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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wie belarussische Staatsmedien ukrainische Kinder ausnutzen

    Wie belarussische Staatsmedien ukrainische Kinder ausnutzen

    Belarus spielt eine undurchsichtige Rolle bei der Verschleppung ukrainischer Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten. Belarussische NGOs wie Nasch dom verfolgen schon länger, wie schon hunderte Kinder aus der Ukraine über Belarus letztlich nach Russland gebracht wurden. 

    Gleichzeitig holt Belarus immer wieder auch für kurze Zeit ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten zu sich ins Land: angeblich, um ihnen eine Auszeit vom Krieg zu ermöglichen. Diese ferienlagerartigen Projekte nutzen häufig die belarussischen Staatsmedien für ihre Propagandasendungen: Dann lassen sie die Kinder russische Propaganda nacherzählen und ideologische Phrasen aufsagen. Oft stellen die Moderatoren so lange Fragen zu Angriffen, Verletzungen und Todesfällen, bis die Kinder in Tränen ausbrechen.  

    Die ukrainische Menschenrechtsplattform Zmina hat diese Sendungen analysiert und fasst zusammen, wie die belarussischen Medien die ukrainischen Kinder dazu benutzen, russische Propaganda zu verbreiten. 

    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Tränen, TV und Traumata 

    In belarussischen Medien gibt es immer wieder Berichte, in denen Kinder aus den (von Russland – dek) besetzten ukrainischen Gebieten ihre Erlebnisse aus dem Krieg erzählen und dabei weinen. Es kümmert die Propagandisten nicht, dass solche Aufnahmen Traumatisierung und Retraumatisierung auslösen können. Dabei erwähnen sie oft, dass die Kinder den Angriff, die Verletzungen oder den Tod der Angehörigen eigentlich vergessen wollen. 

    Ein Beispiel dafür ist der Bericht des staatlichen Senders ONT über „Kinder mit besonderem Schicksal, die zur Rehabilitation in Belarus sind“. In dem Video erzählt eine 11- bis 12-jährige Weronika aus Horliwka von ihrer Freundin, die beim Brotkaufen getötet wurde. Während der Aufnahme wird das Kind buchstäblich zum Weinen gebracht. 

    Der gesamte Bericht basiert auf Retraumatisierung. 

    Das Gleiche passiert in einem Video auf dem YouTube-Kanal der Belteleradiokompanija. Bereits in den ersten Sekunden sagt dort ein Mädchen, dass dies ein „schmerzhaftes Thema“ sei, während ein anderes Kind weint. Die Autorin der Reportage, Daria Ratschko, setzt die Kinder jedoch weiter unter Druck und stellt ihnen unangenehme Fragen: Sie fragt nach den Angriffen, ob sie Angst hatten und ob es normal sei, dass dabei alle Fenster zerbrechen. Ratschkos gesamter Bericht basiert auf der Retraumatisierung der Kinder aus den besetzten Gebieten. 

    Genauso macht es ihre Kollegin Anastassija Benedisjuk in der Popagandadoku „Donbas. Belarus ist da“, zum Beispiel im Interview mit einem 11-jährigen David aus Mariupol. Zu Beginn des Films sieht man außerdem Mädchen vor der Kamera weinen, deren Namen nicht genannt werden. 

    „Russische Kinder mit russischen Pässen“  

    Ein anderes Propagandanarrativ in Belarus dreht sich um die Behauptung „ukrainische Nazis töten russische Kinder“. Russland würde sie dann retten und Belarus sei dabei ein märchenhaft ruhiges Land. Die Organisatoren der „Transporte“ seien Zauberer, die heilen und dabei helfen, die Schrecken der sogenannten Spezialoperation zu vergessen. 

    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    In einem Telegram-Video zeigen Kinder aus dem besetzten Teil der Region Cherson, die im März 2024 in Belarus waren, ihre russischen Pässe. Der Paralympiker und glühende Lukaschenko-Anhänger Alexej Talaj, eine Schlüsselfigur bei der Deportation von Kindern aus den besetzten Gebieten nach Belarus, kommentiert dazu im Video: „Das sind russische Kinder mit russischen Pässen.“ 

    Eine andere Propagandareportage des belarussischen Fernsehsenders CTV fokussiert sich indes auf Berichte über Minenverletzungen und andere Verwundungen von Kindern, wie etwa von Swjatoslaw Rytschkow. Swjatoslaw erzählt, er habe eine Schrapnellverletzung an der Lunge erlitten, als ein ukrainischer Panzer auf den Zaun seines Hauses zielte. Danach behauptet er, die Soldaten hätten keinen Krankenwagen zu ihm durchgelassen, stattdessen gemeint: „Lasst ihn sterben.“ 

    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Gerettete Kindheit“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über ein Sommerlager für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Tatsächlich war es jedoch das ukrainische Militär, das Swjatoslaw Rytschkow nach seiner Verletzung, welche die Journalistin auf dramatische Weise schildert, in ein Militärkrankenhaus in Bachmut brachte. Anschließend wurde er im Intensivwaggon eines Sanitätszuges ins St.-Nikolaus-Krankenhaus von Lwiw gebracht. 

    „Wenn man die Geschichten hört, drängt sich der Eindruck auf, dass die Kinder einen vorbereiteten Text vor der Kamera ablesen.“ 

    In einem anderen Fall brachte man 11 Kinder in die von Ksenija Lebedijewa moderierte Sendung „Das ist etwas anderes“ des Senders „Belarus“ und kündigte sie als Kinder aus „Orten der DNR“ an. Die Jugendlichen mussten berichten, wie sie die [russische – dek]  Besetzung ihrer Städte erlebten und was sich jetzt dort abspielt.  

    Wenn man die Geschichten hört, drängt sich der Eindruck auf, dass die Kinder einen vorbereiteten Text vor der Kamera ablesen, denn sie reproduzieren nur russische Narrative. So sprechen sie von der „militärische Spezialoperation“, sagen, dass „ukrainische Kämpfer die Stadt planlos beschießen“, dass „Russland sie rettet“ und dass „Mariupol sich zu erholen beginnt“. Auf Nachfrage der Moderatorin antworten die Kinder, dass sie „russische Kinder“ seien. 

    Einer der Jungen antwortet auf eine bewusst provokante Frage der Moderatorin: Wäre er älter, würde er in den Krieg ziehen, weil die Ukraine in sein Land gekommen sei und Leute wie ihn umbringe.  

    „Walerija hält ein Sturmgewehr.“ 

    Das Thema der anti-ukrainischen Militarisierung von Kindern und ihrer Bereitschaft, gegen die Ukraine zu kämpfen, wird von der belarussischen Propaganda häufig bespielt. Wie etwa in einem Bericht über den Aufenthalt von Kindern aus Donezk und Mariupol im Sanatorium Wolma im Juni 2022: 

    „Walerija Ljachowa hält ein Sturmgewehr. Sie sagt, sie habe keine Angst vor Waffen und sei bereit, noch heute für ihr Heimatland in den Krieg zu ziehen, doch sie sei noch nicht alt genug. Lera ist dreizehn…“ 

    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Besonders charakteristisch ist der in der Propaganda konstruierte Kontrast zwischen von „der EU, den USA und den Nazis“ ins Unheil gestürzten Kindern in den [russisch – dek] besetzten Gebieten der Ukraine und den glücklichen Kindern in Belarus, denen Batka eine glückliche und unbeschwerte Kindheit beschere. In verschiedenen Sendungen wird die Verbringung von Kindern aus den besetzten ukrainischen Gebieten nach Belarus als Abenteuer beschrieben, von Zauberern organisiert, die sie mit einem schönen Zug ins Märchenland bringen. Hier ist es ruhig, es gibt leckeres Essen und es wird gefeiert.  

    „Wir sind ein Volk“ 

    Belarussische Medien berichten außerdem häufig über Veranstaltungen, bei denen Kinder aus der Besatzung die russische Ideologie der „Dreieinigkeit der Völker“, der „russischen Welt“ und des „Unionsstaates“ verbreiten. 

    So sangen beispielsweise Kinder aus Horliwka nach der Neujahrsshow im Palast der Republik in Minsk, wahrscheinlich auf Anregung des Organisators Pawlo Tschulochin: „Wir sind eine Familie. Zusammen sind wir eine Rus‘ – Horliwka und Belarus!“ Oft werden ukrainische Kinder auch in Propagandaveranstaltungen gezeigt, in denen sie als „russisch“ und die besetzten Gebiete als „neue Regionen Russlands“ bezeichnet werden. Auch Alexej Talaj nennt in einem Video diese Gebiete einen Teil der Russischen Föderation und ein Mädchen aus der besetzten Region Donezk ein „russisches Mädchen“. 

    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot / „Belarus rettet“, eine Propaganda-Reportage der Sendung Glawny Efir (deutsch etwa „Hauptsendung“) des belarussischen Staatsfernsehens über Sommerlager in Belarus für ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten im Donbas. / Video © Youtube-Kanal news.by

    Im Video von einer Aufführung im belarussischen Kinderferienlager „Dubrawa“ verkündet gar der Kulturberater des russischen Botschafters, Sergej Afonin, ukrainischen Kindern aus den besetzten Gebieten seine ideologische Agenda: „Wenn die russischen Jungs erst das heilige Land im Donbas befreien, haben die Kinder schönste Aussichten auf ein Leben in den gelobten Ländern Russland und Belarus.“ 

    Für die Kinder werden außerdem Ausflüge zu „Orten des Ruhmes“ organisiert und diese Veranstaltungen aktiv in den Medien verbreitet. So wurden Kinder mit Behinderungen aus Donezk Teil einer Propagandakampagne der Alexej-Talaj-Stiftung zum Großen Vaterländischen Krieg und machten einen Ausflug zum „Museum des Großen Vaterländischen Krieges“. Das Programm für Kinder aus Dokutschajewsk und Mariupol umfasste einen Besuch der Festung Brest

    Screenshot aus der Propaganda-Doku-Serie „Kinder des Krieges“ des belarussischen Staatssenders ONT über ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten.  / Video © Youtube-Kanal news.by
    Screenshot aus der Propaganda-Doku-Serie „Kinder des Krieges“ des belarussischen Staatssenders ONT über ukrainische Kinder aus den von Russland besetzten Gebieten. / Video © Youtube-Kanal news.by

    „Niemanden kümmern die Interessen der Kinder“ 

    Onysija Synjuk, Rechtsanalystin am ZMINA-Menschenrechtszentrum, betont, dass sich niemand um die Interessen der Kinder kümmert, wenn ukrainische Kinder in Belarus so zu Propagandazwecken benutzt werden: „Niemand kümmert sich darum, dass solche Beiträge sowohl Sicherheits- als auch Datenschutzaspekte ignorieren, indem sie persönliche Informationen über die Kinder preisgeben. Außerdem werden die Kinder durch gewisse Fragen retraumatisiert.“ Die Expertin nimmt weiter an, dass die militarisierten und indoktrinierten Kinder aus den besetzten Gebieten später dazu benutzt werden, ihre Altersgenossen zu beeinflussen. 

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  • Zurück in die Zukunft

    Zurück in die Zukunft

    „Im heutigen Belarus fungiert die Geschichte als eines der wichtigsten Elemente der Staatsideologie”, sagt Waleri Karbalewitsch. In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk zeigt der Politikwissenschaftler, wie das Lukaschenko-Regime historische Narrative einsetzt und umdeutet, um zusätzlich zu einer neuen Wirklichkeit eine eigene Erinnerungskultur zu formen. 

    Lukaschenkos Vision der belarussischen Geschichte, versinnbildlicht im neuen Nationalen Historischen Museum / Collage dekoder, Architekturentwurf © belta.by, Foto © Sergei Savostyanov/ Itar Tass/ Imago 

    Bei einem Besuch im Agrogorodok Parochonsk (Rajon Pinsk) kam Alexander Lukaschenko am 4. Oktober plötzlich auf das Thema Geschichte zu sprechen. Dabei überhöhte er die Bedeutung der Geschichte ins Unermessliche, als wäre sie für die belarussische Gesellschaft geradezu überlebenswichtig. 

    Er sagte: „Die [im Westen] wollen, dass wir die Geschichte vergessen. Aber unsere Geschichte ist voller Helden. Es genügt nicht, sich nur zu erinnern, stolz müssen wir sein. Und das sind wir auch. <…> Sie wollen uns also umkodieren, neu formatieren. Sie wollen uns zu anderen machen – zu Iwans, die ihre Herkunft nicht mehr kennen. Damit verfolgen sie Schritt für Schritt das Ziel: uns wieder unterwerfen, uns in die Knie zwingen. Sie wollen uns zwingen zu tun, was sie brauchen, um auf unsere Kosten zu leben.“ 

    Lukaschenko meint also, der Westen wolle mithilfe der Geschichte Belarus unterwerfen und unterdrücken. Hier drängen sich gleich mehrere Fragezeichen auf: Wo? Wann? Wie? Bisher war hauptsächlich von militärischer Bedrohung durch den Westen zu hören. Haben die Westler jetzt die Methoden geändert? Offenbar geschieht das so heimlich, dass es niemandem auffällt. Und nur mit dem Scharfsinn eines Alexander Grigorjewitsch gelingt es einem, zur Wahrheit durchzudringen, das Unsichtbare zu sehen. 

    Erinnerungspolitik als grelle Illustration 

    Als Reaktion auf die arglistigen Machenschaften des Westens verfolgen die belarussischen Machthaber ihre eigene Erinnerungspolitik. Dieser Prozess weist einige Besonderheiten auf:  

    1. Vor allem fungiert das historische Gedächtnis als wichtigstes Element der Staatsideologie, manchmal sogar als ihr Ersatz. Denn das Regime kann keine klare Ideologie anbieten, die nämlich Narrative für die Zukunft erfordern würde. Deswegen appelliert es an die Vergangenheit. Eine heldenhafte Vergangenheit als Ersatz für eine strahlende Zukunft – das ist die Botschaft an die Gesellschaft. 

    2. Die Erinnerungspolitik in belarussischer Auslegung ist eine grelle Illustration, zitiert wunderbar die bekannte These des sowjetischen Historikers Michail Pokrowski, Geschichte sei über die Vergangenheit gestülpte Politik.  

    In allen Staaten nutzen Regierungen und Politiker historische Narrative, um ihren politischen Kurs zu legitimieren. Zumindest jene Narrative, die an Schulen unterrichtet werden oder in der Kunst Ausdruck finden (Geschichte als Wissenschaft klammern wir mal aus). Der russische Publizist Alexander Rubzow schrieb: „Sobald sich die Macht an die Geschichte heranmacht, dann wird Geschichte nicht mehr erforscht, sondern verwaltet wie eine begrenzte Ressource.“ 

    Tatsächlich wirkt das bei uns oft allzu künstlich. Die Machthaber glauben, sie müssen permanent vom Sieg im Großen Vaterländischen Krieg sprechen, vom „Genozid am belarussischen Volk“ erzählen – und dann wird das Volk Lukaschenko lieben. Ob das funktioniert, ist fraglich. 

    Welche Aspekte der Geschichte hervorgehoben werden, ist ein Indikator für Tendenzen des politischen Lebens, die starken Schwankungen unterliegen. Ein Beispiel dafür: Bis vor Kurzem war Kastus Kalinouski vielleicht die einzige Figur aus der belarussischen Geschichte, die weder Gesellschaft noch Politik spaltete. Er war bei Nationalisten und Kommunisten gleichermaßen anerkannt, gehörte auch in der Sowjetzeit zu den belarussischen Nationalhelden. Er hätte ein Symbol der belarussischen Einheit sein können. Das Regime machte jedoch auch aus ihm ein Symbol der Spaltung. 

    Im November 2019 wurde zur feierlichen Umbettung von Kalinouskis sterblichen Überresten eine belarussische Delegation nach Vilnius entsandt, an deren Spitze Vizepremier Igor Petrischenko stand. Bei der offiziellen Zeremonie sagte er, Kalinouskis Wirken sei eng verbunden mit der Entwicklung der National- und Kulturbewegung zu einem Kampf für die belarussische Staatlichkeit und für einen eigenen, vom Volk regierten Staat. Damit ist klar, dass Kalinosuki ein belarussischer Nationalheld ist.  

    Und es wurde noch besser: „Die Parole der Aufständischen um Kastus Kalinouski war wohlgemerkt: ‚Wen liebst du? – Ich liebe Belarus‘. Das Vermächtnis der Kämpfer hat nicht an Aktualität verloren und findet seine Fortsetzung in der obersten Devise unseres Landes: ‚Für ein starkes und blühendes Belarus‘“. Das lässt sich wohl herunterbrechen auf: Lukaschenko ist ideologisch ein Nachfolger Kalinouskis! 

    Am 17. November 2019 sagte der Herrscher höchstselbst in einem Wahllokal auf die Frage von Journalisten, was er von Kalinouski halte: „Er wirkte in unserer Region, war einer von uns, wenn Sie so wollen – ein Staatsbürger. Das ist nicht zu leugnen.“ Es dauerte gar nicht lange, und alles war anders. Am 2. Juli 2022 hielt Lukaschenko bei Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag eine Rede, in der er über den Aufstand von 1863 sagte, das belarussische Volk habe gegen die polnischen Aufständischen gekämpft, die von den belarussischen Bauern gefangen und dem Zaren ausgeliefert worden seien, weil sie nicht wieder unter die polnische Knute wollten.  

    Anders gesagt: Die Aufstände gegen Russland auf belarussischem Territorium gelten nun offiziell als polnische Aufstände, zudem hätten sie sich nicht nur gegen das zaristische Imperium gerichtet, sondern auch gegen Belarus. Dazu zählt eben auch der Aufstand unter Kalinouskis Führung. 

    Was ist da passiert? Der politische Wind hat sich gedreht. Seit 2020 schreibt sich das Regime fest in Russlands ideologischen Kontext ein und verzichtet im Umgang mit der eigenen Geschichte auf ein nationales Narrativ. Die Staatsideologie passt sich an die veränderten, momentanen Bedürfnisse der herrschenden Riege an, deren politisches Überleben auf dem Spiel steht. 

    Großteil der Geschichte einfach abgehackt 

    3. Historische Inhalte werden der Gesellschaft sehr aggressiv vermittelt, als einzige Wahrheit. Jegliche alternativen Ideen sind verboten und werden strafrechtlich verfolgt. Bücher, die Kritik an der Sowjetunion enthalten, werden für extremistisch erklärt.  

    Das Thema des „Genozids am belarussischen Volk“ wird bezeichnenderweise von der Generalstaatsanwaltschaft bearbeitet. Auf Grundlage ihres Materials werden Schulbücher zu diesem Thema herausgegeben. Gleichzeitig führt diese Behörde Strafverfahren wegen Leugnung des Genozids durch. Die Propagandamaschine funktioniert also nicht ohne politische Repressionen gegen Andersdenkende. Den Gegner mundtot zu machen, ist eine Bedingung für den Erfolg.  

    4. Eine eigenwillige Geschichtsinterpretation wird auch zur Entwicklung eines Lukaschenko-Kults aktiv eingesetzt. So hielt der Mythos in die Lehrbücher Einzug, die Präsidentschaftswahlen 1994 seien der wahre Beginn der belarussischen Staatlichkeit und gar der belarussischen Geschichte. So wird Lukaschenko zum „Gründervater“ der belarussischen Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit erklärt. Um diesen Mythos zu stärken, werden andere bedeutende Ereignisse der reichen belarussischen Geschichte kleingehalten, Nationalhelden Stück um Stück abgewertet. 

    Bereits 2005 ließ Lukaschenko nach Franzisk Skaryna und Pjotr Mascherow benannte Straßen im Zentrum von Minsk umbenennen. Nun ist Kalinouski an der Reihe. Die Entfernung seines Namens aus der belarussischen Geschichte ist nicht nur ein Tribut an die Ideologie des Russki Mir. Lukaschenko soll einfach keine Konkurrenz haben. 

    Um die Bedeutung der eigenen Person aufzuzeigen, nutzt Lukaschenko auch selbst den Blick in die Geschichte. Im September 2024 sagte er bei einer Feierstunde zum Tag der Nationalen Einheit: „1919 <…> war die Stimme der neu gegründeten Belarussischen Sowjetrepublik noch nicht recht zu hören. Vielleicht, weil es keine Einheit gab. <…> Alle möglichen Nazmeny, nationalen Minderheiten, stritten sich um die Macht. <…> Hätten wir damals schon eine starke Hand und Einigkeit gehabt, dann hätten wir standgehalten. Und die Katastrophe mit dem Vertrag von Riga wäre nie passiert …“ 

    Nun ja, Sie verstehen, es gab keine „starke Hand“. Übersetzt in einfache Sprache: Hätte es damals eine Diktatur gegeben, so wie heute mit Lukaschenko an der Spitze, dann wäre das Land in Ordnung. Das ganze Unglück von Belarus basiert darauf, dass es damals noch keinen Lukaschenko gab, dass er leider erst jetzt aufgetaucht ist. (Anmerkung in Klammern: In 30 Jahren konnte niemand dem Herrscher vermitteln, dass Nazmeny für Nationale Minderheiten steht, und nicht – wie er denkt – für Nationalisten.) 

    5. Historische Mythen, die dem Nationalbewusstsein zugrunde liegen, sollen normalerweise zeigen, dass der jeweilige Staat eine tiefverwurzelte Tradition hat. Je tiefer, desto besser. Der national orientierte Teil der belarussischen Intelligenzija betrachtete das Großfürstentum Litauen als historisches Fundament für den belarussischen Staat.  

    Die Erinnerungspolitik, die die Regierung der Gesellschaft anbietet, umfasst allerdings nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Geschichte. Im Grunde beschränkt sie sich auf die Zeit von 1941 bis 1945. Die restliche tausendjährige Geschichte von Belarus wird ausgeklammert, man kennt sie, interessieret sich aber kaum dafür. Man versucht, die gesamte heutige Politik durch das Prisma des Zweiten Weltkriegs zu interpretieren.  

    Nach der imperialen Pfeife 

    6. Die gesamte belarussische Geschichte wird nun als Teil der russischen betrachtet. Für die Mittelschule wird ein Lehrbuch zur gemeinsamen Geschichte des Unionsstaates erarbeitet, zudem wird eine Reihe mit dem Titel „Russland und Belarus: Seiten gemeinsamer Geschichte“ herausgegeben und es wurde das Label „Bibliothek des Unionsstaates“ ersonnen. 

    Anders ausgedrückt: So wie die sowjetischen Schüler die Geschichte Russlands als „Geschichte der UdSSR“ lernten, so lernen die heutigen belarussischen Schüler die Geschichte Russlands unter dem Titel „Geschichte des Unionsstaates“. Die belarussische Geschichte aus nationaler Perspektive wird entsprechend verschwinden. 

    Die Erfahrung anderer Länder zeigt, dass die Herausbildung einer jungen Nation auf einem strikten ideologischen Bruch mit dem Imperium und dem kolonialen Erbe (in unserem Fall dem russischen und sowjetischen) basieren muss.  

    In Belarus läuft heute alles umgekehrt. Nationale belarussische ethnokulturelle Symbole und Elemente werden verworfen. Mehr noch, die weiß-rot-weiße Flagge, das Pahonja-Wappen, die Rada BNR werden zu nazistischen Symbolen erklärt. Die Regierung formt die belarussische Identität auf Grundlage russischer Geschichtsnarrative. Zu allen anderen Abhängigkeiten der Republik Belarus von Russland (wirtschaftlich, politisch, militärisch) kommen nun noch ideologische und soziokulturelle Abhängigkeiten hinzu. 

    In diesem Zusammenhang sagte der polnische Historiker belarussischer Herkunft, Oleg Łatyszonek: „Lukaschenko ist mit keinem anderen Diktator der Weltgeschichte vergleichbar. Mir ist kein Diktator bekannt, der kein Patriot war. Das waren immer Nationalisten, alle wollten ihre Nation aufwerten. Aber hier haben wir den ersten, der seine Nation vernichtet.“ 

    7. Die Geschichte wird aktiv zur Herleitung einer antipolnischen Politik genutzt. Polen wird das Bild eines äußeren Feindes zugeschrieben. Lukaschenko versucht, mit antipolnischen Narrativen weniger eine nationale, als vielmehr eine regionale Identität zu etablieren. Der gesamte Nationalismus im postsowjetischen Raum war antirussisch geprägt. Der ehemalige ukrainische Präsident Leonid Kutschma schrieb ein Buch mit dem Titel „Die Ukraine ist nicht Russland“. Lukaschenko hingegen versucht, den belarussischen Pseudonationalismus als antipolnisch festzuschreiben. 

    Auch der neue Feiertag – der „Tag der Nationalen Einheit“ am 17. September – hat eine klar antipolnische Ausrichtung. Die Staatspropaganda spielt aktiv mit historischen Traumata der Zwischenkriegszeit, als der Westen von Belarus zu Polen gehörte. Das polnische Thema scheint auch in der offiziellen Kampagne gegen „Nazismus“ auf. In Dokumenten der Sicherheitsorgane, zum Beispiel in der Anklageschrift gegen den Vorstand der geächteten Bund der Polen in Belarus, werden die Soldaten der Armia Krajowa mit den Nationalsozialisten gleichgestellt.  

    So wird die Geschichte in unverwechselbarer belarussischer Interpretation zu einer Dienstmagd der Politik. 

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    Schöne neue Welt

  • Schöne neue Welt

    Schöne neue Welt

    „Die Erzeugung einer neuen Wirklichkeit ist unter Lukaschenkos Regime nichts Neues”, schreibt die belarussische Journalistin Katerina Truchan. Aber seit den Ereignissen im Jahr 2020 ergreife sie stärker denn je alle Lebensbereiche der belarussischen Gesellschaft. „Jede einzelne Amtshandlung zielt nicht nur darauf ab, jegliches Andersdenken auszumerzen, sondern auch ein neues Denken auszubilden, das einer Regierung die Stange hält, die keine mehr ist.” 

    In ihrem Beitrag für das belarussische Online-Portal Pozirk zeigt Truchan, mit welchen ideologischen Baupfeilern der Machtapparat diese neue Wirklichkeit in Belarus errichten will.  

    Die Flagge der Republik Belarus auf einer Ziegelsteinwand / Foto © xVivacityImagesx Panthermedia/IMAGO

    Architektonischer und anderer Patriotismus 

    Vor zwei Wochen wurden Alexander Lukaschenko die Pläne für das neue Nationale Historische Museum präsentiert. Im Fall einer Umsetzung entsteht in Minsk das nächste Gebäude, das die „Zeit nach 2020“ symbolisiert: billiger Pseudopatriotismus, der das Antlitz vieler Städte bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Das neue Museumsgebäude, das den Plänen zufolge die Umrisse von Belarus aufweisen soll (was ohnehin nur von oben zu sehen sein wird), sowie der Park der Nationalen Einheit rundherum sind nur ein kleiner Teil der Hinterlassenschaften in Glas und Beton der Regime-Vertreter. 

    2020 reagierten die Wahlverlierer auf die weiß-rot-weißen Flaggen mit Massen von geschmacklos und häufig verfehlt eingesetzten rot-grünen Fahnen. Später wurden sie auf Hausmauern gemalt und so zahlreich an Gebäuden aufgehängt, dass es jeden Tag aussieht, als wäre Nationalfeiertag. Anscheinend versucht das Regime mit so primitiven Methoden, sein Revier zu markieren. 

    „Genozid am belarussischen Volk“ 

    Gleichzeitig wurden die Lehrbücher umgeschrieben. Kurz nach der Niederschlagung der Proteste von 2020 begannen die Machthaber, den „Genozid am belarussischen Volk während des Großen Vaterländischen Krieges“ hochzufahren. Zuständig (und höchst aktiv) ist die Generalstaatsanwaltschaft. Im Jahr 2021 begann ein entsprechendes Strafverfahren, das in Schauprozesse gegen Kriegsverbrecher münden sollte. Im Januar 2022 unterstützte Lukaschenko dieses Strafverfahren mit einem neuen Gesetz, das die öffentliche Leugnung des Genozids unter Strafe stellte. Im Grunde legte die Generalstaatsanwaltschaft die einzige staatlich anerkannte Interpretation der nationalsozialistischen Verbrechen fest, und das Gesetz sorgte für strafrechtliche Panzerung: Von dieser Interpretation abzuweichen, ist von nun an verboten.   

    Das Thema Genozid sickerte aus der Staatsanwaltschaft sogleich in den Alltag durch: in die Lehrbücher, in die Propagandasender, die ersten Angeklagten kamen posthum vor Gericht, gegen andere wurden neue Verfahren eingeleitet. Mehrere Eltern von Schulanfängern in Minsk teilten Pozirk mit, dass die ideologische Bearbeitung der nächsten Generation gleich am ersten Tag beginne: sechs- und siebenjährigen Kindern wird vom Genozid erzählt. 

    „Für meinen Mann und mich war das ein Schock. Wir waren zwar darauf vorbereitet, dass unser Kind diesen ideologischen Quatsch mit nach Hause bringen wird, aber doch nicht schon in der ersten Klasse! Früher kam das erst in höheren Schulstufen. Wir haben auch ein noch ein größeres Kind, aber die Größeren erreichen sie nicht mehr so leicht, deshalb bemühen sich die Lehrer in dieser Klassenstufe gar nicht so sehr“, erzählte Pozirk eine Minskerin, deren Kind die erste Klasse eines Gymnasiums besucht.  

    Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die Regierung, statt der Bevölkerung die Wahrheit zu sagen und die Archive zu öffnen, den Genozid weitgehend dazu benutzt, ein Bild von „Volksfeinden” zu malen: Schuld sind natürlich die Vorfahren jener, die die heute so „feindselige” EU gegründet haben, sowie die Polen und die Ukrainer.  

    Auch vor banalen Lügen schrecken die Machthaber nicht zurück. Zum Beispiel die Geschichte mit den Ausgrabungen bei Homel, wo die Staatsanwaltschaft im Wald von Schtschekotowskoje Opfer des Genozids „gefunden“ und 2022 feierlich umgebettet hat. Historiker sind sich einig, dass an diesem Ort in den 1930er Jahren NKWD-Mitarbeiter sowjetische Bürger erschossen haben, zu diesem Ergebnis kamen Archäologen bereits 1995. Stellt man die Behauptungen der Generalstaatsanwaltschaft heute infrage, kann man allerdings strafrechtlich belangt werden. Sehr praktisch, nicht? 

    In den Jahren 2024-25 sollen per Erlass Lukaschenkos in allen Gebietshauptstädten Gedenktafeln für die Opfer des Genozids angebracht werden, den Kindern bringt man weiterhin Halbwahrheiten bei, die Propaganda wird sich immer ihre Feinde finden. Die Opfer des stalinistischen Roten Terrors werden noch stärker in Vergessenheit geraten. Die Gedenkstätte in Kurapaty befindet sich heute in einem Zustand fast völliger Verwahrlosung, immer wieder kommt es zu Vandalismus, und selbst wenn sich jemand finden würde, der wieder für Ordnung sorgt – das Risiko ist beträchtlich. Die wenigen Aktivisten, die noch in Belarus und mutig genug sind, diesen Ort zu besuchen, bleiben aus verständlichen Gründen lieber unter dem Radar. 

    Mit Begeisterung werden auch die Lehrbücher umgeschrieben, im Lehrbuch der elften Klasse werden die Ereignisse von 2020 als „Putschversuch“ bezeichnet. Zudem werden ab dem neuen Schuljahr in vielen Klassen monatlich Informationsstunden zum Thema „Genozid am belarussischen Volk“ stattfinden. Dafür wurden 2023 Lehrbücher mit dem Titel „Der Genozid am belarussischen Volk im Großen Vaterländischen Krieg“ herausgegeben. Seit 2023 sind entsprechende Handreichungen für die erste bis vierte Klasse, die fünfte bis neunte sowie zehnte bis elfte Klasse erschienen. 

    „Tag der nationalen Einheit“ 

    Die Idee zu einem solchen Feiertag wurde zum ersten Mal bei der Allbelarussischen Volksversammlung 2021 erwähnt. Er wurde per Erlass eingeführt und ist heute einer der Grundpfeiler der belarussischen Propaganda. 

    2024 gab der Dekan der Belarussischen Staatlichen Universität, Alex Beljajew, im Vorfeld der Feierlichkeiten in einem Interview mit der staatlichen Nachrichtenagentur BelTA eindeutig zu verstehen, wozu Lukaschenko einen solchen Feiertag benötige: Die Vereinigung des Westlichen Belarus mit der BSSR sei nach 1949 in der Sowjetunion nicht gefeiert worden, da die Volksrepublik Polen zum sozialistischen Lager gehörte und man sie nicht unnötig an diese schwierige Phase der polnisch-sowjetischen Beziehungen erinnern habe wollen. 

    „Aber nach 2020 sahen wir, dass diese Nachbarn, mit denen wir befreundet sein wollten, ihrerseits keine Hemmungen hatten, unser Verhältnis zu trüben. Gerade Polen scheute keine Mühen, in Belarus Meinungsmacher auszubilden, die sogenannte fünfte Kolonne“, sagte der Dekan. Und so sei es aus ideologischer Sicht erforderlich gewesen, den 17. September als Feiertag zu fixieren. Dieser Tag wird in Belarus mit ideologischem Pomp gefeiert, im typischen Modus des „freiwilligen Zwangs”. Ob daraus je ein Nationalfeiertag wird, steht in den Sternen. 

    „Extremismus“ und „Terrorismus“ 

    Die juristische Willkür ist beinah schon seit Lukaschenkos Amtsantritt eine besondere Spezialität seines Regimes. Der revolutionäre Geist von 2020, der noch immer in der Luft liegt, das Fehlen von unabhängigen Medien, Menschenrechtsorganisationen, von unabhängigen Gerichten, einer Anwaltskammer sowie sonstige Folgen der repressiven Diktatur – all das sorgte für Bedingungen im Land, unter denen jeder und jede zum Extremisten oder Terroristen erklärt werden kann, je nach ideologischer Gefahr für das Regime (, die von ihm ausgeht). 

    Die Tatsache, dass absolut alle unabhängigen Medien, Blogger und Gruppen in sozialen Netzwerken als extremistisch eingestuft wurden, führte dazu, dass man in Belarus immer weniger Zugang zu Informationen hat – es ist entweder zu riskant (wenn man entsprechende Quellen nutzt) oder sinnlos (wenn man versucht, sich anhand von regierungstreuen Quellen zu informieren). Dadurch ist die Bevölkerung aus dem Kontext gerissen, und die Machthaber nutzen diese unfreiwillige Ahnungslosigkeit und die Abwesenheit von Regimekritik jeglicher Art aus und tun, was sie wollen.  

    Ein zusätzlicher Schlag gegen die Gesellschaft ist die Suche nach missliebigen Autoren nicht nur unter den Lebenden, sondern auch unter den Toten. Pozirk liegen Informationen vor, dass landesweit in allen Bibliotheken die Ausmusterung „unerwünschter“ Bücher im Gange ist. Sie werden auf die Liste „extremistischer Materialien” gesetzt, vor potenziellen Lesern versteckt. Es ist nicht erlaubt, die Bücher einfach vom Markt zu nehmen und in den Bibliotheken zu belassen. Dabei sind die Bibliotheken selbst zu treuen Handlangern des Regimes geworden, hier finden ständig einschlägige Veranstaltungen statt, organisiert von den Kultur- und Ideologiereferaten der Stadt- und Gebietsverwaltungen. 

    Abhängigkeit von Russland 

    Belarus kriecht nicht nur, wenn es um Wirtschaft geht, unter Russlands Fittiche. Nach 2020 ist Belarus aufgrund von Lukaschenkos Rolle in Russlands Krieg gegen die Ukraine ein grauer Fleck auf der Europakarte geworden. Genau wie Russland. Vereint durch gemeinsame Miseren und Hürden beschleunigten die beiden Staaten ihren Integrationsprozess, der davor jahrelang nicht vom Fleck gekommen war, und bastelten an ihrer Immunität gegen Sanktionen und andere Einschränkungen. 

    Ergebnis ist eine umfassende Importsubstitution, von Kultur und sozialen Netzwerken bis zu einheitlichen Lehrbüchern zur Geschichte des Unionsstaates. In Belarus schaut man russische Serien auf russischen Streamingportalen, russische „Stars“, die den Loyalitätsfilter passiert haben und den Krieg gutheißen, gehen hier auf Tournee; häufig sind es russische Blogger und Influencer, an denen sich die belarussische Jugend orientiert. 

    Wohin die kulturelle Verschmelzung der beiden Staaten führt, in denen ein Nobelpreis schlimmer ist als ein Verbrechen, wird sich zeigen. 

    „Die Tendenz ist schlimm, aber ich würde den Kopf nicht hängen lassen“ 

    Der Historiker und Politologe Alexander Friedman formulierte in einem Kommentar für Pozirk, dass es schwierig sei, die Zukunft vorauszusagen und zu erkennen, was den Machthabern gelingen werde und was nicht. 

    Bezüglich der vom Lukaschenko-Regime angeschobenen ideologischen Prozesse zählt der Historiker einige Faktoren auf, die ausschlaggebend für die Zukunft sind: die Intensität, mit der die Machthaber diese Prozesse voranbringen, und der Zeitraum, über den sie andauern. Derzeit spreche alles für eine hohe Intensität mit großem Kraftaufwand. Friedman wies auch auf die Vielfalt der Methoden hin; das Regime sei auch in den Sozialen Netzwerken und in der Jugendarbeit aktiv. Dabei werde häufig eine russische Perspektive befördert, auch im historischen Kontext. „Sie stützen sich auf sowjetische Narrative und Mythen, die die ältere Generation, die die Sowjetunion noch erlebt hat, sehr gut kennt, die Jungen hingegen nicht mehr wirklich”, betont Friedman. 

    Dabei unterstreicht er, dass jetzt zwar ein Kampf um die Geschichte stattfinde, die Leute in Belarus, die mit diesen offiziellen Konzepten gefüttert würden, aber nach wie vor alternative Informationsquellen im Internet nutzen können, auch ohne unbedingt Fremdsprachen zu beherrschen. „Das erschwert die Arbeit der Propagandamaschine erheblich. Wenn sie diese Verbindungen kappen – also das Internet oder die westlichen Sozialen Netzwerke blockieren, könnten sie ihre Narrative leichter durchsetzen. Solang sie das nicht tun, ist es schwieriger“, sagt der Experte. 

    Dabei denkt Friedman nicht, dass das Regime damit Erfolg haben wird. Ein gutes Beispiel sei die Sowjetunion, in der der Bevölkerung sehr vieles aufgezwungen wurde, historische Bewertungen inklusive, und trotzdem habe das oftmals keine tiefen Spuren hinterlassen. Einen Grund dafür sieht der Historiker darin, dass in der UdSSR Geschichte nicht unterrichtet worden sei, um Vergangenheitsbewältigung zu betreiben und besser zu verstehen, was passiert ist, sondern wie emotionales Beiwerk, das „ziemlich schnell kommt und geht“. Von einem tiefen Verständnis wie in Deutschland, wo der Nationalsozialismus und seine Verbrechen über Generationen reflektiert würden, sei man meilenweit entfernt gewesen. 

    Darüber hinaus interessieren die Themen, die das Regime anbietet, vor allem die jungen Belarussen kaum: „Der Zweite Weltkrieg und alles, was damit zu tun hat – das waren schreckliche Verbrechen, ohne Frage. Der 17. September ist weniger eindeutig, liegt aber auch sehr lange zurück. Für die junge Generation ist das alles sehr weit weg und schwer nachvollziehbar. Das waren Zeiten, in denen wenig an ihre heutige Realität erinnert.“ 

    Friedman glaubt nicht, dass das Regime mit den Geschichten durchkommt, die es der Gesellschaft und insbesondere der Jugend aufdrängen will: „Das geht eher ‚zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus‘.“ Sein Resümee: „Die Tendenz ist natürlich schlimm, aber ich würde den Kopf nicht hängen lassen.“ 

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    Kulinarische Verwerfungen

    Wem gehört der Chaladnik? Woher stammt der Krupnik? Was sind Kalduny? In einem Beitrag auf Radio Svaboda entführt der Historiker Alex Bely in die belarussische Küche und ihre komplexen kulturhistorischen Ursprünge. Zum Schluss gibt es nicht nur schmackhafte Erkenntnisse, sondern auch noch ein Rezept.  

    Die dekoder-Redaktion wünscht smatschna jeszi! Guten Appetit! 

    Mit einem Artikel über Chłodnik Litewski (wörtlich: Litauische Kalte Suppe) handelte sich The New York Times in Litauen und Polen eine Flut von Kommentaren ein. Ursache war, dass dieses auch in Belarus sehr beliebte Gericht als polnisch bezeichnet wurde. Die länderübergreifende Diskussion in den sozialen Netzwerken dauerte über eine Woche an, auch Belarussen beteiligen sich daran. Der Historiker Ales Bely weist darauf hin, dass die traditionellen Speisen der Völker der Rzeczpospolita eine relativ gemeinsame Geschichte haben, es aber viele Speisen gibt, die Kontroversen hervorrufen. 

    „Wenn wir jemandem ein Gericht zuschreiben, geht es gar nicht so sehr um die Rezepte. Es geht vielmehr um die Frage der ‘Verankerung’ in einer Kultur. Dass man es hier mehr kocht als da“, sagt der Historiker. Seiner Ansicht nach litt die traditionelle belarussische Küche am stärksten während der belarussischen Unabhängigkeit und in der Sowjetzeit. Damals wurde neben der Umgangssprache auch die Alltagskultur russifiziert. Die Belarussen nutzten die Unabhängigkeit nicht als Chance, um ihre eigene kulturelle Marke zu stärken. 

    „Die Alltagskultur, die die nationalen Besonderheiten markiert, wurde verwischt. Sie war zwei Globalisierungstendenzen ausgesetzt: der allgemeinen und der des Russki Mir. Man hätte sich dem widersetzen können, doch es fehlte an Institutionen. Niemand lehrt oder studiert kulturwissenschaftliche Phänomene der nationalen Küche an der Universität. Wir haben auch keine Kochkurse, die auf die nationale Küche spezialisiert sind“, sagt Bely. 

    Um ein traditionelles Gericht einer Nation zuzuordnen, meint der Experte, muss man nicht nur die historischen Grundlagen berücksichtigen, sondern auch den Status des Gerichts in der heutigen Gesellschaft: ob es als nationale Marke etabliert ist. 2024 gab Ales Bely das Buch Samy Zymus (dt. etwa: Der süße Kern) heraus, in dem er die Speisen der belarussisch-jüdischen Küche detailliert beschreibt, darunter auch jene, die wir im Folgenden vorstellen. 

    Chaladnik (Kalte Rote-Beete-Suppe) 

    Den Chaladnik könnten auch die Ukrainer für sich beanspruchen, erzählt Ales Bely. Wobei die ukrainische Küche wiederum die russische stark beeinflusst habe. Chaladnik servierte man auch in der historischen Region Lettgallen und bei Juden im Großfürstentum Litauen. Diese nannten ihn kalte buretschkes (kalte Rote Beete). Der Historiker räumt ein, dass er in der Chaladnik-Frage eher auf litauischer Seite stehe, meint aber, dass es kein ausschließlich litauisches Gericht sei. 

    Mickiewicz schreibt vom ‘chłodnik litewski’. Dreimal wird diese Speise in Pan Tadeusz erwähnt. Ihm war egal, ob er Pole oder Litauer war, das waren für ihn zwei Seiten seiner Identität.“ Dem Historiker zufolge war das Epizentrum des Chaladnik das historische Litauen – ein großer Teil des heutigen Litauen und das belarussische Njomangebiet. Die Litauer machen den Chaladnik lieber mit Kefir, sagt Bely. Man könne sogar speziellen Kefir für Chaladnik kaufen, der schon Gurken und Dill enthält. In Belarus bereite man Chaladnik lieber mit saurer Sahne (Smjatana) zu. 

     Ein Klassiker der belarussischen Küche, Chaladnik / Foto © Alesja Belanovich-Petz
    Ein Klassiker der belarussischen Küche, Chaladnik / Foto © Alesja Belanovich-Petz

    „Die Litauer waren immer stolz auf ihren Chaladnik. Es gibt sogar ein Sommerfestival in Vilnius, das dem Gericht gewidmet ist, und der Chaladnik wurde auf europäischer Ebene als nationales Kulturerbe Litauens anerkannt. Das erfordert intellektuellen, organisatorischen und emotionalen Einsatz. Die Menschen beteiligen sich an der Etablierung des Chaladnik als zutiefst litauisches Phänomen“, sagt der Historiker. Belarus könnte seiner Meinung nach den Chaladnik genauso beanspruchen wie die Litauer.  

    „Aber Belarus tut nichts dafür. Man kann solche Fragen nicht durch respektlose Diskussionen in den sozialen Netzwerken lösen. Ich verstehe, warum sich die Litauer über die Polen ärgern. Die Polen haben die Tendenz, die Beteiligung anderer Völker an der Rzeczpospolita zu vergessen. Als sei die Rzeczpospolita per se mit Polen gleichzusetzen und alles, was dazugehörte, polnisch.“ 

    Bazwinnje (Rübenkrautsuppe) 

    Bazwinnje oder Bazwinnik ist eine Suppe aus dem Kraut und den Knollen junger roter Rüben [die übrigens auch mit Mangold verwandt sind, Anm. d. Ü.], die heiß oder kalt serviert werden kann. Es hat vor allem auf dem Gebiet des historischen Litauens Tradition. „Eine lange Zeit, im 17. und 18. Jahrhundert, empfanden es die Polen als Barbarei, dass die Litauer Rübenkraut kochten. Es stellte sie für die Polen auf eine Stufe mit den Schweinen. Sie nannten die Litauer und Belarussen deshalb abwertend boćwiniarze (dt. etwa Rübenkrautler)“, erzählt der Historiker. 

    „Im 19. Jahrhundert eigneten sich die Polen die Bazwinnje dann ebenfalls an. Heute sind sie überzeugt, dass es ihr Gericht ist, obwohl sie es früher nicht mochten und Späße darüber machten“, fügt Bely hinzu. „Auf Radziwiłłs Scholle erwuchs die rote Knolle, nicht ein Kanten Brot“, zitiert er eine polnische Redensart.  

    Krupnik (Graupensuppe) 

    Die Graupensuppe Krupnik ist wohl die unter den Völkern der Rzeczpospolita am weitesten verbreitete Suppe. Die wichtigste Zutat sind Graupen, die aus Gerste, Hirse oder Roggen sein können. Hinzu kommen Möhren oder Pilze. Fleisch ist in der Regel nicht enthalten, es ist ein Armeleuteessen. Man bemühte sich, „Weißes“ hinzuzufügen, wenn nicht saure Sahne, dann wenigstens Milch. Keinesfalls sollte man den Krupnik mit dem gleichnamigen alkoholischen Getränk verwechseln. 

    In Belarus wird die Bezeichnung Krupnik heute kaum noch verwendet, merkt unser Gesprächspartner an. Er erinnert sich, dass ein Betrieb in Lida eine Fertigmischung für diese Suppe herstellte, sie aber „Perlgraupen-Pilz-Suppe“ nannte. „Die Belarussen wissen in diesen Streitigkeiten oft nicht, worum es überhaupt geht, weil gar nicht alle die Bezeichnung, wie hier Krupnik, kennen“, meint Bely.  

    Bulbjanaja Kischka (Kartoffelwurst) 

    Ales Bely ist der Ansicht, dass dieses Gericht aus Belarus stammt. In Polen wird es vorwiegend in Podlasie gekocht, „das noch vor Kurzem belarussisch war“, sagt der Historiker. 

    „Das Wort kischka (dt. eigentlich Darm, Schlauch) ist nicht polnisch. Auch das ist ein Armeleuteessen: Aus Mangel an Fleisch macht man eine Wurst aus Kartoffeln und Griebenspeck“, erläutert Bely. Aber auch in diesem Fall, macht man in Polen das bessere Nationalgerichte-Marketing. „Die Polen veranstalten eine Weltmeisterschaft im Kartoffelwurst- und Kartoffelkuchenmachen in Supraśl (einer Kleinstadt bei Białystok, Anm. d. Red.), einer einstigen Bastion der belarusssischen Kultur“, erklärt Ales Bely.  

    Schmorkraut mit Pilzen 

    Das ist eines der ältesten bekannten Rezepte der belarussischen und litauischen Küche. In Vilnius wird es Mitte des 17. Jahrhunderts erwähnt, auch in Schriftstücken des Magistrats von Mahiljou taucht das Gericht im 17. Jahrhundert auf.  

    Früher haben sich die Polen über die Speise lustig gemacht, unterstreicht der Historiker, da, wie sie fanden, Kulturgemüse und Waldfrüchte nicht zusammenpassten. Später eigneten sie sich das Gericht doch an. Schmorkraut beeinflusste das heutige (polnische Nationalgericht) Bigos. Früher wurde als Bigos einfach Hackfleisch oder -fisch bezeichnet und erst mit der Zeit kam das Kraut hinzu. Später wurde Schmorkraut mit Pilzen als Füllung verwendet, zum Beispiel für Kalduny oder Knyschy (ein belarussisches Gericht: kleine Teigtaschen für ein, zwei Bissen).  

    Kalduny (Gefüllte Teigtaschen) 

    Als Kalduny bezeichnet man traditionell kleine Teigtaschen, sagt der Historiker. „Ich habe eine Postkarte von 1975 aus einem Moskauer Verlag, der in einer Auflage von einer Million ein Kartenset zur belarussischen Küche herausgab. Sie zeigt eine Bouillon mit Kalduny – Teigtaschen wie Pelmeni. Heute findet man in Litauen in jedem beliebigen Supermarkt koldunai – dieselben Tiefkühlbeutel wie Pelmeni“, erzählt Bely. 

    Seiner Ansicht nach haben die Belarussen vergessen, dass dieses Essen eigentlich Kalduny heißt. Heute nennt man es eher Draniki (dt. Kartoffelpuffer) mit Fleischfüllung. 

    Wahrscheinlich waren es die Tataren, die die Kalduny ins Großfürstentum Litauen und die Rzeczpospolita brachten, sagt der Historiker. Es war ein Klumpen in Teig gewickeltes Fleisch, ursprünglich Hammel oder eine Mischung aus Lamm- und Rindfleisch. Später konnte die Füllung auch aus Fisch oder Kartoffeln mit Griebenspeck bestehen.  

    Bei den Tataren gab es Bräuche rund um die Kalduny. Man versuchte etwa, einen Pfeifton zu erzeugen, indem man die Teigtasche mit der Zunge geschickt an den Gaumen drückte, sodass die Luft entwich. Und fünf Kalduny mit Brühe mussten reichen, um sich satt zu essen. Das heißt, sie waren größer als Pelmeni. Ales Bely fügt hinzu, dass heute auch ein drittes Gericht Kalduny genannt wird: mit Fleisch gefüllte Kartoffelklöße. In Polen nennt man sie kartacze, in Litauen cepelinai und in Belarus, wo sie vor allem im Gebiet der Dswina Tradition haben, auch kljozki s duschami – „Klöße mit Seele“.  

    Subrouka (Wisentwodka) 

    Subrouka ist ein alkoholisches Getränk auf Kräuterbasis mit einem Alkoholgehalt von 40 Volumenprozent. Es wurde ursprünglich in der Belaweshskaja Puschtscha hergestellt, im polnisch-belarussischen Grenzland. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es bei Jägern und Förstern während der Wisentjagd beliebt, erzählt der Historiker. Die Polen machten Subrouka – Żubrówka – zur international bekannten Marke, die bei hochprozentigen Spirituosen weltweit den dritten Verkaufsrang hält. 

    „Seit mehr als 30 Jahren ist Białystok im unabhängigen Polen das Marketingzentrum für Żubrówka. Die Polen pushen ihn mit Videos und Barkeeper-Wettbewerben. Sie haben enorm investiert“, erklärt der Experte. 

    Auch in Belarus wird ein Getränk hergestellt, das Żubrówka ähnelt, aber der Name wird nicht mehr verwendet, da sich beim Zerfall der UdSSR eine russische Firma die Rechte zur Subrowka-Herstellung gesichert hat. In Belarus heißt er jetzt: Subrowatschka, Bazkawa subrowatschka, Belarusskaja dubrawa

    Ales Belys Chaladnik-Rezept 

    • Gekochte Rote Beete und frische Gurken grob reiben. 

    • Schnittlauch oder Zwiebellauch klein schneiden. Man kann auch Dill und geriebene Radieschen zugeben. 

    • Alle Zutaten mit Salz vermengen. Mit Kefir und Mineralwasser übergießen. Mit gekochtem Ei und Eiswürfeln servieren. 

    • Dazu schmecken Pellkartoffeln. 

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  • Die Verschwundenen von Belarus

    Die Verschwundenen von Belarus

    Vor 25 Jahren verschwanden in Belarus die beiden prominenten Oppositionelle Viktor Gontschar und Anatoli Krassowski. Es waren die ersten Fälle des Verschwindenlassens von politischen Gegnern unter der Herrschaft von Alexander Lukaschenko, zwei weitere sollten folgen. Diverse Untersuchungen haben zu Tage gebracht, dass die vier Männer mit großer Sicherheit im Auftrag des Regimes entführt und ermordet wurden. Ihre Leichen wurden bis heute nicht gefunden.  

    In einem Beitrag für das belarussische Online-Portal Pozirk erinnert der Journalist Wjatscheslaw Korosten an diese dramatischen Ereignisse und an eine Zeit, in der Lukaschenko begann, seine Macht mit aller Brutalität abzusichern. 

    Der 16. September 1999 war der letzte Tag, an dem Viktor Gontschar, ehemaliger Vorsitzender des Zentralen Wahlkomitees und Abgeordneter des Obersten Sowjets, und sein Freund, der Unternehmer Anatoli Krassowski, lebend in Minsk gesehen wurden. Bekannt ist, dass sie an diesem Abend die Sauna auf der Fabritschnaja-Straße besuchten. Danach stiegen sie in Krassowskis Auto, konnten den Parkplatz aber nicht verlassen. Beide verschwanden spurlos und sind auch 25 Jahre später verschollen. 

    Auf Grundlage zahlreicher Medienberichte und wichtiger Beweise kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit behaupten, dass der Politiker und der Unternehmer auf Befehl von Alexander Lukaschenko entführt und später ermordet wurden. Ausgeführt wurde der Präsidentenwille von Kämpfern einer Sondereinheit, die aus einer Brigade eines Sondereinsatzkommandos des Innenministeriums gebildet und später von den unabhängigen Medien „Todesschwadronen“ genannt wurde. Auf dem Parkplatz fanden die Ermittler Glassplitter von dem Auto und Blutspuren vor. 

    Der mutmaßliche Chef der Schwadronen, Dmitri Pawlitschenko, wurde im Jahr 2000 sogar auf Anordnung des KGB-Vorsitzenden Wladimir Mazkewitsch und mit Genehmigung des Generalstaatsanwalts Oleg Boshelko verhaftet. Der Verdacht lautete auf Organisation politischer Morde. Einen Tag später wurde er jedoch auf persönliche Anordnung Lukaschenkos wieder freigelassen, Mazkewitsch und Boshelko wurden bald darauf in den Ruhestand versetzt. 

    Das Verschwinden von Gontschar und Krassowski war nur einer von mehreren ähnlichen Fällen. Am 7. Mai 1999 verschwand in der Gegend der Shukowski-Straße in Minsk der ehemalige Innenminister Juri Sacharenko, der in die Opposition gewechselt war. Am 7. Juli 2000 wurde der Journalist Dmitri Sawadski auf dem Weg zum Minsker Flughafen entführt. Mehrfach wurde gemeldet, dass auch hinter diesen Verbrechen die „Todesschwadronen“ stehen. 

    „Pawlitschenko hat alle persönlich ermordet” 

    Im Jahr 2019 bekannte das ehemalige Mitglied des Sondereinsatzkommandos SOBR Juri Garawski in einem Interview mit der Deutschen Welle, an den Entführungen von Gontschar, Krassowski und Sacharenko beteiligt gewesen zu sein. Er hatte Belarus inzwischen verlassen und gab an, zu einer Spezialeinheit gehört zu haben, die dafür sorgte, dass Oppositionelle verschwanden. Garawski erklärte, Pawlitschenko habe alle drei Entführten persönlich mit einem Revolver erschossen. Sacharenkos Leiche sei im Krematorium des Minsker Nordfriedhofes verbrannt worden, Gontschar und Krassowski seien auf einem Gelände des Innenministeriums nahe Begoml im Gebiet Witebsk vergraben.  

    Nach dem Interview brachten Menschenrechtsaktivisten eine Strafanzeige gegen Garawski ein. Das Verfahren fand in der Schweiz statt, wo der Ex-Elitekämpfer politisches Asyl beantragt hatte. Die Anklage lautete auf „Beteiligung an mehrfachem Verschwindenlassen“ (die Schweizer Gesetzgebung erlaubte keine Anklage wegen Mordes oder Beteiligung daran, da die Verbrechen auf belarussischem Territorium begangen worden waren.)    

    Im September 2023 wurde Garawski vom Kantonsgericht St. Gallen freigesprochen, man betrachtete seine Angaben als nicht ausreichend für einen Schuldspruch. Das Urteil begründete der Richter damit, dass dies ein besonderer Fall in der juristischen Praxis sei: Es sei eine Regierung involviert, die für die Gewaltverbrechen verantwortlich sei. „Daran sollte kein Zweifel bestehen. Aber bei der Befragung verstrickte sich der Angeklagte in Widersprüche und verweigerte Antworten“, sagte der Richter. 

    „Wer sich nicht gefügt hat, ist schon bis auf die Knochen verrottet“ 

    Das Verschwindenlassen politischer Gegner war nicht Lukaschenkos Erfindung. Vermutlich hatte Pawlitschenkos Truppe die entsprechende „Lizenz zum Töten“ bereits einige Jahre vorher erhalten, ursprünglich für den Kampf gegen das organisierte Verbrechen. Im postsowjetischen Raum waren die 1990er sehr unruhig. Diverse kriminelle Banden nutzten das Machtvakuum in den ehemaligen Sowjetrepubliken aus und brachten die Privatwirtschaft unter ihre Kontrolle, betrieben Drogenhandel, verübten Auftragsmorde und andere Schwerverbrechen. 

    Auch wenn das organisierte Verbrechen in Belarus weitaus schwächer ausgeprägt war als in Russland, beschloss Lukaschenko, das Übel an der Wurzel zu packen. Dafür schlug er, so nimmt man an, einen sehr effektiven Weg ein, griff aber zu illegalen Methoden.  

    In der zweiten Hälfte der 1990er verschwanden Autoritäten aus dem Verbrechermilieu plötzlich spurlos. Am meisten Aufsehen erregte der Fall des 37-jährigen Minsker „Diebes im Gesetz“ Wladimir Kleschtsch, genannt Schtschawlik. Im Dezember 1997 erhielt er auf seinem Mobiltelefon einen Anruf von einem Unbekannten, ging dann nach draußen, um „das Auto umzuparken“, und wurde nie wieder gesehen. Von Zeit zu Zeit kommentiert Lukaschenko nicht ohne Stolz seinen Sieg über die organisierte Kriminalität. Einzelne Aussagen kann man durchaus als Geständnisse interpretieren. 2001 ließ er verlauten, er habe bereits 1996 die Granden der Verbrecherwelt „über gewisse Schurken“ gewarnt: „Traut euch bloß nicht, eine Unterwelt zu schaffen, ich reiße euch allen die Köpfe ab“. Und fügte noch hinzu: „Es gab solche Fälle, wo sie sich nicht benommen haben. Ihr wisst ja noch, diese Schtschawliks und wie sie alle hießen. Und wo sind die jetzt? Eben, deshalb ist jetzt Ruhe und alle sind froh.“ 

    Juri Sacharenko, Viktor Gontschar, Anatoli Krassowski und Dmitri Sawadski (v.l.n.r.), auf einem Banner bei einer Protestaktion in Warschau im Jahr 2004  / Foto © gemeinfrei
    Juri Sacharenko, Viktor Gontschar, Anatoli Krassowski und Dmitri Sawadski (v.l.n.r.), auf einem Banner bei einer Protestaktion in Warschau im Jahr 2004 / Foto © gemeinfrei

    Im Jahr 2011 kam Lukaschenko in einer Rede an die Nation und das Parlament wieder auf das Thema zu sprechen: „Die Banden, die seinerzeit aus der sowjetischen Kinderstube herausgewachsen waren, hatten sehr enge Verbindungen nach Moskau. Wir haben sie schnell auf Linie gebracht. Wer sich nicht gefügt hat, ist schon bis auf die Knochen verrottet.“ 2017 schrieb die BelGaseta dazu: „Ob es stimmt oder nicht, ist schwer zu sagen, aber immer, wenn in Belarus neue ‘Diebe im Gesetz’ auftauchen, führen die Ermittler sogenannte prophylaktische Gespräche mit ihnen und erinnern sie an ‘Schtschawliks verrottete Knochen’“.  

    Natürlich wusste Lukaschenko von der Rechtswidrigkeit seines Vorgehens, als er die Freigabe zur Abrechnung mit dem Kriminellen gab. Aber in diesem Fall heiligte seiner Ansicht nach der gute Zweck die Wahl der Mittel. Nicht umsonst rühmte er sich später damit, wie gnadenlos diese Schtschawliki in Belarus ausgemerzt wurden. Davon, dass mit der Zeit seine politischen Gegner die Rolle der Schtschawliki einnahmen, schwieg er lieber. Man kann das ja auch als logische Folge betrachten: So eine Todesschwadron erweitert, wenn sie mal gegründet ist, auf natürlichem Weg ihren Aufgabenbereich.  

    Früher oder später wird es eine Untersuchung geben 

    Lukaschenko gelangte 1994 durch vollkommen faire Wahlen an die Staatsspitze. Sofort begann er, die demokratischen Institutionen zu zerlegen, und demonstrierte so seine Absicht, an der Macht zu bleiben. Mithilfe zweier Volksabstimmungen konzentrierte er praktisch unbegrenzte Befugnisse in seinen Händen. Dabei bewegte sich der erste Präsident mehrfach auf Messers Schneide, besonders 1996, als es fast zu einem Amtsenthebungsverfahren kam. 

    Ursprünglich hätten die nächsten Wahlen für das höchste Staatsamt 1999 stattgefunden. Wäre das politische System in Belarus erhalten geblieben, hätte Lukaschenko durchaus verlieren können, da die Ergebnisse seiner ersten fünfjährigen Amtszeit nicht gerade berauschend waren. Doch mit den erwähnten Methoden hatte er die Machtstrukturen völlig verändert und ausschließlich auf seine Person ausgerichtet. Dadurch fand die nächste Wahl erst 2001 statt, wurde aber von der internationalen demokratischen Gemeinschaft nicht anerkannt. 1999 ging vornehmlich als das Jahr in die Geschichte ein, in dem prominente Oppositionelle verschwanden. 

    Das war der Moment, in dem Lukaschenko eine rote Linie überschritt, die das Szenario eines friedlichen Machtwechsels ausschloss. Nach dem Ende seiner Amtszeit hätte eine unabhängige Untersuchung der Fälle Gontschar, Krassowski, Sacharenko und Sawadski beginnen können, wie es die Angehörigen der Vermissten, die Opposition und westliche Politiker forderten. Und sehr schnell wären Hinweise darauf gefunden worden, dass auch dem belarussischen Präsidenten ein Platz auf der Anklagebank gebührt. Eigentlich verliert eine solche Untersuchung mit den Jahren nicht an Aktualität. Auch deshalb kämpfte Lukaschenko 2020 um seinen Absolutismus, ohne Rücksicht auf die Mittel. Etwas Schlimmeres als 1999 hätte dieses Regime auch vor vier Jahren nicht mehr anrichten können.  

    Die Immunitätsgarantien, die nach dem Referendum von 2022 in die Verfassung aufgenommen wurden, sind ebenfalls auf die Ereignisse von vor 25 Jahren zurückzuführen. Ergänzt wurde ein Punkt, dass „der Präsident nach dem Ende seiner Amtszeit für Handlungen, die er im Rahmen seiner Amtsausübung und seiner präsidentiellen Befugnisse ausgeführt hat, nicht zur Verantwortung gezogen werden kann.“ 

    Der 70-jährige Lukaschenko spricht immer häufiger davon, dass er nicht ewig lebt, und baut gewissenhaft an einem System seiner persönlichen Sicherheit im Fall einer Machtübergabe an einen Nachfolger. Regelmäßig spricht er auch von der Notwendigkeit, dass seine Nachkommen sein Erbe bewahren. Was die Sicherheit angeht, kann ihm alles gelingen. Die Staatsmacht wirkt monolithisch, die Sicherheitsorgane befinden sich in ständiger Kampfbereitschaft, und von den Wahlen 2025 sind keine Überraschungen zu erwarten.  

    Das mit dem Erbe ist weniger rosig. Früher oder später wird Belarus eine Demokratisierung erfahren, das Volk wird sein Recht zurückerhalten, die Regierung zu wählen. Eine offene und transparente Untersuchung der aufsehenerregenden Entführungen von 1999-2000 wird auf jeden Fall zu den Prioritäten einer neuen Regierung gehören. Und die Ergebnisse, im ganzen Land veröffentlicht, könnten sogar die eisernsten Verfechter der belarussischen Stabilität erschüttern. 

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    Alexander Vasukovich ist einer der bekanntesten belarussischen Fotografen der jüngeren Generation. Seine Bilder erschienen in zahlreichen internationalen Zeitungen und Publikationen. Bereits seit dem Beginn des Euromaidan dokumentiert er die Ereignisse in der Ukraine, so auch den russischen Krieg seit 2014.

    In seiner Heimat wurde er im Oktober 2023 festgenommen, offiziell wegen Teilnahme an den Protesten im Jahr 2020. Dennoch gelang ihm die Flucht nach Polen, wo er derzeit lebt. Wir haben mit ihm über seine Arbeit und den Krieg in der Ukraine gesprochen und zeigen eine Auswahl seiner Bilder.

    Natalija, 44 Jahre, im Krankenhaus von Browary, Oblast Kyjiw. Sie wurde am 14. März in Tschernihiw am Bein verwundet, 24.03.2022 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    dekoder: Sie waren bereits 2013 auf dem Maidan, um die dortigen Ereignisse fotografisch festzuhalten. Warum diese Entscheidung, aus Belarus in die Ukraine zu fahren? 

    Alexander Vasukovich: Damals stand meine Karriere als Fotograf noch am Anfang, aber ich hatte bereits Erfahrung mit Aufnahmen bei Protesten gemacht: nach den [belarussischen] Präsidentschaftswahlen 2010, als die Kundgebungen mit gewaltsamer Auflösung und Haftstrafen für viele Beteiligte endete, darunter auch die Präsidentschaftskandidaten.  

    Vom ersten Maidan im Jahr 2004 hatte ich nur gehört, deshalb beschloss ich hinzufahren, als der zweite begann. Mich begeisterte, wie die Ukrainer für ihre Freiheit kämpften. Ich sah Menschen, die bereit waren, für ihre Ideen sogar ihr Leben zu opfern. Ich sah, wie den Ukrainern der Sieg gelang, und genau das wollte ich auch in meiner Heimat sehen. Deshalb fotografierte ich auch nach Beginn des Krieges im Osten der Ukraine weiter jene Menschen, die nicht einmal den Kampf fürchteten. Ich wollte die Freiwilligen zeigen, die auf der Welle des Siegesgefühls vom Maidan in den Krieg gezogen waren, um auch dort zu gewinnen. Vor Ort wurde mir dann klar, dass das im Krieg bedeutend schwieriger ist.  

    Diese Reisen wurde zur Grundlage für das sehr persönliche und schmerzhafte Projekt Commemorative photo (dt. Gedenkfoto), mit dem ich an den Wert des menschlichen Lebens erinnern wollte. Der Tod von Menschen, die wenige Augenblicke vorher noch lebendig neben mir standen, hat mich sehr getroffen. Ich schickte dann Fotos an die Angehörigen und sprach mit ihnen. So wurde dieser Krieg, obwohl ich Ausländer bin, auch ein wenig zu meinem. Deshalb konnte ich auch 2022 nicht aufhören zu fotografieren. 

    Die Fotos in dieser Auswahl stammen vor allem aus dem ersten Jahr der russischen Invasion. Nach welchen Kriterien haben Sie die Bilder ausgewählt? 

    Ich sehe drei zentrale Gründe dafür, dass die Bilder hauptsächlich aus dem ersten Jahr stammen. Da ist zum einen die Intensität dessen, was passierte, dann die Abwesenheit von Einschränkungen und Regulierungen, wo man sich aufhalten durfte, und drittens die Veränderung meiner Wahrnehmung dessen, was vor sich ging.  

    Zu Beginn des Krieges war es wesentlich einfacher, irgendwo hinzufahren und zu fotografieren. Niemanden interessierte, was du machst, du konntest in Ruhe irgendwo sein und beobachten, was passiert. Es gab befreite Gebiete, die man leicht erreichen konnte, um die Folgen der Kriegshandlungen zu dokumentieren, mit den Menschen zu sprechen, alles zu sehen, was passiert war, bevor aufgeräumt wurde. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr Regeln tauchten auf. Bei meiner zweiten Reise konnte ich schon nicht mehr dorthin fahren, wohin ich wollte: Für viele Orte war die Begleitung durch einen Presseoffizier erforderlich, und da es nicht so viele gab, war das mit Wartezeiten verbunden.  

    So viel Zeit hatte ich nicht, also fuhr ich mit dem Motorrad los, weil das mein einziges Transportmittel war, und ich vor dem ersten Schnee zurück sein musste. Damals konzentrierte ich mich auf Bachmut: Ich war sehr beeindruckt, wie die Menschen dort zwischen den Stellungen lebten, während über ihren Köpfen tagelang Geschosse hin und her flogen, die manchmal nicht ans Ziel kamen und auf den schmalen Streifen zwischen den Fronten krachten. Die Menschen lebten dort und warteten darauf, dass all das endlich aufhört.  

    Bei meiner dritten Reise Ende September 2023 wollte ich in erster Linie fotografieren, wie die Zivilbevölkerung in den Frontstädten überlebte. Damals war der Zugang schon sehr schwierig, man durfte fast nirgends ohne Begleitung Zeit mit der Zivilbevölkerung verbringen, von den Begleitpersonen gab es nicht genügend und außerdem konnte man von den Menschen keine Offenheit erwarten, wenn ein Soldat daneben saß. Der einzige Ort, an dem ich in Ruhe machen konnte, was ich wollte, war die Stadt Siwersk.  

    Wie erlebten Sie die Ukrainer im Krieg? 

    Bei meiner ersten Reise waren die Menschen stark mobilisiert und sehr kämpferisch eingestellt, mit jeder weiteren Reise erschienen sie mir müder, fast alle sagten: „Hoffentlich ist es bald vorbei.“ Für mich war es damals schwer vorstellbar, wie sich das anfühlt: Du hast ein Haus, dein normales Leben, ein paar Besitztümer – und dann kommt eine Rakete, und plötzlich ist alles vorbei, du hast nichts mehr, musst flüchten und alles zurücklassen.  

    Erst als ich selbst mein Zuhause verlassen musste, ohne die Aussicht, in absehbarer Zeit zurückzukehren, konnte ich das etwas besser nachempfinden.  

    Nicht alle können und wollen evakuiert werden, bei meiner dritten Reise sprach ich mit vielen Menschen, die in ihrer Stadt blieben. Siwersk lag direkt hinter der Front, die Menschen lebten zu diesem Zeitpunkt bereits anderthalb Jahre im Keller. Auf die Frage, warum sie blieben, antworteten sie, dass sie in der Westukraine niemand brauchen würde, dass man dort darüber lachen würde, wie sie sprechen, dass man ihnen dort keine Arbeit geben würde, und sie hier wenigstens einen Ort zum Leben haben, auch wenn sie jeden Moment sterben könnten.  

    Wie wurden Sie als Belarusse aufgenommen, schließlich nutzte die russische Armee belarussisches Territorium für ihre Angriffe auf die Ukraine? 

    Bis zum Kriegsbeginn fühlte ich mich in der Ukraine wie zuhause. Es war das erste Land, in das ich gereist war, meine ersten ausländischen Freunde waren Ukrainer. Kurz vor Kriegsbeginn planten meine Freundin und ich, in die Ukraine zu fahren und unsere Freunde zu besuchen.  

    Dann begann der großangelegte Angriff, ich versuchte sofort, als Fotograf eine Akkreditierung zu erhalten. Viele wollten meine Bewerbung nicht weiterreichen, weil ich belarussischer Staatsbürger bin. Die Kollegen sagten, ich würde keine Akkreditierung erhalten, und wenn doch, dann würde man mich vor Ort nicht arbeiten lassen, mich sogar schlagen. Als ich dann jemanden gefunden hatte, der meine Akkreditierung unterstützte und meine Unterlagen einreichte, war ich auf eine lange Überprüfung und eine mögliche Absage vorbereitet, aber schon drei Tage später hatte ich die Akkreditierung. 

    Bei der ersten Reise war ich mit einer ukrainischen Freundin unterwegs und musste nicht groß erklären, wer ich bin. Bei der zweiten Reise wollte ich allein fahren, mit meinem Motorrad mit belarussischem Kennzeichen. Ich hatte gelesen, was über Belarussen im Internet geschrieben wurde und machte mir Sorgen, wie ich dort allein erklären würde, warum ich in der Ukraine unterwegs bin. Manchmal stellte ich mir vor, man würde hinter mir ausspucken, nachts meine Reifen zerstechen.  

    Aber zum Glück war die Realität ganz anders: Die Leute waren eher erfreut, einen Belarussen zu sehen, der auf der ukrainischen Seite fotografierte, sie interessierten sich dafür, wer ich bin und wie die Belarussen über den Krieg denken. Die Leute begriffen wohl, dass ich in Ordnung sein musste, weil ich bei ihnen war.  

    Ende 2023 wurden Sie in Belarus nach der Rückkehr aus der Ukraine festgenommen. Warum sind Sie überhaupt zurückgekehrt? 

    Ich habe in Belarus gelebt und bin dorthin zurückgekehrt, weil ich das Land liebe, weil meine alten Eltern dort leben und auch meine Großmutter, die jetzt schon 99 Jahre alt ist. Ich wollte dort sein und fotografieren, sobald sich etwas verändert. 

    Nach meiner dritten Reise interessierte sich der KGB an der Grenze für mich. Sie stellten viele Fragen über meine Arbeit in der Ukraine, besonders wunderten sie sich, wie ich ohne Freunde bei der ukrainischen Armee in Orte wie Butscha kommen konnte. Sie wollten nicht glauben, dass das möglich war. Nach der Befragung ließen sie mich gehen. In den folgenden Tagen wurde ich beobachtet, und nach zwei Wochen holten sie mich schließlich ab. 

    Sie durchsuchten meine Wohnung, nahmen Computer, Festplatten und Notizbücher mit. Nach zehn Tagen wurde mir eine Anklage vorgelegt. Sie lautete: Teilnahme an Protesten nach Artikel 342, Absatz 1 des Strafgesetzbuches: „Organisation von Gruppenaktivitäten, die die öffentliche Ordnung grob stören und einhergehen mit offener Zuwiderhandlung gegen gesetzliche Vorschriften der Machtorgane, oder die das Funktionieren von Verkehr, Betrieben, Einrichtungen oder Organisationen stören, oder aktive Teilnahme an solchen Aktivitäten.“ Die Anschuldigung bezog sich darauf, dass ich beim Fotografieren auf der Straße gestanden hatte, die Sicherheitskräfte also angeblich blockiert hätte. Dass ich dort als Journalist im Einsatz war, interessierte die nicht.  

    Meine Reisen in die Ukraine waren sicher ein Katalysator für die Festnahme. Über Google findet mal leicht heraus, dass ich mit fast allen unabhängigen belarussischen Medien zusammengearbeitet habe, die heute als „extremistisch“ gelistet sind. Auf diese Zusammenarbeit stehen bis zu sechs Jahre Haft. 

    Wie ist Ihnen die Flucht nach Polen gelungen? 

    Nach der Festnahme war ich drei Monate in Untersuchungshaft. Danach wurde ich zu drei Jahren Hausarrest verurteilt. Was bedeutet, dass ich das Haus nur für meine offizielle Arbeit verlassen durfte. Eine Bar oder Freizeitveranstaltungen zu besuchen war untersagt. Auch ein Besuch bei meinen Eltern und bei meiner Oma. Nach 19 Uhr musste ich zuhause sein. Die Miliz hätte jederzeit kommen und überprüfen können, ob ich zuhause und nüchtern bin.  

    Ich begriff, dass ich nichts mehr machen konnte, was mir wichtig ist. Zudem war das Risiko sehr hoch, dass ein weiteres Strafverfahren gegen mich angestrengt wird. Also beschloss ich, das Land zu verlassen, auch wenn mir das bis zuletzt widerstrebte. Aber ich wusste: Wenn ich bleibe, würde ich mit hoher Wahrscheinlichkeit im Gefängnis landen.  

    Also kontaktierte ich den Evakuierungsdienst der Organisation BYSOL. Sie hilft ehemaligen politischen Häftlingen und ihren Familien, Belarus zu verlassen, selbst wenn ein Ausreiseverbot besteht. Details meiner Flucht kann ich nicht verraten, sonst würde ich den Fluchtweg für andere gefährden. 

     

     
    Explosionsspuren einer Mörsergranate auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums im Dorf Stojanka, Oblast Kyjiw, 31.03.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 
     
    Leichen, die im Keller eines Sommerlagers gefunden wurden. Ukrainische Beamte sagen, dass die russische Armee das Lager während der Okkupation als Stützpunkt nutzte. Butscha, Oblast Kyjiw, 04.04.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

     

    Zerstörte Brücke über dem Fluss Siwersky Donez in der Nähe des Dorfes Salyman. Bewohner haben die Brücke selbst repariert, nachdem das Gebiet durch die ukrainische Armee befreit worden war. Oblast Charkiw, 20.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 
     
    Ein Soldat der ukrainischen Streitkräfte fährt über Felder zu den Stellungen seiner Einheit in der Nähe der Stadt Bachmut. Oblast Donezk, 15.11.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

     

    Die Großmutter spricht mit ihrem Enkel, dem elfjährigen Daniil, nach der Beerdigung seines Vaters Wolodymyr. Er hatte bei den Spezialkräften gedient und ist im Kampf gefallen. Kyjiw, 23.03.2022, / Foto © Alexander Vasukovich 

     

    Durch Beschuss zerstörte Kirche im Dorf Lukaschiwka. Nach Angaben von Einheimischen diente sie als Lazarett für verwundete russische Soldaten und als Munitionslager. Oblast Tscherschnihiw, 10.04.2022 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Ukrainische Soldaten laden Munition in einen Mannschaftstransportwagen. Bachmut, Oblast Donezk, 11.11.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

     

    Halyna und Viktor im Keller eines Wohnhauses. Seit Kriegsbeginn leben sie hier. Siwersk, Oblast Donezk, 02.10.2023 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Ein durch russische Angriffe zerstörtes Wohnhaus in der Stadt Borodjanka. Allein in den ersten Kriegsmonaten wurden hier 404 Eigenheime und Wohnhäuser zerstört. Oblast Kyjiw, 05.04.2022 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Rettungskräfte bergen eine Leiche aus den Trümmern eines Wohnhauses in Borodjanka. Die Stadt wurde besonders hart von russischen Angriffen getroffen und erlitt die massivsten Zerstörungen in der Region Kyjiw. Oblast Kyjiw, 12.04.2022 Foto © Alexander Vasukovich
     
    Ein ukrainischer Soldat angelt von einer zerstörten Brücke über dem Fluss Siwersky Donez. Dorf Sakitne, Oblast Donezk, 26.09.2023 / Foto © Alexander Vasukovich  
     
    Sanitäter behandeln einen verwundeten Soldaten im Krankenhaus von Bachmut. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Verletzten so zu stabilisieren, dass sie von der Frontlinie wegtransportiert werden können. Oblast Donezk, 17.11.2022 / Foto © Alexander Vasukovich
     
    Eine Frau hat in einem Kyjiwer Krankenhaus ein Kind zur Welt gebracht. Kyjiw, 30.03.2022 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Menschen überqueren den Fluss Siwersky Donez mit einem Boot, da die Brücke zerstört wurde. Stary Saltiw, Oblast Charkiw, 12.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich
     
    Ein ukrainischer Soldat posiert vor einer feuernden M-46-Kanone in der Nähe von Bachmut. Oblast Donezk, 15.11.2022 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Zerstörte Brücke über dem Fluss Siwersky Donez. Isjum, Oblast Charkiw, 15.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

    Leere Gräber nach der Exhumierung von Leichen in einem Massengrab aus der Zeit der russischen Besatzung. In den Wäldern nahe der Stadt wurden nach der Rückeroberung durch die ukrainischen Streitkräfte mehrere solcher Massengräber entdeckt, darunter eines mit mindestens 440 Leichen. Oblast Charkiw, 15.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

     

    Ein hungriger Hund frisst die Überreste einer Kuh, die durch Beschuss getötet wurde. Viele Haustiere wurden von ihren Besitzern auf der Flucht zurückgelassen. Dorf Lukaschiwka, Oblast Tschernihiw, 10.04.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

     

    Einwohner der Stadt Siwersk in einer Kantine, die von evangelischen Christen organisiert wird. Jeden Tag können Menschen hier kostenfrei eine warme Mahlzeit bekommen. Die meisten von ihnen leben in den Kellern ihrer Häuser, die durch Beschuss beschädigt wurden. Oblast Donezk, 04.10.2023 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Rakententeil auf einem Feld in der Nähe des Dorfes Lukaschiwka. Oblast Tschernihiw, 10.04.2022 / Foto © Alexander Vasukovich
     
    Wolodymyr, 64 Jahre, repariert ein umgefallenes Kreuz auf dem Grab seines Nachbarn. Er wurde durch russischen Beschuss getötet. Da es zu riskant war, den Leichnam auf den Friedhof zu bringen, begruben sie den Freund in der Nähe des Wohnhauses, in dem er lebte. Siwersk, Oblast Donezk, 05.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 
     
    Ein Mann trägt Wasserflaschen über eine zerstörte Brücke über den Fluss Bachmutka. Die Menschen müssen den Fluss überqueren, um in den anderen Teil der Stadt zu gelangen und dort Wasser und Lebensmittel zu bekommen. Bachmut, Oblast Donezk, 29.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 
     
    Sanitäter bringen eine verletzte Frau in ein Stabilisierungszentrum in Bachmut. Die Frau und zwei weitere Zivilisten wurden beim Beschuss der Nachbarstadt Tschassiw Jar verletzt. Bachmut, Gebiet Donezk, 17.11.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 
     
    Zerstörte Brücke über dem Fluss Oskil. Gorochowatka, Oblast Donezk, 20.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich

     

    Eine tote Taube, die durch Beschuss einer Straße in der Stadt Bachmut getötet wurde. Oblast Donezk, 17.10.2022 / Foto © Alexander Vasukovich 

    Fotografie: Alexander Vasukovich
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Ingo Petz
    Veröffentlicht am: 26.09.2024

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  • Soll der Westen wieder mit Lukaschenko reden?

    Nach wie vor kommt es in Belarus fast täglich zu politisch motivierten Festnahmen und Verurteilungen mit langen Haftstrafen. Gleichzeitig wurden in den vergangenen Monaten dutzende politische Gefangene freigelassen.  

    Experten deuten dies als Signale von Alexander Lukaschenko, den Kontakt zur EU und zu den westlichen Demokratien zu suchen. Warum passiert dies gerade jetzt? Ist eine neuerliche Annäherung nach der brutalen Niederschlagung der Proteste 2020 und der Flucht von hunderttausenden Belarussen tatsächlich denkbar? Welches Interesse könnte die EU daran haben? 

    Über diese und andere Fragen haben wir mit dem belarussischen Ex-Diplomaten und Politanalysten Pavel Matsukevich von der Initiative Center for New Ideas gesprochen.

    Alexander Lukaschenko bei einem Treffen mit Wladimir Putin im Mai 2024 in Minsk / Foto © xPavelxBednyakovx/ IMAGO 

    dekoder: Lukaschenko hat in den vergangenen Wochen dutzende politische Gefangene freigelassen. Warum? Der Diktator wird doch wohl nicht altersmilde? 

    Pavel Matsukevich: Noch nicht. Ein klares Anzeichen dafür sind die Repressionen in Belarus, die weiterlaufen. Aber die Freilassungen sind ein deutliches Signal, dass Lukaschenko bereit ist, weicher zu werden. Es könnte ein gewisses Tauwetter geben, und zwar aus dem einfachen Grund, weil es in Belarus schon mehr als einmal solche Perioden gegeben hat. Die gesamte Geschichte der 30-jährigen Herrschaft Lukaschenkos ist die Geschichte des Wechsels von Zeiten des Tauwetters und des verstärkten Drucks. Dank dieser Tauwetterperioden konnte sich auch die Zivilgesellschaft entwickeln, die 2020 ihre Bürgerrechte eingefordert hat.  

    Aber zu der Zeit vor 2020 lässt sich kaum zurückkehren, wenn man an das Ausmaß der Repressionen denkt. 

    Kein Tauwetter war wie das andere. Ich glaube also nicht, dass wir in das Jahr 2018 zurückkehren können, einer Zeit der weitreichenderen Liberalisierung. Aber wir könnten zu einer insgesamt besseren Situation im Vergleich zum heutigen Klima kommen, nicht zu einer idealen natürlich, zu einer besseren, indem die Leute endlich aus den Gefängnissen entlassen werden und die brutalen Repressionen aufhören. Die belarussischen Behörden können theoretisch fast allem zustimmen, solange es nicht ihre Macht betrifft. In dieser Hinsicht wird es keine Öffnung oder Kompromisse geben. Darüber muss man sich im Klaren sein. Lukaschenko wird sich nicht zum Demokraten entwickeln. Aber andere Öffnungen sind zumindest denkbar. In der Zeit, als die Existenz unabhängiger Medien geduldet wurde, hat das Regime beispielsweise auch eine gewisse öffentliche Kritik zugelassen.  

    Gleichzeitig wurden Kritiker aber auch weggesperrt und in früheren Zeiten sogar umgebracht. 

    Ja, auch das passierte: Politiker verschwanden, Proteste wurden niedergeschlagen. Aber dann gab es eben wieder Phasen des Tauwetters. Lukaschenkos Regime ist de facto nicht das Regime Stalins, wo es nur Repression und Terror in einem unvorstellbaren Ausmaß gab.  

    Warum sendet Lukaschenko gerade jetzt solche Zeichen? 

    Es gab in den vergangenen drei Jahren immer wieder Anzeichen dafür, dass das Regime den Kontakt zur EU und zum Westen sucht. Zum Beispiel der Brief des damaligen Außenministers Wladimir Makei im Frühjahr 2022, mit dem er sich an seine Kollegen, die Außenminister der EU-Länder, wandte und vorschlug, einen Neuanfang zu versuchen. Seine Begründung: Andernfalls würden die Repressionen weitergehen, die Zivilgesellschaft werde in der Folge vernichtet und Europa würde schließlich vollkommen aus Belarus verschwinden und Belarus selbst in Russland aufgehen. 

    Eine Situation, die wir aktuell fast so vorfinden in Belarus.  

    Und diese schafft ein sehr gefährliches Ungleichgewicht, nicht nur für Lukaschenkos Macht, sondern auch für die Souveränität von Belarus und die belarussische Gesellschaft. Der Wunsch, in einen Dialog einzutreten, hat für das Regime vor allem eine Motivation: die eigene Macht zu stärken. Denn wenn der Westen auf den Vorschlag zum Dialog eingeht, haben die belarussischen Behörden die Möglichkeit, ein Gleichgewicht, eine Balance herzustellen – zwischen Russland und der EU. So konnte Lukaschenko auch in der Vergangenheit seine Macht sichern – durch das Lavieren zwischen Ost und West. Das gilt auch für Belarus aufgrund der geopolitischen Lage des Landes: der Ausgleich zwischen Ost und West ist sozusagen eine Formel für die Wahrung der Unabhängigkeit, der Souveränität.  

    Warum sollte die EU Interesse daran haben, die Macht von Lukaschenko zu stärken? 

    Das ist eine Frage der Abwägung. Und hier geht es nicht um moralische Faktoren. Hier treffen sich die Regime-Interessen einerseits und Interessen, Belarus als souveränes Land zu erhalten, andererseits. Die Isolierung von Belarus steigt stetig. Wir haben heute bereits einen Zaun an der Grenze zur EU. Belarus wird immer abhängiger von Russland, vor allem im Bereich Wirtschaft, der Finanzkredite und so weiter. Die Unabhängigkeit von Belarus ist tatsächlich ernsthaft bedroht. Die EU hat Interessen, die sich über ein souveränes Belarus besser realisieren lassen, wo man zumindest etwas Einfluss geltend machen könnte, als über ein Belarus, das in Russland aufgeht.  

    Welches Interesse hätte die EU daran, in einen Dialog einzutreten? 

    Es gibt gemeinsame Interessensbereiche, in denen Belarus eine bedeutende Rolle spielen kann. Der erste ist die Sicherheit. Die EU hat Interesse daran, das Risiko einer Wiederholung des Jahres 2022 zu verringern, als Russland das Territorium von Belarus nutzte, um in die Ukraine einzumarschieren. Wenn Russland an die EU-Grenze heranrückt, steigt die Unsicherheit für die EU. Der zweite Bereich ist das Thema Migration. Lukaschenko hat die Migrationskrise an den Grenzen zur EU als Reaktion auf den Sanktionsdruck organisiert. Bei einer Dialogaufnahme könnte also die gemeinsame Sicherung der EU-Grenze verhandelt werden. Und die dritte gemeinsame Interessensphäre ist der Warentransit zwischen der EU und China. Der Eisenbahntransit stellt eine gute Alternative zum Seetransport dar, besonders wenn er wie aktuell am Roten Meer bedroht ist.  

    Würde die EU nicht die demokratische Opposition diskreditieren, die sich im Exil befindet und die derart unter den Repressionen leidet, wenn man auf Lukaschenko zugehen würde? 

    Der Dialog zwischen den belarussischen Machthabern und den westlichen Ländern ist im Prinzip unvermeidlich. Es ist nur eine Frage der Zeit, da es, wie gesagt, um drängende regionale und globale Interessen geht. Die demokratischen Kräfte können sich nur die Frage stellen, ob sie diesen Prozess unterstützen oder ob sie bei ihrem Versuch bleiben, ein Regime zu demokratisieren, das sich nicht demokratisieren lässt. Es ist denkbar, dass sich das Regime als Bedingung für einen Dialog zumindest auf die Frage eines perspektivischen Machttransits gegen 2030 einlässt. Lukaschenko weiß, dass er nicht unsterblich ist. Aber nochmal: Eine schnelle Demokratisierung wird dabei nicht herausspringen. Und es besteht auch die Gefahr, dass das Regime, wenn es sich bedroht fühlt, wieder mit Repressionen reagiert. Das ist sogar sehr sicher. Es geht aktuell darum, die Menschen aus den Gefängnissen freizubekommen, und eine weitere Verschlechterung der Lage zu verhindern. 

    Was will denn eigentlich die belarussische Bevölkerung? 

    Soweit man das anhand der Umfragen von Chatham House beurteilen kann, wünschen sich die Menschen die Rückkehr zu einer gewissen Normalität in den Beziehungen zwischen Belarus und dem Westen. Sie leben ja unter diesen Repressionen und haben deshalb ihre eigenen Interessen. Wir hier draußen denken darüber nach, wie wichtig es ist, Belarus zu demokratisieren, während die Belarussen im Land vielleicht eher darüber nachdenken, wie wichtig es ist, einen Krieg zu vermeiden. So entsteht natürlich eine Diskrepanz der Interessen. 

    Putin wird es nicht gefallen, wenn Lukaschenko auf den Westen zugeht. 

    Das stimmt. Es ist wichtig zu verstehen, dass jeder Dialog mit den westlichen Ländern in der aktuellen Situation seine Grenzen haben wird. Er muss ja auch nicht öffentlich passieren. Das Regime hängt an der Leine Russlands und die Leine ist sehr kurz. Lukaschenko ist kein Selbstmörder. Er weiß, was passiert, wenn er sich dem Westen zu sehr nähert. Russland würde ihm das nicht durchgehen lassen. Aber aktuell ist Putin mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigt, viele Kräfte und Ressourcen sind konzentriert. Wenn es zu Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland kommt, werden die Kräfte neu gemischt. Es wird neue Dynamiken geben, auf die sich Lukaschenko möglicherweise jetzt schon vorbereiten will, um seine Macht zu stärken. Dafür könnte er den Dialog mit dem Westen gut gebrauchen. Und der Westen könnte ihn gut gebrauchen, um Belarus nicht ganz zu verlieren, um dafür zu sorgen, dass Europa auch künftig noch eine Rolle in Belarus spielt.  

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    „Der Belarusse im Exil befindet sich in einem Kokon der Vieldeutigkeit“

     

    Viele Belarussen, die mittlerweile im Exil in Polen, Litauen oder Georgien leben, engagieren sich für die Demokratiebewegung. Im Belarus selbst ist Engagement gefährlich und öffentlicher Protest nicht mehr möglich. Lukaschenko hat seinen Machtapparat vor allem auf eines eingeschworen: auf politische Verfolgung. Verlässliche Informationen darüber, wie es sich unter derart hochrepressiven Bedingungen lebt, wie sich die Sichtweisen der Belarussen seit 2020 entwickelt haben, gibt es kaum. 

    Im Interview erklärt der Soziologe Andrei Wardomazki vom Belarusian Analytical Workroom die Tücken seiner Arbeit: Wie lassen sich die Einstellungen und Stimmungen der Belarussen ermitteln? Tut sich tatsächlich eine Kluft zwischen den Belarussen im Exil und denen im Land auf? 

    Der belarussische Soziologe Andrei Wardomazki im Gespräch / Foto © GasetaBY
    Der belarussische Soziologe Andrei Wardomazki im Gespräch / Foto © GasetaBY

    dekoder: Die Belarussen in ihrem Land und außerhalb ihres Landes nehmen die Situation in Belarus unterschiedlich wahr, einige Experten nennen die Differenz zwischen den Sichtweisen sogar „katastrophal“. Woher kommt das? 

    Andrei Wardomazki: Der Begriff „Katastrophe“ hat eine subjektive emotionale Aufladung. Ich sage lieber „bedeutender“ oder „wesentlicher Unterschied“.  

    Unterschiedliche Meinungen gibt es immer. In den USA zwischen Republikanern und Demokraten, in Großbritannien zwischen Tories und Whigs … Das gilt auch für Belarus. Seit wann es diesen bedeutenden Unterschied in der Wahrnehmung der Belarussen gibt – es ist schwierig, hier einen Anfangspunkt zu markieren. Ein Faktor war bestimmt die zunehmende Emigration nach 2020. Damals tauchten einige Merkmale auf, die auf eine erhebliche Differenz zwischen der Sichtweise der Belarussen im und außerhalb des Landes hindeuteten. Erhebliche Unterschiede, die sich vielleicht irgendwann zu wesentlichen entwickeln.  

    Der nächste Meilenstein war der Beginn des großangelegten russischen Angriffs auf die Ukraine. Ab da prägten sich zwei unübersehbare Informations- und Weltanschauungskokons heraus. 

    Wie kann man diese Kokons beschreiben? 

    Ich nenne sie „Nein zum Krieg“ und „Es gibt keinen Krieg“. Es gibt auch Kokons zu anderen weltanschaulichen Positionen. Zum Beispiel zur geopolitischen Ausrichtung, zur Einstellung zu Europa. Die Menschen sehen verschiedene Realitäten. Während ein Belarusse im Exil das Lächeln der westlichen Politiker vor Augen hat, sieht man von Belarus aus den Gesichtsausdruck eines EU-Grenzbeamten beim Grenzübertritt. 

    Der nächste Kokon betrifft das Thema Wirtschaft. Jenseits von Expertenkreisen (die die Situation nüchtern beurteilen) besteht unter den Durschnittsbelarussen im Ausland die Vorstellung vom wirtschaftlichen Niedergang in Belarus, dass es immer schlimmer wird. Die Bevölkerung im Land bewertet die wirtschaftliche Lage anders, sie nimmt keine Verschlechterung wahr. Die Statistik gibt ihnen übrigens recht. 

     

    Der nächste Unterschied ist, dass die Exil-Belarussen von extremen Repressionen und der totalen Entbelarussifizierung in Belarus ausgehen. Aus dem Land selbst hingegen gibt hört man immer wieder, dass Gras darüber gewachsen sei. Aus verständlichen Gründen führe ich keine Beispiele an. 

    Die Auswanderer sind im Jahr 2020 steckengeblieben, in Belarus herrscht schon eine „neue Normalität“ 

    Worin liegt der Unterschied im Denken der Belarussen innerhalb und außerhalb des Landes, wie und warum bilden sich diese Kokons? 

    Es gibt den Parameter der sozialen Zeit. In vielerlei Hinsicht kann man die Diaspora charakterisieren als erstarrt im Jahr 2020. Alles blieb dort und damals stehen – die Menschen, das Weltbild, die Psychologie. Aber innerhalb von Belarus passieren Veränderungen, die zu einer Art „neuen Normalität” führen. Der Belarusse im Exil befindet sich in einem Kokon der Vieldeutigkeit, mit vielen Interpretationsmöglichkeiten. Er bewegt sich in einem Informationsstrom, der ihm vielfältige Interpretationen anbietet, verschiedene Perspektiven auf ein und dasselbe Phänomen.  

     

    Der Belarusse in Belarus bewegt sich im Strom der Zensur und Begrenzung. Putin soll man nicht kritisieren, über Selensky lieber nichts Gutes sagen. Das Jahr 2020 darf man nicht positiv bewerten, und zu manchen Persönlichkeiten sollte man sich gleich gar nicht äußern. Das ist Zensur, vermischt mit Selbstzensur. 

    Generell sind der Grund für solche Kokons einerseits diese verschiedenen, manchmal diametral entgegengesetzten Informationsströme, andererseits gehen die persönlichen Erfahrungen auseinander. Die Kombination aus beiden erzeugt eine Kluft. Ein wichtiger Grund hat mit Sicherheit damit zu tun: mit dem Überleben. In Belarus ist es schlicht gefährlich, blockierte ausländische Medien und nichtstaatliche belarussische Auslandsmedien zu lesen oder zu konsumieren, die Mehrheit ist als „extremistisch“ gelistet. Man richtet daher seine Aufmerksamkeit auf andere Quellen, wechselt den Kokon. 

    Sie sprechen über die Belarussen im In- und Ausland, erwähnen aber diejenigen nicht, die in Belarus geblieben sind und dennoch dasselbe lesen und schauen wie die Emigrierten. 

    VPN-Dienste verringern das Problem der Blockierungen erheblich, aber die Gefahr bleibt bestehen. Ich denke, den Anteil derer, die dieselben Medien konsumieren wie die Emigranten, kann man bei 30 Prozent verorten. Übrigens ist das Vertrauen in die unabhängigen belarussischen Medien genauso hoch wie das in die russischen Medien. Trotz aller Einschränkungen bleibt das Interesse also bestehen. Das ist ein wichtiger Indikator.  

     

    Es wirken aber auch psychische Schutzmechanismen. Manche Menschen sind nicht in der Lage, Fotos aus Butscha anzusehen oder viel negative Information aufzunehmen. Hält ein Mensch das nicht aus, zieht er sich zurück in einen ruhigeren, positiveren Kokon. Beim Entstehen dieser Kokons wirken also zwei Arten von Selbstschutz. Erstens das existenzielle, lebensnotwendige Sicherheitsbedürfnis – sich die Freiheit zu bewahren, die man verlieren kann, wenn man Medien nutzt, die in Belarus blockiert sind oder als extremistisch gelten. Zweitens der psychische Selbstschutz – die Unfähigkeit, das Negative in den Medien auszuhalten. 

    So bewegt man sich in einer Art Korridor zwischen dem gerade noch Erträglichen und dem Interesse daran, informiert zu bleiben. In diesem Korridor zwischen Unerträglichkeit und Neugier wird alles genutzt, was an Medien zugänglich ist.  

    Welche Gründe gibt es noch, dass Leute aus einem Kokon in einen anderen wechseln? 

    Wenn die Interessen auseinandergehen und die Probleme, die die Menschen beschäftigen, nicht den Themen entsprechen, die die nichtstaatlichen Medien anbieten. Zum Beispiel interessiert man sich für Wirtschaft, aber hört nur von politischen Gefangenen. Dann entfernt man sich von dieser Information und landet in einem anderen Kokon. 

    Kann man einen Point of no Return prognostizieren, an dem die Belarussen im In- und Ausland einander endgültig nicht mehr verstehen werden? 

    Bei sozialen Phänomenen gibt es keine „hundert Prozent“, kein „absolut schlecht“ und „absolut gut“, kein „endgültig”. 

    Gab es bei den Deutschen einen Point of no Return? Gibt es ihn in Nordkorea? Dort sind die Menschen überzeugt, dass sie besser als der Rest der Welt leben, das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Aber das heißt nicht, dass sich die Situation nicht irgendwann, in einer langen Zeitspanne, ändern kann. Über die russische öffentliche Meinung sagt man heute: „Das ist der Point of no Return, du kannst sie nicht mehr ändern.“ Aber das gibt es nicht. Was es gibt, sind Punkte, die eine Annäherung schwieriger oder leichter machen, die Veränderungen wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen. 

     

    Hier muss man noch die gegenseitigen Vorbehalte zwischen Emigranten und Gebliebenen erwähnen. Beide Seiten beschuldigen die jeweils andere, konform mit dem Regime zu sein, meinen damit aber unterschiedliche Dinge. Die Emigrierten sagen, ihr seid geblieben und zahlt Steuern, ihr unterstützt das Regime. Die Gebliebenen wiederum sagen, ihr Konformisten seid abgehauen, wer wird dann unser Land erhalten oder sogar kämpfen? Nach demselben – sozialpsychologischen und logischen – Prinzip haben sich die gegenseitigen Anschuldigungen schon 2020 eingebürgert, damals zwischen den Unterstützern des Wandels und den systemtreuen Jabatki. Heute beschuldigen einander Inlandsbelarussen und Auslandsbelarussen. 

    Es ist ein einzigartiges Phänomen: Dass die einen Belarussen die anderen Belarussen zu erforschen beginnen. Darin liegt die Besonderheit dieser Untersuchung, sowohl für die Wissenschaft als auch insgesamt für die belarussische Gesellschaft. Ich wiederhole, es gibt keinen Point of no Return. Es gibt eine Verweildauer in einem Zustand, die länger oder kürzer sein kann. Aber dass eine Situation für immer festfriert, das gibt es nicht. Dasselbe gilt für Konformismus- und Kollaborationsvorwürfe. 

    Erzeugen die Informationskokons die Trennlinie oder verstärken sie sie nur? Zum Beispiel Präferenzen bei der außenpolitischen Orientierung oder bei ökonomischen Veränderungen. 

    Das sind so Stimmungen, die schwanken und sich nicht stabil in eine Richtung bewegen. Einmal reagiert Europa anders auf die Situation in Belarus – schon ändert sich die Einstellung in Belarus. Grafiken, die diese Schwankungen der geopolitischen Präferenzen illustrieren, zeigen keine kontinuierliche, lineare Ausrichtung, es gibt ein Auf und Ab. 

    Nur ein Parameter bleibt konstant: Belarus und seine Armee sollen nicht direkt am Krieg in der Ukraine teilnehmen. Die Haltung zur Nutzung belarussischer Infrastruktur oder zur Stationierung russischer Truppen kann sich hingegen ändern. Sie kann sich auch verschlechtern. 

    Welche Stereotype über die Sichtweisen von Emigrierten und in Belarus Gebliebenen wurden im Verlauf der Studie aufgebrochen? 

    Jede Forschung ist in gewisser Weise ein Brechen mit Stereotypen. Ich habe schon das Beispiel der Repressionen angesprochen. Von außen besteht die stereotype Ansicht, dass die Situation in Belarus maximal schlimm ist und sich noch weiter verschlimmert. Aber die Befragten in Belarus geben nicht nur negative Einschätzungen ab. Und trotz der zahlreichen katastrophalen Wirtschaftsprognosen empfinden die Einwohner die Lage nicht als absoluten Zusammenbruch. 

    Alles ist vielfältiger und komplexer als die Stereotype polarisierter Meinungen 

    Was die geopolitische Ausrichtung angeht, so nehmen die Belarussen beispielsweise Europa ganz unterschiedlich wahr, meist je nach persönlichen Erfahrungen und je nach Informationsquellen. Ich möchte hier keine Antworten zitieren, aber es gibt viele Details abseits von Stereotypen. 

    Über Russland sagen die einen, dass davon die Kriegsgefahr ausgehe, die anderen, dass die Freundschaft mit Russland Garant dafür sei, dass das belarussische Territorium von den Kämpfen verschont bleibe. 

    Im Rahmen unserer Forschungen, unter anderem zum Thema „Informationskokons in Belarus und im Ausland“, tragen wir Berge von detaillierten Informationen zusammen und denken bereits über die Entwicklung einer Kokontheorie nach. Alles ist vielfältiger und komplexer als die Stereotype polarisierter Meinungen. 

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  • Maria Kolesnikowas Haft: „Die Situation ist extrem gefährlich“

    Seit anderthalb Jahren gab es keine direkten Informationen über den Zustand der belarussischen Oppositionellen Maria Kolesnikowa, die zu elf Jahren Haft verurteilt wurde. Nun sind Informationen durchgedrungen, die von ehemaligen Mitgefangenen stammen sollen. Demnach soll sich der Zustand der 42-Jährigen rapide verschlechtert haben, sie werde buchstäblich ausgehungert und wiege nur noch 45 Kilogramm.  

    Der belarussische Ableger des Onlinemediums Mediazona hat mit einem anonymen Informanten über die menschenunwürdigen Haftbedingungen gesprochen.  

    Seit mehr als eineinhalb Jahren haben Maria Kolesnikowas Angehörige keine Briefe mehr von ihr erhalten. Fast die gesamte Zeit befindet sie sich in einer Isolationszelle, in der es kein warmes Wasser gibt und nach Kanalisation riecht. Aufgrund ihres Magendurchbruchs kann sie kein Gefängnisessen zu sich nehmen, für Einkäufe im Gefängnisladen darf sie nur 40 Belarussische Rubel (ca. 11 Euro) im Monat ausgeben. Ihre Schwester Tatjana Chomitsch teilt mit, dass Kolesnikowa nur 45 Kilogramm wiege. Eine Quelle, die mit Kolesnikowas Haftbedingungen vertraut ist, hat Mediazona erzählt, was darüber bekannt ist.

    Verleihung des Karlspreises in Aachen, 26.05.2022. Bild von Maria Kolesnikowa, Preisträgerin in Abwesenheit / Foto © UtexGrabowsky/photothek.de/ IMAGO

    „Als würdest du im Klo leben“. Die Bedingungen in der Isolationszelle 

    Maria Kolesnikowa befindet sich seit dem 10. März 2023 in einer Isolationszelle (russ. PKT) der Frauenstrafkolonie Nr. 4 in Homel. Sie kam in die Isolationszelle. Drei Monate zuvor war sie mit Bauchfellentzündung aufgrund eines Magengeschwürs (Durchbruch der Magenwand) in die Notaufnahme eingeliefert worden war. 

    Die Isolationszelle hat eine Größe von etwa 1,60 mal 2,50 Metern. An den Wänden sind zwei Pritschen für je zwei Personen befestigt, die nur zur Nachtruhe von 20:30 bis 5:00 Uhr heruntergelassen werden. Die Toilette ist ein Loch im Boden einer Zellenecke, ein Blech von der Größe einer aufgeschlagenen Zeitung soll als Sichtschutz dienen. Diese Trennwand erfüllt ihren Zweck nicht: Egal, wie man sich hinhockt, man wird entblößt zu sehen sein. 

    „Der Gestank bleibt im Raum, du atmest ihn täglich ein. Du wohnst also quasi auf dem Klo“, sagt der Gesprächspartner Mediazona. In der Mitte der Zelle stehen am Boden befestigte schmale „Sitze“ und eine aus Metall geschweißte Truhe, die man ebenfalls nicht verschieben kann. Am Waschbecken gibt es nur kaltes Wasser, einmal pro Woche darf man in den Duschraum. Das einzige Fenster befindet sich direkt unter der Decke und ist auf der Innenseite vergittert. Zwischen dem Gitter und dem äußeren Fensterrahmen liegen etwa 60 Zentimeter Mauer. 

    Aufgrund ihrer Erkrankung müsste Maria eine spezielle Diät einhalten, doch in der Isolationshaft bekommt sie das, was auch die anderen Gefangenen essen. Als Maria nach dem Krankenhausaufenthalt in die Strafkolonie zurückkehrte, bat sie ihre Angehörigen, sie mit Breiflocken zu versorgen – die einzige Nahrung, die sie essen durfte. In der Isolationszelle darf sie jedoch nur einmal alle sechs Monate ein Päckchen oder kleines Paket erhalten (Art. 114 der Strafvollzugsordnung). 

    Dem Gesprächspartner von Mediazona zufolge verschlechtert sich Marias Gesundheit aufgrund der Mangelernährung und der unmenschlichen Bedingungen, denen sie seit anderthalb Jahren ausgesetzt ist. Das hat sie der Gefängnisverwaltung bereits mitgeteilt. 

    Bei einer Zellenkontrolle sagte Maria im Beisein des Leiters der Kolonie: „Ich mache mir Sorgen um meine Gesundheit“, und fragte, wo ihre Medikamentensendungen und ihre Briefe seien. Der Leiter antwortete, alle hätten sie vergessen. Einer Quelle von Nowy Tschas zufolge erhielt Maria trotz ihrer Bitten lange keine medizinische Hilfe, und Briefe wurden vor ihren Augen zerrissen. 

    Der Tagesablauf 

    In der Isolationszelle steht Maria jeden Morgen um fünf Uhr auf, klappt das schwere „Bett“ hoch und befestigt es an der Wand. Dann öffnet sich die Tür – die Gefangene nimmt den Abfalleimer und verlässt in Begleitung eines Vollzugsbeamten die Zelle, um einen Lappen und Chlorwasser zu holen. Zum Putzen hat sie etwa 15 Minuten, dann sammelt eine Gefangene aus der Hauswirtschaftskolonne alle Lappen wieder ein. 

    Gegen sechs Uhr morgens wird das Frühstück gebracht. Gewöhnlich ist es Brei mit Fettzusatz, ein Stück Weißbrot und süßer Tee. „Der Brei ist mit Milch. Er hat definitiv eine Fettbeigabe, damit er einigermaßen nahrhaft ist. Der Tee ist so extrem süß, dass man ihn nicht trinken kann“, erzählt der Gesprächspartner. Manchmal gibt es zum Frühstück auch ein gekochtes Ei oder – im Fall der Aufbaunahrung, die Maria nach der Operation bekam – Quark. Während der Mahlzeiten verteilt ein Arzt die Medikamente, die den Insassinnen verschrieben wurden. Manchmal wird bei Maria morgens ein EKG gemacht. Nach dem Frühstück ist Zellenkontrolle. Wieder geht die Tür auf, die Vollzugsbeamten kontrollieren ihr Äußeres und die Sauberkeit der Zelle. 

    Von 8:30 bis 9:00 Uhr wird sie zum Spaziergang in einen Innenhof geführt, der 1,50 mal 1,50 Meter groß und oben übergittert ist. Wer in Isolationshaft ist, dem steht nur eine halbe Stunde täglich zu. „Spaziergang ist zu viel gesagt. Eher eine halbe Stunde draußen stehen. Um diese Zeit kommt dort auch keine Sonne hin.“ 

    Nach dem Spaziergang sitzt Maria den ganzen Tag in der Zelle. Sie hat ein Handtuch, eine Zahnbürste und Zahnpasta, Toilettenpapier, (vielleicht) einen Becher und ein Buch. In der Isolationszelle kann man während der Mahlzeiten mit Erlaubnis der Mitarbeiter Wasser kochen – aber nur, wenn es einen Wasserkocher gibt und man einen eigenen Becher hat. 

    Um zwölf Uhr wird das Mittagessen verteilt. Es gibt Fruchtkaltschale oder Kompott aus Trockenfrüchten, eine Suppe und ein Hauptgericht (zum Beispiel Plow). Abendessen gibt es um 18:00 Uhr, das kann zum Beispiel Kartoffelbrei und gebratener Fisch sein. Um 20:30 Uhr beginnt die Vorbereitung auf die Nachtruhe – Maria klappt ihr „Bett“ aus. Um 21:00 Uhr ist Schlafenszeit, das Licht in den Zellen bleibt jedoch an. 

    40 Rubel pro Monat für Einkäufe im Laden 

    Maria darf pro Monat 40 Rubel (eine Basiseinheit laut Art. 114 der Strafvollzugsordnung) von ihrem Konto für Einkäufe im Laden der Strafkolonie ausgeben. Lagerinsassen, die sich nicht in Isolation befinden, werden in den Laden begleitet und dürfen sich dort die Waren selbst aussuchen. Maria schreibt eine Liste, das Geld wird von ihrem Konto abgezogen, und die Vollzugsbeamten bringen ihr die Produkte in die Zelle. Da Maria das Angebot nicht so genau kennt, kann es vorkommen, dass es das Gewünschte nicht mehr gibt. 

    Wir haben im Online-Shop der Strafkolonie 4 die Preise studiert und uns überlegt, was Maria dort für 40 Rubel kaufen könnte: 

    – 10 Rollen Toilettenpapier: 4,60 BYN 

    – 1 Packung Damenbinden: etwa 4 BYN 

    – Zahnpasta und Zahnbürste: 10 BYN 

    – Duschgel: 6,50 BYN 

    – Shampoo: fast 8 BYN 

    Wenn sie in einem Monat alle Hygieneprodukte kaufen muss, bleiben ihr etwa sieben Rubel für Essen: 

    – Tee und Kaffee: etwa 15 BYN 

    – Buchweizenflocken: 3,50 BYN 

    – 1 Packung Quark: 2 BYN 

    – Dorschleberkonserve: 20 BYN 

    – 1 Kilo Orangen: etwa 7 BYN. 

    Sie könnte zum Beispiel auch Chinakohl kaufen, für 7 Belarussische Rubel das Kilo. Oder Weißkohl für 1,5 Belarussische Rubel das Kilo, der aber schwerer und daher pro Stück teurer ist. 

    Dem Gesprächspartner von Mediazona zufolge kann Maria sich von den Hygieneprodukten Seife (die auch als Shampoo dient), Duschgel und Deodorant leisten. Toilettenpapier braucht man auf Vorrat, es ist vielseitig verwendbar, auch als Taschentuch und Slipeinlage“. Von den Nahrungsmitteln kauft sie die billigsten Kekse und Tee, Kaffee ist hingegen ein „großer Luxus“. „Letztlich muss sie sich entscheiden: entweder essen oder Haare waschen oder Toilettenpapier“, sagt der Gesprächspartner.

    „Die Situation ist nicht hart, sondern extrem gefährlich“ 

    Für den Aufenthalt in einer Isolationszelle legt die Strafvollzugsordnung eine maximale Dauer von sechs Monaten fest. Maria wurde jedoch weder nach einem halben noch nach einem Jahr entlassen. Unter gewöhnlichen Haftbedingungen – also nicht in Isolationshaft oder in der Strafzelle – leben die Frauen zu mehreren Dutzenden in sogenannten Baracken. Sie werden zur Arbeit, in den Speisesaal, in den Klub, in den Laden geführt. 

    Den Informationen von Mediazona zufolge wird Maria Kolesnikowa noch immer in Isolationshaft gehalten – bereits anderthalb Jahre lang. Fast die gesamte Zeit hat sie allein in der Zelle verbracht. Bekannt ist, dass einmal eine „zänkische“ Insassin in ihre Zelle einquartiert wurde. Kurz bevor Maria eigentlich aus der Isolation in ihre Gruppe zurückkehren sollte (am 10. März 2024), wurde sie wegen Respektlosigkeit dem Personal gegenüber mit drei Tagen Haft in der Strafzelle (SCHISO) bestraft. Ehemalige politische Gefangene erzählen, dass man im Grunde für alles gerügt werden kann, was man zum Gefängnispersonal sagt. Zum Beispiel für die Anrede „junger Mann“. Nach der Strafzelle kam Maria wieder in die Isolationszelle (PKT). 

    „Diese Situation ist nicht hart, sondern sie ist extrem gefährlich. Natürlich warten sie auf ein Reuebekenntnis von Mascha“, mutmaßt der Gesprächspartner. Den letzten Brief von Maria erhielten ihre Angehörigen am 15. Februar 2023. Sie selbst darf keine Post erhalten, ein Anwalt wird nicht vorgelassen. 

    Marias Schwester Tatjana Chomitsch schrieb dazu [auf Facebook]: „Meines Wissens leidet Maria in der Kolonie an Hunger. Sie wiegt 45 kg bei einer Größe von 1,75 m. Ihre Krankheit erfordert eine Diät, daher kann sie von der Gefängnisverpflegung nicht viel essen. […] Jemandem mit Magengeschwür Lageressen zu geben, ist praktisch Folter und ein langsamer Mord. Jemandem das Recht zu entziehen, seiner Familie zu schreiben, beschleunigt diesen Tod.“ 

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  • Greift Lukaschenko in den Krieg ein?

    Greift Lukaschenko in den Krieg ein?

     

    Rund ein Drittel der belarussischen Armee – die offiziell rund 65.000 Soldaten umfasst – soll die belarussische Staatsführung an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen haben. Das ukrainische Außenministerium warnte Lukaschenko vor einem „tragischen Fehler" und forderte, die Truppen wieder abzuziehen. Erst im Juli hatte Belarus seine Soldaten von der Grenze zur Ukraine abgezogen. Belarussische Beobachter halten das Manöver für psychologische Kriegsführung. Das Drohszenario, das möglicherweise auf Geheiß des Kreml inszeniert wurde, solle zusätzlichen Druck auf die Ukraine ausüben und Unruhe stiften. Die Frage aber, die sich alle stellen, ist: Ist es vorstellbar, dass Lukaschenko doch noch mit eigenen Truppen in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eingreift? 

    Igor Lenkewitsch vom belarussischen Online-Medium Reform hat dazu eine klare Meinung. 

     

    Eine vollständige Invasion in die Ukraine 

    Solch ein Szenario wäre Lukaschenkos Selbstmord. Selbst nach konservativen Berechnungen übersteigt die Zahl der ukrainischen Truppen an der Grenze zu Belarus die gesamte belarussische Armee um ein Vielfaches. Überhaupt die ganze Armee, inklusive Verwaltungsangestellter und Militärausbildern. Selbst wenn das belarussische Regime 30.000 Soldaten für einen Angriff zusammenziehen könnte, würde die kampferprobte ukrainische Armee diese in wenigen Tagen aufreiben. Darüber, dass die Grenze massiv befestigt und vermint ist, spreche ich schon gar nicht. 

    Experten haben wiederholt auf die unterschiedlichen Szenarien hingewiesen, unter denen Lukaschenko gezwungen wäre, aktiv in den Krieg einzutreten. Zum Beispiel könnte Putin im Falle eines katastrophalen Scheiterns der russischen Armee seinen Partner zwingen, sich einzubringen. Andererseits wäre aber auch ein Verrat nicht abwegig: Bei einer Niederlage Russlands wäre Lukaschenko der erste, der seinem „großen Bruder“ einen Dolch in den Rücken stößt. 

    Tatsächlich aber wäre das einzig plausible Szenario, in dem der belarussische Machthaber persönlich einer Teilnahme am Krieg zustimmen würde, der Einzug in Kyjiw als Triumphator auf den Schultern eines überwältigenden Sieges der russischen Truppen. Sozusagen, um rechtzeitig seinen Teil des Kuchens abzubekommen. Aber diese Fantasien wurden schon in den ersten Tagen des Krieges zerstört. Und nichts spricht dafür, dass sie jemals Realität werden könnten. 
     

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