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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Drohkulissen und Inszenierungen – Was passiert in Belarus?

    Drohkulissen und Inszenierungen – Was passiert in Belarus?

    Belarus ist mal wieder in den Nachrichten: Staatsführer Aljaxandr Lukaschenka hat bekanntgegeben, dass fast ein Drittel der belarussischen Armee an die Grenze zur Ukraine verlegt wurde. Laut Geheimdiensten wurden auch russische Söldner der Wagner-Gruppe an der Grenze im Gebiet Homel zusammengezogen. Warum dieses Manöver von Lukaschenkas Seite?  

    Zudem wurden für den 23. Februar 2025 sogenannte Präsidentschaftswahlen angekündigt, die weder frei noch fair werden, weil im Land keine Opposition mehr möglich ist. Diese muss aus dem Exil heraus agieren. Wie tut sie das? Wie hat sich die Opposition insgesamt entwickelt? Und welche Strategien hat sie für die anstehende Wahlinszenierung?  

    Auf diese und andere Fragen antwortet die belarussische Politologin Victoria Leukavets vom Stockholm Centre for Eastern European Studies (SCEEUS). 

    dekoder: Anscheinend hat Lukaschenka Truppen an der belarussisch-ukrainischen Grenze aufmarschieren lassen. Warum? 

    Victoria Leukavets: Die Spannungen zwischen Belarus und der Ukraine haben sich nach dem Einmarsch der Ukraine in die russische Region Kursk verschärft. Letzte Woche erklärte Lukaschenka, dass Belarus etwa ein Drittel seiner Streitkräfte an die Grenze zur Ukraine verlegt habe. Er warf der Ukraine eine aggressive Politik vor: unter anderem die Verletzung des belarussischen Luftraums bei ihrem Angriff auf die russische Region Kursk und die angebliche Entsendung von mehr als 120.000 ukrainischen Soldaten an die Grenze zu Belarus. Verteidigungsminister Viktor Chrenin erklärte, Belarus sei bereit, Vergeltung zu üben, falls ukrainische Soldaten in das Hoheitsgebiet des Landes eindringen sollten. Die Ukraine hat die belarussischen Anschuldigungen zurückgewiesen und erklärt, sie habe keine 120.000 Soldaten an die Grenze geschickt.  

    Alles nur ein Psychospiel oder besteht tatsächlich die Gefahr, dass Lukaschenka in den Krieg eingreifen könnte?

    Das Vorgehen Lukaschenkas kann auf verschiedene Weise interpretiert werden. Erstens ist ihm bewusst, dass belarussische Freiwillige eine aktive Rolle beim Einmarsch der Ukraine in die russische Region Kursk gespielt haben. Das Hauptziel der Freiwilligen ist es, nicht nur die Ukraine, sondern auch Belarus zu befreien. Daher versucht Lukaschenka, ein deutliches Signal zu senden, dass er die Lage an der belarussischen Grenze unter Kontrolle hält, falls die ukrainische Offensive auf belarussisches Gebiet übergreift. Zweitens könnte er durch die zunehmenden Spannungen an der belarussisch-ukrainischen Grenze Russland helfen, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit von dem Rückschlag abzulenken, den Russland beim Einmarsch in die Region Kursk erlitten hat. Dies erklärt die aktive Präsenz russischer Streitkräfte und russischer Söldner wie Wagner an der ukrainisch-belarussischen Grenze. 
    Insgesamt ist es unwahrscheinlich, dass Belarus eigene Truppen in den Krieg schicken wird, da das Land für Moskau als Ausgangspunkt für militärische Operationen viel wertvoller ist als aktiver Teilnehmer an militärischen Aktionen. Letzteres könnte das Risiko der Instabilität in Minsk erhöhen und eine harte internationale Reaktion auslösen, die der Kreml nicht unbedingt gebrauchen kann.  

    Aljaxandr Lukaschenka bei einer Militärparade im Juli 2024 in Minsk / Foto © president.gov.by
    Aljaxandr Lukaschenka bei einer Militärparade im Juli 2024 in Minsk / Foto © president.gov.by

    Eigentlich war die sogenannte Präsidentschaftswahl für den Sommer 2025 in Belarus angekündigt. Nun wurde bekannt, dass sie am 23. Februar 2025 stattfindet. Hat Lukaschenka Angst, dass der Sommer den Protestwillen der Belarussen beflügeln könnte? 

    Lukaschenka versucht tatsächlich, die Risiken einer Wiederholung des Szenarios von 2020 zu minimieren. Damals wurde Belarus von einer Welle noch nie dagewesener Proteste erfasst. Diese Erfahrung war ein Schock für das politische System, das Lukaschenka seit Mitte der 1990er Jahre aufgebaut hat. Es gelang ihm, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Der Preis dafür allerdings war sehr hoch. Der Westen verhängte umfassende Sanktionen. Auf internationaler Bühne geriet er in die völlige politische Isolation. Rückblickend auf das Jahr 2020 könnte Lukaschenka also denken: Wenn er damals vorsichtiger gewesen wäre, wenn er weniger Risiken eingegangen wäre, hätte er diese Krise vermeiden können. Und deshalb wird er dieses Mal keinerlei Risiken eingehen und alle noch so kleinen Schritte unternehmen, die Situation vollständig unter Kontrolle zu halten. Dazu gehört auch das Kalkül, dass die Menschen im Winter möglicherweise nicht so protestwillig sind wie im Sommer. 

    Alle oppositionellen Parteien wurden verboten, die Repressionswelle rollt weiterhin. Warum braucht Lukaschenka solche Wahlinszenierungen überhaupt noch? 

    Wahlen in nicht-demokratischen Umgebungen sind Instrumente und Rituale, mit denen sich Diktatoren an der Macht halten. Autokratien mit Wahlen gelten in der Wissenschaft tatsächlich als beständiger als solche ohne Wahlen. Bei Belarus sehe ich drei wesentliche Funktionen, die solche Wahlen haben: Das Regime will damit seine Unbesiegbarkeit signalisieren. Allein durch das Abhalten der Wahl sendet das Regime eine starke Botschaft sowohl an die Bevölkerung als auch an die politische Opposition. Und die besagt: Wir sind stark genug, diesen Stresstest durchzustehen, und wir haben die Lage vollständig unter Kontrolle. 

    Zudem nutzt das System solche Wahlen sicher, um Informationen über die Opposition zu sammeln? 

    Richtig. Das Regime sammelt Informationen zur Loyalität in der Bevölkerung und vor allem unter den eigenen Anhängern. Die Wahlen geben dem Regime die Möglichkeit, die Taktiken der Opposition zu studieren, daraus zu lernen und so die eigenen Taktiken zu testen, anzupassen und infolgedessen insgesamt widerstandsfähiger zu werden. Außerdem helfen solche Wahlen Lukaschenka, sich im In- und Ausland zu legitimieren: Sie stärken die Verbindung zum loyalen Teil seiner Wählerschaft, aber übermitteln auch den internationalen Partnern wie Russland und China die Botschaft, dass das Regime stark ist, dass es die völlige Kontrolle hat und dass die vertrauensvolle Zusammenarbeit fortgesetzt werden kann. 

    Seit Juli wurden zahlreiche politische Gefangene entlassen. Muss man dies auch in Zusammenhang mit dem bevorstehenden Wahlereignis sehen? 

    Es gibt Gerüchte, dass es eine dritte Welle von Freilassungen geben wird. Zum Tag der nationalen Einheit am 17. September. Lukaschenka verfolgt damit zwei Hauptziele. Er versucht, die Spannungen in der Gesellschaft ein wenig abzubauen und den Boden für die Wahl zu bereiten. Aber ein wahrscheinlicheres, vielleicht ein realistischeres Ziel ist dieses: Er ist bestrebt, die Kommunikationskanäle mit dem Westen wieder zu öffnen. Es ist seine Art, dem Westen zu signalisieren, dass er zu Verhandlungen bereit ist, um den Sanktionsdruck zu verringern. Dazu gehört auch, dass er sehr genau beobachtet, was auf dem Schlachtfeld zwischen Russland und der Ukraine passiert. Vor dem Hintergrund der mutigen Offensive der Ukrainer in Kursk kalkuliert er seine eigenen Schritte. Wenn Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland unvermeidlich werden, würde dies die geopolitische Konfiguration in der ganzen Region beeinflussen, was sich wiederum auf Lukaschenka auswirken würde. Er sendet deswegen im Voraus Botschaften an den Westen. Als ernsthafte Schritte zur Einleitung eines tiefgreifenden Öffnungsprozesses würde ich diese aber nicht interpretieren. Er will ja keinen politischen Selbstmord begehen. Vielmehr hat er kleinere, pragmatische Ziele im Blick.  

    Bevor wir über die Taktik der Opposition sprechen – wer oder was ist die belarussische Opposition eigentlich? 

    Die Opposition ist kein homogener Körper, sondern besteht aus verschiedenen Strukturen und Organen. Zum einen ist da das Team von Swjatlana Zichanouskaja, der anerkannten nationalen Führungsfigur der Opposition. Dann gibt es ihr Vereinigtes Übergangskabinett, eine Art Exilregierung, deren Mitglieder wie Minister zu unterschiedlichen Fachbereichen agieren. Dazu kommt der Koordinationsrat, der sich quasi zu einem Exilparlament entwickelt, in dem Gruppierungen und Fraktionen mit unterschiedlichen politischen Interessen vertreten sind. Im Mai wurden erstmals Wahlen zu diesem Koordinationsrat abgehalten. Die Wahlbeteiligung war sehr gering, aber nichtsdestotrotz ist dies eine spannende demokratische Übung, die sich weiterentwickeln wird und die den hohen Organisationsgrad der Opposition zeigt. Weitere Gravitationszentren sind das Nationale Anti-Krisen-Management, das sich in Warschau befindet und das von Pawel Latuschka geleitet wird, das Kalinouski-Regiment, das auf Seiten der Ukraine kämpft und das auch im Koordinationsrat vertreten ist, und Sjanon Pasnjak, ein prominenter Vertreter der alten Opposition. Er ist einer der lautesten Kritiker von Zichanouskaja, wird aber von der Mehrheit in der Demokratiebewegung nicht ernst genommen. 

    Wie sieht also die Strategie der Opposition in Bezug auf die Wahlinszenierung aus? 

    Wenn es keine neuen Entwicklungen geben wird und die Situation so bleibt, wie sie ist, wären die Wahlen im Grunde eine One Man-Show. Die Opposition hätte so nur ein sehr begrenztes Instrumentarium, um die Situation vor Ort zu beeinflussen. Eine Strategie, die aktuell diskutiert wird, ist daher die Entwicklung einer effizienten Kommunikationskampagne, die sich an die belarussische Bevölkerung innerhalb des Landes, aber auch an das externe Publikum richtet. Das Hauptziel dieser Kampagne wäre es, Lukaschenka weiter zu delegitimieren, indem man die ganze Welt daran erinnert, wie repressiv dieses Regime ist, wie viele politische Gefangene es immer noch gibt, welche Rolle Lukaschenka beim Angriffskrieg gegen die Ukraine spielt und so weiter. 

    Wie stark ist eigentlich die Anhängerschaft von Lukaschenka? Es gibt Zahlen, die sie auf 20 bis 30 Prozent bemisst. 

    Wir können keine eindeutige Antwort auf diese Frage geben, und zwar aus dem einfachen Grund, weil Belarus wie jedes andere autoritäre Land eine Blackbox ist. Unter den gegenwärtigen Bedingungen der Unterdrückung kann man die Stimmung in der Gesellschaft einfach nicht genau messen, Die Leute haben Angst, ihre Meinung zu sagen. Meinungsumfragen werden nur online durchgeführt. Und das bedeutet bereits, dass sie nicht vollständig repräsentativ sind. Die Zahlen, die Sie nennen, stammten aus Umfragen von 2021, die von Chatham House durchgeführt wurden. Präzise werden dort 27 Prozent auf Seiten der Lukaschenka-Unterstützer genannt. 

    Einige in der Opposition fordern, dass sich auch Swjatlana Zichanouskaja als Oppositionsführerin zur Wahl stellen müsse. Wäre das nicht kontraproduktiv? 

    Es gibt diese Stimmen. Aber viel wichtiger ist, dass am Ende der Konferenz Neues Belarus, die im August in Vilnius stattfand, von den Teilnehmern ein sehr wichtiges Dokument verschiedet wurde, mit dem Zichanouskaja als Anführerin bestätigt wurde. Und zwar bis zu dem Zeitpunkt, wenn wirklich demokratische Wahlen in Belarus abgehalten werden können oder wenn sie selbst das Amt niederlegt. Die Mehrheit ist also der Ansicht, dass solch eine Wahl unter den derzeitigen Umständen riskant wäre. Sie könnte den inneren Zusammenhalt der demokratischen Bewegung untergraben. 

    Swjatlana Zichanouskaja bei der Konferenz der belarussischen Opposition im August 2024 in Vilnius / Foto © Pressedienst Swjatlana Zichanouskaja
    Swjatlana Zichanouskaja bei der Konferenz der belarussischen Opposition im August 2024 in Vilnius / Foto © Pressedienst Swjatlana Zichanouskaja

    In den vergangenen Jahren gab es immer Kritik am Team Zichanouskaja. Was sind die wesentlichen Kritikpunkte? 

    Bei der Kritik geht es um die angeblich intransparente Verwaltung der von westlichen Gebern bereitgestellten Mittel, um die angeblich mangelnde Koordination zwischen all den Institutionen der Opposition, über die wir vorhin gesprochen haben. Zudem wird vor allem die nicht gleichberechtigte Vertretung oppositioneller Stimmen auf internationaler Ebene bemängelt. Der Druck auf das Team von Zichanouskaja ist sehr hoch, die Erwartungen sind groß, die Exilsituation ist für alle sehr schwierig. Ich will die Kritikpunkte nicht abmildern, aber Kritik ist unter diesen Umständen normal, und sie ist ein Zeichen für die Vitalität und Diversität der Opposition. Wenn wir über den Erfolg oder Misserfolg der Opposition sprechen, müssen wir andere Kriterien heranziehen. 

    Und die wären? 

    Kriterium Nummer eins: Die belarussische Oppositionsbewegung wird von einem starken Zusammenhalt getragen und hat eine effektive Koordination entwickelt. Nummer zwei ist die hohe Anerkennung im Ausland und erfolgreiche Lobbyarbeit auf internationaler Ebene. Tatsächlich ist Swjatlana Zichanouskaja ständig unterwegs, wird sogar auf höchster politischer Ebene von politischen Amtsträgern und Vertretern empfangen. Es ist gelungen, stetige Kommunikationskanäle mit Regierungen aufzubauen. Das dritte Kriterium: Die Oppositionsbewegung ist bemüht, regierungsähnliche Strukturen zu schaffen, die auf Grundlage demokratischer Prinzipien funktionieren. Auch hier sehen wir, dass die Oppositionsbewegung mit demokratischen Aushandlungsprozessen und Vertretungsformen experimentiert. Die russische Oppositionsbewegung beispielsweise macht keinen einzigen Schritt in diese Richtung. Und das letzte Kriterium, das wohl fundamentalste und schwierigste: Jede Oppositionsbewegung kann als erfolgreich angesehen werden, wenn sie effektive Mechanismen entwickelt, um die Verbindung zur Bevölkerung im Heimatland aufrechtzuerhalten.

    Kritiker bemängeln, dass die Opposition immer mehr zu einer Interessensvertretung der Exilbelarussen wird und den Kontakt zur Bevölkerung verliert. 

    An dieser Kritik ist natürlich etwas Wahres dran. Aber die Aufrechterhaltung der Kommunikation mit den Menschen im Land und deren Unterstützung hatte immer hohe Priorität. Es werden ständig neue Mechanismen entwickelt und getestet, um neue Kommunikationskanäle zu schaffen. Als die russische Vollinvasion begann, wurden verschiedene Antikriegs-Initiativen unterstützt, einschließlich der Eisenbahn-Partisanen und der Cyber-Partisanen. Diese Aktivitäten wurden in enger Abstimmung mit dem Büro von Zichanouskaja umgesetzt. Zudem werden ständig finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt, um politischen Gefangenen und deren Familien zu unterstützen. Es wird auch mit neuen Plattformen und Kanälen experimentiert, um die Menschen im Land mit Informationen abseits von Propaganda zu versorgen. Ich würde also nicht sagen, dass die Kommunikation mit den Menschen im Land ein völlig weißer Fleck ist. Ja, sie hat ihre Grenzen, weil das Regime derart repressiv ist. Aber die Opposition ist bemüht, diese Grenzen zu verschieben und aufzuweichen.  

    Lukaschenka hat in letzter Zeit häufiger gesagt, dass sich die Belarussen an einen neuen Anführer gewöhnen müssten. Er will doch nicht etwa zurücktreten? 

    Diesen Aussagen sollte man nicht ernst nehmen. Er hat in der Vergangenheit ähnliche Aussagen getätigt. Er versteht, dass Belarus eine sehr entscheidende Phase durchläuft. Und dies ist kein guter Zeitpunkt für einen Machtwechsel. Ich würde sagen, dass der Zweck solcher Aussagen im Grunde nur darin besteht, einen sehr ehrgeizigen Teil seiner Eliten in Schach zu halten. Indem er ihnen vermittelt, dass er zwar kein ewiger Anführer ist, dass er aber irgendwann für eine stabile Nachfolge sorgen wird, dass er die Kontrolle hat. Ein Rücktritt oder eine Machtübergabe werden ganz sicher nicht im Rahmen der Wahlen oder in baldiger Zukunft geschehen. Lukaschenka hat Angst, dass, wenn er loslässt, etwas Unvorhergesehenes passieren könnte. 

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  • „Du hörst auf, dich als vollwertiger Mensch zu fühlen”

    „Du hörst auf, dich als vollwertiger Mensch zu fühlen”

    Nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022, der zu jener Zeit auch von belarussischem Territorium aus geführt wurde, gab es zahlreiche Sabotageakte an Eisenbahnstrecken in Belarus. Denn die russische Armee nutzte die Infrastruktur im Nachbarland für den Transport von Militärgerät und Soldaten. Viele der sogenannten Eisenbahnpartisanen wurden schließlich festgenommen und zu drakonischen Haftstrafen verurteilt. Andere versuchten zu fliehen. Für solche Fluchtpläne braucht es mutige Aktivisten, die dafür selbst riskieren, festgenommen zu werden. So ist es Alesja ergangen: Die junge Frau tappte in eine Falle der belarussischen Sicherheitsbehörden und erlebte danach ein Martyrium in verschiedenen Haftanstalten. Das belarussische Online-Medium Mediazona Belarus hat ihre Geschichte aufgeschrieben. 

    Alesja steht entkleidet im Flur der Übergangshaftanstalt in Mahiljou, einer speziellen Ecke ohne Videokameras, wo die „nackte Durchsuchung“ stattfindet. Eine blonde Polizeibeamtin schiebt ihr einen Finger in den Mund, um nachzusehen, ob Alesja dort etwas versteckt. Ihr werden mehrere Artikel des Strafgesetzbuches vorgeworfen, darunter unter anderem Terrorismus. Später wird Terrorismus aus der Anklage gestrichen, Alesja wird zu dreieinhalb Jahren Strafkolonie verurteilt. Sie übersteht die Prügel während der Verhöre und die Haft, flüchtet nach der Entlassung nach Vilnius und erzählt nun Mediazona ihre Geschichte.  

    Alesja Bunewitsch (mittig) mit Swetlana Tichanowskaja und ihrem Mann Oleg Meteliza bei Feierlichkeiten zu Kupalle / Foto © privat 

    Alesja wurde im April 2022 nahe der litauischen Grenze festgenommen. Auf Bitten ihres Mannes, des in Litauen tätigen belarussischen Aktivisten Oleg Meteliza, hatte sie jemandem helfen wollen, die Grenze nach Litauen sicher zu überqueren. Alesja wusste nichts über die Identität dieser Menschen, aus Sicherheitsgründen bekam sie keine Informationen, damit sie „im Fall der Fälle“ im Verhör keine Namen nennen konnte. „Ich sollte das Gelände begutachten, ob man da durchkommt. Allgemeine Informationen sammeln, ob dort Grenzsoldaten sind, wie die Qualität der Wege ist, ob es Kameras gibt, Beleuchtung und so weiter.“ 

    Später stellte sich heraus, dass diese Fluchtvorbereitungen einer Gruppe von Eisenbahnpartisanen aus Babrujsk galten. Allerdings waren sie einige Tage vorher verhaftet worden, einem von ihnen schossen die Silowiki ins Knie. Das Urteil gegen die Eisenbahnpartisanen aus Babrujsk erging im Februar 2023: Dmitri Klimow und Wladimir Awramzew wurden zu je 22 Jahren Freiheitsentzug verurteilt, Jewgeni Minkewitsch zu anderthalb Jahren Haft. Für Alesjas Festnahme inszenierten die Silowiki eine Spezialoperation, für die sie sich als jene Aktivisten aus Babrujsk ausgaben.  

    Alesja erinnert sich: Sie stand an einer Position, an der sie die Umgebung des Dorfes Salatje im Gebiet Hrodna im Blick hatte, sah das Auto, in denen sie die Partisanen vermutete. Allerdings fuhr es im Kreis, was Alesja ziemlich seltsam vorkam, da man sich dort eigentlich nicht verfahren konnte. „Dann hielten sie also an und nahmen mich fest. Ich verstand überhaupt nicht, was da passierte. Sie hatten sich auch nicht vorgestellt. Sie zückten ein Messer, bedrohten mich, ich solle mein Telefon hergeben. Dann schubsten und zerrten sie mich, stießen mir die Ellbogen in die Rippen, obwohl ich gar nichts machte, ich saß nur still da, weil ich unter Schock stand. Irgendwann schrie ich sogar ,Hilfe, Banditen!’. Weil sie ja wirklich so aussahen.“ 

    Sie taserten uns mit dem Elektroschocker 

    Alesja wurde in einen Wald gebracht, in dem bereits einiges los war – bewaffnete Silowiki in Sturmhauben, viele Fahrzeuge – PKWs, Kleinbusse. Auch der Belarusse Alexej Kowalewski wurde dorthin gebracht. Er hatte nichts mit den Eisenbahnpartisanen zu tun, wollte nur zusammen mit ihnen die Grenze überqueren. Zuvor war er wegen der Teilnahme an den Protesten in Minsk zu Strafarbeit verurteilt worden. Alesja fielen deutliche Spuren von Prügel an ihm auf. Die Silowiki stellten sie einander gegenüber, um herauszufinden, ob sie sich kannten. Alexej und Alesja sahen einander zum ersten Mal.  

    „Sie stellten uns zur Durchsuchung nebeneinander auf, die Hände in Handschellen erhoben, sie taserten uns mit dem Elektroschocker, erst ein Bein, dann das andere. Danach schlugen sie uns einfach ins Gesicht. Nicht fest, aber ich hatte vorher nie Gewalt erlebt. Ich wehrte mich nicht, versuchte nur, mit ihnen zu reden – was passiert und warum man mich festhält. Irgendein Ranghöherer kam und behauptete, ich sei eine europäische Prostituierte, die für Geld Verbrechen begehe. Und gab dann den Befehl, mich zu verhören.“ 

    Irgendwann trat ein Mann in Lederhandschuhen an Alesja heran. Er fasste sie am Hals und begann Fragen zu stellen: „Wie viele seid ihr in eurer Bande? Wo sind die anderen? Wer sollte euch hier abholen?“ Alesja antwortete nicht, der Mann würgte sie. Er drückte ihr immer fester die Kehle zu, bis sie fast das Bewusstsein verlor. „Was weiter geschah, liegt völlig im Nebel, ich sagte gar nichts mehr, erst dann beschlossen sie, mich zum KGB zu bringen.“ Die Verhöre dauerten mehrere Stunden, manchmal den ganzen Tag. Aus der Arrestzelle wurde sie zum KGB gebracht. Dort wurde Alesja zwar nicht mehr geschlagen, aber gezwungen, lange mit nach vorn ausgestreckten Armen dazustehen. Einer der Silowiki fuchtelte mit einem eisernen Lineal, als würde er ihr gleich auf die Hände schlagen. 

    „Ich dachte – versuch’s nur. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue, ich nehme dir dein Lineal weg und schlage selbst damit zu. Wieso behandelt ihr mich so, ich benehme mich doch normal, ich wehre mich nicht, leiste keinen Widerstand. Ich will einfach nur verstehen, wo ich hineingeraten bin.“ 

    Im Verhör wurde Good Cop – Bad Cop gespielt: Einer sprach sanfter und stellte persönliche Fragen, der andere fragte nur zur Sache. Trotz allem machte Alesja Aussagen, die auf Video aufgenommen und später auf dem TV-Sender ONT gezeigt wurden. Sie hatte dem Propagandafernsehen ein Interview verweigert, weshalb diese Mitschnitte der Verhöre in dem Beitrag aufgenommen wurden „Das Schlimmste war für mich, dass ich in dem Video einen wirklich hässlichen Hut trug, weil ich einen blauen Fleck im Gesicht hatte, und weil ich überhaupt nicht gut aussah. Ich wollte nicht, dass mein Vater und meine Bekannten mich so sehen.“ 

    Aus der Untersuchungshaft nach Mahiljou 

    Aus Hrodna brachte man Alesja in die Übergangshaft nach Mahiljou. Über die Mitarbeiter dort sagt Alesja: „Bestien, anders kann man es nicht sagen. Die Frauen, die dort arbeiten, behandelten mich, als hätte ich ein Baby gefressen und wäre stolz darauf.“ Als ihre Menstruation begann, verwehrte man ihr die Aushändigung von Hygieneartikeln.   

    „Einmal drohte ich, kein Wort mehr zu sagen, bis ich Binden bekomme. Denn ich bin eine Frau und sitze jetzt in Hosen voller Blut vor euch, weil ich einfach nichts habe. Selbst meine Anwältin bat um Erlaubnis, mir Hygieneartikel zu kaufen und mitzubringen, das sei doch nicht mehr normal. Schließlich brachte mir der Ermittler Kontaktlinsenflüssigkeit, Feuchttücher, Tampons und Binden. Ein Tropfen auf dem heißen Stein, denn ich saß wirklich in vollgebluteten Hosen dort.“ 

    Alesja hatte keine Wechselkleidung, die Schuhe hatte man ihr weggenommen, deshalb musste sie zu den Befragungen und Durchsuchungen in Socken über den Flur. Waschmittel hatte sie auch keines – für sie wurden keine Päckchen angenommen, nicht einmal Seife. Besonders erniedrigend waren die Durchsuchungen, erinnert sich die politische Gefangene. Sie musste sich komplett ausziehen, die Beamtinnen steckten ihr die Finger in den Mund, um zu schauen, ob dort nichts versteckt wäre.  

    „Die Fressluke öffnet sich, du streckst die Hände raus, sie legen dir Handschellen an. Dann öffnen sie die Zelle, du trittst heraus, sie führen dich in die Ecke, wo du dich ausziehen musst. Ich dachte gerade noch: Was für ein hübsches Mädchen, so blond, so gepflegt, das Gesicht und die Nägel. Und da sagte ebendieses Mädchen: ,Na los, Schlampe, zieh dich aus. Stringtanga? Ist der nicht zu klein?´“ 

    Vor der Verhaftung hatte Alesja mit ihrer Familie mehrere Jahre in Vilnius gelebt. Dort wartete auch ihr neunjähriger Sohn auf sie. Er hätte sie im Gefängnis besuchen können, doch die Eltern entschieden sich bewusst dafür, Kastus nicht nach Belarus zu bringen. Sie verschwiegen ihm nichts, aber, so erinnert sich Alesja, begriff er eigentlich bis zuletzt nicht richtig, was das alles bedeutete. „Die ersten Briefe, die er mir schickte, waren ganz kurz und trocken, als wäre ihm nicht klar, wie lange das dauern würde. Er dachte, ich würde bald zurückkommen. Ich hatte das Gefühl, dass er nicht freiwillig schrieb, dabei hatte ich meinen Mann gebeten, ihn nicht zu zwingen. Später verstand er irgendwie von selbst, dass ich nicht so bald nach Hause kommen würde. Da wurden seine Briefe ausführlicher, er schrieb mir, wie sein Tag war, was es zu essen gab, worüber er lachen musste, welche Filme er guckte.“ 

    Oft schrieb der Sohn an die Mutter: „Du bist meine Heldin, ich weiß, dass du Menschen geholfen hast.“ Das beruhigte Alesja – sie hatte sich große Sorgen gemacht, dass ihr Sohn denken könnte, die fremden Leute seien ihr wichtiger gewesen als er. Im Straflager wollte Alesja irgendwann keine Videoanrufe mit ihrem Sohn mehr führen. Der Grund dafür war, dass immer ein Polizeibeamter anwesend war, der in die Kamera schaute und die Gespräche mithörte. Diese Entscheidung fiel ihr nicht leicht.  

    „Ich konnte nicht zulassen, dass einer, der mir so zuwider ist, meinen Sohn sieht und unser belarussischsprachiges Gespräch hört. Belarussisch ist für die alle ohnehin ein schwieriges Thema. Deshalb ging ich einfach nicht mehr hin, entschuldigte mich in Briefen und in den normalen Telefonaten dafür. Ich sagte: Tut mir leid, Kind, ich kann das nicht.“ 

    Von einem Gefängnis ins nächste 

    Alesja wurde aus der Übergangshaft ins Untersuchungsgefängnis von Mahiljou verlegt. Die Bedingungen dort nennt sie „wie im Sanatorium“: frisch renovierte Zellen, viel Platz für persönliche Habseligkeiten und abends Warmwasser. Die „Extremisten” wurden besonders streng gehalten, aber „daran konnte man sich gewöhnen“. Einmal schrieb die Belarussin beim Hofgang den berühmten Satz „Russisches Kriegsschiff, fick dich“ an die Wand. Unter dem Schriftzug tauchten immer mehr Pluszeichen auf. In einem anderen Innenhof stand „Glauben! Können! Siegen!“

    In Mahiljou verbrachte sie fünf Monate. Dann wurde der Anklagepunkt Terrorismus fallengelassen und sie in ein Untersuchungsgefängnis in Hrodna überstellt. „Ich hatte mich gerade an Mahiljou gewöhnt, da ging wieder alles von vorn los – neue Mitinsassen, neue Zelle, sogar ein neuer Ermittlungsbeamter wurde mir zugeteilt.“ Im Untersuchungsgefängnis Hrodna herrschten schlechtere Bedingungen. Alesja erinnert sich an alte, winzige Zellen, die schon lange nicht renoviert worden waren. In einer Zelle für vier Personen konnte man gleichzeitig auf dem Bett sitzen und sich die Hände im Waschbecken waschen. 

    „Das war einfach eine Welt für sich, wie indische Slums. Winzige Zellen, niedrige Decken, alles dreckig. Als ich meine erste Zelle sah, kamen mir direkt die Tränen, aber dann nahm ich das Waschpulver, das ich noch hatte, und irgendeinen Schwamm und begann alles zu schrubben, weil es schon furchtbar war, einen Fuß auf diesen Boden zu setzen.“ 

    Die Gerichtsverhandlung 

    Im Untersuchungsgefängnis Hrodna verbrachte die Aktivistin weitere fünf Monate, dann kam ihr Fall endlich vor Gericht. Alesja machte sich vor dem ersten Gerichtstermin große Sorgen. Sie wurde in Handschellen zur Verhandlung gebracht, da die Begleitpolizei wohl nicht informiert war, dass sie nicht mehr wegen Terrorismus angeklagt war. Beim ersten Termin konnte sie ihre Familie und Freunde sehen, danach wurde hinter verschlossenen Türen verhandelt, da angeblich geheime Informationen zur Sprache kämen. „Lächerlich, wo sie doch alles längst auf ONT berichtet hatten.“ 

    Das Gericht verurteilte Alesja zu dreieinhalb Jahren Strafkolonie. Später wurde ihre Haft per Amnestie auf ein Jahr verkürzt – ihr Vergehen (illegaler Grenzübertritt mit Vorsatz) war nicht politisch, sie stand auf keiner Extremistenliste und die Einzelheiten des Falls schaute sich offenbar niemand so genau an. 

    Haft in der Frauenkolonie 

    Es begann ein „neues Leben“ in der Frauenkolonie IK-4 in Homel. Alesja berichtet nicht detailliert über das Lager, um jene nicht zu gefährden, die noch dort einsitzen. „Jedes Mal, wenn jemand aus der Kolonie entlassen wurde und ein Interview gab, bekamen wir das zu spüren. Einmal wurde zum Beispiel berichtet, dass [die politische Gefangene] Marfa Rabkowa regelmäßig in die Turnhalle geht. Seitdem darf sie da nicht mehr hin, vermutlich bis zum Ende ihrer Haftzeit. Man darf also auch nichts Positives sagen. Und sagst du etwas Negatives, zum Beispiel, dass es im Gefängnisladen keine Gurken gibt, nur Tomaten – dann sind auch die Tomaten weg. So funktioniert das. Und das ist schlimm: Du kommst raus und denkst, jetzt erzähle ich alles, wie es wirklich ist, wie sie die Menschen misshandeln. Aber dann verstehst du, dass es nur schlimmer wird, wenn du darüber sprichst.“ 

    Man degradiert völlig, alle anderen Bedürfnisse sind ausgelöscht

    Am schwersten war für Alesja in der Strafkolonie, dass sie keine Zeit für sich und keine Wahl hatte: Egal, wohin du gehst oder was du machst – du gehörst dir nicht. „Du hörst auf, dich als vollwertiger Mensch zu fühlen. Das System ist darauf ausgerichtet, dass du die ganze Zeit nur darüber nachdenkst, was du essen und wann du dich waschen kannst. Wie ein Tier, du überlegst nicht, welches Buch du lesen willst oder was du in einem Brief schreiben könntest. Die Gedanken drehen sich im Kreis: Morgen sieht es schlecht aus mit Frühstück, also muss ich wenigstens einen Kaffee trinken. Danach habe ich drei Dienste, dann Inventarkontrolle, wann kann ich in den Waschraum, ich muss ein Schlupfloch finden. Man degradiert völlig, alle anderen Bedürfnisse sind ausgelöscht.“ 

    Die Zeit in der Kolonie vergeht schnell, erzählt Alesja, und wenn weniger als hundert Tage bis zur Entlassung verbleiben, tauchen die Gedanken an die Freiheit auf „Du erlaubst dir, dich auf Dinge zu freuen und Pläne zu schmieden. Du lässt dir zwei Monate im Voraus einen Termin zur Maniküre machen und sehnst dich nach gepflegten Haaren und einer neuen Brille. Nach der Rückkehr in ein normales Leben. Aber das verbirgst du vor den anderen, die noch lange dortbleiben müssen, um ihnen nicht wehzutun. Sie freuen sich zwar aufrichtig für dich, aber du fühlst dich trotzdem schuldig.“ 

    Endlich in Freiheit 

    Alesja kam am 3. Mai 2024 frei. Es war ihr nicht gestattet, ihr Uniformkleid mitzunehmen, obwohl sie die Lagerkleidung selbst bezahlt hatte. „Sie nahmen mir alles weg, nicht mal die Socken, die dort ausgegeben wurden, durfte ich mitnehmen. Dabei hätte ich mit dieser Kleidung etwas vorgehabt, ich wollte sie den Leuten draußen zeigen.“ 

    Am Lagertor wurde sie von Freundinnen abgeholt – sie brachten sie in eine Wohnung, wo sie sich duschen und umziehen konnte, dann luden sie sie zu einem leckeren Essen in ein Café ein. „Als ich dann endlich zu Hause war, ging ich am späten Abend, gegen 23 Uhr, entspannt im Hausmantel vor die Tür, zündete mir eine Zigarette an und begriff – das ist es, es ist real. Endlich Freiheit. Ich kann mir das erlauben.“ 

    Einige Tage später kamen Polizisten, um sie zu kontrollieren. Sie kamen immer wieder, auch nachts, und durchsuchten ihr Handy. Später wurde sie unter Führungsaufsicht gestellt, musste zwischen 22 und 6 Uhr zuhause bleiben und durfte die Stadt nicht verlassen. Alesja plante schließlich die Ausreise – in Litauen warteten Ehemann und Sohn auf sie, und die erhöhte Aufmerksamkeit der Silowiki zwang sie zur Eile. Im Juni kam die Belarussin in Vilnius an.   

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    Anfang August trafen sich Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher demokratischer Organisationen zu einer Konferenz in der litauischen Hauptstadt Vilnius, um zwei Tage lang über Perspektiven für ein demokratisches Belarus zu sprechen. In einem Vortrag stellte Leonid Sudalenko von der Menschenrechts-Organisation Wjasna Zahlen über das Ausmaß politischer Repressionen seit Beginn des Wahlkampfes im Jahr 2020 vor. Als Reaktion auf die gefälschte Wiederwahl von Alexander Lukaschenko hatten Wellen des Protests das ganze Land erfasst. Mit großer Brutalität gelang es dem Regime schließlich, den Protest niederzuschlagen. Viele zentrale Figuren der Demokratiebewegung flohen ins Ausland. Andere verschwanden in Gefängnissen und Lagern.  

    Das belarussische Online-Medium Zerkalo hat die wichtigsten Zahlen und Entwicklungen in Sudalenkos Ausführungen zusammengefasst.

    Der Menschenrechtler Leonid Sudalenko bei seinem Vortrag auf der Konferenz Neues Belarus in Vilnius / Foto © Pressedienst von Swetlana Tichanowskaja
    Der Menschenrechtler Leonid Sudalenko bei seinem Vortrag auf der Konferenz Neues Belarus in Vilnius / Foto © Pressedienst von Swetlana Tichanowskaja

    Den Beobachtungen von Wjasna zufolge wurden seit Beginn des Präsidentschaftswahlkampfes mehr als 50.000 Menschen aus politischen Motiven festgenommen. 

    Im selben Zeitraum wurden mehr als 3.380 Menschen als politische Häftlinge anerkannt. 

    Davon kamen fast 2.000 Menschen wieder frei, sind also jetzt ehemalige politische Häftlinge. 

    Von diesen 2.000 Menschen haben etwa 1.134 ihre Strafe vollständig verbüßt und wurden entlassen (der Rest befand sich in Untersuchungshaft und/oder verließ das Land ohne die Strafe zu verbüßen.) 

    Leonid Sudalenko berichtete weiterhin, dass die Menschenrechtsaktivisten von Wjasna zum jetzigen Zeitpunkt von mindestens 5.472 Personen wissen, die in politisch motivierten Strafverfahren verurteilt wurden.  

    „Dabei handelt es sich sowohl um politische Häftlinge als auch um Personen, die sich bis zum Gerichtsverfahren nicht in Hafteinrichtungen befanden oder eine Strafe erhielten, die nicht mit Freiheitsentzug verbunden war“, sagte der Menschenrechtler. 

    Sudalenko nannte auch die Anzahl politischer Urteile in Strafverfahren in Belarus aufgeteilt nach Jahren: 

    2020: 900 Personen 

    2021: 1.225 Personen 

    2022: 1.242 Personen 

    2023: 1.603 Personen 

    „Wie man sieht, steigt die Zahl derer, die aus aus politischen Gründen verurteilt werden, in den letzten drei Jahren an“, schloss Sudalenko: „Die Repressionen lassen nicht nach, und es spricht auch nichts dafür, dass sie in nächster Zeit aufhören könnten.“ 

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  • „Das Regime driftet in Richtung Totalitarismus und Mittelalter“

    „Das Regime driftet in Richtung Totalitarismus und Mittelalter“

    Was bedeutete die Zeit der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik für die Ausbildung eines nationalen Bewusstseins in Belarus? Warum blieb dieses dennoch eher schwach? Warum zeigt sich die belarussische Gesellschaft nach den Protesten, die am 9. August 2020 begannen, wieder gespaltener? 

    Im zweiten Teil seines Gesprächs mit dem Online-Medium Gazeta.by reflektiert der belarussische Journalist Alexander Klaskowski vor dem Hintergrund der wechselhaften belarussischen Geschichte über die große Frage der nationalen Identität seiner Landsleute.

    Bahdana Paulouskaja: Der Blick in die Geschichte zeigt, dass bei uns nur sehr wenige Autokraten herrschten. Wie kam es dann, dass die Belarussen bei den freien Wahlen 1994 für einen Diktator stimmten und sich damit auf Jahrzehnte ein Problem schufen? Wann passierte dieser Fehler in der Matrix?

    Alexander Klaskowski: Erstens gab es in der belarussischen Geschichte sehr wohl genügend Autokraten, Tyrannen und Despoten, zum Beispiel den russischen Zaren, der die Aufstände unserer Vorfahren in Blut ertränken ließ. Oder auch Stalin. Natürlich suchten sich die Belarussen damals ihre Herrscher nicht selbst aus, es war immer eine Fremdherrschaft. Und dieser Mangel an eigener Wahlerfahrung schlug sich dann leider bei den ersten mehr oder weniger freien Wahlen in Belarus 1994 nieder.

    Die Leute denken immer zuerst daran, dass der Kühlschrank voll ist 

    Zweitens, und das ist das Beschämendste, wählten die Belarussen keinen Diktator, sondern ihren Saschka, wie ihn damals viele nannten. Es gab Fernsehübertragungen der Sitzungen des Obersten Sowjets im Ovalen Saal, und die Zuschauer sahen diesen einfachen Mann vom Dorf, der die Wahrheit aussprach und sagte, er wolle die Mafia besiegen, wenn er an die Macht kommt. Er wirkte wie ein ländlicher Robin Hood, war aber in Wirklichkeit einfach nur ein talentierter Populist. Zum großen Leidwesen hatten die Belarussen in ihrer Masse nicht genügend politische Erfahrung und kein ausreichendes Maß an nationalem Selbstbewusstsein. 
    Auch der wirtschaftliche Kollaps trug seinen Teil bei. Die Leute denken immer zuerst daran, dass der Kühlschrank voll ist, dass die Kinder Kleider und Schuhe haben, und genau damit spielte Lukaschenka, als er versprach, die guten alten Zeiten zurückzubringen. Danach zog er die Schrauben an, so dass die Belarussen keinen anderen Führer mehr wählen konnten. Sie versuchten es immer wieder, zuletzt 2020, aber leider endete alles in einer riesigen Tragödie, die bis heute andauert. 

    Welchen Einfluss hatte die Sowjetzeit auf uns? Konnten wir uns seit Beginn der Unabhängigkeit von den Spuren der Sowjetisierung befreien? 

    Ich bin kein Freund davon, die sowjetische Zeit nur schwarz zu zeichnen. Wie ich schon sagte, gerade das Bestehen der BSSR war im Jahr 1991 von Vorteil: Belarus erhielt seine Unabhängigkeit, anders als beispielsweise Tatarstan . Oder denken wir an die Zeit der Belarussifizierung der 1920er Jahre, als die Verfechter der Wiedergeburt eifrig den Boden der belarussischen Sprache beackerten. Sicher, viele von ihnen wurden später von Stalins Regime erschossen, aber was sie damals geleistet haben, wirkt bis zum heutigen Tage nach. 

    Des Weiteren muss man die Industrialisierung nach dem Krieg erwähnen, die Urbanisierung, als die Belarussen massenhaft in die Städte übersiedelten – aus ihren dunklen Holzhäusern zogen sie in große Wohnungen mit allem Komfort. Und auch in den Dörfern mehrte sich der Wohlstand. Meine Eltern zum Beispiel – Kriegskinder – erzählten, wie sie in der Kindheit und Jugend hungerten. Meine Mutter konnte während ihres Studiums an der Akademie in Horki nur einmal in der Woche ein Brot kaufen. Sie schnitt es in sieben Teile, aber hatte solchen Hunger, dass sie es trotzdem innerhalb weniger Tage aufaß.

    Minsk, damals die Hauptstadt der BSSR, in den sowjetischen 1970ern

    Aber schon Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre hatten meine Eltern, obwohl sie im Dorf lebten, einen Fernseher, einen Kühlschrank, einen Trog voller Speck, konnten sich gute Wintermäntel kaufen und einen Teppich an die Wand hängen, wie es damals modern war. Mein Onkel Koszja fuhr einen Kirowez-Traktor und verdiente gutes Geld – 350 Rubel im Monat. 

    In der Sowjetzeit gab es also eine Periode, in der Belarus einen großen wirtschaftlichen und sozialen Sprung machte. Lukaschenka beruft sich noch heute darauf, wenn er sich brüstet, wir hätten unser sowjetisches Potential nicht verloren. Dieses hat allerdings nicht Lukaschenka geschaffen, sondern Generationen von Belarussen mit ihrer fleißigen Arbeit davor.

    Belarus war tatsächlich eine der hochentwickeltsten Republiken der UdSSR, was auch negative Aspekte hatte. So konnte Lukaschenka nämlich 1994, mitten in der postsowjetischen Krise, die Erinnerung an Wohlstand und Reichtum für seine Interessen nutzen. Ein weiterer Pluspunkt der Sowjetzeit war, dass die Belarussen eine fundierte Ausbildung erhielten und der soziale Aufstieg in weiten Teilen gut funktionierte. Ich selbst bin beispielsweise ein Junge aus dem Dorf, bekam ohne jedes Vitamin B einen Studienplatz an der Fakultät für Journalismus und später eine Stelle bei einer landesweiten Zeitung mit hoher Auflage. Die Redaktion hatte meine Einstellung beantragt, da ich bereits eng mit ihr zusammengearbeitet hatte und meine Artikel häufig gedruckt wurden. Einige Jahre später war ich bei der Zeitung schon zum Chef vom Dienst aufgestiegen.

    Die schwach ausgeprägte nationale Identität spielte während des Zerfalls der UdSSR eine fatale Rolle 

    Selbst innerhalb der Machtelite gab es Menschen wie Henads Buraukin, der Staatsrundfunk und -fernsehen der BSSR leitete und dort die belarussische Sprache förderte. Natürlich in einem abgesteckten Rahmen, aber er konnte für die belarussische Sache arbeiten. Im ZK der Kommunistischen Partei von Belarus (KPB) saß der Dichter Sjarhei Sakonnikau, der die belarussischen Schriftsteller unterstützte und mit Wassil Bykau befreundet war. Die Kaderauswahl war damals in gewissem Maße vernünftiger als heute unter Lukaschenka, wo wir beobachten können, dass in seiner Umgebung allen voran die Schmeichelhaften reüssieren, zudem ganz offene Adepten der sogenannten Russki Mir.

    Natürlich war die sowjetische Periode auch eine Zeit, in der während der stalinistischen Repressionen sowohl die nationale Elite als auch einfache Belarussen vernichtet wurden. Mein Urgroßvater Wazlau, der sich während der Kollektivierung bei einer Versammlung skeptisch über das Kolchossystem geäußert hatte, wurde wegen „antisowjetischer Agitation“ (analog zum heutigen „Extremismus“) verfolgt und verbrachte viele Jahre in Straflagern und in der Verbannung. Auch die schleichende Russifizierung ist ein Phänomen der Sowjetzeit. Hier kann man aber auch nicht alles auf das kommunistische System schieben, denn viele Belarussen entsagten ihrer Muttersprache ohne jeglichen Zwang, sobald sie in die Stadt gezogen waren. Niemand steckte ihnen Nadeln unter die Nägel, sie wechselten selbst zur russischen Sprache, um nicht wie Kalchosniki zu wirken.

    Diese schwach ausgeprägte nationale Identität spielte während des Zerfalls der UdSSR eine fatale Rolle. Denn im Unterschied zu den Einwohnern der damaligen baltischen Sowjetrepubliken konnten die Belarussen sich nicht entschieden von Moskau losreißen. Wieder etwas, womit Lukaschenka spielen konnte, als er die Schallplatte von der sogenannten brüderlichen Integration auflegte.

    Hat uns 2020 in der Frage der nationalen Identität vorangebracht? Denn natürlich haben wir zunächst diese große Begeisterung gesehen, das Meer der weiß-rot-weißen Flaggen, spürten Nationalstolz und den Wunsch, uns Belarussen zu nennen. Aber jetzt erlebt das Land furchtbare Repressionen, alles Belarussische wird verdrängt, Bücher werden verboten, Lehrbücher umgeschrieben und an russische Narrative angeglichen.

    Das muss man dialektisch betrachten. Einerseits beobachten wir einen furchtbaren Rückschritt, das Regime driftet in Richtung Totalitarismus und Mittelalter. Die Bedingungen, unter denen politische Gefangene festgehalten werden, die Misshandlungen, denen sie ausgesetzt sind, erinnern an finstere Zeiten, als despotische Monarchen ihre Feinde in Gruben und Verliese sperrten, um sie lebendig verrotten zu lassen.

    Aber, um auf die Ereignisse von 2020 zurückzukommen, ich möchte betonen, dass die Geschichte keinen Konjunktiv duldet. Sonst könnte man auch über Kalinouskis Aufstand sagen, er sei verfrüht gewesen, dieser Aufruhr hätte schreckliche Repressionen, die Ausrottung der nationalen Elite, die beschleunigte Russifizierung provoziert – kurzum, es sei zu früh nach der Freiheit gestrebt worden.

    Aber so reden wir nicht. Denn wir verstehen, zum Ersten, dass solche historischen Ereignisse nicht planbar sind, sondern stattfinden, wenn verschiedene Faktoren zusammentreffen, man kann sie nicht mechanisch in eine passendere Zeit verschieben. Zweitens hat der Kalinouski-Aufstand ungeachtet der Tragik des Moments in historischer Hinsicht auch heute eine große Bedeutung für die belarussische Idee und die nationale Identität. 

    Heute kämpft das Kalinouski-Regiment  in der Ukraine. Auf der anderen Seite sehen wir, wie die Lukaschisten auf der Kalinouski-Straße in Minsk schon mit den Zähnen knirschen, wir wissen, dass sie diese Schilder früher oder später abnehmen werden. Das heißt aber auch, dass sie das beschäftigt, denn sie spüren die Kraft der belarussischen nationalen Idee, personifiziert in Kalinouski. Man kann also jetzt über die Ereignisse von 2020 fantasieren, nachträglich irgendwelche scholastischen Modelle entwickeln, wie man hätte gewinnen können, aber das ist sinnlos. Denn ein Sieg war so gut wie unmöglich, die Kräfte waren ungleich verteilt. Hätte man versucht, den Palast der Unabhängigkeit  zu stürmen, hätte das noch mehr Tote gebracht. 


    Ein Protestmarsch am Prospekt der Unabhängigkeit in Minsk im August 2020 / Foto © Dimitri Bruschko

    Könnte man sagen, dass gerade die Figur Lukaschenka, die plötzlich alle satt hatten, 2020 unsere Nation konsolidierte?

    Die These der nationalen Konsolidierung würde ich anzweifeln. Einige Führer des demokratischen Lagers begehen leider den Fehler, vereinfachte Formeln zu benutzen wie „das Volk leidet unter dem Joch der Diktatur“. Ich verstehe, dass das in gewissem Maße eine Exportvariante ist, um westlichen Politikern zu erklären, dass das Regime und die belarussische Bevölkerung nicht ein und dasselbe sind. Aber unabhängige soziologische Befragungen belegen, dass die Nation tatsächlich gespalten ist und 2020 diese Spaltung noch verstärkt hat: Die beiden Lager – Lukaschisten und Regimegegner – hassen einander einfach. Einige Politologen sagen sogar, dass die Bevölkerung sich praktisch im kalten Bürgerkrieg befindet.
    Tatsächlich ist das Bild komplexer, denke ich. Es gibt einen großen Anteil relativ neutral eingestellter Menschen. Das sind Leute, die (zum Großteil) potentiell für Veränderungen sind, sich aber jetzt in ihre Schneckenhäuser zurückgezogen haben und einfach im Hier und Jetzt leben möchten, weil die Frustration sie ermüdet hat. Vor uns liegt also noch ein sehr schwerer und leidvoller Prozess – diese Fetzen der zerrissenen Nation zusammenzunähen.

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  • Gefangenenaustausch: „Belarus wird dem Kreml zum Fraß überlassen“

    Gefangenenaustausch: „Belarus wird dem Kreml zum Fraß überlassen“

    Am gestrigen Donnerstag kam es zu einem großangelegten Gefangenenaustausch zwischen Russland, den USA, Deutschland und anderen Ländern. Insgesamt 24 Personen wurden dabei aus der Haft entlassen und in andere Länder überstellt, darunter die bekannten russischen Oppositionspolitiker Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa, sowie der US-amerikanische Journalist Evan Gershkovich. Der sogenannte „Tiergartenmörder“ Wadim Krassikow wurde bei seiner Ankunft in Russland von Wladimir Putin persönlich in Empfang genommen. Aus belarussischer Haft wurde der Deutsche Rico Krieger entlassen, der ursprünglich zum Tode verurteilt und Anfang der Woche von Alexander Lukaschenko begnadigt worden war.  

    In Belarus gibt es fast 1400 politische Häftlinge, keiner wurde bei dem Austausch berücksichtigt. Die Enttäuschung bei der belarussischen Opposition ist groß. Warum spielte sie bei der Aktion keine Rolle? Und welche Signale sendet diese Nicht-Berücksichtigung? Dazu zwei Stimmen aus belarussischen Medien. 

    Bei dem großangelegten Gefangenenaustausch zwischen Russland, den USA, Deutschland und Belarus wurden belarussische Häftlinge, wie die Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa, nicht berücksichtigt / Foto © Viktor Tolochko/SNA/Imago

    „Der Westen betrachtet Belarus faktisch als russische Provinz“

    In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk äußert der Journalist Alexander Klaskowski die Vermutung, dass Lukaschenko nicht mehr als eigenständig agierender Staatschef wahrgenommen wird. 

    [bilingbox]Ganz offensichtlich schätzt der Westen – in diesem Fall vertreten durch Deutschland – die politische Eigenständigkeit von Alexander Lukaschenko äußerst gering ein. Einerseits könnten sich seine erbitterten Gegner darüber freuen: Seht her, mit dem Diktator will niemand reden. Andererseits wird mehr und mehr deutlich, dass der Westen Belarus mittlerweile faktisch als russische Provinz betrachtet und vorerst keine Möglichkeit sieht, das Land aus den Fängen des Imperiums zu befreien. Mit allen daraus resultierenden Konsequenzen. Gewiss: EU-Politiker unterstützen weiterhin eine europäische Perspektive von Belarus. Aber de facto schließen sie den eisernen Vorhang und überlassen das Land dem Kreml zum Fraß.~~~Oчевидно, что и Запад — в этом случае прежде всего в лице Германии — крайне низко оценивает политическую субъектность Лукашенко. 
     
    С одной стороны, его яростные противники могут порадоваться: вот, с диктатором не хотят разговаривать. С другой стороны, становится все яснее, что Запад фактически стал считать Беларусь российской провинцией, не видит возможности на нынешнем этапе вырвать страну из лап империи. Со всеми вытекающими последствиями. 
     
    Да, европейские чиновники продолжают риторически поддерживать европейскую перспективу Беларуси, но де-факто опускают железный занавес, отдают ее на съедение Кремлю. [/bilingbox]

    erschienen am 1. August 2024, Original 

    „Kolesnikowa wäre eine würdige Kandidatin für einen Austausch gewesen“

    Belarus sei für die verhandelnden Parteien nicht „gewinnbringend“ genug, sagt der Politanalyst und Ex-Diplomat Pawel Sljunkin in einem Interview mit dem Online-Medium Zerkalo

    [bilingbox]Sogar unter rein symbolischen Gesichtspunkten wäre es wichtig gewesen, zumindest einen belarussischen Bürger in den Austausch einzubeziehen. Dies zeigt, dass die westlichen Länder Russland für wichtiger erachten als Belarus. Das höchste der Gefühle, was die europäischen Länder [gegenüber den belarussischen politischen Gefangenen] tun können, ist, ihre Solidarität zu bekunden. In diesem zynischen Sinne waren die belarussischen politischen Gefangenen für den Westen im Gegensatz zu Krieger wahrscheinlich nicht „gewinnbringend“ genug. Die Tatsache, dass der Austausch nicht einmal symbolisch Belarussen umfasste, spricht Bände. Maria Kolesnikowa etwa hat lange Zeit in Deutschland gelebt und kehrte 2020 nach Belarus zurück, um sich an der Demokratiebewegung zu beteiligen. Auch sie wäre doch eine würdige Kandidatin für einen Austausch gewesen. Wie es scheint, hat Deutschland aber nicht versucht, sie auszutauschen. ~~~Даже с символической точки зрения было бы важно попробовать включить в обмен хотя бы одного гражданина Беларуси, — отметил он. — Это говорит о том, что западные страны воспринимают Россию как более приоритетную страну, чем Беларусь. И максимум, что могут делать европейские страны [по отношению к беларусским политическим заключенным], — это выражать солидарность. Наверное, в этом циничном смысле беларусские политзаключенные были для Запада недостаточно «выгодны», в отличие от Кригера. Тот факт, что в обмен не включили ни одного беларуса, хотя бы символически, говорит о многом. Та же Мария Колесникова долгое время прожила в Германии и вернулась в Беларусь в 2020 году, чтобы поучаствовать в демократическом движении. Она тоже была бы достойным кандидатом на обмен — но, видимо, [Германия] не стала [пытаться ее обменять][/bilingbox]

    erschienen am 2. August 2024, Original 

     

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  • Im Gestern einer neuen Zeit

    Im Gestern einer neuen Zeit

    Uladsimir Njakljajeu, 1946 in der westbelarussischen Stadt Smarhon geboren, ist einer der bekanntesten belarussischen Dichter und Schriftsteller. In jungen Jahren verbrachte er mehrere Jahre im Fernen Osten Russlands, bevor er Anfang der 1970er Jahre am Moskauer Literatur Institut studierte. Danach arbeitete er in unterschiedlichen Positionen bei journalistischen und literarischen Publikationen. 1976 debütierte er mit dem Gedichtband Adkryzzjo (dt. Entdeckung). Seitdem hat er zahlreiche weitere lyrische Arbeiten und Romane veröffentlicht. 2010 gründete er die gesellschaftspolitische Initiative Sag die Wahrheit! (belaruss. Hawary praudu!), als deren Kandidat er im selben Jahr bei den Präsidentschaftswahlen antrat. Am Wahlabend wurde er von maskierten Männern verprügelt und im Krankenhaus schließlich verhaftet. Nach den Protesten von 2020 und infolge der Repressionen ging er ins Exil. 

    In seinem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft geht Njakljajeu der Frage nach, ob die Belarussen in ihrer Geschichte genug getan haben, um die Unabhängigkeit ihres Staates zu sichern. Ein Schlüsselfaktor für das weitere Bestehen von Belarus ist für ihn der Ausgang des Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt. „Die Zukunft von Belarus ohne die Ukraine“, schreibt er, „das bedeutet die Eingliederung in die Russische Föderation.“

     

    беларуская версія

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Mein Feld ist die Literatur, deren Objekt der Mensch ist, und so betrachte ich für gewöhnlich die Geschichte weniger als Geschichte der Ereignisse, sondern als Geschichte der Menschen, die die Ereignisse schaffen. Das Jahr 2020 war für Belarus ein Ereignis mit hunderttausenden, ja Millionen Menschen. Das Jahr der Augustrevolution, die in Freiheit und Demokratie münden sollte, aber in Unfreiheit und Tyrannei endete. Warum ist es so gekommen, und nicht anders? Wie konnten wir in den 33 Jahren unserer (wenn auch größtenteils formalen) Unabhängigkeit an den Abgrund des Verlusts unseres Vaterlandes gelangen?

    Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, fing ich an, einen Roman zu schreiben, über die Ereignisse, deren Zeuge ich war, über die Menschen, die diese Ereignisse initiiert hatten. Ich begann 2021 – und schob es dann auf. Alles war zu nah und zu schmerzhaft, mein Herz krampfte, Tränen flossen. Unter Tränen kann man nicht schreiben. Keinen Roman, und noch viel weniger die Geschichte einer mitleidlosen Zeit.

    Nach den Ereignissen von 2020 konnte ich schon deshalb nicht mehr mit ansehen, was in Belarus geschieht, weil mein Herz es nicht verkraftete. Mit anzusehen, wie Sprache, Kultur und Geschichte vernichtet werden, wie das Volk sich über die Welt verteilt, um den Repressionen zu entgehen, das ist keine Emigration mehr, das ist ein Exodus. Wie der historische Auszug der Israeliten, die durch die Wüste und die Herausforderungen des Schicksals gingen und doch zu sich selbst zurückkehrten. Denn sie hatten etwas und jemanden, zu dem sie zurückkehren konnten. 

    Haben wir das auch? Und wenn ja, wird es noch bestehen, wenn wir uns auf dem Rückweg befinden? Dass der Weg lang sein wird, ist schon jetzt absehbar. Aber werden wir als Belarussen zurückkehren? Nicht nur diejenigen, die im Ausland sind, sondern auch die, die zu Hause geblieben sind – auch dort findet ein Exodus statt. Denn alles, womit wir, wie Wasser und Brot, das Gott mit den Ausgestoßenen teilt, überleben könnten, um unseren Weg durch die Wüste zu gehen, wird vernichtet und ausgemerzt.

    Das Schrecklichste daran war, nicht die geringste Möglichkeit zu haben, der Vernichtung entgegenzutreten. Der Schmerz war so groß, dass ich sogar meine älteren Freunde zu beneiden begann, die in die andere Welt gehen durften, ohne sehen zu müssen, wie alles ruiniert wird, wofür sie schrieben – und lebten. Als mir also in Polen angeboten wurde, ein Buch herauszugeben, das in Belarus nicht gedruckt werden konnte, nutzte ich die Gelegenheit. Ich ging nach Polen und setzte mich wieder an den in Minsk begonnenen Roman.

    Bis zum Krieg in der Ukraine war etwa die Hälfte des Textes fertig. Mit Kriegsbeginn wurde klar, dass ohne die Ergründung seiner Ursachen keine Antwort auf die Frage möglich war, warum es bei uns so ist, wie es ist. In meinem Text sah ich dieselben konzeptuellen Fehler, die auch in der Politik gemacht worden waren, und musste ihn wieder verwerfen. Ich begann neu, direkt beim Krieg.

    Das Schicksal Belarus‘ wurde von jeher durch Kriege bestimmt. So war es im 18. Jahrhundert nach dem Siebenjährigen Krieg und den Teilungen der polnisch-litauischen Adelsrepublik, im 19. Jahrhundert nach den Napoleonischen Kriegen und im 20. Jahrhundert nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Auch das 21. Jahrhundert ist keine Ausnahme, über das belarussische Schicksal entscheidet der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Ein Krieg, in dem Menschen einander töten, die sich bis vor Kurzem Brüder nannten – eine antike Tragödie. Man muss nicht nur ihre Regisseure, Akteure und Dekorateure verstehen, sondern, und das ist das Schwierigste, den antiken Chor, der in den klassischen Tragödien des Euripides, Aischylos und Sophokles das Volk verkörpert, dessen Rolle es ist, die Handlung zu erklären und die Helden vom Standpunkt der Moral her zu beurteilen. Wenn also der antike Chor in Russland dem brüdermordenden Krieg ein Loblied singt, und das Volk in Belarus zuhört und scheinbar zustimmend schweigt (geht mich nichts an), was ist das dann für ein Volk? Maxim Bahdanowitschs Worte „Belarussisches Volk, du bist wie ein Maulwurf, blind und trist“ sind ein emotionaler Seufzer, der nichts zu bedeuten hat. Das Volk ist weder trist noch blind. Es ist einfach historisch so gekommen, dass es noch nicht zum Volk geworden ist. Es hat sich noch nicht lieb genug gewonnen, um ein Volk werden zu wollen.

    Wir leiden an Oikophobie. An Unliebe zu uns selbst. Unsere Sprache, Kultur, Geschichte … Fast alles, was nicht Unseres ist, ist in unserer Vorstellung viel besser. Tatsächlich ist das eine Krankheit, an der verschiedene Völker zu verschiedenen Zeiten litten, bei den Belarussen aber ist sie chronisch. Und solange wir uns nicht von dieser Krankheit befreien, uns und alles, was unseres ist, nicht lieben, solange kann uns nichts und niemand dabei helfen, ein Volk, eine vollwertige Nation zu werden. 

    Letztlich betrifft das nicht nur uns, sondern auch unsere östlichen Nachbarn. Und vielleicht sogar in größerem Maße. In jedem Fall hat niemand je über Belarus geschrieben, wie es die Russen über Russland tun: „Russlands Bestimmung liegt lediglich darin, der ganzen Welt zu zeigen, wie man nicht leben und was man nicht tun sollte.“ (Pjotr Tschaadajew)

    Natürlich ist es nicht sehr wissenschaftlich, über die Rolle der Liebe im historischen Prozess der Nationsbildung zu sprechen. Aber ich bin Schriftsteller, kein Wissenschaftler. Und als Schriftsteller weiß ich, dass die beste Literatur diejenige ist, die von der Familie handelt – nehmen wir die Forsyte Saga von Galsworthy oder Krieg und Frieden von Tolstoi. Und nicht nur in diesen Romanen, in allen, die ich las, ob nun von Briten oder Chinesen verfasst, ist die Familie dann Familie, wenn sie auch Liebe ist. Und das Volk ist eine Familie, die Welt ist eine Familie der Völker, alles gründet auf der Liebe – und plötzlich wurde diese Grundlage vom brudermordenden Krieg zerrüttet.

    Gott sei Dank sind wir nicht direkt in diesen Krieg eingetreten. Aber die seit Stalins Zeiten ungekannten Repressionen, die nach den Augustereignissen von 2020 begonnen haben – sie sind ein direkter Krieg des Staates gegen sein Volk. Ein Krieg gegen sich selbst. Entweder wir halten ihn auf, oder er wird uns in den nationalen Selbstmord führen. Wie es auch unser Krieg gegen die Ukraine getan hätte. 

    Die Zukunft von Belarus ohne die Ukraine, das bedeutet die Eingliederung in die Russische Föderation. „Freiwillige Angliederung“ an Russland, „entweder als sechs Gouvernements oder als Belarus im Ganzen“, wie es Putin schon im Jahr 2000 vorschlug, kurz nachdem er Präsident geworden war. Natürlich kann man auch angegliedert existieren (immerhin hatten wir fast zweieinhalb Jahrhunderte irgendwie Bestand, erst im Russischen Imperium, dann in der UdSSR), doch stellt sich in diesem Fall die Frage, ob die Belarussen zur vollwertigen Nationswerdung fähig sind. 

    In meinem Roman Gej Ben Ginnom, den ich noch vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine (den damals alle Wissenschaftler, Politiker und Politologen als unmöglich betrachtet hatten) schrieb, gibt es einen Dialog zwischen Stalin und Janka Kupala, unserem Nationalgenie. Stalin sagt: „Das russische Volk ist ein großes Volk, Genosse Kupala. Hätten die Belarussen die Deutschen besiegen können? Oder auch nur die Georgier? Nein. Aber die Russen haben gesiegt. Sie könnten sogar die Ukraine besiegen, wenn sie wollen.“ Kupala fragt: „Warum sollten sie die Ukraine erobern?“, woraufhin Stalin antwortet: „Was heißt hier warum? Weil sie Russen sind.“

    Das ist natürlich weder Politik noch Politologie, sondern Literatur. Für die Handlung des Romans ist dieser Dialog gar nicht so bedeutsam, er könnte genauso gut nicht dastehen. Und doch – Kunstwissenschaftler nennen es kreative Intuition – wurde er geschrieben, am Vorabend des Krieges. 

    Was hat zu diesem Krieg geführt? Es geht bei diesem Krieg gar nicht so sehr um Territorium, nicht um die Krim und den Donbas. Die Ursache liegt viel tiefer: Sie ist zivilisatorisch. Wie schrieb mir ein ukrainischer Dichterfreund in seinem Brief: „Wir sind für sie existenzielle Feinde, und sie auch für uns. Dieser Krieg ist – jenseits seiner tiefen Wurzeln und seiner Tragik – von biblischem Charakter … Entweder wir sie oder sie uns. Nicht mehr und nicht weniger.“

    „Westen ist Westen, und Osten ist Osten – sie kommen nie zusammen“, formulierte der russische Dichter Alexander Blok in Anlehnung an den Engländer Rudyard Kipling. Und wenngleich sich diese Formel auf der Welt langsam verwäscht (wie beispielsweise in Südkorea, wo Ost und West augenscheinlich zusammengehen), so geschieht das in Russland nicht. Von Beginn seiner Staatlichkeit an hat Russland den Osten und sein Postulat „Alle Macht in einer Faust“ gewählt. In der „russischen Welt“ heißt das heute „russische Macht“, ein Konzept, das in der Mitte der 1990er Jahre entwickelt wurde und auf eine Person zugeschnitten ist, die über dem Gesetz steht. Ebenso war es bei den Zaren, bei den Generalsekretären und so blieb es bei den Präsidenten, deren letzter verlauten ließ, die Goldene Horde sei Russland näher gewesen als die „westlichen Eroberer“. Die Ukraine versuchte entschlossen, vorbereitet durch ihre Geschichte, in die Spur der westlichen Zivilisation mit dem Prinzip der Gewaltenteilung zu treten. Das mag nicht der erste Grund sein, aber sicher auch nicht der letzte, der zum Kampf der Zivilisationen führte. Russland hat seinen Weg gewählt, die Ukraine ihren. Belarus hat sich nicht entschieden. Es steht noch immer zwischen den Wegen. 

    Das führte direkt dazu, dass die Republik Belarus die errungene Unabhängigkeit in keiner Weise nutzte. Ganz am Anfang gab die Unabhängigkeit die Möglichkeit, eigenständige Entscheidungen zu treffen (unabhängig vom stark geschwächten Russland). So konnten die baltischen Staaten Entscheidungen treffen, die sie auf den Weg in die EU führten und dadurch retteten. In Belarus wurden solche Vorschläge weder vom konservativen (kommunistisch-prosowjetischen) Teil der Bevölkerung akzeptiert noch vom demokratischen Teil noch von der Belarussischen Volksfront (damals die stärkste oppositionelle Kraft). Deren Anführer trat für ein völlig unabhängiges Belarus ein, das sich weder der Russischen Föderation noch der Europäischen Union anschließt. In jener Zeit veröffentlichte ich den Artikel Zwischen den Polen, in dem ich fragte: wie kann ein metallisches Körnchen zwischen zwei Magneten im Gleichgewicht schweben? Es ist unmöglich. Ich bekam zur Antwort, das sei in der Physik unmöglich, in der Politik könne das vorkommen. 

    Das war der erste politische Fehler, den man historisch nennen kann, denn er wurde tatsächlich zum ersten Schritt auf dem Weg zum Verlust der eben erst gewonnenen Unabhängigkeit. Und wie viel Zeit musste vergehen, bis der ukrainische Präsident Selensky, der Belarus der Zusammenarbeit mit dem Aggressor beschuldigte, endlich erklärte: „Europa – das ist der Balkan, das ist Moldau, und es wird auch der Tag Europas kommen für Georgien und der Tag Europas für Belarus.“ Natürlich hätte man Belarus 1991 nicht sofort in die EU aufgenommen. Wie in den baltischen Staaten wäre Zeit nötig gewesen, um die notwendigen Bedingungen zu erfüllen. Aber das wäre für unsere Geschichte keine verlorene Zeit gewesen, so wie es jetzt der Fall ist. Es wäre der gewählte Weg.

    Hier kann man nun fragen: Und was ist mit dem Unionsstaat? Ist das nicht der Weg nach Osten? Ist das keine Wahl? Ja, es ist eine Wahl. Aber kein Weg. Denn es ist keine zivilisatorische Entscheidung, sondern eine politische. Und die Politik ist ebenso wechselhaft, wie das Wetter. Den zweiten Fehler machte die Staatsführung des unabhängigen Belarus bei der Unterzeichnung des Belawescher Abkommens. Ich kannte den damaligen Staatssekretär der Russischen Föderation, Gennadi Burbulis, recht gut; wir hatten uns Anfang der 1980er Jahre in Swerdlowsk (heute Jekaterinburg) kennengelernt, wo ich den Studenten der Polytechnischen Hochschule Gedichte vortrug, er Vorlesungen über marxistisch-leninistische Philosophie. Ich fragte ihn also, ob während der Unterzeichnung des Belawescher Abkommens (an der er direkt beteiligt war) in irgendeiner Weise die Folgen dieses Dokumentes umrissen wurden? Politisch, wirtschaftlich, sozial? Er antwortete, nichts davon sei besprochen worden, es sei ein „freies Gedankenspiel“ gewesen. Genauso sagte er es, ich werde es meinen Lebtag nicht vergessen: „Es war ein freies Gedankenspiel.“ Und in diesem Spiel entstand die Formulierung: „Die UdSSR als völkerrechtliches Subjekt sowie als geopolitische Realität beendet ihre Existenz.“ 

    Nun gut, sie beendet ihre Existenz. Und danach? Die Vereinbarungen wurden ohne jegliche weitere Absprachen unterzeichnet, ohne Ergänzungen, ohne irgendwelche Garantien seitens der Initiatoren dieses Dokumentes (der russischen Staatsführung). Allem voran Garantien für die Unverletzlichkeit des Staatsgebietes der Ukraine und Belarus‘. Vielleicht haben Jelzin und Burbulis nicht daran gedacht, sie wollten ausschließlich die Machtfrage klären: Sie konnten den Führer der UdSSR, Gorbatschow, nicht absetzen, also nahmen sie ihm das Land, das er führte. Die Unterzeichnenden von belarussischer und ukrainischer Seite, Schuschkewitsch und Kebitsch sowie Krawtschuk und Fokin, hätten aber daran denken müssen. Sie kannten die Geschichte, sie kannten Russland, dessen Außenpolitik zu jeder Zeit entweder Eroberung oder Rückführung „angestammter russischer Gebiete“ gewesen war. Vielleicht stand ihnen zu Zeiten der politischen und wirtschaftlichen Krise nicht der Sinn danach. Aber dennoch hätte man die Frage stellen müssen: Was kommt danach? Welche Garantien gibt es, dass Russland nicht wieder zur imperialen Idee der „Sammlung russischer Erde“ zurückkehrt?

    Jetzt ist es dahin zurückgekehrt, Russland „sammelt Erde“. 

    Man könnte nun sagen: Russland würde ohnehin jegliche Garantie brechen, so wie es auch das Budapester Memorandum missachtet hat. Vielleicht. Aber ich spreche nicht über die Verantwortung Russlands, sondern über die Verantwortung der Menschen, denen die Völker der Ukraine und Belarus‘ ihr Schicksal anvertraut hatten.

    Jelzin wollte Gorbatschow, mit dem er noch persönliche Rechnungen offenhatte, so sehr loswerden, dass er jede Garantie unterzeichnet hätte. Aber weder die Staatsführung von Belarus noch die der Ukraine machten Vorschläge. Und hinterher erzählten sie, was für kluge Politiker sie seien, wenn es die von ihnen unterzeichneten Vereinbarungen nicht gäbe, hätte es Krieg gegeben. Dabei haben sie 1991 im Wald von Belawescha den Krieg in der Ukraine 2022 unterzeichnet.

    Der dritte historische Fehler wurde bei der Durchführung der ersten Präsidentschaftswahlen gemacht. Anstatt sich auf einen einzigen Präsidentschaftskandidaten der demokratischen Kräfte zu einigen, führte die Opposition einen zwischenparteilichen Kampf, infolgedessen der Abgeordnete des Obersten Sowjets Henads Karpenka (russ. Gennadi Karpenko) seine Kandidatur zurückzog. Genau der Politiker, der Charisma und zudem als Werksdirektor und Kommunalpolitiker die notwendige Autorität einer Führungsperson hatte, um die Wahl zu gewinnen. Dann hätte Belarus gewonnen.

    Viele Stimmen behaupten (so zum Beispiel Sjarhej Nawumtschyk in seinen Erinnerungen an das Jahr 1994), Belarus hätte siegen können, wenn bei der ersten Wahl Sjanon Pasnjak gewonnen hätte, bei der zweiten dann Henads Karpenka. Aber das ist politische Fantasy. Wie hätte in einem sowjetisierten Staat ohne Nationalbewusstsein sofort ein Nationalist gewinnen können? Keinesfalls. Es hätte nur umgekehrt kommen können: zuerst der tolerante Karpenka, danach der radikale Pasnjak. Aber keine von beiden Varianten ist eingetroffen, denn alle anderen Beteiligten dieser Ereignisse dachten nicht an Belarus, sondern an sich selbst. Und überlegten, wie sie Karpenka nicht zur Wahl zulassen könnten, noch dazu auf eine, gelinde gesagt, nicht ganz schickliche Weise.

    Aleh Trussau, Vorsitzender der Initiativgruppe von Stanislau Schuschkewitsch, agitierte 14 Mitglieder der sozialdemokratischen Partei Hramada, ihre Unterstützungsunterschriften für Karpenkas Aufstellung als Präsidentschaftskandidat zurückzuziehen. Dem Wahlrecht nach war eine solche „Initiative“ unzulässig. Von den Gesetzen der Moral ganz abgesehen. Gemeinsam mit Aljaxej Dudarau, dem Vorsitzenden von Karpenkas Wahlkampfstab, überredeten wir Karpenka, seine Rechte zu verteidigen, vor der Wahlkommission und vor Gericht, das damals noch ein Gericht war. Aber er lehnte es kategorisch ab (obwohl er sonst kein kategorischer Typ war), vor Gericht zu gehen oder überhaupt mit jemandem über Trussaus „Initiative“ zu sprechen. Er sagte: „Was mit Niedertracht beginnt, endet auch mit Niedertracht. Damit will ich nichts zu tun haben.“

    Warum halte ich mich an dieser fast privaten Episode aus unserer jüngeren Geschichte auf? Weil aus ihr, wie aus einer Krebsgeschwulst, die Metastasen der Unmoral gestreut haben. Die Situation mit dem Widerruf der Unterschriften wiederholte sich im dramatischen Jahr 1996, als wieder ein Umbruch möglich gewesen wäre. 73 Abgeordnete unterschrieben einen Antrag an das Verfassungsgericht für ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten wegen Verletzung der Verfassung. Aber zwölf von ihnen widerriefen ihre Unterschriften. Dem Gesetz nach hatte ein solcher Widerruf, wie auch im Fall Karpenka, keine juristische Wirkung, was das Verfassungsgericht auch feststellte. Aber während die Richter mit der Entscheidungsfindung befasst waren, führte Lukaschenka sein Referendum bereits durch, und seine Macht war von nichts und niemandem mehr beschränkt, weder Gericht noch Gesetz galten mehr für ihn. Keiner von denen, die damals erst unterschrieben und dann widerrufen hatten, hat seine Schuld je eingestanden.

    Es ist bezeichnend, dass von den 14 Personen, die Karpenka zunächst unterstützten und ihn später verrieten, nur eine Person um Entschuldigung bat, der Dichter Anatol Wjarzinski. Von allen anderen perlte es einfach ab. Bei allen folgenden Wahlen manipulierten und fälschten nicht nur die Machthaber, sondern auch die Opposition. Bei den Präsidentschaftswahlen 2010 sammelte nur einer von neun Oppositionskandidaten die notwendigen 100.000 Unterschriften. Vielleicht auch zwei. Aber auf Grundlage von gefälschten Listen wurden auch alle anderen registriert. So war es auch 2015, als alle Oppositionskandidaten gefälschte Listen einreichten, und 2020, als nur für Swjatlana Zichanouskaja echte Unterschriften gesammelt wurden. Dadurch beteiligte sich die Opposition an der totalen, das Land beherrschenden Täuschung. 

    „Mit der Lüge kommst du durch die ganze Welt, aber nicht mehr zurück“, sagt der Volksmund. Und genau die Täuschung des Volkes bei den Präsidentschaftswahlen 2020 war es, die die Proteste in eine Revolution verwandelte. Die Revolution mag das politische System und die Regierung nicht geändert haben, aber sie veränderte das Bewusstsein der Bevölkerung, die nicht mehr mit der Lüge leben wollte. Warum hat die Revolution nicht gesiegt? Es gibt mehrere Gründe für die Niederlage – einer davon ist, dass es bei den früheren Massenprotesten (z. B. beim Ploschtscha 2010) zahlreiche politische Führungspersonen anwesend waren, aber zu wenig Kraft des Volkes, um zu siegen. 2020 war es umgekehrt: Es war ausreichend Kraft der Masse, aber es fehlte an Führungspersonen. Diejenigen, die auftauchten, waren unvorbereitet, nicht gewappnet, die Last der Führungsrolle auf sich zu nehmen. Und es fällt schwer, ihnen daran die Schuld zu geben (aus persönlicher Erfahrung weiß ich, wie schwierig es ist), aber …

    Die „neue“ belarussische Opposition grenzte sich von der „alten“ Opposition ab, indem sie Polittechnologien einsetzte, wie sie bei der Konfrontation zwischen Macht und Opposition in Armenien erfolgreich gewesen waren, zum Beispiel die Dezentralisierung der Proteste. Keinem der früheren Oppositionspolitiker, die Erfahrung mit der Organisation von Massenprotesten hatten, wurde eine Mitarbeit im Koordiniernationsrat angeboten, obwohl dort niemand solche Erfahrungen mitbrachte. Alle Vorschläge, die auf dieser Erfahrung beruhten, wurden als Bestrebungen betrachtet, die Strategien des Ploschtscha 2010 aufzuzwingen, wovon niemand der neuen Politiker mehr etwas hören wollte: „Wir kommen auf friedlichem Wege an die Macht, ohne Gewalt“. Aber die Mechanismen der Selbstorganisation funktionierten nicht ohne einen Anführer (den es in Armenien damals gab und der nach dem Sieg der Revolution zum Staatschef wurde). 

    Ploschtscha – das bedeutet nicht unbedingt Gewalt, Barrikaden und Schießerei. Der ukrainische Maidan, zwang den damaligen Staatschef Janukowitsch, der Opposition den Posten des Premierministers anzubieten und neue Parlamentswahlen anzusetzen, noch bevor Barrikaden errichtet wurden. Die Opposition lehnte dieses Angebot ab, was ein Fehler war, der zur Verschärfung des Konfliktes führte – und am Ende zu Schießereien. Das hätte vermieden werden können, hätte man die Angebote der Staatsmacht akzeptiert und den Maidan als Druckmittel verwendet, damit das Versprochene auch umgesetzt wird. Ähnlich hätte man im August 2020 in Belarus vorgehen können (oder es wenigstens versuchen). Aber jetzt ist offenbar, dass darin ein enormes Risiko gelegen hätte.

    Russland plante damals wohl bereits den Einmarsch in die Ukraine (was wir nicht wussten), und Belarus war notwendig als Aufmarschgebiet. Daher hätte ein Ploschtscha-Aufstand zu einem Angriff führen können. Bei Smolensk standen russische Panzer in Warteposition, der Krieg hätte bei uns statt in der Ukraine beginnen können. Aber wer weiß schon, was hätte passieren können. Es ist, wie es ist. In der jetzigen Situation ist die Gefahr, Belarus zu verlieren, nicht geringer als in einem Krieg.

    Vielleicht hat uns der Versuch der Opposition, auf friedlichem Weg an die Macht zu kommen, vor Blutvergießen bewahrt. Höchstwahrscheinlich ist es so. Aber wo und wann wurde der Weg zur Freiheit je ohne Opfer beschritten? Wann gab es je einen Fall, in dem die Freiheit wie gewonnen so auch gleich wieder zerrann? Weil sie nicht geschätzt wurde, denn sie hatte keinen Preis gehabt?

    In meinem Roman sagt eine Person: „Wie wenig wir die Unabhängigkeit schätzten, die uns einfach von Gottes Hand gegeben worden war. Die Mehrheit bemerkte nicht einmal, dass sie da war. Da dachte Gott: ‚Wenn ich ihnen nur aus Liebe die Freiheit schenke, werden sie mit ihr dann so umgehen, wie sie mit der Unabhängigkeit umgegangen sind?‘ Und er sandte uns auf den Opferweg. Gefängnisse, Folter, Exil … Und wer kann sagen, ob dieser Weg leichter oder schwerer ist als der, der nicht gewählt wurde?“

    Im Leben geschieht nichts einfach so. Nichts geschieht grundlos. Alles – groß wie klein – hat eine Bedeutung. Die Revolution hat das Bewusstsein verändert, und Gott hat uns auf die Probe gestellt: Den Weg zur Freiheit zu gehen. Auf diesem Weg stehen wir vor einer Vielzahl von Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Diese erste ist: Wann wird es sich ändern? … Wann wird sich ein neues Fenster der Möglichkeiten für uns öffnen?

    Unsere Geschichte ist noch nicht zu Ende geschrieben, wie auch mein Roman. Als ich begann ihn zu schreiben und die Handlungsfäden, die Charaktere und Ereignisse festlegte, anhand derer sich die Gründe für unsere heutige Situation erschließen lassen sollten, kamen etwa ein Dutzend zusammen. Folgenderweise würde ich sie umreißen:

    MOTIVATION (sie war bei denen, die an der Macht waren und dortbleiben wollten, um ein Vielfaches höher als die Motivation derer, die an die Macht kommen wollten);

    NATION (die noch nicht reif genug ist, um das Nationale als das Eigene zu verteidigen);

    UMSONSTKULTUR (Vieles wurde nicht aus eigener Kraft, sondern „kostenlos“, mit russischen Finanzspritzen, erreicht, die letztlich – wie zu erwarten – doch nicht kostenlos waren) und so weiter. 

    Aber von all diesen Gründe wiegt einer am schwersten, einer, den schon vor langer Zeit Alexander Herzen als prägend für das Schicksal Russlands benannt hat (heute zu lesen als: und für das Schicksal von Belarus, wo das Konzept der russischen Macht, einer über dem Gesetz stehenden Person, in die Verfassung geschrieben wurde): „Der Staat hat sich in Russland wie eine Okkupationsmacht eingenistet. Wir sehen den Staat nicht als Teil von uns, als Teil der Gesellschaft. Der Staat und die Gesellschaft führen einen Krieg. Der Staat – mit Bestrafung, die Gesellschaft – mit Partisanentum.“

    Geschrieben vor langer Zeit, aber doch tagesaktuell.

    Wissend, dass Herzen den Nagel des zentralen Problems Russlands auf den Kopf getroffen hat, versuchen sich die russischen Propagandisten darin zu übertreffen, das als Fake herauszustellen: Herzen habe das niemals gesagt oder geschrieben. Erstens, selbst wenn Herzen es nicht geschrieben hätte, bliebe es dennoch eine Tatsache. Zweitens kann man es schwarz auf weiß im Sammelband der Zeitung Kolokol lesen, die Herzen im Exil herausgab. Es ist so viel Zeit vergangen, das Russische Imperium hat zwei Mal seinen Namen geändert, aber das, was hinter dem Namen steckt, ist unverändert geblieben. Und genau diese Unverändertheit, wie paradox es auch sein mag, wird zu grundlegenden Veränderungen führen, denn dieses Staatsmodell steht ganz offensichtlich im Widerspruch zur Zeit – und muss aus der Zeit verschwinden. 

    Verschwinden wird die Russische Macht aus Russland durch zivilgesellschaftliche Aufstände – die unausweichlich sind nach dem ungerechten, brudermordenden Krieg, den nicht das Volk führt, sondern der Staat: eine in Russland installierte Besatzertruppe. Wenn sie verschwindet, öffnet sich auch für uns ein neues Fenster der Möglichkeiten, das wir nutzen müssen, ohne die Fehler zu machen, die am Anfang der Geschichte der unabhängigen Republik Belarus gemacht worden sind.

    Warum haben wir diese Fehler nicht vermieden? Die Gründe sind mannigfaltig, einige sind offensichtlich, andere bis heute nicht bewusst. Zu den offensichtlichen Ursachen gehört, dass es bei uns keine Menschen gab, keine Politiker, die für entscheidende historische Ereignisse vorbereitet gewesen wären. Der Staatschef des unabhängigen Belarus war Physiker, zudem gingen Archäologen, Historiker und Literaten in die Politik. Zum allergrößten Teil waren es Menschen mit den besten menschlichen Qualitäten, aber ohne politische Schulung. Nicht nur in der Opposition, sondern auch in der Staatsführung und im Ministerkabinett gab es keine Erfahrungswerte für eine eigenständige Politik, die nicht nach Ost oder West blickt.

    Ohne Frage ist das ein wesentlicher Grund, er beeinflusste die Qualität der politischen Entscheidungen, war jedoch nicht der wichtigste. Der bestand darin, dass wir in einer neuen Zeit lebten, aber im Gestern stehengeblieben waren. Das Volk versuchte mehrfach, aus der Vergangenheit herauszutreten, aber der Staat, der bis heute im Gestern existiert, weil er in seiner Form nicht in der neuen Zeit überleben würde, schlug alle Versuche nieder. Die Zukunft von Belarus hing damals und hängt auch heute davon ab, wie schnell das Volk die Vergangenheit hinter sich lässt und dabei den Staat hinter sich herzieht.

    „Wie lange dauert es noch? Wann wird das sein?“ – diese Fragen bestimmen unser Schicksal. Nicht morgen. Und ich zitiere noch einmal Herzen: „Man kann das Volk nicht mehr befreien, als es im Inneren frei ist.“ Dieser einzige Weg zur Freiheit ist an keinem Ort und zu keiner Zeit je kurz gewesen. 

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  • „Wenn du jenseits der Politik lebst, kommt sie von allein zu dir”

    „Wenn du jenseits der Politik lebst, kommt sie von allein zu dir”

    In Belarus wurden die neu gewonnenen Freiheiten im Zuge der Unabhängigkeit im Jahr 1991 auch von vielen Musikern, Literaten, Künstlern oder anderen Kulturschaffenden begrüßt. Es entstand eine Bohème, die den neu gewonnenen Raum zu nutzen wusste, beispielsweise mit experimentellen Musikprojekten. Andere wiederum erlebten den Beginn der 1990er Jahre als eine Zeit der wirtschaftlichen und politischen Krisen, woraus schließlich die Abkehr vom eingeschlagenen demokratischen Weg und die Wahl Alexander Lukaschenkos resultierte. 

    Lavon Volski, eine Legende der belarussischen Alternativ- und Rockmusik, beschreibt diese wilde Zeit des Aufbruchs und des autoritären Rückfalls in seiner Kolumne für das Online-Portal Budzma

    Für manche Leute waren die 1990er Jahre eine Katastrophe, ein Kollaps, ein schmerzhafter, manchmal unerträglicher Bruch mit den bisherigen Lebensgewohnheiten. Da ich keine über viele sowjetische Jahre antrainierten Gewohnheiten hatte, nahm ich diese Zeit auch anders wahr – als Beginn von etwas vollkommen Neuem. Eine neue Welt, ein neuer Himmel, ein neues Leben. Ein neues, normales, nicht von der sowjetischen Hydra umfangenes Land, in dem neue Möglichkeiten und neue Perspektiven wachsen.  

    Lavon Volski (mittig) mit der Band Novae Neba nach einem Konzert Mitte der 1990er Jahre / Foto © Archiv Lavon Volski
    Lavon Volski (mittig) mit der Band Novae Neba nach einem Konzert Mitte der 1990er Jahre / Foto © Archiv Lavon Volski

    Neues Leben, neue kreative Projekte 

    Mit Begeisterung stürzte ich mich in viele kreative Projekte – den neuen Radiosender Belarus Maladsjoshnaja (dt. Jugendliches Belarus) beim staatlichen Rundfunk (der eigentlich nur eine Adaption des alten Senders an die neue Zeit war), mit scharfer Analytik, Interviews, provokativen Rubriken und Hitparaden. Jede Woche produzierte ich ein einstündiges Hörspiel, für das ich Krimis, Fantasy-Geschichten und andere Werke aus dem, wie man damals sagte, Bereich Action adaptierte, sogar Thriller und Horrorgeschichten. Ich war für das gesamte Tondesign von Belarus Maladsjoshnaja zuständig, nahm Pausenzeichen, Jingles und Titelmelodien auf. Darüber hinaus kreierte und moderierte ich die Mystery-Sendung Kvadrakola und nahm parallel Reklamesongs für alle möglichen Werbekunden auf. Es gab unzählige – vom klassischen Jeansmodehersteller bis hin zu großen Firmen, die Gas- und Elektroherde produzierten.  

    Im großen Studio des staatlichen Rundfunks nahmen wir auch das, wie es uns damals schien, epochale Album der Band Novae Neba (dt. Neuer Himmel) auf: Son u tramwai (dt. Traum in der Tram). Das Album war vielschichtig (intellektueller Rock!), mit elektronischen und akustischen Instrumenten, wechselnden Tempi und Dynamiken. Ich spielte Keyboard und um die notwendigen Effekte zu erzeugen, mussten wir uns immer neue Synthesizer für die Aufnahmen ausleihen. Manchmal nahm ich ein Taxi, lud das benötigte Keyboard ein (die waren ziemlich schwer!), brachte sie zum Sender, wo ich sie in die oberste Etage zum großen Konzertaufnahmestudio schleppte.  

    Die heisere Stimme als Alarmsignal 

    In den 1990er Jahren wurden im Radio (und wenn ich mich nicht irre, auch im Fernsehen) die Sitzungen des belarussischen Parlaments übertragen. Uns interessierte kaum, was bei diesen Abgeordneten in ihrem Sowjet (der nicht mal in Rada umbenannt worden war!) vor sich ging. Einzig eine grelle, heisere Stimme zog die Aufmerksamkeit auf sich, wenn sie in höherer Tonlage etwas verdeutlichte, jemanden beschuldigte oder angriff. Wir gingen andauernd durch die Einlasskontrolle im alten Stalingebäude des Senders, rein und raus, und dort lief immer grad die Live-Übertragung der Sitzungen, und jedes Mal gellte diese hohe Stimme in den Ohren. Wie ein Alarmsignal, ehrlich. Oder gar Fliegeralarm? 

    „Wer schreit da so?“, fragte ich meine Journalistenkollegen. 

    „Achte gar nicht drauf“, antworteten sie, „nur so ein Populist. Macht einen auf Kämpfer gegen die Korruption.“ 

    „Man hört ihn ziemlich oft.“ 

    „Ach, weil er sich ständig ans Mikro drängelt, ist nicht davon wegzukriegen. Zu jedem Thema hat er seine ganz persönliche Meinung.“ 

    Bohème-Leben jenseits der Politik 

    Falls es bis hierhin nicht ohnehin schon klargeworden ist, sage ich es jetzt: Wir lebten damals jenseits der Politik. Ja, Sie haben sich nicht verhört! Wir dachten, wir hätten fertig gekämpft, geschossen und gewonnen, dass wir unser zwar mittelmäßiges, aber unabhängiges Land mit dem Pahonja-Wappen und der weiß-rot-weißen Flagge haben und sich nun die Politiker mit Politik beschäftigen sollen – und wir mit dem, wofür wir geschaffen waren – mit Kreativem und Kunst. Zudem schienen die Sterne günstig dafür zu stehen – überall eröffneten Galerien, Ausstellungsräume, unabhängige Theater, Clubs, Festivals, Literaturvereinigungen – die bekanntesten von ihnen waren die Vereinigung der freien Schriftsteller und Bum-Bam-Lit (ich war Mitglied in beiden), – also eine Unzahl von Möglichkeiten, sich anzuschließen und sich völlig zu öffnen! Es war eine Zeit des großen kreativen Auftriebs, verschiedenster Unternehmungen und spannender, ernstzunehmender Ideen.  

    Und gleichzeitig war es eine Zeit des Bohème-Lebens. Fast täglich gab es Bankette mit kaltem Büffet, feierliche Eröffnungen, Präsentationen und Partys.  

    Ich wollte rufen, doch die Stimme brach ein

    Ich erinnerte mich, wie ich pro forma vor den Wahlen die Auftritte der Kandidaten anschaute. Darunter war auch der stimmstarke Korruptionsbekämpfer. Nachdem ich seinen Auftritt gesehen hatte, war ich absolut davon überzeugt, dass eine solch archaische Person in unserer neuen demokratischen Gesellschaft keinerlei Chancen hat. Und beschäftigte mich weiter mit meinem Kram. Dann ging es weiter wie in einem schlechten Film, in dem die Protagonisten gerade noch tanzen, trinken und lachen, aber plötzlich – Szenenwechsel! – alles ins Gegenteil verkehrt ist – Stille, Halbdunkel, Trübsinn und Trauer. Genauso ist es uns passiert – wir fahren gerade mit dem Taxi zum Sender, um das nächste Keyboard aufzunehmen (das Instrument liegt quer auf unseren Knien, weil es nicht in den Kofferraum passte), lachen und scherzen, weil wir gestern mal wieder auf einer Party waren und die aufgedreht-idiotische Stimmung anhält. Im Taxi läuft das Radio, wir schreiben das Jahr 1994 … Plötzlich hören wir die geschliffenen Worte des Sprechers: „Den ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl der Republik Belarus gewann mit großem Abstand …“ 

    „Das kann nicht sein“, sagte ich. 

    „Kann es!“, drehte sich der Taxifahrer um. „Jetzt wird der Sascha es diesen bourgeoisen Unternehmern aber geben! Ganz schnell bringt er die auf Linie!“ 

    Stumme Szene. „Ich wollte rufen, doch die Stimme brach ein“

    In diesem Augenblick begriff ich mit Schrecken, dass eine neue Zeit anbricht – trist, behäbig, schädlich für Leben und Kunst. Außerdem begriff ich, dass wir diese Zeit nicht hatten kommen sehen, weil wir so mit uns selbst beschäftigt waren. Dass wir zu Opfern des klassischen Schemas geworden waren: Wenn du jenseits der Politik stehst, kommt die Politik von ganz allein zu dir. Da war sie nun.  

    Die Redaktion des populären Jugendradiosenders 101.2 protestiert gegen die Schließung des Programms im Jahr 1996 / Foto © Archiv Lavon Volski
    Die Redaktion des populären Jugendradiosenders 101.2 protestiert gegen die Schließung des Programms im Jahr 1996 / Foto © Archiv Lavon Volski

    Was sich in 30 Jahren vor allem verändert hat 

    Seitdem sind schon dreißig Jahre vergangen! Alles gab es in dieser Zeit: Verbote, Tauwetter, Repressionen, demokratisch-liberale Gespenster, Einfrieren und Auftauen, Staatsterror … Und ich begreife, dass ich zu alldem schon bereit gewesen war, nachdem ich einmal den Auftritt unseres Volksherren gehört und ihm in die Augen geschaut hatte … 

    Zu einem solchen Jubiläum beglückwünschen wir einander also, liebe Landsleute! Zu einem traurigen und unerfreulichen Jubiläum. In dreißig Jahren verändert sich in jeder Gesellschaft etwas. Aber das Wichtigste ist, dass sich seitdem – und sogar radikal – die Einstellung der Mehrheit zum (scheinbar) unveränderlichen Führer verändert hat. Aus diesem frohen Anlass (und um euch ein wenig Hoffnung zu geben) gebe ich zu bedenken, dass mit jedem Jubiläum, wie schon der Held in dem satirischen sowjetischen Roman Die zwölf Stühle sagte. „Die Chancen steigen“. Und mit jedem Tag nähern wir uns den neuen Zeiten. 

    Den Sekt haben wir alle innerlich längst kaltgestellt. 

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  • Lukaschenko: Die Frage seiner Gesundheit

    Lukaschenko: Die Frage seiner Gesundheit

    Seitdem Alexander Lukaschenko im Mai 2023 vorzeitig von der Parade zum Tag des Sieges in Moskau abreisen musste, gibt es regelmäßig Spekulationen um den Zustand seiner Gesundheit. Nun nährte der Diktator die Gerüchteküche selbst, als er bei einem Auftritt in seiner ostbelarussischen Heimat durchblicken ließ, dass er Ruhe und Erholung brauche. 

    Spekulationen um das körperliche Wohlbefinden sind der fehlenden Informationstransparenz autokratischer Systeme geschuldet. Schließlich könnte die Nachricht von einer Krankheit des scheinbar unerschütterlichen Anführers dem System einen Schwächefall bescheren, den oppositionelle Gruppierungen und andere herbeisehnen. Falls der Autokrat tatsächlich krank sein sollte, ist das System gemeinhin bemüht, dies vor der Öffentlichkeit zu verbergen, um eine politische Erosion zu verhindern. 

    Für das belarussische Online-Medium Pozirk versucht der Journalist Alexander Klaskowski, Licht ins Dunkel zu Lukaschenkos Zustand zu bringen. Gleichzeitig geht er der Frage nach, wie eine Nachfolge in dem auf Lukaschenko zugeschnittenen Machtapparat organisiert werden könnte.

    Bei einem Auftritt in [der Kleinstadt] Alexandrija äußerte Lukaschenko, dass der Juli für ihn ein schwieriger Monat sei: viele Massenveranstaltungen (besonders die Parade am 3. Juli), die Erntekampagne, und dann musste er auch noch nach Astana zum Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) fliegen. Kurzum, „wirklich schwere Tage“. Daher, so sagte er, beschloss er auf dem Rückweg im Osten von Belarus zu landen: „In der nächsten Zeit werde ich von hier arbeiten und beobachten, wie wir uns auf das Einbringen der Ernte vorbereiten“.

    Eiserner Macho geht nicht mehr

    Die Ernte zu kontrollieren, ist tatsächlich eine der Leidenschaften Lukaschenkos. Früher rückte er mit dem Hubschrauber von Minsk aus an, eilte von Region zu Region und versetzte die lokalen Verwaltungschefs in Angst und Schrecken. Nun hat er beschlossen, in seiner alten Heimat Zuflucht zu suchen, da man dort „buchstäblich innerhalb eines Tages gesund wird, und so stark wie zu früheren Zeiten, als man über diese Erde lief. Man regeneriert sich sehr schnell.“ Der letzte Satz drückt den Wunsch aus, das eigene Wohlbefinden zu verbessern. 

    Zudem war aus dem Mund des Herrschers praktisch eine Beschwerde zu hören, dass Menschenansammlungen negativ auf ihn wirken, da manche ihn im Inneren verfluchen würden. Auch ein ausdrucksstarkes Bekenntnis. Und eine Art Echo des Jahres 2020. All diese Offenbarungen sind Lukaschenko vermutlich nicht leichtgefallen. Viele Jahre hat er das Bild des in jeder Hinsicht mächtigen Herrschers mit eiserner Gesundheit kultiviert, eines echten Machos. Er fuhr Ski, spielte Eishockey, führte vor laufender Kamera schwere Landarbeit aus – mal mit der Sense, mal mit der Axt.

    Jetzt ist ihm also nicht zum Posieren, nicht zur Protzerei zumute. Um sich zu regenerieren, beschloss er an einem beschaulichen Plätzchen abzutauchen. Wenngleich nicht ausgeschlossen ist, dass wir in den nächsten Tagen irgendein Video vom Heumachen oder anderen waghalsigen Aktivitäten zu sehen bekommen. Um uns wissen zu lassen, mit dem Herrscher ist alles in Ordnung, „da könnt ihr noch lange warten“.

     
    Lukaschenko beim Mähen mit der Sense. Der Autokrat inszeniert sich gerne als Mann vom Land / Foto © president.gov.by

    Eine Reaktion auf die Doshd-Berichte?

    Das Gerede über Lukaschenkos Gesundheit hatte sich im Mai vergangenen Jahres verstärkt, als er zunächst bei einer Preisverleihung in Minsk schlecht ausgesehen hatte, danach auch bei der Siegesparade in Moskau, wo er einen Verband am Arm trug. Zur Kranzniederlegung am Grab des Unbekannten Soldaten wurde Lukaschenko in einem Elektromobil gefahren. Danach verschwand er für fast eine Woche vollkommen aus der Öffentlichkeit. Als er dann am 15. Mai bei der Kommandozentrale der Armee und der Luftstreitkräfte erschien, verglichen ihn böse Zungen mit einem Exponat aus dem Wachsfigurenkabinett.

    Seitdem bemerkten die Zuschauer immer öfter, dass Lukaschenko hinkte, mit heiserer Stimme sprach, schwer atmete. Einmal zitterte auch sein Kopf. Im Januar dieses Jahres verpasste er ein Hockeyspiel seiner Mannschaft gegen die Rivalen aus dem Gebiet Mahiljou. Erklärt wurde das so: „Er hat Holz gehackt, dabei ist ihm ein 80 Kilogramm schwerer Klotz auf den Fuß gefallen.“ Bei der diesjährigen Parade am 9. Mai blieb Lukaschenko beim Gang zum Grab des Unbekannten Soldaten völlig hinter den anderen Staatsführern zurück. Er rechtfertigte das damit, dass er ins Gespräch mit Sergej Schoigu vertieft war. Und kürzlich berichtete der Fernsehsender Doshd, Lukaschenko sei beim SOZ-Gipfel in Kasachstan schlecht geworden. Vielleicht ist Alexandrija nun der Versuch, die Wirkung dieser Nachricht abzumildern. 

    Hindernislauf bei der Machtübergabe

    In Diktaturen ist der Gesundheitszustand des Führers ein Geheimnis mit sieben Siegeln. Wir können nicht einschätzen, wie ernst Lukaschenkos Beschwerden sind. Aber auch ohne Fachleute ist klar, dass er weder jünger noch gesünder wird, gegen die Biologie ist kein Kraut gewachsen. Und das weiß er auch. Immer häufiger kommt er auf das Thema zu sprechen, dass ein Generationswechsel auf Staatsebene unausweichlich ist. Mehr noch, er hat die Verfassung auf einen Machtwechsel zugeschnitten. Die Allbelarussische Volksversammlung ist mit ihren weitreichenden Befugnissen als jenes Organ konzipiert, das den nachfolgenden Präsidenten kontrollieren soll. 

    Nur den Schritt zum Machtwechsel selbst geht dieser Mensch nicht, der seit 30 Jahren an der Spitze des Staates steht. Zur Absicherung hat er sich erst einmal noch einen zweiten Thron gesichert – den Vorsitz der Volksversammlung. Und er teilte mit, dass er bei den Präsidentschaftswahlen 2025 antreten wird. Einiges deutet darauf hin, dass er sich bereits auf den Wahlkampf vorbereitet. Einerseits werden die Repressionen fortgesetzt, um den illoyalen Teil der Bevölkerung in Schach zu halten. Anderseits hat er gerade eine Handvoll politische Gefangene freigelassen, um sein Image aufzubessern und dem Westen ein Signal zu senden. 
     

    Alexander Lukaschenko im Mai 2023 auf dem Eurasischen Wirtschaftsforum / Foto © Maxim Grigoyev/Imago/Itar-Tass

    Mit dem Gedanken der Machtübergabe steht Lukaschenko offensichtlich auf Kriegsfuß. Wahrscheinlich treibt ihn die tragische Erfahrung Nursultan Nasarbajews um. Zudem scheint er nicht überzeugt, dass eine andere Person mit seinem Amt zurechtkommen könnte. Diese Zweifel hat er sogar schon laut geäußert. Und die Frage ist berechtigt. Der autokratische Herrscher hat eine Umgebung loyaler ausführender Kräfte geschaffen. Das sind alles Funktionäre. Aber andere Politiker, außer dem Führer selbst, gibt es im Land im Grunde nicht. 

    Viele sind Meister der Gottespreisung – aber können sie gleichzeitig rücksichtslos gegenüber Feinden und äußerst geschmeidig im Verhältnis zum „Erzverbündeten“ sein? Können sie listig sein, zwischen Regentropfen hindurchschlüpfen, Intrigen an der Wurzel ausreißen und zu guter Letzt auch im kritischen Moment die Macht fest in der eisernen Umklammerung halten? Eine solche Palette an Talenten und Fähigkeiten in Zusammenspiel mit thermonuklearem Willen ist tatsächlich selten. Das Ruder aus der Hand zu geben ist wahrscheinlich auch deshalb erschreckend, weil er sich um das eigene Schicksal und das der Familie im weiteren Sinne sorgt. Den Thron also vererben? Der Jüngste, Nikolaj, ist noch zu jung, der mittlere, Dimitri, hat offensichtlich kein Händchen für die Politik, und über das Verhältnis zum Ältesten, Viktor, hört man Verschiedenes. Jedenfalls gibt es keine Anzeichen dafür, dass er in die Spur geschickt wird. 

    Tichanowskaja wird nicht sofort triumphierend im Land einziehen

    Bis zuletzt hat Lukaschenko in Bezug auf seine Machtübergabe also prokrastiniert. Böse Zungen sagen voraus, dass das Finale letztlich so aussehen könnte wie bei Stalin. Auf welche Gedanken der Regent bei seiner aktuellen Reha in der alten Heimat kommt, wissen wir noch nicht. Aber die Menschen in seinem engeren Umfeld und viele in der Machtvertikale haben vermutlich schon alle möglichen Gedanken zu dem Thema im Kopf: Was kommt danach?

    Das ist übrigens ein weiterer Grund für einen Autokraten, keinen Nachfolger zu benennen. Es macht einen sofort zur lahmen Ente, alle Amtsträger würden sich zunehmend auf den zukünftigen Chef ausrichten. Gleichzeitig schaut ein Teil der Machtvertikale vermutlich sorgenvoll auf die Zukunft ohne Lukaschenko. Wenn nun plötzlich das System ohne harte Hand direkt den Bach runtergeht und sich die „fünfte Kolonne“ mithilfe des Westens rächt und die Diener des alten Regimes an den Straßenlaternen aufhängt?

    Die Regimegegner indes erwarten das Ende der Epoche Lukaschenko natürlich voller Hoffnung (nicht umsonst erwähnte er in Alexandrija jene, die ihn verfluchen). Manch einer behauptet: An diesem Tag wird der Sekt ausverkauft sein. Ja, aber hoffentlich gibt es am Morgen danach kein böses Erwachen. Das Problem ist ja nicht nur der grausame, charismatische Herrscher. Man muss auch sehen, dass dieses System zahlreiche Befürworter hat. Das sind die Silowiki, ein bedeutender Teil der Staatsverwaltung (obwohl dort vermutlich viele heimlich von einem Regime mit menschlicherem Antlitz träumen), das höfische Business, die Mitbürger, die Angst vor Krieg haben, eine große Zahl von Rentnern, Arbeiter in unrentablen Staatsbetrieben, und einfach lupenreine Lukaschisten. Daher darf man nicht denken, dass Swetlana Tichanowskaja sofort im weißen Jeep in Minsk einfahren wird. 

    Moskau wacht gierig

    Manche Politikexperten sagen, dass der nächste Präsident, wer es auch sein mag, gezwungen sein wird, die Daumenschrauben zu lockern. Aber was, wenn es ein blutbefleckter Silowik wird? Am Ende ist da noch Moskau, das die belarussische Frage hartnäckig verfolgt. Und natürlich bemüht ist, im Falle einer „Danach“-Situation Belarus noch zuverlässiger in die Mangel zu nehmen. 

    Lässt der Kreml einem hypothetischen Reformator aus der belarussischen Nomenklatura freie Bahn? Oder beschließt er angesichts dieser Freiheiten, das Land als extrem wichtigen strategischen Aufmarschplatz zu annektieren? Menschen mit prorussischem Gedankengut gibt es in der hiesigen Vertikale, besonders unter den Silowiki, ja mehr als genug. Kurz, das Ende von Lukaschenkos Herrschaft wird zu einem kritischen Moment für das Schicksal von Belarus. 

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  • Belarus: Bleiben oder gehen?

    Belarus: Bleiben oder gehen?

    Die Journalistin Olga Loiko, einst Chefredakteurin für die Bereiche Politik und Wirtschaft beim einflussreichen Online-Medium Tut.by, das 2021 von den belarussischen Machthabern liquidiert wurde, wusste, dass sie Belarus schnell verlassen muss. Nachdem sie fast ein Jahr in Untersuchungshaft verbracht hatte, wurde sie im März 2022 auf freien Fuß gesetzt, ohne dass die Anklage gegen sie fallengelassen wurde. Sie entschied sich umgehend zur Flucht. Im Oktober 2022 setzte der KGB sie schließlich auf die Fahndungsliste für Personen, die sich „an Aktivitäten von terroristischen Organisationen“ beteiligt haben. Sie kann deswegen nicht zurück nach Belarus. 

    Wann kommt bei anderen der Punkt, an dem man sich tatsächlich entscheidet, Belarus zu verlassen? Ob es die Angst ist, im Zuge politischer Verfolgung festgenommen zu werden. Gleichzeitig ist da die Furcht, ins Ausland zu gehen, wo man in einer fremden Welt ein neues Leben aufbauen muss, wissend, dass man seine Liebsten in der Heimat womöglich nie mehr wieder sieht. Wie plant man seine Flucht? Was muss man alles bedenken? Mit diesen schwierigen und schmerzhaften Fragen befasst sich Olga Loiko in einem Text für die Online-Plattform Plan B. 

    Die Journalistin Olga Loiko war gezwungen, Belarus zu verlassen / Foto © Siarhei Balai
    Die Journalistin Olga Loiko war gezwungen, Belarus zu verlassen / Foto © Siarhei Balai

    Tausende Notfalltaschen haben die Belarussen seit 2020 gepackt. Wechselwäsche, Zahnputzzeug, Thermounterhosen, Hygieneartikel. Der eine stellt sie an einen sichtbaren Ort mit detaillierten Anweisungen für die Angehörigen, der andere schiebt sie möglichst weit aus dem Blickfeld. Die Taschen stehen in unsanierten Mietwohnungen oder im Kofferraum schicker Autos und warten darauf, dass ihre Stunde schlägt. Vielen haben sie schon genutzt. Bestenfalls nicht im Gefängnis, sondern auf der Flucht aus dem Land.

    Oder doch hierbleiben?

    Eine geplante Ausreise ist mühevoll und erfordert eine mehrstufige Vorbereitung. Es gibt lange Debatten: Wohin überhaupt, was wird mit Arbeit, Wohnung, Besitzstand in Belarus, Verwandten. Man braucht Visa, Vollmachten, Apostillen, Katzenimpfungen. Anders sieht es im Fall einer plötzlichen Bedrohung aus. Oder einer verschärften. Als ich nach zehn Monaten hinter Gittern aus dem Untersuchungsgefängnis freikam, wusste ich genau, dass eine Ausreise unvermeidlich ist. Glücksspiel mit der Staatsmacht ist eine schlechte Idee, besonders, wenn es ein Spiel ohne Regeln ist. Wenn einfach Asse aus dem Ärmel gezogen werden können. Wenn einfach alle Trümpfe aussortiert werden.

    Ich will nicht weg. 45 Jahre mehr oder weniger geordnetes Leben sind nicht nichts. Verwandte, Eigentum, die Überzeugung, dass das hier mein Land ist. Mit all seinen Ecken und Kanten. Andererseits habe ich auch keinen Hang zu co-abhängigen Beziehungen. Ich glaube nicht an Liebe ohne Gegenseitigkeit. An ein „ich bleibe um jeden Preis“. Darin steckt etwas von Lukaschenkos „die Geliebte gibt man nicht her“. Oder Kotschanowas „Ich halte zu ihm bis zum Schluss“. Wenn meine Anwesenheit der Heimat so lästig ist, dass sie mich eine gefährliche Verbrecherin nennt, inhaftiert und dann auch noch zur „Terroristin“ erklärt, sollten wir doch besser getrennt wohnen. Für eine gewisse Zeit oder für immer. 

    Und das ist für viele der Stolperstein. Ein One-Way-Ticket. Niemals nach Hause zurückkehren. Nie mehr die Eltern sehen. Auf verschiedenen Seiten der Grenze sein, mit Kindern, Partnern, Freunden. Am neuen Ort nicht einleben können. Für diejenigen, die das Gefängnis hinter sich haben, ist es leichter: das Leben grundlegend zu ändern ist weniger schlimm, als wieder hinter Gittern zu landen. Die Familie und alle Angehörigen werden sich besser fühlen, wenn ich nicht im Gefängnis bin. Es ist ruhiger und billiger.
     

    Die Illustrationen zu diesem Text wurden von einer ehemaligen politischen Gefangenen gezeichnet, die Folter und Zwangsemigration erlebt hat. Ihr Pseudonym: Who Is

    Punkt ohne Wiederkehr

    Es ist wichtig, die Entscheidung selbst zu treffen. Es wird viele Pseudounterstützer geben. Der Druck, der im Land auf einem lastet, kommt der Belastung zehn Meter unter Wasser gleich. Verlass das Land! Du musst das Land verlassen! Warum geht sie nicht? Alle geben Ratschläge, egal ob sie noch im Land sind oder schon draußen. Es ist gut, wenn man die Möglichkeit hat, das Thema in Ruhe mit jemandem zu besprechen, der noch bei Verstand ist. Wie gefährlich es sein kann, wenn jemand das Land nicht rechtzeitig verlässt, können die Angeklagten von Gruppenverfahren berichten. Es ist also auch Teil des Spiels, das Land so zu verlassen, dass man niemanden im eigenen Umfeld gefährdet.

    Den Ratgebern möchte ich raten: Wenn ihr euch solche Sorgen um jemanden macht, bietet ihm Hilfe an. „Wenn du das Land verlässt, können wir auf deine Wohnung aufpassen/ deinen Eltern im Haushalt helfen/ deine Katze oder deinen Kanarienvogel vorübergehend bei uns aufnehmen/ dir mit dem Visum helfen/ dir Tipps geben, wo du kostenlos bei Freunden in Warschau oder Vilnius unterkommen kannst.“

    Gut zu wissen: Egal wie präzise euer Ausreiseplan ausgearbeitet ist, seid bereit, alles über den Haufen zu werfen, wenn die Gefahr plötzlich um die Ecke kommt. Rote Linien – Eröffnung eines Strafverfahrens, Ergänzung eines neuen Anklagepunktes und ähnliches – sind rote Linien. Die Hauptsache ist dann, nicht innezuhalten, indem man sich farbenblind oder kurzsichtig stellt. Tasche schnappen, Haus verlassen …

    Man muss fahren

    Geschichten darüber, wie Belarussen der Umarmung des Heimatlandes entfliehen, gibt es unzählige. Über Felder, durch Flüsse, über Zäune, Flughäfen, Busbahnhöfe, Züge. „Sie werden schießen – und das nicht zur Warnung. Sie müssen 500 Meter rennen, das schaffen Sie.“ „Bei Ihrem Pass klingelt was, sie werden ihn mitnehmen, ein FSB-Mann wird Sie befragen – es dauert nicht lange, maximal 20 Minuten. Bemühen Sie sich, ruhig zu bleiben.“ „Vergessen Sie nicht, aus dem Zug auszusteigen. Manche sind so aufgewühlt und aufgeregt, dass sie es vergessen.“ Die redlichen, gesetzestreuen und manchmal sogar ängstlichen Belarussen haben sich in einer neuen Realität wiedergefunden. 

    Das Gesetz brechen? Im Januar 2021 terrorisierte ich nur das zuständige Finanzamt – ich wollte ganz schnell 50 Rubel Einkommensteuer zahlen! „Was heißt hier: Warten Sie, die Summe wurde noch nicht eingefordert? Dann fordern Sie sie ein! Lassen Sie es uns händisch eingeben! Was, wenn ich verhaftet werde, wer zahlt dann die Steuer für mich?“ Die Mitarbeiterinnen der Steuerbehörde schauten einander perplex an, aber dann verstanden sie die Situation.

    Und nun habe ich den Status „Terrorist“ und ein Ausreiseverbot und verlasse das Land unter der wachsamen Führung des BYSOL-Teams (viele Grüße an alle und danke nochmals!). Jetzt breche ich wirklich das Gesetz, so weit ist es gekommen.
     

    Illustration © Who Is

    Unterwegs

    Im Grunde ist alles ganz einfach. Grundlegende Vorsichtsmaßnahmen, das Telefon zuhause lassen (stattdessen ein „sauberes“ Telefon mitnehmen), Freunde vorwarnen (wo muss der Ausreisende im Fall des Notanrufs abgeholt werden, wie bekommen die Verwandten die Schlüssel usw.) Die Familie weiß am besten von nichts – sie muss die Ungewissheit aushalten, dafür aber auch nicht lügen.

    Ein leichtes Schneegestöber weht durch die Straßen von Minsk. Ich empfinde kein bisschen „Abschied von der Heimat“. Eigentlich wäre es angebracht, es wirklich an mich heranzulassen. Das kommt später. Schnell der Abschied von den Freunden (Der Gedanke „Es ist doch für immer“ huscht vorbei. Nur fast richtig geraten. Es ist noch kein Jahr vergangen, und wir sind wieder Nachbarn.) Die Marschrutka, die keine ist, steht in der Toreinfahrt des Bahnhofs. Los geht’s.

    Es müsste schrecklich sein, dabei ist es einfach nur surreal. „Hast du deinen Pass?“ „Klar, wie soll ich sonst über die Grenze kommen? Er wird kontrolliert, dachte ich …“ Es stellt sich heraus, dass man auch leicht ohne Pass über die Grenze kommt, es kostet nur zweieinhalb Mal so viel. Im Auto sitzen der gerissene Fahrer, zwei Damen russischer Staatsbürgerschaft von zweifelhafter Beschäftigung – und eben ohne Pässe, zehn Beagle-Welpen mit gefälschten Dokumenten und ich, Terroristin auf der Flucht oder James Bond mit Minimaleinkommen. 

    Die Grenzkontrolle ist rein formal, wir halten nur unsere Dokumente hoch – und schon sind wir auf russischem Staatsgebiet. Nur die zwei Frauen ohne Pass müssen anschließend aus der Dachgepäckbox geholt werden – schon kann es weitergehen.

    Über die verschiedenen Fluchtrouten wurde schon viel erzählt. Vielleicht unnötigerweise. Die Machthaber müssen besser nicht alles wissen, und die neuen Flüchtlinge nicht allzu sehr auf schon beschriebene Fluchtrouten setzen. Sie können sich als kompromittiert erweisen und gefährlich sein. Es gibt Leute, die sich mit der Evakuierung befassen, mit den Routen und Visa, professionell. Es ist besser, sie zu Rate zu ziehen.

    Und danach?

    Was danach kommt, ist unterschiedlich. Manchen fallen die ersten Tage schwer. Oft sind das diejenigen, die ins Unbekannte gefahren sind. Dann folgt die Euphorie über das Gefühl der Sicherheit. Man muss nicht bei jedem Anruf zusammenzucken, bei jedem Klopfen an der Tür, bei Stimmen im Treppenhaus, bei den charakteristischen Bussen ohne Nummernschild (oder auch mit). Dann folgt die Bürokratie, das Asylverfahren. Ein Haufen komplizierter Angelegenheiten und Probleme. Oft bedrückend, aber immer lösbar. Es wird ein Meer von Emotionen sein. Die Freude über Begegnungen mit Freunden und neue Reisen. Die Verzweiflung darüber, geliebten Menschen, die in Belarus geblieben sind, nicht helfen zu können. Unsicherheit bei der Arbeitssuche. 

    Es wird Frust geben, und Enttäuschung. Bei vielen auch den Wunsch zurückzukehren. Ich respektiere jede Entscheidung. Zu viele Faktoren haben Einfluss darauf. Zu schwierig ist es, bei Null zu beginnen, besonders, wenn man nicht mehr ganz jung und gesund ist. Zu schmerzhaft ist es, einen Teil der Familie zurückzulassen, und zu teuer, alle mitzunehmen.

    Glaubt man Remarque, und es gibt nicht viele Schriftsteller, die so tief in die Gefühlswelt von Menschen eingetaucht sind, die in die Emigration gezwungen wurden, so steht einer der schwierigsten Abschnitte noch bevor. Wenn (und falls) es möglich sein wird zurückzukehren, wird man es dann tun? Wird man das endlich wieder geordnete Leben (irgendwann wird es ja wieder geordnet sein) dann wieder aufgeben? Aber das ist schon eine andere Geschichte.

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  • Zukunft von Belarus: Jonglieren mit Zeitbomben

    Vor 30 Jahren wurde Alexander Lukaschenko bei der wohl offensten und fairsten Wahl in der Republik Belarus zum Präsidenten gewählt. Damals hatte das Land 10,2 Millionen Einwohner, heute sind es nur noch 9,2 Millionen. Wegen der scharfen politischen Verfolgung seit 2020 haben bis zu 500.000 Menschen ihre Heimat verlassen. Die Geburtenrate sinkt seit Jahren. Lew Lwowsi, Direktor der Organisation BEROC gibt düstere Prognosen: „Wenn wir die aktuelle Geburtenrate beibehalten, wird es am Ende des Jahrhunderts nur noch 3 bis 3,5 Millionen Einwohner geben.“ Der Mangel an Menschen, die entweder im Gefängnis sitzen oder das Land verlassen, stellt auch das System Lukaschenko vor enorme Herausforderungen. Vor allem im Hinblick auf die für 2025 angekündigten Präsidentschaftswahlen.

    In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk zeigt der Wirtschaftsjournalist Ales Gudija, welche wirtschaftlichen und sozialen Minenfelder Lukaschenkos Zukunft bedrohen.

    Der Wirtschaftsjournalist Ales Gudija sieht in den drängendsten wirtschaftlichen Problemen Belarus Parallelen zum Computerspiel Minesweeper / Foto © imago-images/Pond 5 Images

    Wie im Spiel Minesweeper

    Der Vergleich der Zukunft mit einem Minenfeld entspricht vollkommen der militaristischen Rhetorik, die Einzug gehalten hat, seit Russland mit seiner vollumfänglichen Invasion in der Ukraine eine geopolitische Krise in Europa hervorgerufen hat. Ähnliche Vergleiche verwenden auch Wirtschaftsexperten, etwa Konstantin Ssonin, wenn er über Zeitbomben spricht, die Wladimir Putin der russischen Wirtschaft als Erbe hinterlässt. Auch die belarussische Wirtschaft wird vom aktuellen Regime ein komplexes und gefährliches Minenfeld erben.

    Bei der Analyse der brennendsten Probleme kann man Parallelen zu dem alten Computerspiel Minesweeper ziehen: Bereits heute kann eine Reihe zukünftiger Probleme mit Fähnchen markiert werden. Ein großer Teil des Problemfeldes ist jedoch noch nicht aufgedeckt, es bleibt ein Rätsel, wo die Gefahren lauern. Dennoch wollen wir versuchen, die Schlüsselprobleme zu benennen, die der Wirtschaft in Belarus unausweichlich bevorstehen und deren Wurzeln in Fehlentscheidungen der Führungsebene im Verlauf der letzten 30 Jahre liegen – der Epoche Alexander Lukaschenkos.

    Die Politik des Regimes hat das demografische Problem verschärft

    Erstes und wirklich entscheidendes Problem, das das die belarussische Wirtschaft lösen muss, ist die Demografie. Obwohl ihr natürliche Ursachen zugrunde liegen, werden die negativen Folgen durch die repressive Politik des herrschenden Regimes um ein Vielfaches verstärkt. Hunderttausende Belarussen waren gezwungen, das Land zu verlassen. Der eklatante Mangel an qualifizierten Fachkräften, die einen Kurs der wirtschaftlichen Regeneration unterstützen könnten, wird zur dauerhaften Gefahr für die Zukunft.

    Die demografischen Probleme sind eng mit sozialen Problemen verbunden. Wenn die Zeit der Reformen erst kommt, wird sich die Transformation des Wirtschaftssystems unweigerlich auf das Lebensniveau auswirken. Je länger Reformen aufgeschoben werden, desto schmerzlicher wird später die Anpassung an neue wirtschaftliche Realitäten. Es ist kein Geheimnis, dass die Entwicklung der Marktwirtschaft üblicherweise zu einer stärkeren Ungleichheit der Einkommen führt. Das aktuelle, scheinbar gute Niveau ökonomischer Gleichheit in Belarus stellt in Wirklichkeit eine Gleichheit der Armen dar, daher kann es nicht die Basis für eine sozialverträgliche Zukunft sein.

    Geklärt werden müssen Sanktionen, Schulden und die Anbindung an Russland

    Ein offensichtliches Problem, das wir von der aktuellen politischen Führung erben werden, sind die vielfältigen Sanktionen, die gegen die belarussische Wirtschaft verhängt wurden. Setzt eine neue Generation von Führungskräften eine Politik fort, die den internationalen Standards widerspricht, so wird der Sanktionsdruck bestehen bleiben oder sich gar verstärken. Dies wirkt sich wiederum negativ auf den Außenhandel und den Zugang zu internationalen Märkten aus. Nur eine Aufhebung der Sanktionen ermöglicht eine Entwicklung der belarussischen Wirtschaft. Aber dafür braucht es politischen Willen.

    Ein weiteres hausgemachtes Problem, für das die jetzige Führung Verantwortung trägt, ist die feste Anbindung der Wirtschaft an die Russische Föderation. Belarus hängt enorm von der wirtschaftlichen Unterstützung aus Moskau ab, unter anderem von Energielieferungen zu günstigeren Preisen, von Haushaltszuschüssen und dem Zugang zum russischen Markt. Russland ist der Hauptabnehmer für belarussische Exportwaren und stellt den einzigen großen Handelsweg dar, der Zugang zu Drittstaaten ermöglicht.

    Ein Wechsel des wirtschaftlichen Paradigmas in Belarus würde unweigerlich zu einer Änderung im Verhältnis zu Russland, zu einer Reduzierung der Unterstützung und der Begünstigungen führen. Das Beispiel anderer osteuropäischer Staaten zeigt allerdings, dass selbst eine starke Abhängigkeit vom „Energieimperium“ überwunden werden kann, wodurch schließlich eine normale Entwicklung nach Marktprinzipien möglich wird.

    Auch die hohe Schuldenbelastung wird an die zukünftige Generation der belarussischen Führungskräfte vererbt. Seit das Land Ende der 2000er Jahre seinen Zugang zu billigen russischen Energieträgern verlor – die Vergünstigungen blieben zwar bestehen, aber in geringerem Umfang –, ist die Auslandsverschuldung beträchtlich gestiegen. Dass sie in den letzten Jahren leicht zurückging, ist eher ein negatives Zeichen, da es davon zeugt, dass sich die belarussische Wirtschaft am Rande der Welt befindet und für Investoren uninteressant ist. Auch wenn die aktuelle Auslandsverschuldung kein kritisches Ausmaß hat, muss der Staat für die Bedienung der Kredite unbedingt am globalen Kapitalmarkt teilnehmen. Hier steht Belarus offensichtlich vor Schwierigkeiten, da die Zusammenarbeit mit den führenden internationalen Wirtschaftsstrukturen gekappt ist. Folglich wird die Belastbarkeit der wirtschaftlichen Ausrichtung zukünftiger belarussischer Regierungen in großem Maße davon abhängen, ob sie die Auslandsverschuldung beherrschen und Beziehungen zu potenziellen Kreditoren aufbauen können.

    Eine weitere Bedrohung: Der Schlag auf sozialem Gebiet

    Ein weniger offensichtliches, aber wichtiges Problem, das aus den vorab genannten resultiert, ist die potenzielle Verschlechterung der sozialen Infrastruktur. Früher wurde sie mithilfe ausländischer Geldgeber modernisiert. Da diese nun fehlen, geht die Finanzierung vollkommen zulasten des Haushaltes, dessen Möglichkeiten höchst begrenzt sind. Die Unterhaltung eines ausreichenden Maßes an Infrastruktur und ihre Qualität wird zur deutlichen Herausforderung für die nächste Generation belarussischer Führungskräfte.

    In einer Transformationskrise, die durch einen (früher oder später einfach notwendigen) Umbau des Wirtschaftssystems entsteht, können sich die Staatsausgaben für Gesundheitsversorgung, Bildung und Soziales verringern. Das wiederum wird zu einer Absenkung des Lebensniveaus führen, den sozialen Druck verstärken und so potenziell die Situation im Land destabilisieren. Insofern gewinnt die Unterstützung von Seiten internationaler Wirtschaftsinstitute an Bedeutung. Doch mit ihnen muss man zunächst eine gemeinsame Sprache finden.

    Die Rezepte sind bekannt

    Wir haben hier nur die aktuellsten Probleme der belarussischen Wirtschaft aufgezählt. Eigentlich müsste man sich bereits jetzt sorgfältig auf Reformen vorbereiten, um negative Folgen in der Zukunft zu minimieren, müsste detaillierte Pläne für einen Übergang zu einer wirklichen Marktwirtschaft ausarbeiten, die alle möglichen Risiken und Gegenstrategien berücksichtigt.

    Wichtig dabei ist, die soziale Absicherung der Bevölkerung zu gewährleisten, Unterstützungsprogramme für Arbeitslose, Rentner und andere sozial vulnerable Gruppen zu entwickeln. Das aktuelle System der sozialen Unterstützung wird in der Zukunft nicht mehr wirksam funktionieren. Um die Wirtschaft zu fördern, muss unbedingt das Wachstum der Privatwirtschaft stimuliert werden, indem günstige Entwicklungsbedingungen für kleine und mittlere Unternehmen geschaffen werden. Darüber hinaus muss die unmäßige Abhängigkeit von dem einen ausländischen Markt beseitigt werden. Es braucht eine Diversifizierung der Wirtschaft, eine Reduzierung der Abhängigkeit von Rohstoffexporten, die Entwicklung anderer Wirtschaftszweige und neue Absatzmärkte. Dabei müssen unbedingt die Fehler vermieden werden, die zu Beginn der 1990er Jahre begangen wurden. Dafür ist ein transparentes und rechenschaftspflichtiges System der staatlichen Verwaltung notwendig.

    Eigentlich ist alles recht klar. Das Rad muss nicht neu erfunden werden. Viele postkommunistische Staaten sind einen ähnlichen Weg gegangen. Nur wäre es naiv, auf eine Erleuchtung der aktuellen belarussischen Staatsführung zu hoffen. Um ihre Macht im Hier und Jetzt zu sichern, legt sie weiter Minen unter die Zukunft.