaftsstrukturen gekappt ist. Folglich wird die Belastbarkeit der wirtschaftlichen Ausrichtung zukünftiger belarussischer Regierungen in großem Maße davon abhängen, ob sie die Auslandsverschuldung beherrschen und Beziehungen zu potenziellen Kreditgebern aufbauen können. 

    Eine weitere Bedrohung: Der Schlag auf sozialem Gebiet

    Ein weniger offensichtliches, aber wichtiges Problem, das aus den vorab genannten resultiert, ist die potenzielle Verschlechterung der sozialen Infrastruktur. Früher wurde sie mithilfe ausländischer Geldgeber modernisiert. Da diese nun fehlen, geht die Finanzierung vollkommen zulasten des Haushaltes, dessen Möglichkeiten höchst begrenzt sind. Die Unterhaltung eines ausreichenden Maßes an Infrastruktur und ihre Qualität wird zur deutlichen Herausforderung für die nächste Generation belarussischer Führungskräfte. 

    In einer Transformationskrise, die durch einen (früher oder später einfach notwendigen) Umbau des Wirtschaftssystems entsteht, können sich die Staatsausgaben für Gesundheitsversorgung, Bildung und Soziales verringern. Das wiederum wird zu einer Absenkung des Lebensniveaus führen, den sozialen Druck verstärken und so potenziell die Situation im Land destabilisieren. Insofern gewinnt die Unterstützung von Seiten internationaler Wirtschaftsinstitute an Bedeutung. Doch mit ihnen muss man zunächst eine gemeinsame Sprache finden. 

    Die Rezepte sind bekannt

    Wir haben hier nur die aktuellsten Probleme der belarussischen Wirtschaft aufgezählt. Eigentlich müsste man sich bereits jetzt sorgfältig auf Reformen vorbereiten, um negative Folgen in der Zukunft zu minimieren, müsste detaillierte Pläne für einen Übergang zu einer wirklichen Marktwirtschaft ausarbeiten, die alle möglichen Risiken und Gegenstrategien berücksichtigen. 

    Wichtig dabei ist, die soziale Absicherung der Bevölkerung zu gewährleisten, Unterstützungsprogramme für Arbeitslose, Rentner und andere sozial vulnerable Gruppen zu entwickeln. Das aktuelle System der sozialen Unterstützung wird in der Zukunft nicht mehr wirksam funktionieren. Um die Wirtschaft zu fördern, muss unbedingt das Wachstum der Privatwirtschaft stimuliert werden, indem günstige Entwicklungsbedingungen für kleine und mittlere Unternehmen geschaffen werden. Darüber hinaus muss die unmäßige Abhängigkeit von dem einen ausländischen Markt beseitigt werden. Es braucht eine Diversifizierung der Wirtschaft, eine Reduzierung der Abhängigkeit von Rohstoffexporten, die Entwicklung anderer Wirtschaftszweige und neue Absatzmärkte. Dabei müssen unbedingt die Fehler vermieden werden, die zu Beginn der 1990er Jahre begangen wurden. Dafür ist ein transparentes und rechenschaftspflichtiges System der staatlichen Verwaltung notwendig. 

    Eigentlich ist alles recht klar. Das Rad muss nicht neu erfunden werden. Viele postkommunistische Staaten sind einen ähnlichen Weg gegangen. Nur wäre es naiv, auf eine Erleuchtung der aktuellen belarussischen Staatsführung zu hoffen. Um ihre Macht im Hier und Jetzt zu sichern, legt sie weiter Minen unter die Zukunft.

    Weitere Themen

    Die Beziehungen zwischen Belarus und Russland seit 1991

    Bystro #41: Warum konnte sich die Demokratie Anfang der 1990er Jahre in Belarus nicht durchsetzen?

    Bystro #42: Wie groß ist die Wirtschaftskrise in Belarus?

    Der Abgrund ist bodenlos

    „Russlands Resilienz hat Grenzen“

  • Die Identitätskrise der belarussischen Opposition

    Die Identitätskrise der belarussischen Opposition

    Die belarussische Demokratiebewegung kämpft im Exil dafür, dass belarussische Themen von der internationalen Staatenwelt gehört werden und nicht unter den Tisch fallen. Zudem ist sie bemüht, sich zu ordnen und ihre eigenen Strukturen zu demokratisieren. Zu diesem Prozess gehörten beispielsweise auch die Wahlen zum Koordinationsrat, die Ende Mai 2024 stattfanden. Der Koordinationsrat sollte eine Art parlamentarische Vertretung von Oppositionsgruppierungen aus Politik oder Zivilgesellschaft werden. Allerdings zeigte die extrem niedrige Wahlbeteiligung, dass viele Belarussen sowohl im Exil als auch im Land selbst offensichtlich andere Probleme haben, auf die die Opposition aber kaum Einflussmöglichkeiten hat. Zudem positionieren sich Belarussen in vielfacher Hinsicht anders als die Demokratiebewegung um Swetlana Tichanowskaja.

    An wen richtet sich die belarussische Opposition also mit ihren Forderungen, wen will und kann sie vertreten und was bedeutet der schwierige Spagat zwischen den Interessen der Belarussen im Land und derjenigen im Exil, die als besonders progressiv gelten, für die Zukunft der Demokratiebewegung? Diesen Fragen widmet sich Artyom Shraibman in seiner Analyse.

    Russisches Original
     

    Belarussen positionieren sich in vielfacher Hinsicht anders als die Demokratiebewegung um Swetlana Tichanowskaja / © Fredrik Sandberg/TT Anna Lind-Priset/Imago

    Gleich vorweg: Verschiedene Gruppierungen innerhalb der belarussischen Opposition geben unterschiedliche Antworten auf die Frage, wessen Meinung sie vertritt. Sie haben zuweilen den Anspruch, je nach Thema unterschiedliche Zielgruppen zu repräsentieren. Wenn es etwa um die Forderung fairer Wahlen, die Befreiung politischer Gefangener und das Ende der Repressionen geht, dann wollen die demokratischen Kräfte immer noch jene Mehrheit repräsentieren, die offensichtlich im Jahr 2020 für Tichanowskaja gestimmt hat.

    Geht es um den Krieg in der Ukraine, so versuchen die demokratischen Kräfte, im Namen der überwiegenden Mehrheit der belarussischen Gesellschaft zu sprechen, die – im Unterschied zu den Russen – gegen den Krieg sei. Aus analytischer Distanz betrachtet ist das jedoch manipulativ. Tatsächlich vertritt zugänglichen Umfrageergebnissen zufolge nur ein geringer Prozentsatz der Belarussen die Meinung, belarussische Truppen sollten im Krieg eingesetzt werden. Doch ist die Zahl jener Belarussen, die Russland unterstützen, ebenfalls hoch: Zwischen 30 und 40 Prozent der Belarussen (je nach Formulierung der Frage) finden es gut, wie die russische Armee in der Ukraine vorgeht und dass sie belarussisches Territorium als Aufmarschgebiet nutzt. Einerseits ist das nicht sehr viel, wenn man die Vernichtung der Meinungsfreiheit in Belarus und den enormen Einfluss der russischen Propaganda bedenkt. Aber von einem „antimilitaristischen Konsens“ kann man in dieser Situation nur sehr bedingt sprechen, und zwar, was den Einsatz belarussischer Soldaten im Krieg betrifft. In vielen Aspekten dieses Themas sind die Belarussen gespalten und alles andere als einig.

    Wen die demokratischen Kräfte adressieren  

    Wenn man der Frage genauer nachgeht, wie ein Ende des Kriegs aussehen könnte, dann vertreten die Tichanowskaja nahen Demokraten mit ihrer Meinung nur eine Minderheit der Belarussen. Mehr als die Hälfte der Befragten wünscht sich ein sofortiges Einfrieren des Konflikts an den aktuellen Frontlinien, und ein weiteres Viertel wünscht sich einen Sieg Russlands. Weniger als 15 Prozent der Städter (die Umfragen werden in der urbanen Bevölkerung durchgeführt) sagen offen, dass der Krieg mit einem klaren Sieg der Ukraine enden soll. Und sogar wenn man den häufig zitierten Faktor Angst ausklammert, bleiben die eindeutig proukrainischen Ansichten der Opposition trotzdem klar in der Minderheit1.

    Auch in anderen Fragen können die demokratischen Kräfte im Exil nicht behaupten, die Mehrheit der Belarussen zu repräsentieren, sondern eher nur die aktive prowestliche Minderheit. Hierzu gehören die europäische Integration, der Ausstieg aus allen Bündnissen mit Russland, der Status des Belarussischen als einziger Amtssprache und schließlich die Ausweitung der Sanktionen gegen Belarus bis hin zu einem Handelsembargo – wohl die unbeliebteste aller hier aufgezählten Ideen. Manchmal sieht es aus, als würde die Demokratiebewegung in manchen dieser Fragen zwar nicht unbedingt absichtlich die gesellschaftlich unbeliebtesten Lösungen bevorzugen, aber durchaus eine historische Mission verfolgen: heute strategische Ziele zu formulieren, um sie in Zukunft zur mehrheitsfähigen Meinung zu machen. Darin zeigt sich der Wille, eine ganz besondere soziale Gruppe zu vertreten – die „Belarussen der Zukunft“, die „nachziehen“, sich also der heutigen prowestlichen Minderheit und ihren Standpunkten annähern werden. Und zum Teil zielen die Aktivitäten der Opposition auch darauf ab, die Diaspora zu vertreten – sei es mit der Idee zu einem „Pass des neuen Belarus“, mit dem Aufbau alternativer staatlicher Organe im Exil oder dem Kampf für bessere Aufenthaltsbestimmungen der Belarussen im Westen.

    Der Faktor Westen

    Hinter diesem komplizierten Gespinst aus Positionen verbirgt sich ein weiteres Element, ein delikateres, über das man nicht laut spricht — die Interessen westlicher Länder, die der Opposition entweder Asyl gewähren oder über internationale Stiftungen ihre Arbeit finanzieren. Es gibt keine überzeugenden Beweise, dass westliche Akteure den demokratischen Kräften irgendwelche Positionen aufzwingen würden. Doch die belarussischen Exilpolitiker müssen die Interessen ihrer Partner durchaus berücksichtigen. Manchmal stehen diese Interessen den Vorstellungen der überwiegenden Mehrheit der Belarussen entgegen – zum Beispiel beim Thema Mobilität. Die Belarussen, die vor der Covid-Pandemie die Nation mit den meisten Schengen-Visa pro Kopf waren, wollen möglichst offene Grenzen zur EU. Aber die westlichen Nachbarn von Belarus reagieren auf die Provokationen, die Minsk an den Grenzen veranstaltet hat, und auf die Rolle von Belarus im Krieg mit Schließung von Grenzübergängen. Litauen versucht sogar, den Zustrom der Belarussen zu stoppen, indem es den Busverkehr teilweise einstellt.

    Für die demokratischen Kräfte ergibt sich daraus ein Interessenkonflikt. Swetlana Tichanowskaja und ihre Anhänger müssen sich einerseits loyal verhalten gegenüber jenen Belarussen, die in die EU reisen möchten, und gleichzeitig rechtfertigen, dass ihre Nachbarländer die Grenzen zu Belarus schließen. Dieser Spagat führt dazu, dass innerhalb der Opposition Gruppen entstehen, die Tichanowskajas Mannschaft vorwerfen, sich zu wenig gegen den „eisernen Vorhang“ an der Westgrenze von Belarus einzusetzen. Gleich mehrere solche Koalitionen („Listen“) traten bei den Wahlen zum Koordinationsrat der Opposition am 25. bis 27. Mai mit dem Versprechen an, den internationalen Lobbyismus in Fragen der Mobilität zur obersten Priorität zu machen.       

    Das Ende der Ad-hoc-Koalition 

    In der Demokratie werden solche Probleme im Zuge von Wahlen gelöst: Parteien, die mit sich selbst beschäftigt sind und den Kontakt zur Masse der Wählerschaft verlieren, bekommen weniger Stimmen und büßen ihre Macht ein. Ein solcher Rotationsmechanismus fehlt bei den belarussischen Demokraten. Es ist schwierig, sich auf Wahlen zu verlassen, die nur im Ausland stattfinden können. Repräsentanten, die vom politisch aktivsten Teil der Diaspora gewählt wurden, sind möglicherweise noch weiter von den Interessen des Durchschnittsbelarussen entfernt als die derzeitige Regierung in Belarus. Insofern sucht sich jede politische Kraft selbst ihre Zielgruppe aus, deren Interessen sie vertreten will. Ob sie auf das richtige Pferd setzt, wird die Geschichte zeigen. Diese kennt sehr wohl Beispiele für eine triumphale Rückkehr politischer Emigranten aus dem Exil, die sich auf die Arbeit mit einem aktivistischen Kern konzentriert und die Verbindung zur Mehrheit ihres Volkes scheinbar schon verloren hatten. Solche Beispiele sind jedoch eher die Ausnahme von der Regel, die nahelegt, dass der Wandel in Belarus eher von neuen Kräften angetrieben werden wird, die innerhalb des Landes entstehen werden, sobald sich das nächste Fenster historischer Volatilität auftut.

    Doch dieses Dilemma wirft noch eine andere Frage aus der politischen Philosophie auf: Wie weit soll sich die Exil-Opposition überhaupt von den Schwankungen der öffentlichen Meinung in ihrem Heimatland beeindrucken lassen? Die Koalition jener, die 2020 Tichanowskaja unterstützt haben, ergab sich in vielerlei Hinsicht aus der Situation. Das war keine Revolte einer konkreten Gesellschaftsschicht, einer demografischen Gruppe oder von Anhängern einer bestimmten Ideologie. Vielmehr war es ein Ausbruch allgemeiner Empörung angesichts Gewalt, Lügen und Wahlfälschung vonseiten des Staates. Das angestaute Verlangen nach respektvoller Behandlung hatte sich mit dem Überdruss an Lukaschenko gepaart. Doch es war eine Koalition völlig unterschiedlicher Menschen, die sich zu einem konkreten Zeitpunkt als Reaktion auf konkrete Handlungen des Regimes gebildet hatte.  

    Es wäre naiv anzunehmen, man könne diese bunte und spontane Koalition einer belarussischen Mehrheit ewig aufrechterhalten. Sogar in einem Land mit normalem politischem Wettbewerb müssen bei neuen Wahlen die Sieger der vorangehenden Wahlen wiederum versuchen, eine Mehrheit zu überzeugen, und den Menschen neue Gründe anbieten, warum sie ihnen auch in der aktuellen Situation ihre Stimme geben sollen. Doch in Belarus gibt es jetzt und wohl auch in nächster Zukunft keine politische Konkurrenz, keinen Kampf um die Macht durch Überzeugung von Mehrheiten. Das heißt, dass die Opposition allein schon aus technischen Gründen keine neue „Siegerkoalition“ bilden kann. Man kann zu jeder beliebigen Frage – von Sanktionen über Neutralität bis hin zur Wirtschaftspolitik – so populäre oder gar populistische Positionen einnehmen, wie man will – solange es im Land keinen politischen Wettbewerb gibt, wird die Opposition nichts davon haben.   

    Deswegen werden die Belarussen keine neuen Möglichkeiten zum politischen Handeln bekommen. Und das Fenster zu diesen Möglichkeiten wird nicht aufgehen, nur weil die Oppositionsführer im Exil anfangen, in ihren Reden beliebtere Thesen zu verkünden.                      

    Das Dilemma unterschiedlicher Meinungen innen und außen 

    Wie paradox das auch klingen mag: Es ist unklar, welchen politischen Nutzen die Opposition daraus zieht, wenn sie den Ansichten der heutigen belarussischen Mehrheit folgt. Welche Risiken eine solche Herangehensweise für die Exilstrukturen darstellen würden, ist hingegen nicht schwer zu erahnen. 

    Erstens: Der Versuch, sich im Einklang mit der Mehrheit der Belarussen im russisch-ukrainischen Krieg neutral zu verhalten, zum sofortigen Waffenstillstand aufzurufen oder gegen die Sanktionen einzutreten, würde die Verbindung der Opposition zum proukrainischen und proeuropäischen Kern der demokratisch gesinnten Belarussen schädigen, die zu all diesen Fragen ganz klar Position beziehen. Genau jene oppositionell gesinnten Menschen arbeiten in politischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen im Exil und in Redaktionen unabhängiger Medien und bilden die Diaspora, die von der Opposition eine Vertretung ihrer Interessen fordert. Anders gesagt, das Bemühen, dem durchschnittlichen Belarussen zu gefallen, würde beim prodemokratischen oppositionellen Kern auf Frustration und Ablehnung stoßen. 

    Zweitens würde eine Übernahme der in Belarus populärsten Ansichten in einer Situation des Kriegs und der scharfen Trennung in „Unsere“ und „Fremde“ eine effektive internationale Politik der Demokraten in Europa verunmöglichen. Eine Swetlana Tichanowskaja, die eine Aufhebung der sektoralen Sanktionen fordert, oder ein Pawel Latuschko, der zu Neutralität und einem sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine aufruft, könnten nicht nur mit den ukrainischen, sondern auch mit den meisten westeuropäischen Beamten und Diplomaten nicht mehr normal reden. Sogar ihr Aufenthaltsrecht in Vilnius und Warschau könnte dann in Zweifel gezogen werden.      

    Ehrliche Abkehr von der Idee einer Exilregierung

    Wahrscheinlich wird es mit der Zeit die organischste Entscheidung für die Opposition im Exil sein, sich in die Nische der moralischen Autoritäten zurückzuziehen, der Meinungsführer und internationalen Anwälte von Belarus, die nicht von der Konjunktur der aktuellen öffentlichen Meinung im Heimatland abhängig sind. Das würde ihnen erlauben, ungeschminkt ihre Überzeugungen zu verfechten, die Interessen ihrer heutigen Anhänger und der Diaspora zu vertreten und nicht mehr so tun zu müssen, als würde die historisch präzedenzlose Mehrheit von 2020 noch immer in allen Fragen den demokratischen Kräften folgen. Natürlich würde dies eine bescheidenere Positionierung bedeuten und eine Abkehr von der Idee einer „Exilregierung“ mit dem Anspruch, die Interessen aller oder der meisten Belarussen zu verteidigen. Doch eine solche Positionierung wäre wenigstens ehrlich – sowohl den internationalen Gesprächspartnern als auch ihren heutigen tatsächlichen Anhängern gegenüber.  


    1.Forschungen schätzen die Verminderung der Zahl der proeuropäischen und proukrainischen Antworten auf 3 bis 16 Prozentpunkte ein. 

    Weitere Themen

    Hier kommt Belarus!

    Eskalationsspiele

    FAQ #5: Welche Rolle spielt eigentlich Belarus im Ukraine-Krieg?

    Der Abgrund ist bodenlos

    Alternative Wahlen für Belarus

    Was haben die Wahlen zum Koordinationsrat der belarussischen Opposition gebracht?

  • Geschichten der Hoffnung

    Geschichten der Hoffnung

    In Belarus rattert nach wie vor die Repressionsmaschinerie, nahezu täglich gibt es zahlreiche Festnahmen und drakonische Urteile. Vor dem Hintergrund scheine es, schreibt Alexandra Schakowa, „als ob um uns herum nichts Gutes geschieht“. Die Journalistin hat sich für Mediazona Belarus deswegen auf die Suche begeben und Geschichten von Menschen aufgeschrieben, die zeigen, dass es auch in Belarus nach wie vor das Gute im Kleinen gibt. Wir haben die Protokolle aus dem Russischen und Belarussischen übersetzt.

    Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.

    Darja, Oblast Mogiljow
    Ich wollte eine Freundin in Polen besuchen, die schon vor einigen Jahren unfreiwillig emigriert ist. Ich ging also belarussische Süßigkeiten einkaufen. Im Geschäft Krasny Pischtschewik kaufte ich praktisch alles – die Freundin hatte nach Neuheiten gefragt. Eine ziemlich große Tüte war zusammengekommen. Die Damen an der Kasse fragten: „Für wen kaufen Sie denn so viel?“ Ich erzählte, dass ich einer Freundin im Ausland Süßigkeiten aus der Heimat mitbringen wolle. Die Verkäuferinnen begannen mich auszufragen, wohin es gehe, Polen oder Georgien, und gaben mir dann schließlich noch eine Packung einer neuen Geleesorte für die Freundin mit – einfach so, aus Solidarität, als Geschenk von ihnen.

    Swetlana, Minsk
    Im Winter ging ich in ein Geschäft im Einkaufszentrum und probierte eine Mütze auf. Normalerweise gefällt mir selten etwas, und ich trage auch kaum Mützen, aber diese war wie für mich gemacht. Ich wollte sie unbedingt kaufen. Aber ich hatte nur die Geldkarte, Bargeld trage ich selten bei mir. Ich kramte zusammen, was noch im Portemonnaie steckte – es fehlte ein Rubel. In diesem Augenblick rief meine Schwester an. Ich erzählte ihr von der tollen Mütze, die ich gefunden habe, aber nicht kaufen kann, weil mir genau ein Rubel fehlt. Ich wollte den Laden gerade verlassen, da hielt mich eine Verkäuferin auf und gab mir einen Rubel: „Hier, nehmen Sie, das ist eine Kleinigkeit, machen Sie sich die Freude.“ Ich bedankte mich natürlich bei ihr, darauf sagte sie: „Seit 2020 helfen die Belarussen einander doch noch ganz anders.“ Mir wurde gleich sehr leicht ums Herz.

    Jelena, Minsk
    Ich musste das Land verlassen. Ohne jetzt ins Detail zu gehen: Es brannte noch nicht, aber sie hätten jeden Moment vor meiner Tür stehen können. Ich musste im Notfallmodus alles verkaufen und verschenken, was in unserer Mietwohnung stand. Möbel, einen großen Kühlschrank, eine Waschmaschine – und einen Haufen Kleinkram.
    Ein Freund arbeitete in einem Laden für Haushaltstechnik, dort gab es einen Transporter und Möbelträger. Ich verabredete mit ihm, dass er mir hilft und ich ihn und die Möbelpacker bezahle. Sie fuhren die Möbel zu Freunden, die technischen Geräte zu meinen Eltern, eine ordentliche Runde durch die ganze Stadt. Den schweren Kühlschrank trugen sie in den fünften Stock, auch ein paar Tische. Am Ende der Fahrt fragte ich, was ich schuldig sei. Er antwortete: „Ich sag’s dir später, wir müssen erst rechnen.“ Ich dachte mir, okay, sie werden ihre Tarife haben, abhängig vom Stockwerk, in das sie tragen mussten, und so weiter. Als ich ihn zwei Tage später anrief, sagte er: „Wir haben uns mit den Jungs beraten und beschlossen, dass du uns in Anbetracht der Situation nichts schuldest, wir haben das umsonst gemacht.“ Ganz ehrlich – ich musste weinen.

    Sergej, Oblast Mogiljow (belarussisch)
    Bei uns kam es ganz unerwartet zu einer Welle der Solidarität. In einem der Einkaufszentren gab es eine Aufnahmestelle für herrenlose Haustiere. Natürlich gibt es in der Stadt auch große Tierheime. Das hier war nur eine kleine Unterkunft, in der Kätzchen und Hündchen auf neue Besitzer warteten, und gleichzeitig mit ihren niedlichen Schnäuzchen Spenden für alle anderen sammelten. Ich weiß, dass viele Tiere von dort in ein neues Zuhause fanden. Aber dann passierte irgendetwas und die Aufnahmestelle schrieb auf Instagram, dass die Verwaltung beschlossen habe, ihnen den Mietvertrag zu kündigen. Da ging es aber los! Nicht einfach nur Likes und Kommentare – die Leute gingen persönlich zur Hausverwaltung oder riefen dort an, um ein gutes Wort für die Tierunterkunft einzulegen. Die Verwaltung lenkte ein, will den Vertrag nun nicht mehr kündigen und bat darum, bloß nicht mehr anzurufen. 

    Alexander, Oblast Grodno
    Im Winter kam ich mal wieder in Kurzzeithaft. Vor den Wahlen holen sie bekanntermaßen überall die Aktivisten. Aber diesmal machten sie es anständig, nur zwei Personen, ich konnte im Auto sitzen. Man merkte gleich – das waren Bullen von hier, keine zugereisten. 
    Während der Kurzzeithaft wird man jetzt manchmal für Arbeiten eingesetzt, Müllsortieren oder Ähnliches. Früher konnten wenigstens die Verwandten zu dieser Arbeitsstelle kommen und Essen und Arbeitskleidung vorbeibringen. Jetzt ist das verboten. Aber die Arbeiter, die dort waren, teilten ihr Mittagessen mit uns und brachten uns sogar mal extra was von zu Hause mit, obwohl sie selbst nur ganz wenig verdienen. So war das.

    Maxim, Mogiljow
    Bis zu meiner Festnahme im Jahr 2022 half ich einem Jungen mit einer schweren Erkrankung, Geld für Medikamente und die Behandlung zu sammeln. Es gibt sehr wenige Kinder mit dieser Diagnose in Belarus, und nach 2020 gab es auch keinerlei Aufmerksamkeit mehr für ihre Anliegen. Nicht, dass alle sie vergessen hätten, aber vermutlich bekamen sie weniger Spenden, weil im Land die politischen Gefangenen und die Haftgeschädigten hinzugekommen waren. Ich hatte mich in seine Geschichte stark reingehängt, obwohl das schwerfiel, weil der Kleine wirklich schwerkrank war und es nicht leicht hatte. Als ich wieder freikam, sah ich, dass die notwendige Summe zusammengekommen war, der Junge hatte mit seinen Eltern zur Behandlung ins Ausland reisen können, und sein Zustand war jetzt sogar stabil. Er hatte mir sogar ein Bild gemalt, zum Dank für die Beteiligung an der Sammlung. Bislang konnten wir uns aber – aus bekannten Gründen – noch nicht treffen.

    Irina, Oblast Brest (belarussisch)
    2023 kam ich aus dem Straflager frei. Kürzlich rief der Ehemann einer politischen Gefangenen an, die noch einsitzt. Er hatte sie dort besucht und die Ehefrau hatte ihn gebeten, mich zu finden – sie machten sich im Straflager Sorgen, wie es mir in der Freiheit gehe … Ich erzählte ihm von der Führungsaufsicht und der Miliz. Das Wissen kann nützlich für sie sein, in der Zukunft. 
    Diese Frau wurde in letzter Zeit mehrfach gemeldet, musste in den Strafisolator. Sie ist krank, aber um mich macht sie sich Sorgen, wie es mir in der Freiheit geht. 

    Katerina, Minsk
    Ich hatte ein Vorstellungsgespräch bei einem Online-Supermarkt und die Managerin sprach Belarussisch. Ohne nach Worten suchen zu müssen, richtig gut und flüssig. Es war schön, in Belarus Belarussisch zu hören. Ich glaube, man hört es jetzt häufiger im Ausland, es in Belarus zu sprechen, kommt praktisch einem Einzelprotest gleich.

    Dimitri, Oblast Mogiljow
    Die Inhaber eines der hiesigen Cafés organisierten in ihren Räumen Ausstellungen lokaler Künstler. Kürzlich gab es schon die dritte Vernissage. Ich war dort – einfach super! Viele Leute, Live-Musik, Gespräche, es wurde getanzt. Und alles ohne einen Schluck Alkohol auf den Tischen. Da sage noch einer, in Belarus sei alles verstummt. Für unsere Kleinstadt war das ein großes Ereignis. Man musste keinen Eintritt zahlen, konnte Kunst sehen und Kaffee trinken. Die Wirtin des Cafés kennt sich schon in der lokalen Kunstszene aus und kann alles über die Bilder erzählen. 
    Bei einem der Bilder soll man sich etwas wünschen können. Aber wie denn, frage ich, man kann es doch nicht anfassen? Darauf antwortet sie: Sprechen Sie einfach mit ihm.

    Waleri, Oblast Brest (belarussisch)
    Alles wie immer und gehabt – gute, mutige Leute tun, was getan werden muss. Als ich in Haft war, kümmerte sich ein Freund die ganze Zeit über um meine Frau, rief sie einmal pro Woche an und brachte mir ohne Not weiß-rot-weiße Pastila [eine Süßigkeit aus Fruchtpüree] in die Untersuchungshaft. Zum Ende hin war sie dann schon weiß-kirschrot-weiß, weil der Produzent das Rezept geändert hatte. Als ich in der Strafarbeit war, sammelten zwei andere Leute, die ich kaum kannte, zwei riesige Taschen voll Sachen für mich: Pullover, Hemden, Schuhe, Arbeitskleidung, mehrere Paar Handschuhe. Leute aus unterschiedlichen Kontexten halfen mir buchstäblich die gesamte Zeit über: mit Geld, Obst und Gemüse, allem.

    Weitere Themen

    Weiß-Rot-Weiß ist der Protest

    Hier kommt Belarus!

    Die moderne belarussische Sprache

    „Mir sind meine Wurzeln, meine Familie und meine Heimat genommen worden“

    Der Abgrund ist bodenlos

    Die Angst der Macht vor der Wahl

    „Wie kann es sein, dass man die Sprache seiner Heimat nicht beherrscht?“

  • „Uns gibt es nicht“

    „Uns gibt es nicht“

    Warum begegnen Menschen in den westlichen Ländern Belarus mit so wenig Interesse? Warum läuft Belarus meistens unter dem Radar der internationalen Aufmerksamkeit? Warum gibt es so wenig Interesse für die belarussische Literatur? Das sind Fragen, die viele Belarussen umtreiben und die auch aktuell wieder in den sozialen Medien diskutiert werden. Der belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevič hat dazu einen launigen, polemischen aber auch analytischen Post für seinen Facebook-Account geschrieben, der vom Online-Portal Budzma übernommen wurde. „Die meisten, die über die Aussichten der belarussischen Literatur im Westen diskutieren“, schreibt Bacharevič, „verstehen meiner Meinung nach die fünf wichtigsten Dinge nicht.“

    Erstens. Uns gibt es nicht.

    Im Westen gibt es Belarus praktisch nicht. Die belarussische Sprache nicht, die belarussischsprachige belarussische Literatur nicht, die belarussische Geschichte nicht, Belarus nicht als Text, den andere verstehen und annehmen, der akzeptiert ist und in den großen Welttext eingeht. Auf die belarussischsprachige belarussische Literatur schaut man immer ein wenig argwöhnisch und herablassend. Genau wie auf die Sprache Balbuta.

    Folgendes muss man verstehen: Die belarussische Literatur wird in der Regel abgelehnt, ohne gelesen zu werden, ohne dass Bücher und Manuskripte auch nur aufgeschlagen werden. Es genügt zu hören: „belarussische Literatur“ – sofort denken sie an etwas selbstverständlich Schwaches. Es ist sehr schwer, die Menschen vom Gegenteil zu überzeugen. Ein belarussisches Buch kann sein, wie es will – spannend, genial, schlecht, wunderlich, unterhaltsam, langweilig … Ganz gleich. 99 Prozent nehmen es gar nicht in die Hand, lesen keine einzige Seite, denn es ist ja belarussisch, also direkt uninteressant. Deshalb: Ein Hoch auf die ausländischen Enthusiasten, Wissenschaftler und Übersetzer, die hin und wieder doch westliche Verleger überreden, in den Text zu schauen, ihn schätzen zu lernen und eine Übersetzung herauszugeben! Denn wenn ein belarussisches Buch doch einmal gelesen wird, ruft es häufig wohlwollende Verwunderung hervor: So ist das also, wir wussten ja gar nicht, dass es bei euch interessante Autoren gibt.

    Und noch ein Hinweis: Belarussische historische Belletristik ist für den westlichen Leser im Grunde pure Fantasy. Eine Geschichte von einem ausgedachten Land und ausgedachten Menschen, von Monstern und Magiern. Aber Fantasy gibt es im Westen so viel, dass niemand auch noch eine belarussische Version braucht, die Anspruch auf Ernsthaftigkeit erhebt. Die belarussische historische Prosa läuft dem westlichen Geschichtsbild zuwider. Daher gibt es dort keine Perspektive für sie.

    Zweitens.

    Hundertmal habe ich es gesagt und sage es jetzt noch einmal: Der westliche Buchmarkt hat seine Erwartungshaltung. Für die belarussische Literatur gibt es ein winziges Regal – wie auch für andere kleine Literaturen. Die belarussische Literatur interessiert den Westen nur dann, wenn sie sich mit der ihr zugewiesenen Rolle abfindet. Für den westlichen Leser, Kritiker und Verleger kann die belarussische Literatur nur dann interessant sein, wenn sie aus der Position der Opfer spricht: „Wir sind unglücklich und leiden, bei uns herrschen Finsternis, Diktatur, Hoffnungslosigkeit, Tschernobyl, Lukaschenka, Zweiter Weltkrieg, Okkupation usw.“ – oder aus der Position der Zeugen: „Wir erzählen euch jetzt, wie das ist – erst in der Sowjetunion, dann unter Lukaschenka, am eigenen Leib alle Schrecken von Totalitarismus, Armut, Elend und Diktatur zu erleben.“ Wenn belarussische Literatur versucht, mehr als das zu sein – Warnung, Idee, Reflexion, pure Kunst, Philosophie, all das, was jede große Literatur eben einfach sein kann – sagt man uns: Stopp. Lasst mal die Finger davon, das ist unser Privileg. Woher wollt ihr denn etwas von der Welt verstehen? Wie kommt ihr darauf, dass ihr das Recht habt, etwas anderes als Opfer oder Zeugen zu sein? Denkt daran, aus welchem Loch ihr gekrochen seid – und dann überlegt gut, ob ihr uns etwas beibringen könnt. Räumt erst einmal bei euch selbst auf.

    Drittens. Übersetzer

    Ich schreibe hier ausschließlich über die belarussischsprachige Literatur. Denn die russischsprachige Literatur, die sich belarussisch nennt, ist ein ganz anderes Phänomen. Übersetzer aus dem Russischen gibt es zuhauf. Man muss niemandem erklären, was das imperiale Russland ist, seine Kultur, Geschichte, seine Sprache, seine Literatur. Stellt man die belarussische russischsprachige Literatur in einen russischen, sowjetischen oder postsowjetischen Kontext – dann hat man auch in der belarussischen Literatur ganz gute Aussichten, gesehen und gelesen zu werden.

    Aber was sollen die belarussischsprachigen Autoren in dieser Situation tun?

    Im Westen, das lohnt sich zu wissen, fürchtet man sich sehr vor Nationalismus. Die belarussischsprachige belarussische Literatur wird häufig als nationalistische Literatur wahrgenommen. Vielleicht sagt man euch das nicht direkt ins Gesicht. Man denkt es aber. Und man denkt auch: „Anstatt in ihrer kleinen Sprache zu schreiben, die nicht mal in ihrem Land wirklich jemand spricht, könnten sie doch lieber Russisch schreiben – und wären anerkannt und verständlich. Und anstatt über ihre eigenen Sachen auf Belarussisch zu schreiben, könnten sie sich doch dem Russischen und Sowjetischen zuwenden, das ist klar, verständlich und verkauft sich! Aber euer Belarus als Europa – das klingt ja lachhaft … Das soll Europa sein? Belarus ist ein kleines Russland, als solches sehen wir es, und so ist es interessant für uns, und alles, was diesem eleganten Muster widerspricht, ist naiver Nationalismus und der kindische Versuch, auf unseren europäischen Schnellzug aufzuspringen.“

    Viertens

    Nun müssen wir auch ein wenig über die eigene Schuld der belarussischen Literatur sprechen. Häufig, wenn nicht in der Mehrheit der Fälle, ist sie langweilig-traditionell, kriegerisch-traditionalistisch, demonstrativ verschlossen für westliche Einflüsse, konservativ und nationalistisch im negativen Wortsinne, fremdenfeindlich und sowjetisch. In vielen ihrer Erscheinungsformen zeigt sie keinen Wunsch, vom Westen zu lernen, Entdeckungen zu machen, Kontakt zur Welt aufzubauen. Idiotischer Größenwahn, literarisches Chuch'e, das macht sie aus, die belarussische Literatur. „Wir brauchen das alles nicht, es ist fremd, wir sind groß und besser als alle, die wir kennen, denn wir haben Schamjakin und Dunin-Marzinkewitsch.“ Mit einem solchen Credo kommst du nirgendwohin. Die großen Nationaldichter Kupala und Kolas, gemachte Ikonen, kennt im Westen niemand, und mit diesen Ikonen und der bolschewistischen Flagge der Sowjetliteratur, mit dem Stolz auf den stalingeschaffenen „Künstlerbund“, ohne Sprachkenntnisse, ohne Interesse daran, was sich in der westlichen Literaturwelt tut, im Glauben an die eigene Ausnahmestellung treten die alten belarussischen Schriftsteller mit unsicherem Lächeln in die große Welt hinaus und beklagen sich: Und wo sind wir? Wo ist unsere Sichtweise, wo die Anerkennung? Wir haben sie verdient! Wieso sieht uns niemand?

    Fünftens

    Die großen westlichen Verlage – das ist Kommerz, das ist kapitalistisches Unternehmertum. Es geht zuallererst um Geld. Und wenn ein Buch niemand lesen will, es nicht einmal durchblättern möchte, dann wird es sich nicht verkaufen. Deshalb erscheinen die belarussischsprachigen belarussischen Bücher, die relativen Erfolg in kleinen Leserkreisen haben und hoffentlich auch zukünftig erscheinen werden, in kleinen und unabhängigen Verlagen – wo Geld zum Glück nicht alles entscheidet. Das sind Orte, wo Verleger arbeiten, die sich für unsere Literatur und unsere Kultur interessieren, die Bücher lieben, das Wort, die Idee, den Stil – und nicht Millionenauflagen. Für den westlichen Markt ist das ist völlig normal. Es gibt riesige Verlage, es gibt kleinere, und es gibt ganz kleine – jeder hat sein Publikum, seine Nische, seine Erfolge und seine Ausrichtung. Hauptsache ist, all das schließt Kontakte, Wechselwirkungen und Perspektiven auf größere Sichtbarkeit und Rezeption nicht aus.

    Und noch einmal: ein Hoch auf alle Deutschen, Engländer, Polen, Franzosen, Litauer, Niederländer, Schweden, Norweger, Amerikaner, Schotten, die ohne besonderen persönlichen Vorteil, nur aus Interesse an unserer Literatur, versuchen, westliche Verleger für belarussische Literatur zu interessieren. Ein Hoch auf die Übersetzer, dank denen Bücher belarussischer Schriftsteller verlegt, gelesen, besprochen, präsentiert werden – und dadurch leben.

    Alles in allem ist das kein fröhliches Bild. Doch nun geht es um Trost und Hoffnung. Ich bin zwar nicht sicher, ob mich das beruhigt, aber: Zum Glück oder zum Unglück sind wir nicht allein. Auf der Welt gibt es viele kleine Literaturen mit noch bescheideneren Perspektiven. Bei uns ist nicht alles so schlecht. Immerhin existiert die belarussische Literatur im Westen in Übersetzungen aus dem Belarussischen. Das reicht nicht – aber es wird immer mehr.

    Was soll man also tun, wenn man so sehr dazugehören will, sein will wie alle, Erfolg haben möchte?

    Man kann beginnen, in einer Fremdsprache zu schreiben. Die Konkurrenz wird aber hart sein. Außerdem gelingt es kaum, in einer anderen Sprache so zu schreiben wie in der eigenen. Es kommt einer bewussten Abkehr von Komplexität und Stil gleich. Um nicht zu sagen – einem Verrat. Denn die Hauptsache ist das Wie, nicht das In welcher Sprache. Und doch ist es eine Abkehr. Von sich selbst, zugunsten der Sichtbarkeit. Letztlich hat die absolute Mehrheit der belarussischen Autoren die belarussische Sprache erst später gelernt, nicht in der Kindheit wie eine Muttersprache. Warum also nicht noch eine Sprache lernen? Oder zwei? Oder drei?

    Man kann auch auf Russisch schreiben. Wie ich schon sagte, das ist dann etwas ganz anderes und man begegnet dir ganz anders. Die Rezeption ist eine ganz andere, viel wohlwollender, leichter und mit mehr Anerkennung.

    Von den schmalen Regalen, die im Westen für die belarussische Literatur bereitstehen, schrieb ich bereits. Von Opfern und Zeugen. Ich renne mir seit Jahren den Kopf an dieser Wand ein. Und manchmal scheint mir, sie gibt ein wenig nach. Genau das will ich mit der deutschen Übersetzung meines Romans Europas Hunde erreichen – erzwingen, dass ich mit diesem Buch nicht als Wilder aus einem elenden Land betrachtet werde, sondern als europäischer belarussischer Autor, der etwas zu sagen hat und dessen Land und Sprache nicht schlechter sind als andere.

    Man kann es so machen wie Julia Cimafiejeva und ich. Weiterhin in dieser kleinen Sprache schreiben. Mit Ausdauer und Würde. Literatur auf Belarussisch. Eine andere belarussische Literatur schreiben – nicht die größte von allen, sondern eine von vielen Literaturen dieser Welt. Von anderen lernen, aufmerksam lesen und zuhören, möglichst offen sein. Über das Eigene schreiben, ohne das Fremde abzulehnen. Nicht zulassen, auf ein Regal, in eine Nische oder in die Grube für die Unglücklichen und Traurigen geschoben zu werden. Nicht zulassen, dass sie dich als „blutende Wunde“ vermarkten. Stets das Gefühl haben, auf Reisen zu sein. Andere Sprachen sprechen, erklären, fragen, versuchen zu verstehen: Wo sind wir? Was ist das für eine Welt? Was will sie uns sagen? Eine Reise hält jederzeit Überraschungen bereit, angenehme und weniger angenehme.

    Weitere Themen

    Mit der Angst um den Hals

    Brief an die Ukraine

    Verboten in Belarus: Literatur und Autoren

    Verbannt und verboten

    Durch die Nacht, durch den Sturm

    „Wie kann es sein, dass man die Sprache seiner Heimat nicht beherrscht?“

  • Was haben die Wahlen zum Koordinationsrat der belarussischen Opposition gebracht?

    Was haben die Wahlen zum Koordinationsrat der belarussischen Opposition gebracht?

    Bei den Wahlen zum Koordinationsrat der belarussischen Opposition, die vom 25. bis 27. Mai 2024 stattfanden, erhielt die Liste von Pawel Latuschko und der Bewegung Sa swabodu mit Abstand die meisten Stimmen. Sie wird mit 28 Abgeordneten im neuen Koordinationsrat vertreten sein. Allerdings nahmen nur 6723 Belarussen an der Abstimmung teil. 

    Welchen Sinn macht eine Wahl, wenn in Belarus selbst massive Repressionen herrschen und Hunderttausende Belarussen im Exil mit den zahlreichen Herausforderungen der neuen Heimat kämpfen? Welche Legitimität kann ein Proto-Parlament haben, wenn es insgesamt zu wenige Belarussen repräsentiert? Ist es aber nicht doch ein erstaunlicher Prozess, wenn eine verfolgte Opposition versucht, unter schwierigen Bedingungen einen demokratischen Prozess voranzutreiben? All diese Fragen werden in den belarussischen Medien und auf digitalen Plattformen diskutiert und erörtert. Wir haben einige Stimmen aus dieser Debatte zusammengestellt. 

    Pozirk: „Nicht an der harten Realität zerbrechen” 

    Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski fragt sich, was die belarussische Opposition tun kann, um nicht noch mehr Boden in der belarussischen Gesellschaft zu verlieren. 

    [bilingbox]Die Frage ist auch, wie die westlichen Demokratien das Ergebnis der Abstimmung bewerten und wie sie dementsprechend mit dem neuen Koordinationsrat umgehen werden. 

    Die Politiker selbst sollten sich Gedanken machen, wie gut ihre Slogans ziehen und bei den Belarussen ankommen. Was sollten sie an ihren Programmen und Strategien ändern, um nicht endgültig an der harten Realität zu zerbrechen? Eine der spannendsten Fragen ist, wie sich der Koordinationsrat jetzt dem Team von Tichanowskaja gegenüber verhält. Viele Kommentatoren sahen in diesem Wahlkampf den Wunsch einiger politischer Akteure, ihre eigenen Positionen zu stärken, um Tichanowskaja und ihre Leute zu verdrängen und die Rollen auf dem Olymp der Opposition neu zu verteilen.~~~Отдельный вопрос — как оценят итоги голосования и, соответственно, как станут относиться к новому составу КС западные партнеры демократических сил. Самим политикам важно задуматься, насколько их лозунги катят, находят отклик у белорусов. Что стоит изменить в программах и стратегиях, чтобы окончательно не оторваться от суровой реальности. 
    Одна из интриг заключается в том, как поведет себя КС в отношении команды Тихановской. Многие комментаторы видели за этой кампанией желание некоторых политических игроков укрепить свои позиции, чтобы потеснить Тихановскую и ее людей, перераспределить роли на оппозиционном Олимпе.[/bilingbox]

    erschienen am 28. Mai 2024, Original

    Zerkalo: „Der Sinn der Wahlen konnte nicht vermittelt werden” 

    Der Politanalyst Artyom Shraibman ist sich sicher, dass es der Opposition nicht gelungen ist, die Bedeutung der Wahlen zu vermitteln. 

    [bilingbox]Es ist nicht gelungen, den Sinn der Wahlen zum Koordinationsrat deutlich zu machen: nicht nur der Mehrheit der Belarussen, sondern auch bedeutenden Initiativen aus Opposition und Zivilgesellschaft. Es ist bezeichnend, dass bei der Wahl viele nicht angetreten sind, die die für Belarussen wohl die greifbarste und sichtbarste Arbeit machen: Menschenrechts- und humanitäre Organisationen wie BYSOL, die Gruppierung ehemaliger Silowiki BELPOL, die regelmäßig spektakuläre Recherchen zu Fällen von Korruption und der Umgehung von Sanktionen veröffentlicht, oder die Cyberpartisanen, die es immer wieder fertigbringen, erfolgreiche Cyberattacken durchzuführen. All diese Gruppen haben nicht die Zeit gefunden oder den Sinn darin gesehen, sich an der Wahlkampagne zu beteiligen.~~~Смысл выборов в КС не удалось объяснить не только большинству беларусов, но и некоторым значимым оппозиционным и гражданским инициативам. Показательно отсутствие на выборах нескольких структур, которые занимаются, возможно, наиболее осязаемой и заметной для беларусов работой: правозащитных и гуманитарных организаций вроде BYSOL, группы экс-силовиков BELPOL, регулярно публикующей эффектные расследования случаев коррупции и обхода санкций, или «Киберпартизан», которые все еще умудряются проворачивать успешные кибератаки. Все эти группы не нашли времени или смысла участвовать в кампании.[/bilingbox]

    erschienen am 28. Mai 2024, Original

    Nasha Niva: „Es ist nicht die Zeit für Machtkämpfe” 

    Unter Bedingungen von Repression und Verfolgung Wahlen durchzuführen, mache wenig Sinn, meint der Journalist Mikola Bugai. 

    [bilingbox]Diese Wahlen können letztlich eine positive Rolle spielen, wenn sie auch erstmal ernüchtern. Wenn sie sogar denen, die es vorher nicht begriffen haben, zeigen, dass jetzt nicht die Zeit ist, um innerhalb der Opposition Machtkämpfe auszutragen, und nicht nur nicht innerhalb der Opposition: In der gegenwärtigen geopolitischen Lage ist auch ein Machtwechsel in Belarus unmöglich. Wer denkt schon an Minsk, wenn sich der Westen noch nicht mal zur Befreiung von Melitopol entschließen kann. Jetzt ist es nicht an der Zeit, sichtbare Strukturen aufzubauen. Jetzt ist es an der Zeit, alles Stille, Nicht Öffentliche und Nicht Sichtbare zu stärken und zu mehren, das dazu beiträgt, dass Belarus belarussisch und die Belarussen Belarussen bleiben, dass sie leben und arbeiten können. Die Zeiten ändern sich, und die Politik sollte sich mit ihnen verändern.~~~Но эти выборы могут сыграть и позитивную роль, если они отрезвят. Если они покажут даже тем, кто этого раньше не понимал, что сейчас не время бороться за власть внутри оппозиции, да и не только внутри оппозиции: в сложившейся геополитической ситуации и смена власти в Беларуси невозможна. Какой Минск, если Запад не может решиться на освобождение Мелитополя. Сейчас совсем не время строить видимые структуры. Сейчас самое время, чтобы тихо приумножать любые негромкие, непубличные, непофасные дела, которые помогают Беларуси оставаться белорусской, а белорусам — оставаться белорусами, жить и работать. Времена меняются, и политика тоже должна меняться вместе с ними.[/bilingbox]

    erschienen am 27. Mai 2024, Original

    Reform: „Angst hat die Belarussen von der Wahl abgehalten” 

    Der Journalist Igor Lenkewitsch führt die geringe Wahlbeteiligung vor allem auf den Terror zurück, mit dem das System Lukaschenko gegen die eigene Bevölkerung vorgeht. 

    [bilingbox]Man kann sich zu Tode ärgern, wie schrecklich alles ist. Aber das wird kaum etwas an der Lage ändern. Genauso wenig wird auch der Terror nachlassen, mit dem das Regime gegen die Belarussen wütet. Viel wichtiger ist es, zu verstehen, wie man unter den gegebenen Umständen handeln soll. Wenn Massenkampagnen wegen der Angst derzeit nicht möglich sind, sollte man sich auf Bereiche konzentrieren, für die es keine große Teilnahme von Menschen braucht. Die negativen Erfahrungen dieser Wahlen muss man sich genau anschauen. Und es wäre der größte Fehler zu glauben, dass die Angst, die sich in der Gesellschaft eingenistet hat, schnell und einfach überwunden werden kann.~~~Можно убиваться по поводу того, насколько все ужасно. Но от этого положение дел вряд ли изменится. Равно как не ослабнет террор, который режим обрушил на беларусов. Гораздо важнее понять, как действовать в сложившейся обстановке. И если фактор страха не дает возможностей проводить массовые кампании, сфокусировать внимание на тех направлениях, которые не требуют вовлечения в процесс значительного количества людей. Негативный опыт этой кампании необходимо осмыслить. И самой большой ошибкой было бы считать, что поселившийся в обществе страх удастся быстро и легко переломить.[/bilingbox]

    erschienen am 28. Mai 2024, Original

    Weitere Themen

    Hier kommt Belarus!

    Kampf der Oppositionen

    Lukaschenko auf den Spuren des Totalitarismus

    Der Abgrund ist bodenlos

    „Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung“

    Alternative Wahlen für Belarus

  • Menschen des Waldes

    Menschen des Waldes

    „Eine wichtige Dimension des belarussischen Lebens ist immer noch die Schutz- und Ressourcenfunktion des Waldes, das Neue ist die ökologische Sorge um ihn.“ So heißt es im Ankündigungstext zum Fotoprojekt Menschen des Waldes (belaruss. Ludzi Lesu), das die Initiative VEHA im Jahr 2021 ins Leben gerufen hat. Das Projekt geht der Beziehung der Belarussen zu ihren Wäldern auf den Grund. Im Mai 2024 wurde das fertige Buch zum Projekt mit dem Michail Anempadystau-Preis ausgezeichnet. Wir haben mit Lesia Pcholka, Kuratorin von VEHA, über das Projekt gesprochen und zeigen eine Auswahl von Bildern. 

    1978, Wjalikaja Berastawiza. Auf der Birke: Hieorhij Stracha, seine Tochter Tazzjana, sein Sohn Aleh und Natallja Lytschkouskaja. Natalljas Mutter Swjatlana steht rechts / Foto © Aljaxandr Lytschkousk, zur Verfügung gestellt von Mikola Taranda. VEHA-Archiv, Sammlung „Menschen des Waldes

    dekoder: Wie ist die Idee zum Projekt entstanden?

    Lesia Pcholka: Die Idee, ein Buch zum Thema Wald zu machen, hatten wir im Jahr 2021. Direkt nach den Protesten von 2020 und während der einsetzenden massenhaften Repressionen. Die Straßen der Städte waren damals unsicheres Gelände geworden, die Wände unserer Wohnungen boten keinen Schutz mehr. Man hatte uns den städtischen Raum genommen. Die Wälder boten damals vielen Belarussen Ruhe, viele zogen aufs Land. 

    Wir machten eine Ausschreibung zu dem Thema, um Fotos zu bekommen. Die Frist endete am 20.02.2022, vier Tage vor Russlands großer Invasion in der Ukraine. Wir hatten das Material vorliegen und waren schon tief in das Thema eingestiegen, aber dann kam der Schock des Krieges. Wir diskutierten im Team lange, ob wir das Recht haben, in Zeiten solchen Leids über ein belangloses Thema wie den Wald zu sprechen. Es fehlte auch Kraft, um sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Trotzdem gaben wir das Buch heraus, denn wir fühlten uns dem Plan für das Projekt verpflichtet. 

    In der Folge erhielten wir Rückmeldungen, dass diese anderen Nachrichten für die Menschen wichtig waren, sie führten sie vom Schrecken weg, zeigten etwas über sie selbst, die Belarussen, über das weitergehende unsichtbare Alltagsleben in Zeiten von Krieg und Repression. Mit der Zeit begriffen wir, dass unser Thema nicht schlecht gewählt war, ich bin froh, dass wir die Arbeit am Buch zu Ende gebracht haben.

    Was für eine Beziehung haben Belarussen zum Wald?

    Dieses Thema hat meine Kollegin Asia Cimafiejeva sehr gut dargestellt in ihrem Artikel Der Wald und der Alltag der Belarussen für unser Buch. Sie schreibt darin, die Kollektion von VEHA Ludzi lesu zeige verschiedene Aspekte – sowohl private als auch öffentliche. Auf den Bildern sehen wir einerseits die lebendige Beziehung zwischen Mensch und Wald, wie sie für ein traditionelles Denken typisch ist. Wir sehen die modernistische Entfremdung von der Natur und die Rückkehr zu ihr als einem Ort der Erholung oder gar Flucht vor der Realität. Wir beobachten aber auch staatliche Interessen: wirtschaftliche und militärische. Der Wald ist Hintergrund für viele Beziehungen und Tätigkeiten des Menschen. Wir betrachten ihn nicht getrennt von uns – schon die Präsenz des Fotoapparats bezeichnet unseren Einbruch in sein Territorium. Wie positiv dieses Eindringen für den Wald ist, bleibt eine offene Frage.

    Wie kommen Sie an die Fotos für die Projekte?

    Aktuell hat das VEHA-Archiv fünf thematische Sammlungen: The Best Side/ Najlepšy bok; Girl’s night/Dziavočy viečar; Last photo/Apošny fotazdymak; People of the Forest/Ludzi Lesu; Ruins of Belarus/Ruiny Belarusi. Wir analysieren verschiedene belarussische Familienarchive und schauen, welche Motive am häufigsten auf den Fotos auftauchen, auf dieser Grundlage wählen wir unsere Themen aus. Wir machen eine Ausschreibung und die Menschen schicken uns digitale Kopien von Fotos aus ihren Privatarchiven. Darüber hinaus bitten wir um detaillierte Informationen zu Jahr und Ort der Aufnahme sowie den Namen der Abgebildeten. So bleiben die Originalfotos in den Familien, nur die Kopien werden zum Forschungsgegenstand, zum Teil des VEHA-Onlinearchivs, und in Ausstellungen und Büchern veröffentlicht. 

    Unsere letzten Bücher wurden in Belarus herausgegeben, in kleinen Auflagen von etwa 200 Exemplaren. Das Buch Ludzi Lesu ist das erste, das im Exil erschien, in Polen. Es besteht aus drei Teilen. Den ersten Teil könnte man beschreiben als Einssein mit der Natur – Menschen umarmen Bäume oder verstecken sich in hohen Waldblumenwiesen. Der zweite Teil zeigt Fotos, die den Wald als Ressource darstellen. Im dritten Teil geht es um den Wald als Erholungsgebiet und Schauplatz von Alltagshandlungen.

    Wie kommt das Projekt bei den Belarussen an?

    Das Buch Ludzi Lesu ist 2022 erschienen. Immer mehr Menschen verlassen das Land und das letzte, woran sie denken, ist ihre Bibliothek aufzufüllen. Zwar haben wir in der Galerie FAF in Warschau eine Buchpräsentation organisiert, aber es gab keine nennenswerten Rezensionen zu dem Buch. Die belarussische Kultur hat 2022 einen harten Schlag versetzt bekommen, von dem sie sich nicht so schnell erholen wird. Ich weiß nicht, wie bewusst es den Menschen im Ausland ist, dass es für Belarussen innerhalb von Belarus gefährlich ist, sich mit ihrer nationalen Kultur zu beschäftigen. Außerhalb der Landesgrenzen gilt man als Besatzernation, zusammen mit den Russen. Das sind keine förderlichen Bedingungen.

    Welches Ziel hat die Arbeit von VEHA?

    Die Fotografien im VEHA-Archiv sind keine künstlerischen Attraktionen, sondern eine kollektive Darstellung von Alltäglichkeit. Ein Abbild dessen, wo wir heute stehen. Unsere Routine, das, was wir für bedeutsam genug halten, um es zu fotografieren. Gerade in den alltäglichen Praktiken provozieren wir Veränderungen – oder aber entscheiden uns für Akzeptanz und Normalisierung. Dafür setzen wir das, was wir auf dem Foto sehen, in Beziehung zu der Zeit, in der das Foto entstanden ist, zu den politischen und sozialen Ereignissen dieser Zeit. Diese Praxis hilft dabei, das Vergangene zu ordnen, sich die eigene Geschichte zurückzuholen.

    1966, der See Naratsch / Foto © zur Verfügung gestellt von Uladsimir Sadouski, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    Links: 1968, Tscherwen / Foto © zur Verfügung gestellt von Stanislawа Naidowitsch, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes
    Rechts: 1969–1970, Retschyza. Woĺha und Ljubou Karunnaja / Foto © zur Verfügung gestellt von Aljaxandr Drahawos, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes
    1974, Wolha Shukawa (links) mit einer Freundin / Foto © zur Verfügung gestellt von Vassilina Sakalouskaja, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1930er Jahre, Polesien / Foto © zur Verfügung gestellt von Fundacja Archeologia Fotografii, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    Links: 1959, Tscherwen. Vera Lipen / Foto © zur Verfügung gestellt von Stanislawa Naidowitsch, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes
    Rechts: 1956, Tscherwen. Vera Lipen / Foto © zur Verfügung gestellt von Stanislawa Naidowitsch, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1966, Der See Naratsch / Foto © zur Verfügung gestellt von Uladsimir Sadouski, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1900–1910er Jahre, Schklou. Arbeiter der Fabrik Spartak am Ufer des Dnjepr / Foto © zur Verfügung gestellt vom Shklou District Historical and Regional Studies Museum, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1950er Jahre,das Dorf Starasselle. In einem Garten am Apfelbaum / Foto © zur Verfügung gestellt vom Shklou District Historical and Regional Studies Museum, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    Links: 1950, Baranawitschy. Valjanzina Bahuschewitsch / Foto © zur Verfügung gestellt von Maxim Schwed, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes
    Rechts: 1945–1950, Maryja Jeudakimauna Pesljak / Foto © zur Verfügung gestellt von Julija Kaljada, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1934, Schklou. Im Park / Foto © zur Verfügung gestellt vom Sklou District Historical and Regional Studies Museum, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1978, Studentin des Medizinischen Institutes Hrodna (heute staatliche Medizinische Universität Hrodna) während der studentischen Baubrigade / Foto © Alina Taranda, zur Verfügung gestellt von Mikola Taranda, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1960er Jahre, Kusali. Tolik und Siarhej Protscharawy mit Mikalai Palikarpau / Foto © zur Verfügung gestellt von Darja Palikarpawa, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1920–1930er Jahre. Mädchen beten während eines Sommercamps vor einer behelfsmäßigen Kapelle auf dem Baumstumpf eines alten Baumes / Foto © zur Verfügung gestellt von Siarhej Leskiec, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    Links: 1920–1930er Jahre / Foto © zur Verfügung gestellt vom Luninets District Local History Museum, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes
    Rechts: 1980, Hluscha, Region Mahilioŭ. Ales Adamowitsch / Foto © Jauhen Koktysch, zur Verfügung gestellt von Natallja Adamowitsch, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1966, Am See Naratsch. Raman Chacjalowitsch / Foto © zur Verfügung gestellt von Uladsimir Sadouski, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    Fotos: VEHA-Archiv, Sammlung Menschen des Waldes
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Ingo Petz
    Veröffentlicht am: 28.05.2024

    Weitere Themen

    Hier kommt Belarus!

    Leben und Sterben

    Landschaft der Trauer

    Die Angst vor dem Klopfen an der Tür

    „Mir sind meine Wurzeln, meine Familie und meine Heimat genommen worden“

    Gefängnis oder Emigration, das ist hier die Frage

    In einem Land zwischen Wald und Fluss

    Der Abgrund ist bodenlos

    IM HEIM DES KRIEGES

  • Alternative Wahlen für Belarus

    Alternative Wahlen für Belarus

    Vom 25. bis 27. Mai finden die Wahlen zum Koordinationsrat der belarussischen Opposition im Exil statt. Das Organ wurde während der Proteste im Jahr 2020 gegründet, um einen möglichen Machtwechsel vorzubereiten. Viele Mitglieder des Rates, die die Zivilgesellschaft, Wirtschaft oder Kultur repräsentierten, wurden damals inhaftiert oder mussten das Land verlassen, wie beispielsweise die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch.

    Die Opposition um Swetlana Tichanowskaja institutionalisiert seit dem Gang ins Ausland die Arbeit der demokratischen Bewegung, es wurde ein Übergangskabinett geschaffen, nun soll der Koordinationsrat in eine Art Proto-Parlament umgebaut werden, das die Interessen der Belarussen vertritt und die Arbeit der Oppositionsführung kontrolliert. Die Wahl läuft digital ab, dazu wurde speziell eine App entwickelt, über die sich Wähler registrieren lassen können. So sollen auch Belarussen im Inland an der Wahl teilnehmen können. Zur Wahl stehen 256 Kandidaten, die als zwölf Gruppierungen ins Rennen gehen.

    Für das Online-Medium Pozirk beschäftigt sich der Journalist Alexander Klaskowski mit diesen Gruppierungen und ihre politischen Ausrichtungen, mit den Wahlen und mit dem Sinn eines solchen Organs im Exil. 

    Auf die Wahlen zum Koordinationsrat (KR) reagieren Aljaxandr Lukaschenka und seine Geheimdienste sehr viel lebhafter als der belarussische Durchschnittswähler. Bereits fünf Koalitionen, die zur Wahl in den KR antreten, sind zu extremistischen Vereinigungen erklärt worden.

    Die bevorstehenden Wahlen zum Koordinationsrat (KR) hatte Lukaschenka genau einen Monat vor dem Wahltag erwähnt, nämlich am 25. April vor der VII. Allbelarussischen Volksversammlung: „Jetzt sind sie sogar bis zu den Kalinouski-Leuten gekommen. Da ist es eh schon zum Bruch gekommen. […] Sie wissen nicht, wen sie aufstellen sollen. […] Das ist ein Hauen und Stechen.“

    Der Herrscher hat zwar Schadenfreude gezeigt und versucht, die politischen Opponenten als bedeutungslose Gestalten hinzustellen, doch ist schon dieser Kommentar als solcher bezeichnend. Es scheint, als würde den Führer des Regimes etwas umtreiben, nämlich sein Komplex von 2020. Damals hatte es geschienen, als sei alles im Kasten; die wichtigsten Widersacher saßen hinter Gittern. Doch dann tauchte wie aus dem Nichts diese Hausfrau Zichanouskaja auf. Also sollte man jetzt lieber übervorsichtig sein.

    Durch die Brandmarkung als Extremisten sollen in der Vorstellung der Regierung sowohl die weniger standhaften Kandidaten für den KR eingeschüchtert als auch potenzielle Wähler abgeschreckt werden. Die Letzteren bekommen das Signal, dass eine Stimmabgabe für „kriminelle Elemente“ lange Haftstrafen nach sich ziehen könnte.

    Für alles Gute, gegen alles Schlechte

    Unterdessen ist der politisch aktive Teil der Diaspora in Bewegung geraten. Zu den KR-Wahlen sind zwölf Listen mit 265 Kandidaten zugelassen. Die Wahlen finden nach einem Verhältniswahlrecht statt. Für europäische Demokratien ist das eine gewöhnliche Sache, für Belarussen jedoch etwas Neues.

    Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja und der Oppositionspolitiker Pawel Latuschko (rechts) am 26. März 2022 beim Tag der belarussischen Freiheit in Warschau / Foto © Aleksander Kalka/IMAGO/ZUMA Wire

    Salidarnasc

    Wenn man sich anschaut, wer auf den Listen zusammengefasst wird, erscheinen einige Bündnisse aus der Situation geboren. So haben sich die Sozialdemokraten der Narodnaja Hramada (dt. Volksgemeinschaft) mit einem Teil der Christdemokraten zum Bündnis Salidarnasc (dt. Solidarität) zusammengeschlossen. In normalen Demokratien stehen Sozialdemokraten und Christdemokraten für recht unterschiedliche Ideologien. Unter den Bedingungen in Belarus aber bedeuten Parteietiketten kaum etwas, insbesondere nach 2020.

    Das Programm von Salidarnasc besteht lediglich aus vier Punkten und fällt durch Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler auf. Kurzum: Es wirkt wie in der U-Bahn geschrieben. Die Thesen sind äußerst allgemein und plakativ.

    So steht da als erster Punkt „Einsatz für möglichst baldige, freie, faire und transparente Wahlen auf dem Gebiet der Republik Belarus nach den Standards der OSZE“. Ein prächtiger Wunsch. Dumm nur, dass Lukaschenka diese Standards nicht anerkennt. Und mit dem politischen Ruhestand hat er es überhaupt nicht eilig. Wie also wollen sie ihn dann überreden oder zwingen? Mit einer Resolution des Koordinationsrats?

    Wolja

    Die Bewegung Wolja (dt. Freiheit) beispielsweise hat nicht vor, irgendwen zu überreden. Sie verkündet „die Befreiung des Landes von der hybriden Besatzung“, „die Entfernung von Personen aus der Staatsmacht in Belarus, die diese verfassungswidrig innehaben“.

    Hierzu wird unter anderem die Bildung einer belarussischen Befreiungsarmee vorgeschlagen. Die Frage ist: Woher kommen die Ressourcen (Menschen, Waffen)? Und: Welches Land würde es erlauben, dass auf seinem Territorium ein solches Heer aufgestellt wird? Spoiler: Die herrschenden Eliten der Nachbarländer haben wohl kaum den brennenden Wunsch, sich auf diese Weise Probleme aufzuhalsen.

    Unabhängige Belarussen

    Die Unabhängigen Belarussen versprechen im Falle ihrer Wahl, drei Pläne zur Befreiung von Belarus auszuarbeiten: einen operativ-taktischen, einen strategischen und einen Reserveplan. Die Autoren des Programms konstatieren dabei „eine tiefgreifende Diskreditierung des nicht umgesetzten Mobilisierungsplans Peramoha (dt. Sieg) der Organisation BYPOL sowie das totale Scheitern der demokratischen Kräfte im Bereich der strategischen Planung“.

    Gesetz und Rechtsordnung

    Wenn man sich vorstellt, dass Aljaxandr Asarau, der Leiter von BYPOL mit seiner Liste Gesetz und Rechtsordnung in den KR einzieht, lässt sich eines erwarten: Die Diskussionen im „Protoparlament“ zwischen den Gruppen, die den Schwerpunkt auf einen gewaltsamen Kampf gegen das Regime legen, werden heftig.

    Im Großen und Ganzen sind die Szenarien eines gewaltsamen Machtwechsels in Belarus bislang höchst illusorisch. Und der aktuelle Verlauf des Krieges in der Ukraine fördert diese Perspektiven nicht.

    Ein Land für das Leben

    Eine Reihe von Programmen ist nach dem schlichten Prinzip „für alles Gute, gegen alles Schlechte“ geschrieben. So setzt sich die Koalition Ein Land für das Leben die „Vereinigung aller demokratischen Kräfte“ zum Ziel.

    Eine derartige Idylle hat es noch nie gegeben, seit eine Opposition gegen Lukaschenkas Regime besteht. Und wird es wohl nicht geben. Eine Allianz von Sjanon Pasnjak, Walery Zapkala und Swjatlana Zichanouskaja wäre unvorstellbar.

    Stimme der Diaspora

    Das Bündnis Stimme der Diaspora – Geschlossenheit über Grenzen hinweg wird dafür kämpfen, „dass die Stimme der belarussischen Diaspora in aller Welt bei Entscheidungen der demokratischen Kräfte in Belarus erhört wird“. Das Programm dieser Liste ist ebenfalls sehr allgemein gehalten.

    Team Latuschka und die Bewegung „Für die Freiheit“

    Das Programm der Koalition Team Latuschka und die Bewegung „Für die Freiheit“ (die Anführer sind Pawel Latuschka, der eine Masse von Titeln besitzt, sowie dessen Mitstreiter Jury Hubarewitsch) sieht solide und sorgfältig durchgearbeitet aus. In dem Dokument gibt es konkrete Punkte, zum Beispiel, dass der KR ein Programm zur Förderung der nationalen Wiedergeburt von Belarus verabschieden sollte.

    Eine andere Frage ist, wie wirksam die Beschlüsse des KR sein werden. Welche Dokumente man auch verabschiedet, das Regime von Lukaschenka wird weiter die Souveränität des Landes abgeben. Er hat das Tor zur „russischen Welt“ weit aufgestoßen.

    Unsere Sache

    Die Vereinigung Unsere Sache mit der Politologin Rosa Turarbekowa an der Spitze hat folgende Devise gewählt: „Nein zum eisernen Vorhang zwischen Belarus und Europa!“ Dieses Team hat einen konkreten Zweijahresplan formuliert. Unter anderem soll durch die Arbeit des KR mit Regierungen demokratischer Länder erreicht werden, dass „mindestens auf dem Niveau von 2019 humanitäre, Arbeits- und Touristenvisa für Belarussen ausgestellt werden“.

    Beim Werben um Stimmen aus Belarus setzen andere Kandidatengruppe für den KR ebenfalls den Akzent darauf, dass man die Mitbürger nicht in der Diktatur eingepfercht lassen dürfe und sie nicht ohne Möglichkeit bleiben sollten, nach Europa zu fahren.

    Jugendoffensive und Es reicht mit der Angst

    Für ein vereinfachtes Verfahren zum Erhalt von Visa und Dokumenten zum Studium oder für Reisen tritt auch die Jugendoffensive ein. Die Liste Es reicht mit der Angst will ebenfalls Lobbyarbeit für offene Grenzen für ihre Landsleute betreiben. Daneben ist sie für einen verstärkten Druck auf das Regime (das sei wohl „die einzige Sprache, die der Diktator und seine Junta verstehen“).

    Europäische Wahl

    Die Europäische Wahl mit Aljaxandr Dabrawolski an der Spitze, einem leitenden politischen Berater von Zichanouskaja, verspricht, „sich aktiv an der Ausarbeitung und Erörterung von Reformprogrammen zu beteiligen, die auf den Aufbau eines Rechtsstaates und einer effizienten Wirtschaft in Belarus nach europäischen Standards abzielen“. Allerdings stellt sich die Frage, wie lang man Reformpläne für die Schublade schreiben wird. Werden die nicht schon überholt sein, wenn die lichte Zeit eines neuen Belarus anbricht?

    Block Prakopjeu-Jahorau

    Der ehemalige Gastronom und leidenschaftlicher Regimekritiker Wadsim Prakopjeu und der Vorsitzende des jetzigen KR, Andrej Jahorau, haben den Block Prakopjeu-Jahorau aufgestellt, der ebenfalls ein konkretes Zweijahresprogramm anbietet. Vorgesehen ist dort unter anderem „ein Übergang der demokratischen Kräfte zur Selbstfinanzierung (Kaffeekasse)“. Das klingt spannend. Ist aber, sagen wir es mal so, eine Herkulesaufgabe.

    Auch sollen „überflüssige politische Entitäten entfernt werden“. Und eine „Optimierung der Struktur [der demokratischen Kräfte, ist hier wohl gemeint – A. K.] sowie die Vereinigung doppelnder Organisationen erreicht werden, damit die Ressourcen besser koordiniert und genutzt werden“. Eigentlich eine hochaktuelle Idee, weil sich die Ressourcen zusammenziehen wie Chagrinleder. Nur dass diejenigen, die unters Messer der Optimierung sollen, sich mit einem solchen Schritt wohl kaum abfinden werden.

    Zauberstab gesucht

    Insgesamt ist die Qualität der Programme sehr unterschiedlich. Einige sind eindeutig in Eile geschrieben und bestehen aus leeren Parolen. Andere enthalten konkrete Ideen. Dennoch stellt sich die Frage, inwieweit und auf welche Weise der KR bei der Umsetzung helfen kann. Welchen Zauberstab bekommen jene, die in den neuen Rat einziehen?

    Das Personal des aktuellen KR hat jedenfalls, milde gesagt, nicht zusammengefunden. Seine Legislaturperiode bleibt vor allem durch Skandale und nicht eingehaltene Deadlines in Erinnerung. Immerhin wurde die Entlassung eines Ministers von Zichanouskaja erreicht, nämlich die von Asarau.

    Eine starke Alternative?

    Der größte Reinfall war, dass die Frist für die nächste Wahl zum KR nicht eingehalten wurde. Schließlich bestand der Clou ja darin, diese Wahl parallel zu der „Nichtwahl“ des Lukaschenka-Regimes am allgemeinen Wahltag abzuhalten, dem 25. Februar. Man hatte verkündet: Wir bieten den Belarussen eine starke Alternative.

    Es wurde lange klug geredet, doch ist es nicht gelungen, sich rechtzeitig auf ein Wahlsystem zu einigen. Und hier hat nicht das Regime Knüppel zwischen die Beine geworfen; das haben sie selbst verbockt.

    Aber lieber spät als nie. Die Kandidaten rufen engagierte Belarussen verstärkt dazu auf, an der Wahl teilzunehmen. Von der Wahlbeteiligung wird die Legitimität des neu zusammengesetzten KR abhängen.

    Allerdings ist die Lage hier dramatisch. Es lässt sich leicht vorhersagen, dass vor allem die Diaspora zur Wahl gehen wird (und selbst die Frage, wie aktiv das sein wird, ist noch offen).

    Nachlassendes Interesse, Angst und begrenzte Legitimität

    Innerhalb von Belarus hat selbst bei denen, die man als Verfechter von Veränderungen bezeichnen könnte, allgemein das Interesse an der Tätigkeit der Oppositionsstrukturen im Ausland nachgelassen. Das geschieht vor allem deshalb, weil letztere offensichtlich nicht ernsthaft auf das Geschehen im Land Einfluss nehmen können, weil Lukaschenka die Lage dort zementiert hat. Er stützt sich dabei recht stark auf den Kreml, und die Wirtschaft wächst trotz der Sanktionen.

    Hinzu kommt, dass selbst der politisierte Teil der Bevölkerung durch ganz banale Angst von einer Stimmabgabe abgehalten werden kann. Die Silowiki waren bemüht, diese Angst durch Bots, Fake News und Videos mit Bekenntnissen von Leuten anzufachen, die angeblich bei der Registrierung beim Peramoha-Plan erwischt wurden. Und so sehr die Organisatoren der Wahlen auch versichern, dass die Plattform absolut sicher ist, wird ein gewisser Teil der Belarussen im Land lieber nichts riskieren.

    Der Koordinationsrat hat selbst dazu beigetragen, das Ansehen dieser Institution zu diskeditieren

    Schließlich muss deutlich gesagt werden, dass der jetzige KR selbst einiges dazu beigetragen hat, das Ansehen dieser Institution zu diskreditieren.

    Der Vorsitzende Jahorau erklärte Anfang April, dass man bei einer erfolgreichen Kampagne „mit einer Wahlbeteiligung von 50.000 und mehr“ rechne. 50.000 sind weniger als ein Prozent der belarussischen Wahlberechtigten. Wenn also eine derartige Ziffer erreicht wird, wäre die Legitimität der neuen Abgeordneten zwar größer als die ihrer Vorgänger, aber dennoch recht begrenzt.

    Keine Schwatzbude

    Am schwierigsten wird es für die neuen Abgeordneten zu beweisen, dass der KR keine Schwatzbude ist und keine zusätzliche Quelle von Zwist und Reibereien, sondern genau die Struktur, die die Anhänger eines Wandels in Belarus brauchen.

    In den KR ziehen ambitionierte politische Akteure ein. Einige Experten gehen davon aus, dass Latuschka, der mit der längsten Liste antritt (47 Kandidaten), das Protoparlament als Bühne nutzen wird, um seine politische Position zu stärken. Er selbst wendet sich leidenschaftlich gegen jeden Verdacht, er wolle die Stellung von Zichanouskaja untergraben.

    Trotzdem sprudelt das Thema hoch: Wenn er mit seinen Anhängern im KR die Mehrheit erringt, wird es dann zu einem Tauziehen kommen? Gerät diese Struktur zu einem ernsthaften Opponenten des Büros von Zichanouskaja? Wir können annehmen, dass die Mission des erfahrenen Dabrawolski mit seiner Liste darin besteht, ein solches Szenario zu verhindern und dem Team von Zichanouskaja ausreichend Einfluss im KR zu sichern.

    Und das ist nicht das einzige Spannende bei den anstehenden Wahlen.

    Wenn der Koordinationsrat lediglich zu einer Kampfarena gerät, wird sich die Krise der Opposition nur verstärken

    Wettbewerb ist natürlich gut. Er ist das Markenzeichen der Demokratie. Allerdings ist zu bedenken, dass die belarussischen demokratischen Kräfte sich unter extremen Bedingungen bewegen. Wenn der KR lediglich zu einer Kampfarena gerät, die ständig neue Kluften erzeugt, wird sich die Krise der Opposition nur verstärken. Wenn dort einhellig leere Beschlüsse verabschiedet werden, wird von ihm ebenfalls keine große Wirkung ausgehen.

    Für den neuen KR wird es äußerst wichtig sein, endlich eine überzeugende Mission dieser Institution auszuloten und seine Notwendigkeit nicht durch schöne Erörterungen zu beweisen, sondern in der Praxis. Diese Legislaturperiode wird für das weitere Schicksal des Koordinationsrates entscheidend sein.

    Weitere Themen

    Hier kommt Belarus!

    Die belarussische Diaspora: Erneuerte Solidarität

    Kampf der Oppositionen

    Der Abgrund ist bodenlos

    Unter dem Einfluss der russischen Welt

    Die Angst der Macht vor der Wahl

  • „Wie kann es sein, dass man die Sprache seiner Heimat nicht beherrscht?“

    „Wie kann es sein, dass man die Sprache seiner Heimat nicht beherrscht?“

    „Wie kann es sein, dass man die Sprache seiner Heimat nicht beherrscht?“ Mit diesem unter Belarussen und Ukrainern immer wieder heiß diskutierten Thema beschäftigt sich eine Ausgabe der Artikelserie Baljutschyja pytanni (dt. Schmerzhafte Fragen) von Media_IQ, in der Experten auf drängende Fragen der Zeit antworten und diese diskutieren. Dazu hat sich das belarussische Online-Portal zwei Koryphäen auf diesem Gebiet eingeladen: den belarussischen Sprachwissenschaftler und ehemaligen Oppositionspolitiker Winzuk Wjatschorka und die ukrainische Linguistin Larysa Masenko, die in der Ukraine als eine der führenden Forscherinnen zur ukrainischen Sprache gilt. Beide diskutieren in ihren jeweiligen Muttersprachen, Belarussisch und Ukrainisch, über die Dominanz des Russischen in ihren Ländern und über die Unterschiede in der Verwendung von Sprachen in der Ukraine und Belarus. Wir bringen einen Auszug des Gesprächs.

    Media_IQ: Sind russischsprachige Belarussen Belarussen? Und russischsprachige Ukrainer Ukrainer?

    Larysa Masenko: Die zentrale Frage an dieser Stelle ist aus meiner Sicht: Welche Antwort gibt die Person auf die Frage nach der Muttersprache (ukr. ridna mowa)? Wenn ein russischsprachiger Ukrainer oder ein russischsprachiger Belarusse antworten, dass ihre Muttersprache Ukrainisch respektive Belarussisch ist, dann kann man sie als Ukrainer beziehungsweise Belarussen betrachten. 

    Mit der Unterstützung internationaler Organisationen haben wir 2006 eine große Befragung in der Ukraine durchgeführt. Wenn man die Ergebnisse betrachtet, so nannten 15 Prozent der Ukrainer Russisch als ihre Muttersprache, sie lebten mehrheitlich im Osten und Süden des Landes. Bei den Bewohnern von Kyjiw, dessen Großteil leider auch russischsprachig ist, gibt jedoch die Mehrheit als Muttersprache Ukrainisch an. Anhand dieses Kriteriums kann man also tatsächlich erkennen, ob eine Person ukrainisch ist und eine ukrainische Identität hat, obwohl sie Russisch spricht. 

    Winzuk Wjatschorka: Bei uns ist die Situation komplizierter. Unter anderem, weil wir keine konkrete, sichere Antwort auf die Frage haben, wie viele Belarussen das Belarussische als Muttersprache betrachten und was sie unter diesem Begriff überhaupt verstehen – Muttersprache. Die Sache ist, dass in der internationalen Soziolinguistik eine ganze Bandbreite an Bezeichnungen für die sprachliche Identität und das Sprachverhalten des Menschen existieren. Da gibt es mother tongue, die Muttersprache oder Erstsprache. Es gibt die Hauptsprache, die der Mensch am besten beherrscht, die Sprache, die er üblicherweise im Alltag verwendet. Und es gibt die sprachliche Identität – mit welcher Sprache verbindet der Mensch seine Herkunft, seine Familie, seine Zukunft und letztlich auch seine Nationalität.

    Belarussisch als Muttersprache, auch wenn die Mutter gar nicht Belarussisch sprach – das waren die Opfer der sowjetischen Russifizierung der 1960er und 1970er Jahre

    Bei uns wurde früher in den Volksbefragungen die Frage nach der Muttersprache ohne Erläuterung gestellt, wodurch die Befragten ihre eigene Interpretation zugrunde legen konnten, so auch das Konzept der Sprachidentität. Wenn jemand also nicht täglich Belarussisch sprach, oder nicht die belarussische Literatursprache, konnte er die belarussische Sprache dennoch als seine rodnaja mowa betrachten, also die Sprache seiner Familie und Herkunft, oder sie gar als Muttersprache bezeichnen, auch wenn seine Mutter gar nicht Belarussisch mit ihm sprach (das waren die Opfer der sowjetischen Russifizierung der 1960er und 1970er Jahre), aber die Mutter seiner Mutter, also die Großmutter, noch Belarussisch gesprochen hatte. So ergibt sich eine Perspektive, dass seine Kinder und Enkel wieder Belarussisch sprechen werden, und das hat bei uns ja tatsächlich stattgefunden – die Rückkehr zur belarussischen Sprache nach ein oder zwei Generationen.

    Was bedeutet eigentlich Belarussisch sprechen?

    Sehr wichtig ist aber auch, dass die Menschen, die selbst zurückgefunden haben oder ihre Kinder an die belarussische Sprache heranführen, sich dessen bewusst sind, dass dies die Sprache ihrer Herkunft, ihrer Familie ist. In den späteren Volkszählungen, die schon unter Lukaschenka stattfanden, wurde auf einmal erläutert, was unter rodnaja mowa zu verstehen sei: Nämlich jene Sprache, die der Mensch zuerst in seiner Kindheit gelernt hat. Damit wurde den Menschen praktisch das Recht entzogen, die Sprache ihrer Identität anzugeben. Dadurch ergab sich zwischen den Umfragen 1999 und 2009 ein absolut katastrophaler Einbruch bei den Zahlen zur sprachlichen Identität – 22 Prozent weniger gaben Belarussisch als Muttersprache an.

    Es ist wirklich beispiellos, dass sich innerhalb von zehn Jahren die sprachliche Identität einer kompletten Bevölkerung so verändert! Einerseits liegt das an der antibelarussischen Politik des Lukaschenka-Regimes, andererseits an der Veränderung der Fragestellung, durch die man Belarussisch nicht mehr als rodnaja mowa angeben konnte. 

    Ein weiterer wichtiger Punkt: Was bedeutet eigentlich Belarussisch sprechen? Wie ich schon sagte, umfasst das nicht nur die Verwendung der Standardsprache. Jede Person, die einen Dialekt spricht, spricht ohne Frage Belarussisch. Die Person selbst versteht das vielleicht als Mischsprache: „Sie wissen schon, wie wir sprechen – ein belarussisches Wort, ein polnisches Wort, ein russisches Wort, ein belarussisches Wort, ein ukrainisches Wort …“ Es ist abhängig von der Geografie. Tatsächlich sind das aber belarussische Dialekte. Nur war es den Menschen nicht möglich zuzugeben, dass sie Belarussisch sprechen – es galt als unfein. 

    In der Sowjetzeit galt das als peinlich. Und auch jetzt ist es wieder unangenehm. Dabei ist doch eine Person, die das Belarussische passiv beherrscht, es versteht und gut beherrscht, letztlich auch belarussischsprachig. Worauf ich hinaus will: Eine Person, die im Alltag Russisch spricht, aber das Belarussische versteht und beherrscht, einige Wörter einbaut, kann potenziell jederzeit zu dieser Sprache zurückkehren. Die Person ist potenziell belarussischsprachig. Und wenn irgendwelche emsigen Soziologen sagen, dass bei uns nur drei Prozent oder fünf Prozent Belarussisch sprechen, dann verstehen sie diese Hintergründe einfach nicht. 

    Insofern ist ohne Frage jeder, der Russisch spricht, aber diesen Hintergrund, diese Vorgeschichte hat, ein Belarusse, und besitzt mithin die Option, zur belarussischen Sprache zurückzukehren.

    In der Ukraine ist es wichtig, die ridna mowa als Sprache meines Volkes, meines Landes zu behandeln 

    L.M.: Hier wurde eine wichtige Frage aufgeworfen: Was ist die Muttersprache, wenn die Eltern russischsprachig sind. Bei uns sind die Großstädte am stärksten russifiziert, in den Städten leben viele Menschen, dort fand die Industrialisierung statt, es gab viel Zuzug, und so entstand der Schmelztiegel der Russifizierung. Die Kleinstädte und Dörfer verloren ukrainischsprachige Einwohner. Für die Kinder dieser Generation, die in die Städte zogen und zum Russischen übergingen, war das Ukrainische oft die Sprache von Oma und Opa, es war die Sprache ihrer Ahnen, die Sprache aller vorangegangenen Generationen. In diesem Sinne ist das Ukrainische also zweifellos ihre Muttersprache, ridna mowa. Ich möchte außerdem sagen, dass wir für unsere Situation folgende Definition gefunden haben: ridna mowa ist die Sprache meines Landes. Ich verstehe, dass ridna mowa in anderen Ländern anders definiert wird, wie Sie bereits gut beschrieben haben, am weitesten verbreitet ist das Konzept der Muttersprache. Ja, ridna mowa ist die Sprache der Mutter, von ihr lernt das Kind diese Sprache. Aber in Anbetracht unserer Situation ist es, denke ich, ebenfalls wichtig, ridna mowa als Sprache meines Volkes, meines Landes zu behandeln.

    Ist es im 21. Jahrhundert korrekt, die Identität eines Menschen über die Sprache zu definieren?

    L.M.: Die sprachliche, ethnische und nationale Identität sind doch sehr eng miteinander verbunden. In allen Ländern, hauptsächlich in den europäischen Ländern, gibt es nur eine Amtssprache; es gibt nur sehr wenige zweisprachige Staaten. Diese kann man separat besprechen, dort gibt es fast immer einen Konflikt, da jedes Volk, jede Nation ihre Identität unstrittig hauptsächlich über die Sprache definiert. Jedoch nicht nur über die Sprache, sondern auch über die Kultur, die in dieser Sprache geschaffen wird, denn in der Kultur kommt die Identität sehr klar zum Ausdruck.

    Deshalb ist es unbedingt notwendig, das Ukrainische bei uns zu verbreiten. Im Moment gibt es einen großen Umbruch, einen großen Bruch im Verhältnis zu Moskau …

    Und es hat ein starker Wechsel vieler russischsprachiger Ukrainer zum Ukrainischen begonnen. Tatsächlich hat dieser Prozess bereits nach der Revolution der Würde aktiv an Fahrt aufgenommen, nachdem im Jahr 2019 endlich das Gesetz Über die Staatssprache eingeführt wurde, das klar definierte, in welchen Bereichen das Ukrainische als Amtssprache verpflichtend zu verwenden ist. Putin und sein Umfeld dachten, nur weil es zu Sowjetzeiten gelungen war, einige Städte zu russischsprachigen zu machen, besonders die Großstädte im Osten und Süden, würden die Menschen dort die russische Armee mit Brot und Salz empfangen. Aber das Gegenteil war der Fall, die Ukrainer sehen Russland nun bewusst als Feind, sie sehen den genozidalen Krieg, der zum Zweck der Vernichtung der Ukrainer geführt wird. Ihr Widerstand ist sehr stark geworden und viele Menschen wechseln nun zur ukrainischen Sprache.

    Am schlimmsten ist, dass der Status des Belarussischen als alleinige Staatssprache nicht erhalten werden konnte

    W.W.: Die ukrainische Situation ist natürlich eine epochale Kraftprobe. Einerseits hat sich der ukrainische Staat stark für die ukrainische Sprache eingesetzt, worauf wir Belarussen in unserer aktuellen Situation nur mit Neid blicken können. Denn der aktuelle Staat, der sich Belarus nennt, verdrängt die belarussische Sprache funktional und zielgerichtet, letztlich muss man schon sagen, er vernichtet sie. Andererseits ist die Ukraine Ziel eines verbrecherischen Angriffs geworden, der unter anderem gerade mit einer sprachlichen Argumentation begründet wird. Das brachte alle an Russland angrenzenden Völker dazu aufzuwachen und zu verstehen, dass dieses Russland und die aufgezwungene Russischsprachigkeit, die von einigen als Reichtum betrachtet wird, da die russische Sprache zu den Weltsprachen gehöre und eine Brücke zu kulturellen, wissenschaftlichen und allerlei anderen Reichtümern darstelle, in Wirklichkeit die Brücke zum Einmarsch des Aggressors ist …

    Um auf die Frage zurückzukommen, ob die sprachliche Identität identisch ist mit der nationalen – ja, ich denke, dass die aktuelle sprachliche Situation in Belarus instabil und entropiehaft ist. Wenn wir in der kurzen Periode der realen Unabhängigkeit und der relativen Demokratie in der ersten Hälfte der 1990er Jahre innerhalb von sechs Jahren der belarussischen Sprache ihren Status zurückgeben konnten, ein bis zwei Millionen Schüler durch das belarussischsprachige Bildungssystem lotsen konnten, dann trat eine sprachliche Wirkung ein, die dann mit Gewalt wieder aus der Gesellschaft herausgepresst wurde, nachdem gerade sprachliches Selbstbewusstsein und funktionale sprachliche Normalität zurückgekehrt waren.  

    L.M.: Am schlimmsten ist, dass der Status des Belarussischen als alleinige Staatssprache nicht erhalten werden konnte, so wie es in der Ukraine gelungen ist. Als Lukaschenka an die Macht kam, wurde das belarussische Sprachengesetz geändert, und Russisch wurde neben Belarussisch zur Staatssprache erklärt. Natürlich öffnete das den Russifizierern und Kolonisatoren Tür und Tor. Es ist sehr bedauerlich, dass durch verschiedene Manipulationen, faktisch durch Betrug der Bevölkerung, eine Person wie Lukaschenka an die Macht gekommen ist. Denn Lukaschenka verachtet die belarussische Sprache, er hat geäußert, dass es nur zwei große Sprachen gäbe – Russisch und Englisch, Belarussisch hingegen sei sehr arm, man könne damit keine technischen Sachverhalte beschreiben, da es keine Fachtermini gäbe, und so weiter. Wie soll eine Sprachenpolitik mit einem solchen Präsidenten aussehen?

    Auch bei uns ist die sowjetische Politik noch spürbar, dass damals die hervorragendste Elite, die das Ukrainische verteidigte, ins Lager geschickt wurde, und die Russifizierung stark vorankam. Besonders unter Schtscherbyzky in den 1970er Jahren, der die ukrainische Sprache aus dem offiziellen Gebrauch nahm, auch in der Partei. 

    Sind die ukrainische und belarussische Sprache durch ihre Nähe zum Russischen bedroht?

    L.M.: Bei uns wird häufig nicht berücksichtigt, dass es einen Unterschied zwischen der individuellen Zweisprachigkeit und der staatlichen Zweisprachigkeit gibt. Wenn ein Mensch zwei Sprachen beherrscht, oder heutzutage oft auch drei, denn unsere Schüler und Studenten lernen ja auch intensiv Englisch, dann ist daran überhaupt nichts Schlimmes, im Gegenteil.

    Die staatliche Zweisprachigkeit ist jedoch ein ausgesprochen negatives Phänomen, besonders, wenn sie so ausgeprägt ist wie bei uns, in einem postimperialen Raum, wo die gesamte Bevölkerung der Ukraine und Belarus‘ in der sowjetischen Zeit Russisch lernen musste, da andernfalls keine berufliche Karriere möglich war.

    Diese Sprache verdrängte die lokalen Sprachen, so dass dieser Bilinguismus, wie sogar Wissenschaftler aus anderen Ländern bestätigen, ein Zustand des Ungleichgewichtes war, in dem ein ständiger Konflikt zwischen zwei Sprachen herrschte, da eine Sprache die andere Sprache aus deren heimischem Territorium verdrängen wollte. Ein solcher Konflikt wird nur durch den Sieg einer der beiden Sprachen gelöst, oder durch den Zerfall des Staates in zwei Teile, wie es beispielsweise in Belgien der Fall ist.

    W.W.: Ich würde die regionale Betrachtung etwas eingrenzen. Wir sind in Mittelosteuropa, und für Mittelosteuropa ist staatliche Zweisprachigkeit etwas sehr Exotisches. Die einzige Ausnahme ist zum großen Leidwesen Lukaschenkas Belarus. Auch wenn Lukaschenka hundertmal sagt „Wir haben kein Sprachproblem, es wird uns untergeschoben“, so war er es doch selbst, der nach seinem durch populistische Losungen errungenen Wahlsieg 1994 die unausweichlichen Probleme beim wirtschaftlichen und politischen Aufbau eines jungen Staates gleichsetzte mit dem Sprachenproblem, als er nämlich sagte: All diese bewussten Menschen mit ihrer Sprache seien schuld an all diesen Problemen. Das Referendum begann er ausgerechnet mit der Sprachenfrage. Er verwirrte die Menschen und stellte eine die Identität betreffende Frage, was der damaligen Gesetzeslage nach bei einem Referendum eigentlich nicht zulässig war. Die Ergebnisse sollten nur beratenden Charakter haben, aber Lukaschenka entwickelte schon damals seine eigene Haltung zu Gesetz und Verfassung. Er betrachtete das Ergebnis als verbindlich und so wurden wir das einzige postsowjetische Land, und darüber hinaus auch das einzige mittelosteuropäische Land, mit zwei Staatssprachen – und die Folgen ließen nicht lange auf sich warten. 

    In komplizierten Situationen, wie der belarussischen, kann es eine Übergangszeit geben

    Bereits 2007 nahm die UNESCO die belarussische Sprache in ihren unheilvollen Atlas der gefährdeten Sprachen auf, da der Prozentsatz der Menschen, die in den Folgegenerationen die Sprache von ihren Eltern oder in der Schule lernen würden, auf ein gefährliches Niveau gesunken war. Noch stehen wir auf der ersten Stufe der Bedrohung, aber vielleicht hat sich das seit 2007 auch schon geändert und wir sind in diesem bedrohlichen UNESCO-Atlas eine Stufe höher geklettert.

    Der Status der Staatssprache bedeutet, dass ein Staatsbeamter verpflichtet ist, diese Sprache zu verwenden, dass der Staat verpflichtet ist, die Rechte dieser Sprache zu schützen, dass ich, als Belarussischsprachiger, das Recht habe, mich auf Belarussisch an jede beliebige staatliche Institution zu wenden, und auf Belarussisch eine Antwort erhalte. Nicht mehr und nicht weniger. 

    In komplizierten Situationen, wie der belarussischen, kann es eine Übergangszeit geben. In Kasachstan, wo der demokratische Charakter des politischen Systems zwar infrage steht, wird das Kasachische als Staatssprache beispielsweise für einige Zeit begleitet von Russisch als zweiter Amtssprache, das aber nicht Staatssprache ist. Allmählich, langsam, aber sicher, nähert man sich so einem Zustand, in dem die kasachische Sprache vollwertig und allgegenwärtig gebraucht wird. 

    Wenn Menschen, die sich für das Belarussische als einzige Staatssprache aussprechen, ein Hang zu Gewalt und Zwang nachgesagt wird, verfälscht das schlicht die Realität. Im Jahr 1990, als die Entscheidung getroffen wurde, Belarussisch zur alleinigen Staatssprache zu machen, beschloss man eine sehr sanfte Zeitschiene: fünf bis sechs Jahre, für das juristische Feld sogar zehn Jahre Zeit, um vollständig zur belarussischen Sprache überzugehen, unter Berücksichtigung der Ausbildung von Fachkräften, Entwicklung der Terminologie, Buchdruck, Übersetzung der Gesetzgebung. Hätte es 1994 nicht diesen populistischen Umsturz gegeben, hätten wir heute eine Situation ähnlich wie in der Ukraine. Diese Lehre sollten wir verinnerlichen und Fehler nicht wiederholen. 

    Weitere Themen

    Die moderne belarussische Sprache

    Russophonie – Russische Sprache im Plural

    Revolution der Würde

    Wegbereiter der Unabhängigkeit

    Grenzen, Sprachen und das Schweigen: Eine Kartografie unserer Zukunft

    Sprache und Revolution

  • „Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung“

    „Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung“

    Die Cyberpartisanen haben die offizielle Webseite des belarussischen KGB gehackt und konnten dabei Datenbanken erobern, darunter auch rund 40.000 Nachrichten, die von 2014 bis 2023 über die Website an den Geheimdienst gesendet wurden. Belarussische Medien haben diese Nachrichten durchforstet und dabei Denunziationen ausfindig gemacht, in denen Menschen andere beim KGB anschwärzen. Es sind nicht nur Belarussen, die ihre Landsleute denunzieren, sondern auch Russen oder sogar EU-Bürger, die sich mit Vorwürfen, Verdächtigungen und Handlungsaufforderungen an die Geheimdienstler wenden. 
    Der Historiker Aljaxandr Paschkewitsch meint, dass „das Ganze zunächst systematisiert“ werden müsse, um allgemeine Schlussfolgerungen aus den Funden ziehen zu können. Es sei jedoch klar, dass es sich bei der Mehrheit nicht um eindeutige Denunziationen handeln würde, sagt Paschkewitsch. Die Redaktion der Online-Plattform Nasha Niva hat recherchiert, dass es sich beim weitaus großen Teil der Nachrichten um Spam handelt, dazu kommen Meldungen von Menschen, die offensichtlich psychisch krank sind, und zahlreiche Anfragen von Menschen zu Verwandten und Bekannten, die in der Zeit des Großen Terrors verschwunden sind, oder zu Menschen, die nach den Protesten von 2020 festgenommen wurden. „Es ist schwierig, eine konkrete Zahl der tatsächlichen Denunziationen von Belarussen zu nennen, eine manuelle Zählung wäre erforderlich.“ Höchstwahrscheinlich übersteige ihre Zahl, schätzt Nasha Niva, nicht 1000 bis 2000 Nachrichten.

    Igor Lenkewitsch vom Online-Medium Reform hat sich eine Auswahl an Denunziationen genauer angeschaut. Darunter viele Hinweise auf Menschen, die während und nach den Ereignissen von 2020 die weiß-rot-weiße Protestsymbolik verwendeten, die mittlerweile verboten ist, aber vor allem auch Nachrichten von Leuten, die Kollegen oder Nachbarn offensichtlich eins auswischen wollten, und sogar ein Angebot von einer Initiative, die sich mit einem absurden Plan dem KGB andienen wollte.

    Nachbarn, Kollegen, Mitbewohner

    „Ich möchte der Organisation zur Terrorismusbekämpfung mitteilen, dass *** im staatsnahen Einkaufszentrum Korona im Restaurant Amsterdam arbeitet, die die weiß-rot-weiße Bewegung vorbehaltlos unterstützt, ihr Profil auf Facebook heißt ***, solche Menschen sollten nicht in Unternehmen der Republik Belarus arbeiten.“

    Diese Anzeige wurde eindeutig von einem oder einer Bekannten erstattet. Oder einem Kollegen, einer Kollegin. Vielleicht sind sie aneinandergeraten, waren sich uneinig über das Speisenangebot oder darüber, wie die Kunden zu bedienen seien? Wir können nur raten. Aber hier ist sie, die Anzeige, und zwar nicht irgendeine, sondern bei der Organisation zur Terrorismusbekämpfung. Wenn schon, denn schon.

    Hier das Schreiben einer Dame aus Baranowitschi: „In unserem Büro arbeiten unter anderem *** und ***, die seit Juli/August 2020 bis heute während der Arbeitszeit Nachrichten aus extremistischen, staatsfeindlichen Quellen besprechen, sich aggressiv gegen den Präsidenten und die Regierung äußern, auf widerliche und zynische Weise die Staatssymbolik beleidigen und gehässig und boshaft die staatlichen Sicherheitsstrukturen und Strafverfolgungsbehörden durch den Dreck ziehen. Im Herbst letzten Jahres brüsteten sie sich unverhohlen mit ihrer Teilnahme an nicht genehmigten Weiß-Rot-Weiß-Demonstrationen.“ 

    Und hier noch die Denunziation einer Staatsbürgerin, die sich nicht als „Petze“ empfindet: „Ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich einen Mann kenne, der die Situation in Lida destabilisieren will. Er ist weiß-rot-weiß gesinnt und vor ein paar Tagen, soweit mir bekannt, aus dem Ausland eingereist. Was er dort macht, weiß ich nicht, aber er hat eine Summe von über 15.000 Euro mitgebracht. Ich weiß, er hat Geldkarten von europäischen Banken. Ich bin mir sicher, so provokativ wie er eingestellt ist, dass dieses Geld den smahary zugute kommen wird. Ich bitte Sie sehr, diesen Mann zu überprüfen, weil das zu Unruhe führt. Ich weiß, dass er zu Demonstrationen geht, in seinem Mobiltelefon werden Sie genügend Informationen finden. Ich habe mich nie für eine, entschuldigen Sie die Wortwahl, Petze gehalten, aber ich mache mir große Sorgen um die Zukunft meines Landes und der Kinder.“ Es folgen die Daten der Person, gegen die sich die Anzeige richtet. Natürlich ausschließlich aus Sorge „um die Zukunft“.


    Weiter geht’s. Der Direktor der *** GmbH namens – vollständiger Name – „beschäftigt Anhänger der weiß-rot-weißen Bewegung, die aus dem Belarussischen Metallurgiewerk BMS entlassen wurden. Normale Leute nimmt er nicht. Wir bitten, Maßnahmen zu ergreifen und das zu klären.“ Man kann davon ausgehen, dass diese Anzeige von so einem „Normalen“ stammt, der sich beworben hatte und der, aus welchen Gründen auch immer, abgeblitzt ist. Woraufhin er das einfach so hingeschmiert hat.

    Sie führt ein Doppelleben, und ich halte das für Verrat

    Auch Nachbarn lassen sich zu Denunziationen hinreißen. Zum Beispiel ein Minsker aus der Prityzki-Straße: „Guten Abend. An der Adresse *** wird eine Wohnung an verdächtige Leute vermietet. Immer wieder hängen sie weiß-rot-weiße Fahnen auf und laden Gäste ein, die laut sind. Ich bitte, diese Wohnung und ihre Mieter zu überwachen. Und den Vermieter zur Rede zu stellen.“ So sind die Methoden im Kampf gegen lärmende Nachbarn.

    Und auch das kommt aus Minsk, von wachsamen Nachbarn in der Rafijew-Straße: „Wir melden Ihnen, dass die beiden in der Wohnung Nr. *** wohnenden Frauen, von der die eine *** heißt und die jüngere ihre Tochter *** ist, Verachtung für die vom Präsidenten der RB [Republik Belarus – dek] durchgeführte Politik äußern, andere dazu anstiften, Unzufriedenheit kundzutun und abends zu Protestaktionen im Hof einladen.“

    Nein, wir haben natürlich nicht das Jahr 1937. Die Nachbarn denunzieren nicht, um das Zimmer in der Kommunalka zu bekommen, das nach der Verhaftung der Beschuldigten frei wird. Die Wohnung Nr. *** wird ihnen keiner zusprechen, und das wissen sie. Ist ihr Motiv also der gute alte Klassenhass? 

    Hier geht es um beinah verwandtschaftliche Beziehungen: „Guten Tag! Meine Aufgabe ist, Folgendes mitzuteilen, was Sie mit der Info machen, ist Ihre Sache. Die Schwester meines Mitbewohners *** ist Staatsbürgerin der RB und arbeitet seit zehn Jahren in Belgien. Sie ist Programmiererin. Sie lebt jetzt mit ihrem Chef zusammen. Meinem Mitbewohner zufolge ist es ihr gemeinsamer Job, Informationen zu sammeln und zu verkaufen. Sie kommen immer einmal im Jahr hierher, dieses Jahr zweimal. Wir unterhielten uns, und offenbar ist sie eine glühende Russophobin, Anhängerin der weiß-rot-weißen Sekte und aller faschistischen Führungsmethoden, die in der Ukraine zur Anwendung kommen. Das letzte Mal waren sie ungefähr vom 7. bis 11. Dezember da.“ Diese Bürgerin verdächtigt also die Schwester ihres Mitbewohners, Spionage zu betreiben. Was sie eilig den Behörden meldet.

    Und hier eine sehr traurige Geschichte: eine Denunzierung der Ex-Freundin. Die Anzeige ist lang, daher fasse ich sie zusammen und füge Zitate ein. „Guten Tag. Ich halte es für meine Pflicht, Sie über eine gewisse Person zu informieren“, eröffnet der Verfasser sein Opus. Er erzählt von einer Journalistin der staatlichen Medien, die „seit dem 18. August 2020, wie auch ihre Verwandten, an Demonstrationen teilnahm. Aus Gründen lebten wir zusammen, und nach den Wahlen am 9. August, als alles begann, verbat ich ihr, etwas auf die Straße zu gehen. Aber sie hat nicht auf mich gehört.“

    „Bald sprach sie nach der Arbeit immer öfter davon, dass alles schlecht sei und man etwas unternehmen müsse. Am 12. Dezember 2020 fing sie sehr schnell und nervös davon an, dass wir dringend nach Piter müssen, weil alles ganz schlimm sei und keiner wisse, wie das weitergehe. Ich beschloss, mit ihr auszureisen. Immerhin war sie meine Freundin. Wir holten ihre Tochter, und am 26. Dezember brachte ich uns alle auf illegalem Weg nach Piter. Im Nachhinein ist mir klar, dass das ein riesiger Fehler war. So lebten wir bis April. Der Umzug nach Piter kostete mich enorm viel Geld, das ich mir geliehen habe und immer noch schulde. Doch im April fingen wir an zu streiten, sie ging zurück nach Belarus, und Ende Juni sah ich sie wieder im Fernsehen. Das fand ich sehr unangebracht, weil sie ja für die Opposition eintritt. Und mir wurde natürlich klar, dass sie mich einfach vorübergehend für ihre Zwecke benutzt hat. Sie führt ein Doppelleben und ich halte das für Verrat.“

    Dann fügt der Verfasser hinzu, dass er bereit sei, „als Zeuge auszusagen, wenn nötig, unter Anwendung eines Lügendetektors.“ Er mache das nicht „aus Rache, weil wir getrennt sind, sondern weil ein Mensch für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden und dafür einstehen muss“. „Außerdem habe ich ihretwegen gesundheitlichen und finanziellen Schaden erlitten (hohe Schulden) und meine psychische Stabilität eingebüßt. Ich bitte, in dieser Angelegenheit für Gerechtigkeit zu sorgen. Danke.“

    Die Leute, die diese Anzeigen schrieben, gingen wahrscheinlich davon aus, dass die Schriftstücke geheim bleiben würden. Aber dann kam es anders. Die Lustrationen von Seiten der Hacker begannen unerwartet früh. Das ist aber alles nur die Spitze des Eisbergs: Obige Denunziationen wurden allein anhand des Suchbegriffs „weiß-rot-weiß“ in der Datenbank gefunden. Mit anderen Suchbegriffen kann man bestimmt noch viel Aufschlussreiches ausheben. Aber das Grundmotiv ist klar. In diesen konkreten Fällen braucht man nicht anzufangen, über den Grad der ideologischen Spaltung der Gesellschaft nachzudenken – in meinen Augen ist das ganz banale Rache. 

    Ich hasse diese smahary, die für irgendeinen Mist kämpfen

    In anderen Fällen darf man ideologische Motive jedoch nicht ausschließen. Manchmal wenden sich idealistische Bürger sogar mit konkreten Anregungen und Empfehlungen an den KGB. So schlägt hier ein Genosse noch härtere Maßnahmen vor: „Wenn im Gefängnis kein Platz mehr ist, bringt sie doch in Militärkasernen und lasst sie die Drecksarbeit machen, Minderjährige eingeschlossen.“

    „Die Verletzten sollten am besten einzeln weggesperrt werden, denn gerade für Fotos mit Zusammengeschlagenen gibt es gutes Geld. Außerdem braucht es Höchststrafen für bezahlte Demonstranten und finanzielle Anreize für Leute, die aktiv jede Aktivität der Weiß-Rot-Weiß-Bewegung unterwandern“, raten andere. Wieder andere bieten schlicht ihre Dienste als Spitzel an: „Ich hasse diese smahary, die für irgendeinen Mist kämpfen, mit ihrer weiß-rot-weißen Fascho-Symbolik. Deshalb bin ich bereit, bei Bedarf Informationen weiterzugeben, die Ihnen, den Wächtern des Vaterlands, dabei helfen, das Land vor dem Verfall zu retten, damit es nicht wird wie … in der Ukraine zum Beispiel … Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung. Bitte geben Sie meine Adresse nicht weiter. Ich befürchte Konspiration. Danke Ihnen für alles! Allein schon dafür, dass ich mich mitteilen konnte.“

    Mit Kuhmist gegen Proteste

    Eine Bürgerinitiative hat dem KGB sogar einen detaillierten Plan „zur endgültigen Unterbindung bezahlter Demonstrationen“ vorgelegt. Sie nennen das Projekt Operation Pastuschok (dt. kleiner Hirte) und behaupten, es sei „bestens auf die Mentalität unserer Landsleute zugeschnitten, überaus einfach und rentabel“. Diese Initiative verdient eine eingehendere Betrachtung. Für die Umsetzung ihres Vorhabens benötigen die Verfasser 50 Kühe, eine zwanzigköpfige Menschengruppe und Tierfutter. Die Menschen sollen „die Zunge im Zaum halten können und dabei freundlich sein, insbesondere gegenüber Journalisten. So sollen dann eines schönen Morgens in der Nähe des Unabhängigkeitsplatzes 50 Kühe unter Aufsicht von fünf bis acht Menschen auftauchen, „die die Rolle der Landwirte übernehmen". Sobald sich die bezahlten Demonstranten auf dem Platz versammeln, soll sich die Herde in deren Richtung bewegen.

    Ein Wort an die Planer: „Die Bauern sollen mit polnischen weiß-rot-weißen Flaggen laufen und höhere Löhne, den Bau eines großen landwirtschaftlichen Betriebs sowie einer Molkerei fordern. In regelmäßigen Abständen sollen vier bis fünf Personen Futter für die Kühe bringen. Die wütenden Bauern sollen die Demonstranten so weit wie möglich einbeziehen, um beim Verteilen von Heu und Füttern der Kühe zu helfen. Danach ist es an der Zeit, die Kühe zu melken, woran sich die Demonstranten ebenfalls beteiligen sollen. Für ihre Mitarbeit bekommen sie kostenlos leckere, noch warme Milch. Nach einer Weile werden die Kühe anfangen, auf den Platz zu scheißen. Wenn die Demonstranten sich nicht daran stören, bleibt der Kuhmist einfach liegen und wenn doch, dann sollen die Bauern den Demonstranten Schneeschaufeln geben und sie der Reihe nach die Fäkalien auf einen Haufen schaufeln lassen. Die Polizei soll davon KEINE Notiz nehmen.

    Die wütenden Bauern sollen darauf hinweisen, dass sie keine Zeit zum Putzen haben. Eine der Kühe könnte man im Laufe der Aktion zusammen mit den Demonstranten weiß-rot anmalen und die Demonstranten dazu ermuntern, sich mit ihr fotografieren zu lassen. Diese Kuh wird so für ein paar Tage zum Symbol der Demonstranten.

    Der Überraschungseffekt: Die gemeinsame Arbeit bewirkt einen Schulterschluss der wütenden Bauern mit den Passanten. Zunächst werden die Demonstranten das Geschehen mit Interesse verfolgen, bis sie irgendwann durch Kuhmist laufen müssen in typisch würziger Landluft. Dann ist der Moment gekommen, den Demonstranten seitens der Stadtverwaltung vorzuwerfen, dass sie sich nicht nur wie Schafe benehmen, sondern wie eine ganze Viehherde. Man kann sie zum Beispiel beschuldigen, dass sie die Hauptstadt zuscheißen oder spontan andere Vorwürfe gegenüber den Demonstranten und ihren Organisatoren erfinden. Das Ergebnis: Die bezahlten Demonstranten werden sich weigern, weiterhin für 30 Dollar Honorar durch Scheiße zu laufen und sich die Kleidung dreckig zu machen. Entweder werden sie Geld von den Organisatoren fordern oder weggehen. Oder man könnte mit Hilfe der Kühe ganz aus Versehen die aktivsten Demonstranten von den Plätzen wegdrängen.

    Denkbar ist, dass die Organisatoren den Demonstranten dann ein höheres Honorar zahlen oder sie an einen anderen Ort schicken. Die ‚wütenden Bauern‘ sollen dann ebenfalls den Ort wechseln und den bezahlten Demonstranten folgen – und hier kommen nun die anderen Leute aus der Gruppe ins Spiel, die diskret als Informanten fungieren und vorgeben, wohin sie die Herde treiben sollen. Die Kundgebung der Opposition wird mit dem Geruch von Scheiße assoziiert in Erinnerung bleiben. Fazit: Mit Ihrer Erlaubnis wird die Pastuschok-Methode zum ersten Mal in der Geschichte der Farbrevolutionen dazu beitragen, die Pläne der Übeltäter und Landesverräter endgültig unschädlich zu machen.“

    Weiterhin bekunden die Autoren des Konzepts ihre Bereitschaft, „zum Wohle unseres Staatsoberhaupts und unseres Belarus persönlich und unentgeltlich an dieser Aktion teilzunehmen.“

    Kaum auszudenken, was aus Minsk geworden wäre. Was soll man von diesem Vorschlag halten? Ist das eine ernstgemeinte Initiative „von unten“ oder ein erstklassiger Fake? Mit solchen Verbündeten braucht man jedenfalls keine Feinde. Man muss ihnen nur die Initiative überlassen. Und nein, ich weiß nicht, warum so viele Denunzianten nicht ordentlich schreiben können. Wobei das viel aussagt.

    Das Ganze wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Dabei ist es nicht einmal so wichtig, ob die Denunziationen aus Liebe zum Regime oder aus persönlichen Rachegelüsten heraus erfolgen. Fest steht, dass sie unter den Bedingungen der anhaltenden Repressionen immer zahlreicher werden. Wahrscheinlich haben die Optimisten recht, und wir befinden uns noch nicht im Jahr 1937. Aber wo dann? Anfang der 1930er?

    Weitere Themen

    Weiß-Rot-Weiß ist der Protest

    Nächster Halt: BSSR 2.0

    Der Abgrund ist bodenlos

    Kurapaty: Der lange Weg zur Wahrheit

    Der Große Terror

  • „Man muss Realist sein, wenn man gegen eine Diktatur kämpft“

    „Man muss Realist sein, wenn man gegen eine Diktatur kämpft“

    Sasha Filipenko hat sich seit den Ereignissen im Jahr 2020 in Belarus auch in der internationalen Welt zu einer der wichtigsten belarussischen Stimmen entwickelt. Der Schriftsteller, der in Sankt Petersburg studierte und lange in Russland als Drehbuchautor, Fernsehmoderator und Autor arbeitete und lebte, äußert sich regelmäßig zu den politischen Entwicklungen in seiner Heimat. Seine Literatur schreibt er auf Russisch. Nun sind zwei seiner Romane auf Belarussisch erschienen. Aus diesem Anlass hat sich Kazjaryna Kulakowa für das Online-Medium Salidarnasc/Gazeta.by mit Filipenko unterhalten – über die Sprachenfrage in Belarus, über das Leben im Exil und darüber, warum über Belarus in unseren Breiten so wenig bekannt ist.

    Sasha Filipenko: Die Übersetzung meiner Bücher ins Belarussische ist natürlich ein sehr bedeutendes Ereignis für mich. Fast ein Jahr lang haben wir versucht, das möglich zu machen, es war nicht leicht. Die Leute sehen nur: Da ist ein neues Buch erschienen, aber damit es dazu kommen konnte, haben wir viel gearbeitet. Und ich bin sehr froh, dass es gelungen ist. 

    Salidarnasc: Worin bestanden die Schwierigkeiten?

    Einige belarussische Verleger sagten, das Buch sei schon auf Russisch erschienen, es sei sehr bekannt, und alle, die es lesen wollen, hätten es wohl schon gelesen, deshalb würde es sich schwer verkaufen lassen. Es war also schwierig, einen Verlag zu finden, weshalb ich dem Gutenberg Verlag sehr dankbar bin, dass es nun endlich so weit ist. 

    Für mich ist die Sprache eine Frage des Werkzeugkastens

    Die Übersetzung ist, wie ich finde, sehr gut geworden. Ich schreibe nicht auf Belarussisch, mein Gefühl für die Sprache ist nicht so gut. Als die Übersetzerin und die Lektorin mit der Arbeit begannen, merkte ich, dass sie das Belarussische sehr viel besser beherrschen als ich. Für mich ist das einfach eine Frage des Werkzeugkastens.

    Die belarussische Ausgabe von Filipenkos „Der ehemalige Sohn“ / Foto © gutenbergpublisher.eu
    Die belarussische Ausgabe von Filipenkos „Der ehemalige Sohn“ / Foto © gutenbergpublisher.eu


    Empfehlen Sie den Belarussen, die die Bücher bereits auf Russisch gelesen haben, sie noch einmal auf Belarussisch zu lesen?

    Natürlich, ich finde das sehr interessant. Man liest diese Geschichte nicht anders, aber wie mit einem anderen Blick. Für mich selbst war es sehr spannend.

    Die Sprachenfrage ist unter den Belarussen gerade ein heißes Thema: Viele Belarussen gehen zum Belarussischen über, der zukünftige Status unserer Sprache wird diskutiert. Wie denken Sie darüber?

    Ich sehe, dass die Mehrheit der Belarussen, die zum Belarussischen wechseln, im Ausland lebt. In Warschau und in Tbilissi. Ich weiß nicht, wie das der belarussischen Sprache im Inland helfen kann. Ich denke, es wäre gut, wenn die Belarussen in Belarus belarussisch sprechen würden. Zweitens scheint mir, dass viele Belarussen, die vorher nie belarussisch gesprochen haben, damit jetzt beginnen, weil das Russische toxisch geworden ist, die belarussische Sprache aber nicht – mit Belarussisch ist alles in Ordnung, damit ist man sozusagen ein guter Mensch und ein echter Belarusse.

    Doch für mich selbst existiert die Sprachenfrage nicht. Mir ist es gleich, wer ihr seid und welche Sprache ihr sprecht. Entsprechend sind für mich Belarussen nicht besser oder schlechter, je nachdem, ob sie belarussisch oder russisch sprechen. Diese Entscheidung trifft jeder für sich.

    Wir müssen zuallererst mit unseren Kindern belarussisch sprechen

    Die Situation ist jetzt so, dass die belarussische Sprache mit jedem Tag weiter vernichtet wird, das ist uns klar. Wenn wir wollen, dass sie nicht zerstört wird, dann müssen wir zuallererst, das ist das Wichtigste, mit unseren Kindern belarussisch sprechen. Danach kann jede Person schon selbst entscheiden, welche Sprache sie verwenden möchte. 

    Sprechen Sie belarussisch mit Ihrem Sohn, oder lernt er vielleicht belarussisch?

    Er lernt nirgends Belarussisch, aber er schaut sich belarussischsprachige Videos auf YouTube an. Natürlich unterhalten wir uns auf Belarussisch, und er hört auch, wie wir mit Freunden belarussisch sprechen. Ich spreche mit meinem Sohn englisch, französisch und russisch. Später, wenn er entscheidet, wo er leben möchte, wird er schon selbst wählen, welche Sprache er sprechen möchte. 

    Er weiß, dass er belarussische Wurzeln und auch diese Sprache hat. Aber jetzt ist es schwierig für ihn, sie zu lernen, auch Russisch lernt er nirgends, weil wir in der Schweiz leben. 

    Die belarussische Übersetzung Ihrer Bücher wird online auf der Verlagswebsite zugänglich sein. Das ist eine gute Neuigkeit für die Menschen in Belarus, denn sie können die Bücher ohne irgendwelche Hindernisse lesen. Halten Sie Kontakt zu Belarussen im Land und können Sie etwas über das Verhältnis der Menschen untereinander sagen?

    Ich spreche mit vielen Leuten in Belarus, allein schon für die Arbeit, da ich auch als Journalist tätig bin und für die europäische Presse schreibe. Im Moment sind alle sehr still geworden. Aber das bedeutet keinesfalls, dass sie sich aufgegeben haben. Sicher, es gab eine Niederlage (im Jahr 2020, Anm. d. Red.), es ist uns nicht gelungen, unser Ziel zu erreichen. 

    Wir haben eine Schlacht verloren, aber der Krieg ist noch im Gange

    Aber ich weiß, dass die Belarussen wieder protestieren werden, sobald sich eine Möglichkeit ergibt, in diesem Sinne ist nichts vorbei. Wir haben eine Schlacht verloren, aber der Krieg ist noch im Gange, und deshalb gehen auch täglich die Repressionen weiter. Diejenigen, die weiterhin an der Macht festhalten, spüren: Würden die Repressionen aufhören, wäre den Belarussen klar, dass eine Art Tauwetter beginnt, und dann könnten sie wieder auf die Straßen gehen.

    Die größte Auszeichnung für mich war übrigens (darüber habe ich kürzlich in Berlin berichtet, wo ich zum ersten Mal Romanauszüge auf Belarussisch vor Publikum las), dass Menschen, die 2020 in Haft kamen, dort mein Buch Der ehemalige Sohn gelesen und es von Zelle zu Zelle weitergereicht haben. Ich weiß, dass dieses Buch den Menschen etwas bedeutete, dass es für sie wie eine Therapie hinter Gittern war.

    In der französischen Zeitschrift Kometa haben Sie ein Art Reiseführer für das heutige Belarus geschrieben. Was überrascht Ausländer in Bezug auf Belarus am meisten, und was verwundert Sie in diesem Kontext wiederum?

    Mich wundert, dass niemand irgendetwas über Belarus weiß. Aber mir scheint, daran tragen wir auch selbst Schuld. Es fällt sehr schwer zu beschreiben, was da gerade vor sich geht. Und den Menschen in Europa fällt es ebenso schwer, das zu glauben. In der Schweiz habe ich von Leuten gehört, die drei Tage bei uns waren: in Belarus gäbe es gute Restaurants, saubere Straßen und man könne nicht sagen, dass Lukaschenka ein Diktator sei. Die Menschen begreifen also nicht wirklich, was im Land passiert.

    Vor einer Woche, bei einem Auftritt in Basel, begann eine Schweizerin plötzlich zu erzählen, dass sie sich für das belarussische Rentensystem interessiere und es für viel besser als das der Schweiz halte. Bei uns würde es den Rentnern besser gehen, als denen in der Schweiz, sie hätten zudem die Möglichkeit, ins Sanatorium zu fahren. Ich hörte mir das an und überlegte, ob diese Frau wohl einen Monat lang so leben könnte, wie ein belarussischer Rentner.

    Eine weitere dringliche Frage ist die nach den politischen Gefangenen. Es gibt keine einheitliche Lösung, wie man die Menschen aus der Haft befreien könnte. Sie sind in dieser Frage nicht mehr nur Beobachter, denn vor Kurzem wurde Ihr Vater verhaftet. Was denken Sie über die Frage der politischen Häftlinge?

    Ich sehe, dass Leute jetzt sagen, man müsse Zugeständnisse machen, die Sanktionen beenden, um die politischen Gefangenen freizubekommen. Als würden die Mächtigen nach der Freilassung nicht einfach andere festnehmen. Ich denke, dass noch am selben Tag neue Leute hinter Gitter kämen, denn das Regime hätte die Bestätigung: ja, es funktioniert.

    Die Menschen müssen freikommen, ohne dass es Bedingungen gibt

    Meine Eltern sind aktuell Geiseln in Minsk. Aber dennoch weiß ich, dass es nur eine einzige Option gibt: Die Menschen müssen freikommen, ohne dass es Bedingungen gibt. Den Machthabern muss klar sein, dass es keinerlei Verhandlungen geben wird: Die Leute müssen einfach nur freigelassen werden. Jemand hat gesagt, dass selbst im Krieg beide Seiten Gefangene austauschen. Aber wir haben keine Kriegsgefangenen hier, in Warschau gibt es keinen Asarjonak oder jemanden von deren Seite. Und die Abänderung der Sanktionen im Austausch gegen Gefangene – das ist auch keine Option.

    Wir können uns vorstellen, dass Kalesnikawa und Babaryka freigelassen werden, und jeder Belarusse wünscht sich, dass das geschieht. Aber es gibt dabei einen Preis, den es zu zahlen gilt, wenn am nächsten Tag ein anderer Mensch dafür verhaftet wird. Wie kann man das nicht berücksichtigen? Und warum heißt es, man habe kein Herz und kein Mitgefühl, wenn man die Idee der Zugeständnisse nicht mitträgt? Im Gegenteil, man hat sehr wohl Herz und Mitgefühl, nur muss man eben Realist sein, wenn man gegen eine Diktatur kämpft.

    Sie haben viele Male gesagt, dass vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine das belarussische Thema in Vergessenheit gerät. Ändert sich das in letzter Zeit?

    Ja, jetzt gerät auch das Thema Ukraine in Vergessenheit. Es gab die Ereignisse in Israel und andere. Ich glaube, dass die Ukrainer sich jetzt allmählich so fühlen, wie wir uns gefühlt haben. Ich arbeite mit Journalisten zusammen, die über die Vorwahlkampagne in den USA berichten, und bei all den Kandidaten und den Kommunalwahlen kommt die Ukraine auf dem zehnten oder elften Platz. Natürlich werden die Nachbarländer die Ukraine weiter stark unterstützen. Aber für die Menschen, die in Portugal, Spanien oder Italien leben … Mein Sohn kommt aus seiner Schweizer Schule und erzählt, dass die Leute in der Schweiz nicht wissen, dass in der Ukraine Krieg ist. 

    Wir begeistern uns für Konflikte wie für Netflix-Serien

    Mir scheint, wir begeistern uns für Konflikte wie für Netflix-Serien: Komm, lass uns die zweite Staffel schauen. Aber dann ist es nicht mehr spannend, und los, wir schauen einfach eine andere Serie. Was wir also tun können, ist, weiterhin darüber zu berichten, dass sich nichts geändert hat. 

    Sie erzählen viel über Ihre Arbeit als Journalist. Aber schreiben Sie gerade auch Bücher?

    Ja, ich habe begonnen, an einem neuen Buch zu arbeiten. 

    Vor etwas mehr als einem Jahr sagten Sie, dass Sie keine Bücher schreiben können – was hat sich geändert? Und worum geht es in dem neuen Buch, wenn man fragen darf?

    Das ist noch geheim. Einige Zeit lang war ich erschöpft und konnte nicht schreiben. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, ein neues Buch zu beginnen. Es ist eine schwierige Frage, ob es gerade überhaupt einen Sinn hat, Bücher zu schreiben, denn du begreifst, dass Bücher überhaupt nichts bewirken. Aber andererseits beeinflussen sie dich selbst und viele Leser, oder sie werden zu Theaterstücken. Wenn ich mir also anschaue, was gerade auf unserer Welt passiert, dann wird mir klar, dass nur darin Sinn steckt – Kultur, Literatur, Theater.

    In Berlin gab es eine Inszenierung auf der Grundlage von Kremulator. Das hat sehr stark auf mich gewirkt, nicht in dem Sinne, dass ich stolz bin, weil mein Buch inszeniert wurde, sondern weil der Regisseur Maxim Dsidsenka und alle Mitwirkenden aus eigener Kraft, ohne Unterstützung eines Theaters oder so, ein großartiges Stück auf die Beine gestellt haben. 

    Kunst zu schaffen ist das, was wir tun können, um Menschen zu bleiben

    Für mich ist es sehr wichtig und wesentlich, dass Menschen sich der Kunst widmen – trotz allem. Dann beginne ich auch zu denken, dass ich schreiben muss, und schreibe. Deshalb finde ich, dass es gerade jetzt sehr wichtig ist, Kunst zu schaffen – es ist das, was wir tun können, um Menschen zu bleiben. 

    In Ihrem Roman Rückkehr nach Ostrog haben Sie den großangelegten Krieg Russlands gegen die Ukraine vorausgesagt. Was denken Sie heute über die Zukunft: Stehen wir an der Schwelle zu einer großen Katastrophe oder kommen doch positive Veränderungen auf uns zu?

    Darf ich die Frage nicht beantworten? Alles, was ich sage, wird nachher wahr. Noch vor Ostrog habe ich 2015/16 in einem Interview gesagt, dass ein großer Krieg kommen wird. Was ich jetzt sehe und fühle … Ich habe keine guten Prognosen. Daher lassen Sie mich bitte diese Frage nicht beantworten.

    Weitere Themen

    Die moderne belarussische Sprache

    Der Abgrund ist bodenlos

    „Als wäre all das Entsetzliche und Absurde um mich herum gar nicht da“

    Der Krieg und seine Opfer

    Belarus – die Geschichte eines Namens

    Die unglaubliche Revolution

    „Ich bleibe, um die Zukunft von Belarus vor Ort mitzugestalten“