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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Europas Waisen

    Anka Upala ist eine bekannte zeitgenössische belarussische Schriftstellerin. Ihr Pseudonym ist eine Anspielung auf Janka Kupala, einen klassischen Autor der belarussischen Literatur.   

    Auch Anka Upala musste Belarus wegen der Repressionen verlassen, das Lukaschenko-Regime verfolgt Autoren und verbietet Literatur. „Ich will eine andere Zukunft”, schreibt sie. „Genauer gesagt, ich möchte einfach eine Zukunft, nicht nur Szenen aus der Vergangenheit.” In ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft fragt sie sich, was von dem Wandlungsprozess, der 2020 angestoßen wurde, geblieben ist. 

    Die deutsche Übersetzung und belarussische Originalversion des Essays werden zeitgleich mit der schwedischen und englischen Übersetzung veröffentlicht, die der Svenska PEN möglich gemacht hat. 

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Wundersame Tiefseefische mit Laternen über den Köpfen steigen nach einer Unterwasserkatastrophe vom Meeresboden auf und werden ans Ufer gespült. Man findet sie plötzlich überall auf der Welt. So betrachte ich das Auftauchen der großen Menge meiner Landsleute im Ausland in den letzten Jahren, das durch die politische Krise in Belarus hervorgerufen wurde. 

    „Gestern habe ich Leute aus Belarus getroffen!“, sagt mein Berliner WG-Mitbewohner Matze, als ich morgens in die Küche komme, um mir einen Kaffee zu machen. 

    Matze hatte gestern Abend mit Freunden zu Hause Schnaps getrunken, danach gingen sie in eine Bar. Dort machte er dann diese anthropologische Entdeckung. 

    „Da waren zwei Frauen, sie saßen in einer Ecke. Ich ging hin und fragte sie: ‚Warum sitzt ihr hier so in der Ecke?‘ Sie sahen aus wie zwei Spioninnen!“ 

    „Wieso hattest du diesen Eindruck?“ 

    Matze überlegt. Dann antwortet er: 

    „Sie waren viel zu perfekt!“ 

    „Eine litauische Bekannte, die seit zehn Jahren mit einer Belarusin zusammen ist, sagte mir mal, dass die Belarusen sehr kontrolliert sind.“ 

    „Ja, genau. Sie waren irgendwie so unentspannt.“ 

    „Sie sind es so gewöhnt. Ich glaube, sie können im Ausland nicht so schnell entspannen. Aber sie waren schon aufgeschlossen und haben mit dir geredet, oder?“ 

    „Ja!“ 

     

    Längst Vergangenes empfinde ich heute oft, als sei es gestern gewesen, und die Gegenwart als sei sie eine Wiederholung. Seit der Siegeserklärung des Usurpators nach den letzten Wahlen hat ein neuer Durchlauf begonnen. Und es war schwerer als bei den vorangegangenen Malen. Sicher auch, weil es im Vorfeld diesen Hoffnungsschimmer auf Veränderungen gab. Und der ist verloschen.  

    Ich habe aufgehört, einen Ausweg aus der Zeit zu sehen. Wissen über die Vergangenheit scheint es irgendwie zu geben, irgendwie aber auch nicht. Die Menschen von heute scheinen nichts von den Erfahrungen ihrer Vorfahren zu wissen. Wir stehen einfach da und beobachten, wie sich die Mauer der Zukunft über uns schiebt, die wir aus uralten Büchern kennen, sie bedeckt den halben Himmel: die Repressionen, der Krieg, die pathologische Herrschaft, die Unmöglichkeit heimzukehren. 

    Erst war ich in Litauen, danach in Deutschland. Meine litauischen und deutschen Bekannten sagen, dass bald wieder ein neuer Weltkrieg beginnt. Meine Freundinnen in Belarus sagen nichts. Wenn wir uns zu Videogesprächen treffen, reden wir nicht mehr über das Furchtbare. In unseren Gesprächen gibt es fast keinen Krieg und kein Gefängnis. Die Haut ist zu dünn, man darf sie nicht berühren. Erwähne nichts, worauf du keinen Einfluss hast. Wie beim Briefeschreiben an politische Gefangene, als ich immer das Thema Essen vermied und nur über Alltagsdinge schreiben konnte. 

     

    Am Abend ist meine Stimmung mies, gerade habe ich in der S-Bahn Online-Nachrichten gelesen, darunter auch eine Prognose der Zukunft unserer Region. Ich beiße die Zähne zusammen und sage mir: „Lasst uns lesen.“ Unser Minsker Freundinnenkreis hat ein Ritual: Wir lesen uns gegenseitig vor. Weil wir das auch weiterhin per Video machen, lässt sich alles, was um uns herum passiert, besser aushalten. Gleichzeitig bekommt man noch eine kleine Impfung Vergangenheit. Eine Freundin schlägt ein Buch aus der Bibliothek auf, ich höre in Berlin zu. Herbstanfang 1915. Maxim Harezki, Die Kommunarden von Wilna:  

    Sie entlassen anscheinend die Verbrecher aus den Gefängnissen. Die Politischen bringen sie alle weg, niemand weiß, wie und wohin. Sehr geheim wird das erledigt, schrittweise und im Dunkel der Nacht. Irgendwohin fern der Front, ins tiefe Russland, vielleicht Sibirien, damit mein Vater mehr fröhliche Gesellschaft hat. 

    Kommt man zum Bahnhof, sieht man Berge von Sachen: Kisten, Körbe, Koffer, Pflanzen, russische Ikonen … Die gewichtige Obrigkeit und die reichen Leute nehmen in Privatabteilen Platz. Fressen und trinken wie vor dem großen Hunger. Fröhlich rufen sie: 

    „Nicht für lang!“ 

    „Bald kommen wir wieder!“ 

    „Wir werden wieder im schönen Wilna spazieren!“ 

    Dabei sind nachts schon dumpf die Kanonen zu hören … Das sind die Deutschen, sagte man, sie nehmen Kaunas ein … 

     

    Wenn alles schon einmal aufgeschrieben wurde, warum kann man dann nichts ändern? Ich will eine andere Zukunft. Genauer gesagt, ich möchte einfach eine Zukunft, nicht nur Szenen aus der Vergangenheit. Meine belarusische Großmutter überlebte den Zweiten Weltkrieg nur deshalb, weil sie durch ein Loch in der Scheunenwand entkam. Ich wuchs auf mit dem Gefühl, dass jede Person meiner Generation in Belarus eine solche Großmutter hat, die wie durch ein Wunder überlebt hatte. Das ist meine Norm. 

    Ich habe Belarus Ende letzten Jahres verlassen, ich hatte Glück. Großmutter, ich bin nach Deutschland geflüchtet! Bin dem Staat durch die Finger geschlüpft, die er nach mir ausgestreckt hat. Sie können mir nichts mehr tun. Aber die Menschen in Belarus haben keinerlei Schutz. Über jedem hängt ein Schwert, auch wenn das für die seltenen Gäste aus dem Ausland unsichtbar ist. Man sagt, sie staunen über Belarus, von dem sie – wenn überhaupt, dann nur Schreckliches gehört haben. Es gibt Restaurants, in den Geschäften mangelt es nicht an Lebensmitteln, die Menschen sind gut gekleidet, sie können lächeln und sogar lachen. Ringsum läuft scheinbar das Leben eines europäischen Landes weiter – denn das ist Belarus ja, auch wenn viele keine Ahnung von seiner Existenz haben. Nur auf der Ebene der Macht gibt es einen Bruch. In jedem Moment kann der Staat jeden beliebigen Menschen aus seinem Leben reißen und ihn zerstören, unter unmenschlichen Bedingungen festhalten, ihn und seine Angehörigen quälen, Arbeitsstelle, Besitz, Freiheit, Kontakte, Gesundheit und sogar das Leben nehmen. Die Person verschwindet und über ihr schließt sich das Wasser. Niemand in Belarus ist sicher. Die ausländischen Touristen sind keine Ausnahme. Ich erinnere mich noch daran. Man lebt mit einem Stein auf dem Herzen.  

    Die Tür ist zu. Wenn etwas passiert, kann die Mehrheit nicht fliehen. Es ist fast unmöglich, mit einem belarusischen Pass ein Schengen-Visum zu bekommen. Bislang stellen Deutschland und Italien noch Mehrfachvisa aus. Deutschland und Italien. Aber um ein deutsches Visum zu beantragen, muss man fast ein Jahr vorab einen Termin machen. Die Menschen stehen in einer endlosen Warteschlange, um sich in das Terminheft für die Beantragung eines italienischen Visums einzuschreiben. Es wird „Alehs Heft“ genannt, nach dem Namen des Botschaftsmitarbeiters, der es führt. Wie in einem Fantasyroman. 

    In furchtbaren Zeiten gibt es furchtbar viel Literatur. Früher habe ich häufig darüber nachgedacht, wie die belarusischen Schriftsteller, die in den 1930er Jahren während der stalinistischen Repressionen erschossen wurden, so viele herausragende Werke schreiben konnten, obwohl sie so jung gestorben sind. Mein Lieblingsprosaautor, Lukasch Kaljuha, bekannt für seine besondere, außergewöhnlich reiche Sprache, wurde verhaftet und in die Verbannung geschickt, als er gerade 23 Jahre alt war, erschossen wurde er mit 28. Wenn ich an ihn denke, könnte ich weinen wie um jemanden, den ich persönlich kannte. Es war so lustig mit ihm, als wir seine Texte lasen. Maxim Harezki war 37, als er verhaftet wurde, mit 45 wurde er erschossen. Harezki zu lesen ist wie eine Zeitreise. 

    „Ich habe die Theorie“, sagte meine polnische Freundin und Dichterin Natalia, „dass Autoren, die früh im Leben harte Erfahrungen machen, auch früh als Schriftsteller reifen.“ 

    Mir wäre das nicht in den Kopf gekommen. 

     

    Eine Woche bevor der litauische Migrationsdienst mich nach Deutschland abschob, ging ich auf die Suche nach dem Ort, an dem im Jahre 1864 die Führung des Russischen Imperiums den Revolutionär Kastus Kalinouski erhängte, der für die Belarusen die Idee der nationalen Unabhängigkeit personifiziert. An dem Platz im Vilniuser Stadtteil Lukiškės, wo damals der Galgen stand, stehen heute das Konservatorium und, im Gebäude, das ehemals den KGB beherbergte, das Genozid-Museum. Ich setze mich auf eine Bank und schaue über den Platz. Wenn keine Veränderungen kommen, dann trennt die Zeit gar nichts, vor 160 Jahren ist gleich gestern. Als man Kalinouski vor der Hinrichtung einen Adeligen nannte, widersprach er: „Bei uns gibt es keinen Adel, alle sind gleich!“ Ein Idealist. Zum Zeitpunkt seines Todes war er gerade sechsundzwanzig Jahre alt. Er hatte früh harte Erfahrungen gemacht. 

    Vor Kurzem kam ich hierher nach Lukiškės zu einem Konzert, um den litauischen Sänger Silvester Belt zu sehen und zu hören. Nach meinem Geschmack hatte Litauen dieses Jahr den elegantesten Beitrag zum Eurovision Song Contest. Mir gefällt, wie Silvester sich kleidet, wie er seine Schultern bewegt, ich mag sein feines Gesicht und besonders seine litauische Sprache. Sie klingt wunderschön. Er singt vom aufgeschobenen Leben. Sein lyrischer Held wird gebeten, ein wenig zu warten, und noch ein wenig, immer „morgen, morgen, morgen“. Ein Tag vergeht, und noch einer, und nichts ändert sich.  

    Silvester Belt ist der erste offene LGBTQ+Sänger in der litauischen Geschichte, der im nationalen Vorentscheid für den ESC ausgewählt wurde, aber er hat auch Mobbing erfahren. „Ich bin ein Beispiel für das progressive Litauen“, wandte er ein, als ihm in einem Interview gesagt wurde, seine Heimat sei nicht das progressivste Land in Europa. „Ich bin hier, um euch zu unterstützen“, sagte er zu den Menschen in Litauen, die er repräsentiert, „denkt nicht, dass ihr schlechtere Menschen seid als die anderen.“ Ich schaue im Internet nach, wie alt er ist. Der Typ ist 26. In seinem roten Anzug brennt er auf der Bühne, wie das Feuer seines Mutes. 

    Klassische Musik dringt aus dem Fenster des Vilniuser Konservatoriums. Von klassischer Musik zu Protesten „Für unsere und eure Freiheit!“ ist es nur ein Schritt. 

     

    2017 fanden litauische Archäologen die sterblichen Überreste der Aufständischen von 1863, darunter auch Kalinouskis. Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt, der Körper mit Kalk bedeckt. Die russischen Machthaber hatten beschlossen, die Leichen nicht weit zu transportieren, und vergruben sie mitten im Herzen von Vilnius, auf dem Gedyminas-Hügel. Man fand sie zufällig, nach einem Erdrutsch am Hang des Hügels. Die Umbettung fand zwei Jahre später statt. Alle Staaten, für die der Aufstand von Bedeutung ist, sandten offizielle Vertreter, aus Polen und Litauen waren die Präsidenten anwesend. Aus Belarus kam der stellvertretende Premierminister, mit anderen Worten: Niemand. Die Grabsteine der Aufständischen sollten in polnischer und litauischer Sprache beschriftet werden, nicht auf Belarusisch, denn der belarusische Staat hatte keine offizielle Anfrage gestellt. So läuft das. Belarusische Aktivisten, deren weiß-rot-weiße Flaggen auf dem Begräbnis dominierten, erreichten schließlich Inschriften in belarusischer Sprache. „Wir haben Briefe geschrieben!“, bestätigt mein Vilniuser Kollege Uladsislau. Der litauische Staat hatte sie ernstgenommen. Der belarusische hingegen machte keinerlei Ansprüche auf den Aufstand für nationale Unabhängigkeit geltend, dessen Geschichte wir mit unseren Nachbarn teilen. Idealerweise sollten sich belarusische Politiker mit Diplomatie beschäftigen und gemeinsam mit den litauischen Kollegen ein für beide Seiten akzeptables Narrativ unserer gemeinsamen Vergangenheit entwickeln, damit wir wie gute Nachbarn und Freunde in gegenseitigem Respekt nebeneinander leben können. Das Problem ist nur, dass es im belarusischen Staat keine belarusischen Politiker gibt. 

     

    Wenn ich außerhalb von Belarus bin, ist eine meiner stärksten Empfindungen das Gefühl der nationalen Verwaisung. 

    „Was weißt du über Belarus?“, fragt der slowakische Schriftsteller Pavel die österreichische Dramaturgin Miriam. 

    Pavel und Miriam habe ich während eines Stipendiums am Literarischen Colloquium Berlin kennengelernt, wir verbringen viel Zeit mit Gesprächen. 

    „Tut mir leid, aber eigentlich nur, dass dort Diktatur herrscht. Ich habe vorher noch nie jemanden aus Belarus getroffen“, antwortet Miriam. 

    „Kennt ihr diese Europakarten im Internet, die sich über die verschiedenen Länder lustig machen“, sage ich. „Früher sind mir immer wieder welche aufgefallen, die einen Witz zu jedem Land hatten, nur über Belarus gab es nichts. Manchmal war es einfach grau schraffiert. Im Ausland war über das Land also so wenig bekannt, dass man sich nicht mal Witze darüber ausdenken konnte. Wir sind die Waisen Europas. Wir haben keine nationalen, probelarusischen Staatsvertreter, die unser Land in der Welt repräsentieren und ein belarusisches Narrativ verbreiten könnten. Ich sehe keine andere Erklärung dafür, dass das Land auf der Welt so wenig bekannt ist.“ 

    Der Hauptgrund dafür, dass Belarus global eine terra incognita bleibt, ist aus meiner Sicht die Dysfunktionalität des Staates als nationale Vertretung. Staaten unterhalten als Institutionen Beziehungen, tauschen offizielle Anfragen aus, verteidigen ihre Kultur und Geschichte, machen das Land präsent und sichtbar auf dem internationalen Parkett. Findet all das nicht statt – ist das Land nicht „lokalisierbar“. 

     

    Im Museum der Wannseekonferenz in Berlin, dem Gebäude, in dem die Nationalsozialisten 1942 die Entscheidung über die „Endlösung der Judenfrage“ trafen, hatte ich die subjektive Empfindung, dass Belarus dort nur als Territorium präsent ist. Ich konnte die „Stimme“ Israels, Polens, Deutschlands hören, aber nicht Belarus. Und das kommt mir seltsam vor. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatten wir einen enorm hohen Anteil an jüdischer Bevölkerung. Jiddisch war eine der Amtssprachen in Belarus. Die belarusischen Kleinstädte sind gefüllt mit Geschichten von ermordeten Juden. Ich erinnere mich, wie ich an einem der Massengräber stand. Ein Einwohner erzählte, dass einmal ein Fundament für ein Denkmal für die Ermordeten gesetzt werden sollte. Als man zu graben begann, kündigten die Bauarbeiter vor Schreck, weil man gar nicht graben konnte, Jahrzehnte nach den Verbrechen hob der Bagger anstelle von Erde unverweste Leichen aus. Man entschloss sich, kein Fundament zu setzen, und legte einfach Betonplatten auf die Fläche. 

    Wer wird in dieser Geschichte für Belarus sprechen? Ohne offizielle Vertretung ist das schwer. Das Tsichanouskaja-Team, eine probelarusische, protostaatliche Struktur, befindet sich im Exil in Litauen, in einem Schwebezustand. Die Zivilgesellschaft ist in Geiselhaft einer „bewaffneten, kriminellen Vereinigung“, die auf finanzielle, militärische und ideologische Unterstützung von Putins Staat zählen kann. 

    Die Geschichte der letzten Jahre hat gezeigt, dass die belarusische Gesellschaft weit entfernt ist von Infantilität. In Zeiten von COVID und den Protesten 2020 bewiesen die Menschen eine große Fähigkeit zur Selbstorganisation. Auf der Makroebene werden die Interessen eines Landes aber nicht von Aktivisten vertreten. 

    Nationale Verwaisung empfinde ich auch deshalb, weil beim kürzlichen Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen Belarus vergessen wurde. Bei vielen von uns löste das einen Schock aus. Belarusische politische Gefangene leiden und sterben in Isolation. Wir sind durchsichtig. Tsichanouskajas Team wurde ignoriert. Für die Akteure der internationalen Politik ist eine Regierung im Exil keine ausreichende Vertretung, ein vom Nachbarland abhängiger Diktator ebenso. Deshalb gerät alles ins Stocken. Für andere Staaten ist nicht klar, wohin sie Anfragen bezüglich einer Zusammenarbeit mit unserem Land richten sollen. 

     

    Ich denke, ein bislang unreflektiertes Ergebnis der belarusischen Proteste 2020 ist, dass das Land, als es sich für eine kurze Zeit im Zentrum der Weltöffentlichkeit wiederfand, plötzlich mit anderen Augen auf sich blicken konnte, wie ein Beobachter von außen. „Wer seid ihr?“ – diese Frage stand im Raum. 

    Und wir begannen, Antworten zu suchen. Nicht nur für die anderen, sondern auch für uns selbst. Um uns selbst dadurch besser zu verstehen. Bis heute beantworten die Belarusen diese Frage, als politische Geflüchtete und Arbeitsmigranten über die Welt verteilt, vergleichen sie sich mit den Kulturen, in denen sie gestrandet sind. Und bis heute beantworten sie diese Frage, wenn sie in Belarus geblieben sind. 

    Eine Freundin beobachtete kürzlich in Minsk folgende Szene: Eine Gruppe junger Menschen steht an einem Fußgängerüberweg, keine Autos in Sicht. Zwei von ihnen halten es nicht aus und gehen bei Rot über die Straße. „Jungs, ihr seid keine Belarusen!“, rufen ihnen die anderen zu, die auf Grün warten. 

    Noch vor Kurzem wussten die Belarusen nicht so recht, worin sie sich von anderen unterscheiden, welche Verhaltensmuster typisch für sie sind. Jetzt haben sie es herausgefunden. 

    Ein bekannter, aber aus meiner Sicht bislang unterschätzter Fakt ist, dass Maryja Kalesnikawa, eine der Anführerinnen der Proteste gegen die Diktatur, 2020 zum ersten Mal in der Geschichte sagte: „Belarusen, ihr seid unglaublich!“ Später begegnete mir eine sarkastische Kritik dieser Aussage, sie sei selbstverliebt, aber diese Ansicht teile ich nicht. Ich halte diese Äußerung und die Reaktion darauf für einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte des Landes. Die Menschen in Belarus haben sich nie für großartig gehalten, nun haben sie sich zum ersten Mal in der Geschichte so gesehen. Ist das etwa nicht bedeutend? 

     

    Mit Kolleg:innen aus verschiedenen Ländern sitzen wir auf der Terrasse des Literarischen Colloquiums in Berlin. Wir schauen auf den Wannsee, über den sich schon ein Streifen Sonnenuntergang gelegt hat. Bald werde ich in meine Berliner Bleibe zurückkehren müssen. 

    „Was sagt man auf Belarusisch, wenn man anstößt?“, fragt mich Bojana aus Serbien. 

    „Häufig sagt man Budzma!, aber mir gefällt eine andere Variante, Šanujmasja!“ 

    „Und was bedeutet das jeweils?“ 

    „Das erste heißt „Seien wir!“, das zweite „Respektieren wir uns!““ 

    „Gefällt mir beides!“ 

    Klingt nach einem Plan. 

     

     

    ANMERKUNG DER REDAKTION: 

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet. 

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    Die meisten Journalisten haben Belarus seit Beginn der Repressionen im Jahr 2020 verlassen. Aber bis heute werden Medienschaffende verfolgt und festgenommen – erst kürzlich wurde die Journalistin Wolha Radsiwonawa zu vier Jahren Haft verurteilt. Die offizielle Anschuldigung: Beleidigung des Präsidenten und Diskreditierung des Landes.

    Seit ihrer Flucht nach Litauen, Polen oder Georgien arbeiten viele Medien aus dem Exil heraus. Sie sorgen dafür, dass es weiterhin Informationen darüber gibt, was in Belarus passiert. Wie prekär ist die Lage dieser Medien? Erreichen sie weiterhin ihr Publikum in Belarus? Welche Folgen hat die Verdrängung unabhängiger Medien für die belarussische Gesellschaft? Mit diesen Fragen befasst sich eine neue Studie, Wjatschelslaw Korosten fasst die wichtigsten Antworten für das Online-Medium Pozirk zusammen.

    Zum 1. Dezember 2024 waren in Belarus 1143 Medien registriert, so steht es auf der offiziellen Webseite des Informationsministeriums. 601 davon sind nichtstaatlich. Private Besitzverhältnisse bedeuten heute nicht automatisch einen kritischen Blick auf die Politik der Machthaber – man übt sich in Selbstzensur. Dennoch schrumpft dieser Bereich des Mediensystems im Land am schnellsten. Im September 2020 meldete das Belarusian Investigative Center mit Verweis auf das Informationsministerium noch 1927 Massenmedien, also 40,1 Prozent mehr als heute. Nichtstaatliche Medien gab es damals 1285 – innerhalb von vier Jahren ist diese Zahl also um 53,2 Prozent gesunken, auf weniger als die Hälfte.  

    Es liegt auf der Hand, dass hinter diesen Zahlen die repressive Ausmerzungspolitik der Staatsmacht gegen unabhängige, gesellschaftspolitische Medienformate steckt. Sie wurden als „extremistisch“ eingestuft, was die Fortführung der Arbeit im Land auf einen Schlag unmöglich machte und in vielen Fällen zum Umzug ganzer Redaktionen ins Ausland führte. Journalisten wurden verhaftet und zu Freiheitsstrafen verurteilt, aktuell sitzen 35 hinter Gittern. Personen, die diesen Medien Interviews geben, werden strafrechtlich verfolgt, für das Abonnement nichtstaatlicher Medien (de facto genügt es, sie zu lesen) werden Administrativstrafen verhängt, die in der Regel auch zum Verlust der Arbeitsstelle führen. 

    Die Zahl der Medienvertreter, die das Land verlassen haben, geht in die Hunderte. Daten des Belarussischen Journalistenverbandes (BAJ) zufolge gibt es aktuell 450-500 Emigranten mit diesem Hintergrund, mehr als 30 Redaktionen setzen ihre Arbeit im Ausland fort. Wie geht es ihnen in der Fremde? Vor welchen Herausforderungen stehen sie und wie gehen sie damit um? Welche Perspektiven hat die belarussische Medienbranche unter diesen Bedingungen? 

    BAJ: Ernsthafte professionelle und existenzielle Krise 

    Die Ergebnisse einer BAJ-Studie für 2024 bestätigen den Ernst der Lage. Die Befragung von 211 belarussischen Medienschaffenden in verschiedenen Ländern (Polen, Georgien, Litauen, ein geringer Anteil in Belarus) macht zwei Schmerzpunkte der Berufsgruppe deutlich:

    Erstens wird die Arbeit durch das Risiko der politischen Verfolgung sowie durch die Wahrscheinlichkeit, dass Angehörige Repressionen ausgesetzt werden, behindert. Zweitens generiert die journalistische Tätigkeit kein ausreichendes Einkommen, um im Ausland normal leben zu können. Diese Antworten gaben 67,3 Prozent beziehungsweise 62 Prozent der Befragten. 40 Prozent beklagten zudem eine sehr hohe Arbeitsbelastung.  

    Diese Statistik bestätigen auch die wiederkehrenden Meldungen über die desaströse Lage ganzer Redaktionen. Ende November schlugen Nowy Tschas und Malanka Media Alarm. Beide wählten den üblichen Weg – sie starteten eine Spendensammlung auf der Plattform des Solidaritätsfonds Bysol

    Die Belarussen reagierten zwar auf den Hilferuf, Spenden gehen bisher aber nur langsam ein. Auf diesem Weg wird man die großen Förderer, die mit jedem Jahr weniger werden, wohl kaum völlig ersetzen können. Im Laufe des Jahres machten bereits andere Medien auf ihre finanzielle Notlage aufmerksam: Reform, Plan B, Ex-press. Einige haben aus diesem Grund bereits ihre Arbeit eingestellt: KYKY, die belarussische Redaktion des polnischen Radio Wnet (Радыё Ўнэт), The Village Belarus. Schmerzhaft und nicht ohne Konflikte verläuft auch die Reformierung des Fernsehsenders Belsat, des größten belarussischsprachigen Medienoutlets im Ausland. 

    Zu den professionellen Herausforderungen kommen automatisch auch persönliche hinzu. 49,3 Prozent der Teilnehmenden der BAJ-Umfrage gaben an, psychische Probleme zu haben, 34,6 Prozent andere gesundheitliche Probleme, 33,2 Prozent Schwierigkeiten mit der Legalisierung im Ausland. Für 39,3 Prozent der Befragten erschwert die Sprachbarriere das Leben in der Emigration. „Die Umfrage zeigt, dass Journalistinnen und Journalisten eine ernsthafte professionelle und existenzielle Krise durchmachen“, erklären die Autoren der Studie. „Das liegt nicht nur an den politisch motivierten Repressionen und Risiken der Berufsausübung, der erzwungenen Emigration und der Trennung von Angehörigen und Arbeitskollegen, sondern in vielen Fällen auch am Fehlen einer stabilen Arbeit und Gesundheitsversorgung.“ 

    Die Machthaber nahmen den Medien die Möglichkeit zum Geldverdienen 

    Alexander Lukaschenkos Regime führt seinen Krieg gegen die unabhängigen Medien auf breiter Front. Neben der Stigmatisierung durch den „Extremismus“-Status und Repressionen gegen Mitarbeiter werden die Informationsplattformen auch weitestgehend von ihrem Publikum abgeschnitten.  

    Die Webseiten sind seit Langem blockiert, für das Abonnieren von Social-Media-Kanälen wird man in Belarus verhaftet, dazu werden unablässig Handys kontrolliert. Für finanzielle Unterstützung gibt es im Strafgesetzbuch gleich mehrere Artikel mit schweren, langjährigen Haftstrafen. All das führte dazu, dass man mit journalistischen Medieninhalten kein Geld mehr verdienen kann.  

    Bis 2020 verdienten die unabhängigen Medien nicht schlecht mit Werbung und steckten die konservativen Staatsmedien dabei locker in die Tasche. Werbekunden gingen viel lieber zu den privaten Anbietern, die ein breiteres Publikum hatten und qualitativ hochwertige, kommerziell erfolgreiche Spezialprojekte anbieten konnten. Deshalb konnten die nichtstaatlichen Redaktionen ohne einen Cent aus dem Staatsbudget und trotz Steuerlast finanziell auf eigenen Beinen stehen.  

    Dieser Boden wurde den Medien nun unter den Füßen weggezogen, von Eigeneinnahmen kann keine Rede mehr sein. Der belarussische Werbekunde kann nicht zu einer „extremistischen“ Plattform gehen – das wäre der direkte Weg in den Knast. Durch die Verbote sinkt die Zahl der Lesenden. Der Zugang zu den Informationsquellen ist nur eingeschränkt möglich. Deshalb stützt man sich nun hauptsächlich auf Spenden und Fördergelder.  

    In der demokratischen Welt mit ihren starken horizontalen Beziehungen ist diese Unterstützung gut ausgeprägt. Die Vertreter der Demokratiebewegung kämpfen bei internationalen Treffen ständig um ihren Erhalt. 

    Aber die Zeiten sind schwierig: In der Ukraine herrscht Krieg, in der EU sind auch russische Medienschaffende unterwegs, die vor Putins Repressionen geflüchtet sind. Sie sind auf Unterstützung aus denselben Quellen angewiesen. Auch georgische Journalisten werden womöglich demnächst Hilfe benötigen, wenn die herrschende prorussische Partei die Daumenschrauben weiter anzieht. Eine Kürzung der Unterstützung für belarussische Medien ist in dieser Situation und im fünften Jahr der Emigration also keine Sensation. Aus geopolitischer, strategischer Sicht begehen die internationalen Förderinstitutionen damit jedoch einen großen Fehler.  

    Die belarussische Propaganda übernimmt russische Praxis 

    Der grundlegende Unterschied in der Mediennutzung zwischen Belarus und Russland liegt in der Anfälligkeit der Bevölkerung für Staatspropaganda. In der belarussischen Medienwelt dominierten bis zu den Wahlen 2020 de facto unabhängige Ressourcen (die Auflagen der staatlichen Printmedien wurden durch Zwangsabonnements aufgeblasen, dem Staatsfernsehen glaubten viele nicht). Das erkannten die Machthaber später an, indem sie die Medien zum Sündenbock für die Massenproteste machten. Das Vertrauen in die Propagandisten war gering, da die Belarussen in den Jahrzehnten der Lukaschenko-Herrschaft gelernt hatten, nur dem zu trauen, was sie mit eigenen Augen gesehen hatten, und nicht der agitprop-artigen Fernsehberichterstattung. 

    In Russland arbeitete die Propaganda derweil raffinierter und mit größeren finanziellen Mitteln. Im Bereich der oppositionellen Medien entstanden keine wirklichen Flaggschiffe mit einem Publikum, das mit dem Fernsehpublikum vergleichbar wäre. Es war nicht zuletzt diese Gehirnwäsche der Bevölkerung, die Präsident Wladimir Putin die stabilen Wahlergebnisse brachte, die den Angriffskrieg gegen die Ukraine möglich machten. 

    Nach 2020 bewaffneten sich die belarussischen Machthaber mit der russischen Praxis, das Publikum zu Zombies zu machen. Indem es die unabhängigen Medien zerschlägt und die propagandistischen Medien stärkt, versucht Lukaschenkos Regime, die Bevölkerung zu seiner primitiven Lehre zu bekehren. Wird das gelingen? Bislang sieht es nicht danach aus, aber hier spielt die Zeit eine wichtige Rolle. 

    Ungeachtet aller Bemühungen des Regimes kämpfen die unabhängigen Medien gegen deren Agitprop an. Die Publikumszahlen bleiben beachtlich, die Redaktionen verbreiten ihre Inhalte in verschiedenen Formaten, es entstehen immer neue Youtube-Kanäle, TikTok wird aktiv genutzt. Insgesamt zeigen die Medien im Exil gute Überlebensstrategien in Extremsituationen. Wenn sich aber die Trends fortsetzen, die sich in der BAJ-Umfrage abzeichnen, wird in der Informationsarena über kurz oder lang die Propaganda den Sieg davontragen. Damit würde die belarussische Gesellschaft, die vor vier Jahren den Willen zu demokratischen Veränderungen zeigte, der russischen immer ähnlicher – mit ihrer dominierenden Mentalität von Untergebenen anstelle von Staatsbürgern. 

    Den Medienmanagern sind Grenzen gesetzt 

    Am 30. November behauptete der Chef des staatlichen Rundfunkunternehmens Belteleradiokompanija, Iwan Eismont, das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Medien nehme zu. Die Zahlen, die er nannte, verdienen im Prinzip nicht mehr Vertrauen als jeder andere Propagandainhalt, dennoch haben sie Unterhaltungswert. 

    „Diesen Daten der Soziologen zufolge vertrauen bereits mehr als 50 Prozent der Bevölkerung den staatlichen Medien. Ich ziehe diese gut 50 Prozent nicht in Zweifel, weil wir das schwarz auf weiß auf feindlich gesinnten Plattformen sehen, wir sehen über die letzten Jahre ein großes Vertrauenswachstum“, sagte der Beamte. 

    Damit bestätigt er zumindest zwei Dinge: Erstens gibt er zu, dass bis vor Kurzem die Belarussen den offiziellen Medien nicht vertrauten. Zweitens erklärte er faktisch, dass nach vier Jahren vernichtender Repressionen, trotz Zerschlagung und Verboten, die unabhängigen Medien weiterhin gefragt sind und einen ernsthaften Einfluss auf die öffentliche Meinung in Belarus haben. Wäre es auch nur geringfügig anders, hätte Eismont bereitwillig 70 oder 80 Prozent Unterstützung vermeldet. Man kann es ja doch nicht überprüfen. Aber aus irgendeinem Grund spricht er von „gut die Hälfte”.  

    Aus dieser Perspektive stellt sich die Lage der Medienbranche überhaupt nicht kritisch dar. Eine andere Sache ist, dass es für die unabhängigen Journalisten in ihrer fragilen Lage immer schwieriger wird, mit der privilegierten Staatspropaganda zu konkurrieren. „Die belarussische Medienbranche erlebt eine kritische Zeit und bedarf infrastruktureller Veränderungen, neuer Herangehensweisen und Ressourcen zur Solidarisierung der Berufsgemeinschaften, technologischer und finanzieller Unterstützung“, heißt es in der erwähnten Studie des BAJ. Von so weit unten ist es schwer, positiv in die Zukunft zu blicken.  

    Der Vorsitzende des BAJ, Andrej Bastunez, sagte bei der Präsentation der Studie auf eine Frage von Pozirk, derzeit könne in Bezug auf den belarussischen Journalismus im Exil niemand Prognosen anstellen. Mit Verweis auf Experten meinte er, dass 2025 die Situation etwa auf dem heutigen Niveau bleiben werde, dabei aber eine Kürzung der Mittel um zehn Prozent möglich sei. „Was dann im Jahr 2026 sein wird, weiß man nicht“, sagte Bastunez. 

    Der stellvertretende Vorsitzende des BAJ, Boris Gorezki (belaruss. Barys Harecki), findet Zukunftsprognosen über die unabhängigen Medien ebenfalls schwierig: „Ausgehend von den vorliegenden Daten ist die Prognose unerfreulich. Die Probleme sind groß und bislang gibt es, sagen wir mal, keinen Grund zu der Annahme, dass da plötzlich irgendein Faktor ins Spiel kommt, der das Ruder herumreißt. Positiv betrachtet kann man sagen, dass es immerhin Medienorganisationen wie den BAJ gibt, die diese Probleme wahrnehmen. Und die Programme, die wir aufbauen, setzen direkt bei diesen Problemen an“, unterstrich der Medienmanager.

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    Im Osten Polens, an der Grenze zu Belarus, vermischen seit Jahrhunderten verschiedene kulturelle Einflüsse. Es ist eine Region, die sich eindeutigen Kategorien entzieht und die ihren Wert aus dem Dazwischensein zieht. Die polnische Fotografin Monika Orpik war dort in Podlachien unterwegs. Entstanden ist ein Fotoprojekt, das über die Grenze zwischen Frieden und Unterdrückung meditiert und den inneren Zustand von Migranten visualisiert, denen das Zuhause abhandengekommen ist. 

    Wir haben mit der Fotografin gesprochen und zeigen eine Auswahl von Bildern.  

    Fotos © Monika Orpik / Stepping out into this almost empty road
    Fotos © Monika Orpik / Stepping out into this almost empty road

    dekoder: Ihr Fotoprojekt Stepping Out Into This Almost Empty Road spielt in der Region des Białowieża-Waldes in Ostpolen – was ist das Besondere an dieser Gegend und warum hat sie Sie fasziniert? 

    Monika Orpik: Der Wald von Białowieża ist in erster Linie einer der ältesten naturbelassenen Wälder in Europa. Von der Geschichte, die die Bäume und die Landschaft dort in sich tragen, war ich schon als Kind begeistert. Diese Gegend in Ostpolen war immer geprägt von dem Übergang verschiedener Kulturen, Religionen und Sprachen. Es ist ein Gebiet, in dem die Geschichte von Polen, Belarus und der Ukraine verschmilzt. Der Urwald markiert die Grenze zwischen Polen und Belarus. Einige nennen es eine natürliche Grenze, für mich sind diese beiden Worte ein Widerspruch in sich. Ich denke aber, dass es diese Betrachtungsweise war, die einen der Anstöße für dieses Projekt gab: Fragen zum Thema Grenzen und das Hier und Dort scheinen nicht auf das Grün des Urwalds anwendbar zu sein. Der Zustand des Dazwischen, der diesen Ort ausmacht, war zu Beginn eine treibende Kraft. Später galt meine Neugier der belarussischen Gemeinschaft, die in der Region Podlachien an der Grenze zu Belarus lebt. Also fuhr ich dorthin und startete mein Projekt. 

    Welche Einstellung haben die Menschen in Ostpolen zu dieser Minderheit? 

    Ich komme aus Masuren, einer Landschaft nicht weit von der Region Ostpolen, auf die ich mich in meinem Projekt konzentriere. Kurz nachdem ich begann, das Material zu bearbeiten, fand ich heraus, dass meine Urgroßmutter aus Belarus kam. Sie hieß ebenfalls Monika Orpik; nach ihr bin ich benannt. Auch das zeigt den fluiden Charakter der Region, den ich erwähnt habe. Ich glaube, die meisten Menschen in Polen sind sich nicht bewusst, wie reich die Geschichte und Kultur dieser Region ist. Ihr Bild hat sich zum Schlechten verändert, seit an der Grenze der Zaun gebaut wurde. Und die Menschen distanzierten sich aufgrund der politischen Rhetorik rund um den Zaun noch stärker davon. Doch die Gemeinschaften in Ostpolen leisten hervorragende Arbeit, um ihr kulturelles und historisches Erbe zu fördern und zu bewahren. Immer mehr Menschen interessieren sich dafür, etwa für die Musik und die polyphonen Gesangstraditionen, und fahren deswegen dorthin. 

    Was wollten Sie vor allem zeigen? 

    Anfangs war meine Idee sehr vage. Ich interessierte mich vor allem für den symbolischen Wert des Waldes und die belarussische Gemeinschaft in der Region. Aus Zufall kam ich an dem Tag in Ostpolen an, um mein Projekt zu starten, als in Belarus die Wahlen stattfanden. Es entstand sofort eine Verbindung zwischen der belarussischen Gemeinschaft in Polen und den Menschen, die aus Belarus flohen. Das Thema Grenzen und Nachbarschaft floss ganz natürlich in die Gespräche ein, die ich mit den Protagonisten des Projekts führte. Für mich war interessant, dass diese beiden Gruppen (wobei ich sie nicht getrennt wahrnehme) so viel gemein hatten – Geschichte, Sprache, Kultur(erbe) –, und gleichwohl nicht miteinander kommuniziert oder koexistiert hatten. Gespräche über Migration und damit verbundene Erfahrungen wurden zum Herzstück der Arbeit.  

    Das Projekt umfasst auch Interviews mit Menschen aus der Region und mit Belarussen, die seit 2020 vor den Repressionen geflohen sind und jetzt in Warschau und anderen Städten leben. Welche thematischen Verbindungen zwischen den Gruppen wollten Sie herausarbeiten? 

    Ich habe die Protagonisten vor allem über ihr Verhältnis zur eigenen Geschichte befragt, zur Sprache, die sie sprechen, und zu ihren Ansichten über die Region. Als ich an den Interviews arbeitete, bemerkte ich, dass viele Geschichten von beiden Seiten der Grenze sich in vielerlei Hinsicht überlappen. Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass das Buch zwei Jahre nach Projektbeginn fertig wurde. Also hatte sich die politische Situation drastisch verändert: Mit dem Bau des Zauns an der Grenze und dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine. Für mich war wichtig, die Geschichte der Migration universeller zu zeigen – also habe ich die Interviews zu einem „kollektiven Ich“ zusammengeführt und alle geografischen Details entfernt. Durch diese Art der Bearbeitung wollte ich zeigen, dass Geschichten von Migration, ganz gleich, wo sie stattfinden, sich oft ähneln. Menschen, die diese Erfahrung machen, durchleben gleichermaßen diese Ängste und Hoffnungen. Und leider leben wir in Zeiten, in denen für alle das Zuhause bedroht sein kann, sei es aus politischen Gründen oder wegen der Klimakrise. 

    Die Fotos zeigen oft Dinge oder Objekte, keine Menschen. Welche ästhetischen Überlegungen haben Sie bei der visuellen Umsetzung der Projektidee geleitet? 

    Gleich zu Beginn des Projekts beschloss ich, dass ich mit den Protagonisten auf kooperative Art und Weise arbeiten möchte. Das bedeutete, dass wir uns zunächst ohne Kamera oder Diktiergerät trafen, um uns kennenzulernen und gegenseitig Vertrauen aufzubauen. Ich habe bei diesem Projekt zum ersten Mal mit Menschen zusammengearbeitet und sollte wohl auch erwähnen, dass ich keinen journalistischen Hintergrund habe. Deshalb nahm ich mir so viel Zeit wie nötig, um gemeinsam mit den Protagonisten einen Raum zu schaffen, in dem sich jeder von uns sicher und wohlfühlt. Einige, die ich traf, sind in einer sehr gefährlichen Lage, da politischer Widerstand in Belarus als Verbrechen gilt. Daher war für mich der ihre Sicherheit wichtigste Aspekt – davon war ich die Arbeit bestimmt: Die Protagonisten haben selbst entschieden, ob und wie sie portraitiert werden. Vielleicht sind nicht allzu viele Gesichter in dem Buch abgebildet, doch kann man die Protagonisten immer noch sehen – in den Landschaften und alltäglichen Objekten, die ich später fotografierte. 

     

    Fotografie: Monika Orpik 
    Bildredaktion: Andy Heller 
    Interview: Ingo Petz 
    Übersetzung: Hartmut Schröder 

    Veröffentlicht am 24.12.2024 

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    Das zynische Spiel mit der Migration

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    Das zynische Spiel mit der Migration

    Die Lage an der östlichen EU-Grenze ist nach wie vor angespannt. Das Lukaschenko-Regime hatte Mitte 2021 künstlich eine Migrationskrise herbeigeführt. Als Reaktion auf die scharfen Sanktionen, die die EU verhängte, nachdem Minsk eine Ryan Air-Maschine zur Landung in Belarus genötigt hatte, um den Blogger und Aktivisten Roman Protassewitsch festnehmen zu können. Bis heute versuchen Menschen aus Syrien, Afghanistan, aber auch aus Mali, nach Polen oder Litauen zu gelangen. Dabei kommt es immer wieder zu Gewalt, zu sogenannten Pushbacks und zu Toten. Viele verschwinden in den Grenzwäldern.  

    Warum nutzt das Regime in Belarus bis heute Flüchtlinge als politisches Druckmittel? Welche Rolle spielt Russland dabei? Warum hat die EU wenig Interesse, mit Lukaschenko darüber zu verhandeln? Eine Analyse von Waleri Karbalewitsch für das Online-Portal Pozirk

    Polen baut seit Sommer 2021 einen Zaun an der Grenze zu Belarus, um den Zustrom von Migranten zu stoppen / Foto © IMAGO / NurPhoto
    Polen baut seit Sommer 2021 einen Zaun an der Grenze zu Belarus, um den Zustrom von Migranten zu stoppen / Foto © IMAGO / NurPhoto

    Am 2. September kündigte der belarussische Außenminister Maxim Ryshenkow für November eine internationale Konferenz in Minsk an, die sich mit der Bekämpfung der illegalen Migration in der Region beschäftigen sollte. Eingeladen seien „alle Interessierten, inklusive der Nachbarländer, anderer Staaten der EU und der GUS“. Ferner sagte der Minister: „Wir hoffen auf die Teilnahme aller, die an einer Normalisierung der Situation an der Grenze interessiert sind.“ 

    Am 15. November war es so weit. Allerdings: Von westlicher Seite waren nur ein Mitarbeiter der britischen Botschaft sowie der ungarische Botschafter vertreten. Das Problem der illegalen Migration an der Grenze zwischen Belarus und den EU-Staaten ohne Beteiligung der europäischen Nachbarn zu diskutieren, kommt einem Scheitern der Ausgangsidee gleich. 

    Mit vorgespielter Empörung beschuldigt die belarussische Führung nun die westlichen Partner. Dabei hat sie das Problem selbst geschaffen – und sich einen so fragwürdigen Ruf erarbeitet, dass niemand mehr etwas mit ihr zu tun haben will.  

    Die Migrationskrise wurde vom belarussischen Regime künstlich herbeigeführt 

    Zur Erinnerung: Bis 2021 gab es keinerlei Probleme mit illegaler Migration an der Grenze zwischen Belarus und Polen, Litauen und Lettland. Die Migrationskrise wurde vom belarussischen Regime künstlich herbeigeführt. Lukaschenko hat viele Male öffentlich erklärt, er habe als Reaktion auf das feindliche Verhalten des Westens befohlen, Migranten aus dem globalen Süden nicht mehr daran zu hindern, die Grenzen zur EU zu überqueren. 

    Dabei ist unberechtigter Grenzübertritt in jedem Land eine Straftat. Migranten, die zum Beispiel die Grenze zu Polen überqueren, verletzen zwangsläufig zuerst die belarussische Grenze. Wenn die belarussischen Grenzbeamten die Rechtsbrecher nicht aufhalten, dann erfüllen sie ihre Funktion als Grenzschützer nicht. Mehr noch, sie verstoßen selbst gegen das Gesetz, indem sie die Straftat nicht unterbinden. 

    Der Schutz der Staatsgrenze gehört zu den grundlegenden Aufgaben eines Staates. Wenn die Machthaber sich weigern, sie zu erfüllen, zeugt das von einer unzulänglichen Staatsregierung. Der Angriff auf die EU-Außengrenzen mithilfe von Migranten stellt eine Art Spezialoperation gegen die Nachbarn dar. Das offizielle Minsk setzte sich ein Minimal- und ein Maximalziel. Ersteres bestand darin, sich an Europa, allen voran an den angrenzenden Staaten, für ihre Haltung zur innenpolitischen Krise in Belarus zu rächen. Die zweite, maximale Zielsetzung bestand darin, die EU zu Verhandlungen zu zwingen, deren Bedingungen der belarussische Machthaber diktieren wollte. Die Beteiligung der belarussischen Sicherheitskräfte an der Spezialoperation ist reichlich dokumentiert. 

    Es gab Situationen, da liefen Migranten in Kolonnen von mehreren tausend Menschen durch das Grenzgebiet, direkt auf der Fahrbahn, sammelten sich dann an der Grenze und versuchten, sie zu stürmen. Ohne Unterstützung von staatlichen Strukturen wäre das undenkbar gewesen. Selbst Innenminister Iwan Kubrakow räumte ein: „Wir gewährleisten die Absicherung, begleiten die Migranten bei ihren Streifzügen.“  

    Der Transfer der Migranten nach Belarus war bewusst auf Fließband gestellt worden. Nach EU-Informationen landeten im November 2021 wöchentlich mindestens 47 Flugzeuge aus den Staaten des Nahen Ostens in Minsk. Am 26. November des Jahres besuchte Lukaschenko das Transport- und Logistikzentrum nahe des Grenzübergangs Brusgi, wo temporär Migranten untergebracht wurden, um ihnen Geleit zu geben. Auf der improvisierten Kundgebung sagte der Machthaber: „Wenn ihr in den Westen wollt, werden wir euch weder einkesseln noch fangen oder schlagen. Es steht euch frei. Wenn ihr durchkommt, dann geht nur.“ 

    Als Motivation fügte Lukaschenko hinzu, täglich würden es bis zu 200 Menschen erfolgreich über die Grenze schaffen. Er sagte auch, dass Belarus 12,6 Millionen US-Dollar in die Unterstützung der Migranten stecken würde, und rief sie dazu auf, der Regierung jeglichen Hilfsbedarf zu melden. 

    Das Ausmaß der Krise hat sich verringert, aber … 

    In den vergangenen drei Jahren haben sich bezüglich der Situation an der Grenze zwischen Belarus und Polen, Litauen und Lettland einige Veränderungen ergeben. Der Zustrom an Migranten und die Zahl der Durchbruchsversuche im Grenzgebiet haben abgenommen. Heute kommen die Menschen nicht mehr direkt aus dem Nahen Osten nach Belarus, sondern über Russland, die meisten von ihnen haben russische Visa. Die Beteiligung Moskaus am hybriden Krieg gegen Europa mithilfe von illegaler Migration steht außer Zweifel. Etwa dasselbe Muster von Durchbrüchen wurde an der russisch-finnischen Grenze organisiert, nachdem Finnland der NATO beigetreten war. 

    Lukaschenko machte in den letzten Monaten widersprüchliche Aussagen. Einerseits ordnete er an, den Kampf gegen illegale Migranten zu verstärken. Die Silowiki ergriffen tatsächlich einige Maßnahmen, um den illegalen Aufenthalt von Migranten auf belarussischem Boden zu unterbinden. Auf der jüngsten Konferenz verkündete Ryshenkow: „Niemand kann Belarus heute vorwerfen, wir würden nichts tun. Wir tun sehr viel: unzählige Fluchtrouten wurden abgeschnitten, unzählige illegale Migranten wurden aufgegriffen.“ 

    Aber wenn die Machthaber viel tun und die Migranten trotzdem weiterhin unerlaubt die Grenze überqueren, bedeutet das, dass das Regime die Situation im Land nicht unter Kontrolle hat. Gleichzeitig erklärte Lukaschenko abermals, dass er die illegalen Migranten nicht vom Grenzübertritt in die EU abzuhalten gedenke, da Europa gegenüber Belarus eine feindliche Politik verfolge und weiterhin auf Sanktionen bestehe.  

    Das Problem bleibt akut 

    Warum ignorierten nicht nur Politiker, sondern auch Diplomaten der EU-Staaten, nicht zuletzt der direkten Nachbarländer von Belarus, die Konferenz zur Bewältigung der illegalen Migration? Ergänzend sei erwähnt, dass auch an der Eurasischen Sicherheitskonferenz, die am 31. Oktober in Minsk stattfand, keine offiziellen Vertreter der EU (außer Ungarn) teilnahmen. Auch auf die Freilassung eines Teils der politischen Gefangenen in den letzten Monaten reagierte der Westen verhalten. Doch das ist ein humanitäres Thema, es geht um Menschenrechte und betrifft die Interessen der Nachbarstaaten nicht unmittelbar. 

    Die Migranten, die über belarussisches Territorium in die EU kommen, sind hingegen ein schmerzhaftes Problem nicht nur in Polen, Lettland und Litauen, sondern auch in Deutschland. Innerhalb der Staaten haben sie heftige politische Auseinandersetzungen ausgelöst. Zur Eindämmung der illegalen Migration wird viel unternommen, bedeutende Ressourcen werden aufgebracht. An der Grenze werden Schutzzäune errichtet, den Grenztruppen werden Armeeeinheiten an die Seite gestellt, um die Migranten aufzuhalten. Von allen Problemen, die die Beziehungen zwischen Belarus und dem Westen heute belasten, ist die illegale Migration das akuteste. 

    Wenn also die belarussischen Machthaber die Nachbarn nach Minsk einladen, um die Bewältigung der Migrationskrise in der Region zu besprechen, wäre es vor diesem Hintergrund nicht angebracht, zu kommen? Aber nicht einmal die in Minsk vertretenen europäischen Diplomaten nahmen teil. Ryshenkow ließ beleidigt verlauten: „Leider hört man uns nicht an. Manch einer, der im Westen in dieser Richtung arbeitet, will uns gar nicht hören. Wir sind bereit, das Problem grundlegend zu analysieren, Lösungswege zu finden und gemeinsam zu handeln.“ 

    Minsk traut man nicht 

    Warum hört man also nicht zu? Vor allem, weil es im Westen ernsthafte Bedenken bezüglich der Handlungsfähigkeit des belarussischen Staates gibt. Man ist nicht überzeugt, dass Lukaschenko wichtige politische Entscheidungen wirklich eigenständig treffen kann. Entscheidet nicht doch Wladimir Putin alles? Welchen Sinn hat es dann, etwas mit Minsk zu besprechen? 

    Der Angriff auf die EU-Außengrenzen mithilfe von Migranten ist allem Anschein nach ein gemeinsames belarussisch-russisches Projekt, auch wenn die Rolle des Kreml in dieser Spezialoperation nicht wirklich klar ist. Ohne die Zustimmung Moskaus kann Minsk in dieser Sache jedenfalls kaum etwas ändern. Vor allem jedoch glauben die westlichen Nachbarn nicht an die Aufrichtigkeit des offiziellen Minsk und unterstellen ihm Heuchelei. Wenn die belarussischen Machthaber die Migrationskrise künstlich generiert haben, dann sollte es auch in ihrer Macht liegen, sie zu beenden. Es genügt eine Entscheidung Lukaschenkos, um die Grenzkontrollen wiedereinzurichten und alle Fragen obsolet zu machen. Dafür sind weder Konferenzen noch Gespräche auf höchster Ebene nötig. Der belarussische Staat müsste einfach nur seine Grenzschutzfunktion wieder wahrnehmen. 

    Dass sich die EU weigert, selbst ein akutes Problem mit Minsk zu besprechen, ist ein wichtiges Signal. Es zeugt davon, dass es in der Beziehung zwischen dem belarussischen Regime und der Europäischen Union heute eine Mauer, einen eisernen Vorhang gibt. Lukaschenkos Träume und Hoffnungen, dass eine neue Seite aufgeschlagen wird, es einen Neustart gibt, dass er anerkannt und in die Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine einbezogen wird, fallen im Westen auf keinen fruchtbaren Boden. 

    Das Außenministerium springt auf den Propagandazug auf 

    Im Grunde bestätigt bereits der Verlauf der Konferenz die Zweifel hinsichtlich der wahren Interessen des offiziellen Minsk in der Frage der illegalen Migration. Die Aussagen des Außenministers und anderer belarussischer Amtsträger bestätigen die Vermutung, dass es sich um eine reine Propagandaveranstaltung handelte. Die Staatsdiener leugneten jede Beteiligung der Staatsmacht an den Angriffen auf die Grenze, während sie im gleichen Atemzug den Westen aller Todsünden beschuldigten. 

    Innerhalb kürzester Zeit haben in Minsk also zwei internationale Konferenzen stattgefunden, zur eurasischen Sicherheit und zur Bewältigung der Migrationskrise. Und bei beiden handelte es sich um reine Propagandaveranstaltungen. Es gab weder neue Ideen noch Vorschläge. Das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten verwandelt sich immer mehr in ein Amt für außenpolitische Propaganda. Wenn der neue Außenamtschef die Aufgabe bekommen hat, die Beziehungen zum Westen aufzutauen, dann ist er bislang krachend gescheitert. Dafür wird die antiwestliche Propaganda immer aggressiver. 

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    „Die Zensur der Kultur ist mittelalterlich”

    Musiker und Künstler, Schriftsteller und Theatermacher waren wesentlich an den Protesten von 2020 in Belarus beteiligt. Viele Kulturschaffende mussten im Zuge der Repressionen das Land verlassen, andere wurden zu vielen Jahren Gefängnis verurteilt. Im Exil hat sich mittlerweile eine lebendige Kulturszene gebildet. Aber wie schafft es die Kultur im Land, unter immer drastischeren Zensurmaßnahmen zu überleben? 

    Sjarhei Budkin kennt sich in der belarussischen Kulturlandschaft bestens aus, er hat viele Jahre als Musikjournalist gearbeitet. Im Exil hat er die Organisation Belarusian Council for Culture mitgegründet, die sich für belarussische Kulturschaffende einsetzt. Mit ihm hat das Online-Medium Pozirk gesprochen.  

    Pozirk: Was für Musik kann man heute in Belarus gefahrlos machen? Geht auch etwas jenseits von Ideologie und Propaganda, oder nur der Stil von Lukaschenkos Schwiegertochter Anna Seluk? 

    Sjarhei Budkin: Es mag so aussehen, als würden in Belarus keine Songs, keine Theaterstücke, keine Gedichte geschrieben, aber so ist es nicht. Trotz allem gibt es selbst unter den aktuellen Rahmenbedingungen Inspiration und Reflexion, das kann man den Menschen nicht wegnehmen, nicht verbieten, nicht verschließen. 

    Eine andere Frage ist, wie all das an die Öffentlichkeit gelangen kann. Hier entstehen aus der Situation heraus unterschiedliche Formen und Formate der kreativen Existenz. So gibt es Wohnungskonzerte (kwartirniki) und Underground-Releases, aber auch Sachen, die vorerst in der Schublade liegen und nirgendwo zu sehen sind. Grundsätzlich kann man sagen, dass das kulturelle Leben in Belarus weitergeht und teilweise sogar sichtbar wird (wer suchet, der findet). Es gibt Live-Konzerte, es gibt richtige Alben, es gibt Events, die Musik und Literatur oder Musik und Film verbinden.  

     
    „Er ist der einzig Wahre auf der ganzen Welt” – ein Propaganda-Schlager, für den Anna Seluk den Text geschrieben hat. 

    Pozirk: Wie schätzen Sie die Situation der Kulturschaffenden ein – derjenigen, die in Belarus geblieben sind und abseits der Öffentlichkeit agieren, und derjenigen, die jetzt im Exil arbeiten? 

    Sjarhej Budkin: Ich bin dafür, zwischen Kreativen keine Trennlinien nach geografischen Gesichtspunkten zu ziehen, da wir ja die Prozesse im belarussischen Kulturbereich im Ganzen betrachten wollen. Diejenigen, die in Belarus geblieben sind, sind einfach anderen Existenzbedingungen ausgesetzt als die, die das Land verlassen haben. 

    Natürlich bedeutet es für alle eine Umorientierung, eine Selbstfindung unter neuen Bedingungen. Es ist fraglich, ob man den Beruf weiter ausüben kann. Die im Ausland sind mit Konkurrenz und Integrationsproblemen konfrontiert. Darauf waren viele nicht vorbereitet. Wir sind jetzt in einer Situation, in der wir uns in unserem Bereich faktisch von Neuem behaupten müssen, unser soziales Kapital ist auf null gesetzt. Gestern hast du noch in einer großen Halle gespielt, konntest in jeder beliebigen Stadt einen Saal füllen, heute spielst du in einer Bar vor fünf Leuten. Das ist sehr traurig, aber gleichzeitig ist man eben gezwungen, neue Formate zu suchen, sowohl in als auch außerhalb von Belarus.  

    Dass die belarussische Kultur auf ein völlig anderes Level zurückgeworfen wurde, steht außer Frage 

    Außerhalb des Landes reden wir da in erster Linie von Kooperationen: Leute aus denselben Bereichen lernen sich durch diese Umstände erst kennen. Wichtig ist, dass Belarussen aus dem In- und Ausland in gemeinsamen Projekten zusammenkommen. Die Ergebnisse werden wir erst mit einigem Abstand vollständig erfassen: Eine gewisse Zeit wird vergehen müssen, bis wir das genauer verstehen.  

    Aber dass die belarussische Kultur auf ein völlig anderes Level zurückgeworfen wurde, steht außer Frage. Ich bin da Optimist und sage, immerhin nicht um Jahrzehnte zurück, auch wenn die Zustände im Bereich der Zensur sicher mittelalterlich sind. 

    Man kann das alles zum Anlass nehmen, die aktuelle Zeit bestmöglich zu nutzen. Es entstehen neue Kontakte, verschiedenste Institutionen, Kraftzentren. Ich hoffe auf ein Institut zur Förderung der belarussischen Musik. Es gibt schon die unabhängige Filmakademie, das Buch-Institut, das Theater-Institut. Positiv betrachtet geschehen also recht interessante Dinge, von denen unsere gesamte Kultur profitieren wird. Aber ich würde noch keine Schlüsse ziehen, das steht alles noch in den Sternen. 

    Wie sieht aktuell die Zensur in Belarus aus? Gibt es noch die offiziellen „schwarzen Listen“? 

    Ich verfolge dieses Thema seit fast 30 Jahren. Als Veranstalter war ich mehrfach damit konfrontiert, aber offiziell wird niemand die Existenz solcher Listen bestätigen. Wenn es sie wirklich gibt, dann sind sie eher Empfehlungen. Niemand will seine Unterschrift daruntersetzen und sie damit legalisieren, da alle wissen, dass das auf jeden Fall ein Verstoß gegen die Verfassung und (auf lange Sicht) ein gesicherter Platz in der Geschichte der Zensur wäre. Aber trotzdem gab es diese Listen immer, und es gibt sie eben auch unter dem aktuellen Regime. Die Frage ist, durch wie viele Filter sie momentan laufen.  

    Es gibt Selbstzensur vonseiten der Veranstalter: Sie haben ja schon Erfahrungen, wer eine Tournee genehmigt bekommt und wer nicht. Es gibt Zensur direkt bei den Künstlern, die selbst wissen, ob sie mit ihrem Werk, ihrem Theaterstück oder ihrem Konzert an die Öffentlichkeit treten können. Und es gibt die unmittelbare ideologische Zensur, die sich auf mehrere Ebenen aufsplitten lässt. 

    Es gibt noch eine zusätzliche Zensur, ein relativ neues Phänomen, auch wenn es schon früher manchmal vorkam: Wenn nämlich der Veranstalter zwar alle genannten Zensurebenen durchlaufen hat, aber trotzdem eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass während der Präsentation, wenige Minuten vorher oder am nächsten Tag alles abgesagt oder einer noch stärkeren Zensur unterworfen wird. Es gibt absolut keine Spielregeln mehr. Als ich noch aktiv Konzerte veranstaltete, kannte ich wenigstens die Regeln. Ich wusste, wen man auf die Bühne lassen konnte und wen nicht. Aber jetzt gibt es keine Regeln mehr, oder sie ändern sich sehr schnell und man behält sie kaum im Blick. Im Vergleich zu früher also nichts Neues, nur brutaler und chaotischer. 

    Sjarhej Budkin leitet die Exil-Organisation Belarusian Council for Culture / Foto © privat 

    Auch ausländische Künstler sind wegen der Sanktionen der Zensur ausgesetzt. Dadurch sind russische Popstars, die oft den Krieg unterstützen und nicht gerade den hochwertigsten Content liefern, das Einzige, was sich die Belarussen kulturell erlauben können. Die Kunst- und Kulturszene ist also ausschließlich russisch. Kann das negative Auswirkungen auf den Geschmack der Leute haben?  

    Dazu reicht ein Blick auf die Webseite kvitki.by [kvitki = Tickets], dort sieht man deutlich, was in der Unterhaltungsindustrie und im Konzertsektor los ist. Schon 2021, als noch ausländische und russische Künstler nach Belarus kamen, die zu den Regimen von Putin und Lukaschenko eine klare Position vertraten, gab es darüber Diskussionen. Einerseits kann man Künstler, die nach Belarus kommen, als Unterstützer des Regimes betrachten. Andererseits können Künstler, die den „Geist der Freiheit“ in sich tragen, die Belarussen damit aufladen, denn es gibt unvorstellbar viele Belarussen, die diese Ideale teilen – demokratische Werte und dergleichen.  

    Es gibt in dieser Frage also keine eindeutige Antwort. Historisch betrachtet, können wir den Rolling Stones vorhalten, dass sie 1967 ein Konzert im kommunistischen Warschau gaben? War das ein Zeugnis ihrer Unterstützung des Imperiums, waren sie deshalb Stalinisten, Befürworter des Kommunismus? Man kann das ziemlich manipulativ in alle Richtungen deuten. Aber zweifellos wissen alle Künstler, die sich gegen den Krieg ausgesprochen haben, dass ihnen damit der Weg nach Belarus versperrt ist. 

    Was das belarussische Publikum angeht, wer Geschmack hat, versucht ihn beizubehalten. Wer keinen Geschmack hat, dem ist sowieso nicht zu helfen, der sieht sich nicht mal gratis etwas an, das Niveau hat. Schwieriges Thema … Den Menschen in Belarus fehlen sicherlich Live-Events, das kann man durch Online-Übertragungen nicht so einfach ersetzen. Deshalb müssen Bildungsprogramme und Netzwerke ausgebaut werden, um für Belarussen Möglichkeiten zu schaffen, wenigstens für kurze Zeit aus dem Land zu kommen, frische Luft zu atmen, Inspiration zu bekommen und dann motivierter an die Arbeit zu gehen. 

    Wie beurteilen Sie die Situation der Kreativen im Exil? Welche Tendenzen sehen Sie? 

    Das müsste man jährlich abfragen und auswerten, weil sich die Situation stetig verändert. Was wir im Verlauf der letzten drei Jahre beobachten konnten: 2021 mussten wir die völlige Zerschlagung des Kultursektors mitansehen, die Zerstörung des Nationaltheaters, den Stopp jeglicher schöpferischer Arbeit, die Auflösung von Kulturvereinen. Aber ein, zwei Jahre später lebten die Belarussen an neuen Orten im Ausland wieder auf. Der Sektor hat sich selbst regeneriert, und 2023 gab es schon etwa 200 neue Kulturorganisationen, gegründet von Belarussen im In- und Ausland. 

    Kultur entsteht nicht aus Direktiven, sondern aus dem Herzen 

    Vereine, die aufgelöst wurden, gingen ins Ausland und gründeten sich dort was Neues. Dafür gibt es viele Beispiele. Wer geblieben ist, hat andere Formen der Existenz gefunden. Diese Fähigkeit, aus eigener Kraft wieder auf die Beine zu kommen, ist typisch für unsere Leute und etwas sehr Inspirierendes. In Polen wurden ganze Marken neu oder wiedererschaffen – Verlage oder Festivals. Es gibt fünf große Festivals, die nicht nur auf Belarussen ausgerichtet sind, sondern die Begegnung zwischen Polen und Belarussen fördern. Die Theaterszene haben die Kupalaucy im Griff, auch wenn der Abstieg vom Nationaltheater zu so einem Provisorium nicht so leicht ist.  

    Diese Beobachtungen zeigen: So sehr man auch vergiftet, planiert, verbietet, vernichtet – es wächst doch wieder nach, was Lebendiges. Kultur entsteht nicht aus Direktiven, sondern aus dem Herzen. Solange die Menschen dafür kämpfen, ihren Beruf auszuüben, sich auszudrücken, irgendwie Wege zur Selbstverwirklichung zu finden – solange werden wir viele interessante und herausragende Projekte erleben, die es ohne die Ereignisse von 2020 vielleicht nie gegeben hätte. 

    Ihre Prognose ist also positiv? 

    Ich versuche, bei dieser positiven Sicht zu bleiben, obwohl die Kehrseite all dessen vermutlich Armut ist. Die Menschen sind in alle Welt verstreut, sie sind unvorbereitet, stehen vor Fragen der Legalisierung, der Wohnungssuche, all das hinterlässt Spuren. Aber ich bemühe mich, optimistisch zu bleiben, und letztlich beweisen viele Menschen tatkräftig, dass man auch ohne Staat und große Unterstützung, für Geld, für das andere nicht mal vom Stuhl aufstehen, Großartiges leisten kann.  

    Was wird aus der Kulturszene in Belarus, wenn das Regime an der Macht bleibt? 

    Wir haben Polen als Beispiel vor Augen: Das Land besaß mehr als 150 Jahre keine Eigenstaatlichkeit, aber die Menschen konnten Kultur und Sprache bewahren. Bei uns sind gerade mal vier Jahre vergangen, das ist im Vergleich gar nicht so schlimm. Alles hängt von jedem Einzelnen ab. Jeder kann individuell einen Beitrag leisten, um die Kultur zu bewahren und sie weiterzugeben, indem er zum Beispiel seinen Kindern belarussische Lieder vorsingt oder belarussische Bücher und Alben kauft, die es ja nach wie vor gibt. 

    Was macht einen belarussischen Künstler heute aus, wie gestaltet sich sein Schaffen? 

    Für mich gibt es ungefähr drei Kategorien von Künstlern. Die erste Kategorie arbeitet ausschließlich für ein Publikum, das sich im Ausland, im Umfeld der Diaspora gebildet hat, und das reicht ihnen, sie wollen nicht mehr. 

    Die zweite Kategorie betrachtet das belarussische Publikum als Fundament und versucht, es um russisch-, ukrainisch- oder auch polnischsprachiges Publikum zu erweitern. Sie bemühen sich, in diesen Sprachen Lieder zu schreiben oder mit Künstlern aus diesen Ländern zu kooperieren. Die dritte Kategorie arbeitet ausschließlich für den westlichen Markt und positioniert sich nicht als belarussische Künstler, sie haben ein breiteres Publikum. Jeder dieser drei Wege ist sinnvoll.  

     
    Der Song Ja wychashu von Alexander Pomidoroff in Erinnerung der Proteste von 2020. 

    Als der Musiker Alexander Pomidoroff kürzlich erkrankte, musste er seine Landsleute um Unterstützung bitten. Wie machen die belarussischen Künstler ihre Kunst heute zu Geld (über Konzerte hinaus)?  

    Wer Musik macht, die gehört wird und durch die Verwertung entsprechend vergütet wird, hat finanzielle Erträge. Die Anzahl der Wiedergaben kann man auf Plattformen wie Spotify einsehen, das bildet den kommerziellen Erfolg ab. Konzerteinnahmen sind nur für wenige Künstler eine zentrale Einnahmequelle, zum Beispiel Max Korzh oder Molchat Doma.  

    Nebeneinkünfte sind keine Seltenheit. Das ist so gut wie überall in Europa so. Es gibt immer kommerziell erfolgreiche Künstler und es gibt einen Underground, der nicht von seinem Schaffen leben kann oder nur sehr bescheiden, wenn das eine bewusste Haltung ist. Die meisten Künstler, Musiker und Regisseure gehen der Kunst parallel zu einer Hauptarbeit nach. Daran ist nichts Ungewöhnliches, nicht alle können ausschließlich von ihrer kreativen Tätigkeit leben. 


     

    Pozirk-Hintergrundinformationen: 

    Nach Angaben des Belarussischen PEN befanden sich am 31.10.2024 mindestens 168 Kulturschaffende aus politischen Gründen in Haft.  

    Die Staatsführung versucht, „feindliche“ Künstler aus den Medien zu entfernen: Im September wurden beispielsweise auf Antrag der Staatsanwaltschaft der Oblast Homel alle Titel von Tor Band aus der App Yandex Music entfernt. 2022 waren die Songs der Band zu „extremistischem Material“ erklärt worden.   

    Am 31. Oktober 2023 verurteilte das Gebietsgericht Homel den Sänger und Gitarristen von Tor Band, Dmitri Golowatsch, zu neun Jahren Freiheitsentzug unter verschärften Bedingungen, den Drummer Jewgeni Burlo zu acht Jahren und den Bassisten Andrej Jaremtschik zu siebeneinhalb Jahren. 

    Vorher wurden bereits Litesound (Teilnehmende des Eurovision Song Contest 2012), Krumkač, Irdorath und andere Bands politisch verfolgt. 

    Im Jahr 2023 wurden 605 Kulturschaffende aufgrund von 1097 angeblichen Gesetzesverstößen rechtlich belangt. 

    Am 13. Oktober 2024 äußerte Kulturminister Anatoli Markewitsch, der im November 2020 ohne einschlägige Berufserfahrung ins Amt berufen worden war, die „destruktiven Elemente“ im Kulturbereich seien nun „ausgemerzt“. „Wir alle sind heute Kämpfer an der Kulturfront, mobilisiert für den geistigen Kampf um Belarus. Die Zeit hat uns erwählt. Vom Minister, vom Klubvorsitzenden und von der Leiterin der Dorfbibliothek hängt der Erfolg im Kampf um die Köpfe und Seelen unserer Mitbürger ab“, zitierten staatliche Medien den Minister. „Bereinigt von destruktiven Elementen“ könne die Kulturgemeinschaft, so der Kulturminister, „ihre Kräfte auf die Lösung der wichtigsten Aufgabe konzentrieren – auf die Erziehung würdiger Staatsbürger und Patrioten.“  

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    Besteht eine Chance, dass Belarus seine Abhängigkeit vom Kreml jemals abschütteln und seine Souveränität bewahren kann? Wer könnte Alexander Lukaschenko als Nachfolger beerben? Welchen Einfluss hat die Demokratiebewegung im Exil auf die Geschehnisse in Belarus?

    Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski setzt seine große Gesprächsreihe mit dem Online-Medium Gazeta.by fort – diesmal geht es nicht um die Vergangenheit von Belarus, sondern um die Zukunft.   

    An welchem Punkt der Geschichte stehen wir gerade? Ist der Tiefpunkt erreicht, ab dem es in Belarus wieder aufwärts gehen wird? 

    Man kann auch lange am Tiefpunkt bleiben, die Verbesserung muss nicht sofort eintreten, wenn man ihn erreicht hat. Zudem haben die belarussischen Machthaber in den letzten Jahren mehr als einmal gezeigt, dass sie den Tiefpunkt noch zu unterbieten wissen. Kurz gesagt, das Regime nimmt totalitäre Züge an. Noch dazu sind die „Präsidentschaftswahlen“ 2025 in Sicht, und alle Anzeichen deuten darauf hin, dass sie nach einem strikten Szenario, mit präventiver Einschüchterung und vermutlich auch mit neuen Verhaftungen ablaufen werden.   

    Lukaschenko sendet gewisse Signale in Richtung Westen. An erster Stelle sind die bislang vier Freilassungswellen politischer Gefangener zu nennen. Und er hat versprochen, weitere Begnadigungen auszusprechen. Bislang sind diese Signale recht schwach, sie reichen nicht aus, um einen Dialog in Gang zu bringen. Das ist auch deshalb nicht verwunderlich, weil die Repressionen unvermindert weitergehen, anstatt nachzulassen. 

    Die Abhängigkeit zu Russland ist rapide gewachsen. Allen Spekulationen zum Trotz denke ich allerdings nicht, dass Putin Lukaschenko stürzen oder Belarus im Zuge des Ukraine-Kriegs als Trostpreis mitnehmen will. Erstens rückt Russland jetzt auch in der Ukraine vor, und zweitens ist die formale, attrappenhafte Unabhängigkeit Belarus‘ von Vorteil für den Kreml. Das Land einzunehmen, würde andere Partner, vor allem die postsowjetischen, noch mehr verunsichern, sie würden denken: „Lukaschenko hat sich Putin angebiedert, so gut er konnte, und trotzdem verleibt der sich Belarus einfach ein.” Ich glaube, für die russische Führung ist es günstiger, die belarussische Souveränität stückchenweise zu untergraben.  

    Eine pikante Nuance gibt es auch hierbei: Wenn Lukaschenko einmal nicht mehr ist, kann Moskau eine echte Marionette an der belarussischen Staatsspitze installieren. Dieses Paradox beschrieb kürzlich Sjanon Pasnjak: Sobald Lukaschenko seinen Posten verlässt, kann der Kreml die belarussische Souveränität erst recht unterminieren. 

    Illustration © Lilia Kvatsabaya  

    Viele verbinden die Option auf Veränderungen in Belarus mit dem Ende des Krieges in der Ukraine. Welche Position kann unser Land in einer Nachkriegsordnung einnehmen? 

    Erstens muss ich leider zugeben, dass es im Krieg aktuell schlecht für die Ukraine steht. Das von Präsident Selensky lange beschworene Ziel, die Grenzen von 1991 wiederzuerlangen, sieht heute, ohne Umschweife, unrealistisch aus. Es gibt Probleme mit Waffen, es gibt große Probleme mit der Mobilisierung. Auch die Art des Krieges, den Russland entfacht hat, ist für die Ukraine aussichtslos. Denn es ist ein Abnutzungskrieg, und die Ukrainer sind schlichtweg weniger an der Zahl als die Russen. Hinzu kommt, dass dem Kreml die eigenen Soldaten nichts wert sind.  

    Außerdem drängt der Westen die Ukraine zu Verhandlungen. Offensichtlich ist man dort kriegsmüde, die Rhetorik der Unterstützung Kyjiws geht zwar weiter, in der politischen Elite und einem Teil der Wählerschaft ist man die Probleme aber wohl leid und will, dass alles möglichst schnell endet. Anders gesagt: Der Westen drängt die Ukraine zu einem Waffenstillstand mehr oder weniger an der aktuellen Konfrontationslinie. Sollte eine solche Option formalisiert und festgeschrieben werden, wäre das kein gutes Zeichen für eine demokratische Perspektive in Belarus. Die demokratische Gemeinschaft war lange Zeit auf einen Sieg der Ukraine eingestellt, auf die Schwächung Russlands, das in einem solchen Fall auch kein Interesse mehr an Belarus hätte. Diese Pläne erscheinen heute unrealistisch. 

     Natürlich gibt es „schwarze Schwäne”, also unerwartete Wendungen – vor allem, wenn es um Krieg geht. Aber ich denke, man sollte die Dinge nüchtern betrachten. Wenn wir über die Perspektiven der demokratischen Kräfte sprechen, sollten wir nicht ultrarevolutionäre Rhetorik bemühen, sondern uns im Kampf für eine demokratische Perspektive für Belarus auf einen Marathon einstellen.  

    Viele westliche Politiker betrachten Belarus und Lukaschenko nicht mehr als eigenständigen politischen Akteur 

    Wie kann die Weltordnung nach dem Krieg aussehen, was wird sich in der Region verändern? Natürlich will Lukaschenko mit am Verhandlungstisch sitzen. Er sieht, dass man sich mit Putin als Oberhaupt einer Nuklearmacht auf mehr oder weniger kremlfreundliche Bedingungen einigen wird.  Wenn der Westen sich also gezwungen sieht, sich in irgendeiner Form mit Putin abzugeben, könnte Belarus auf der Verliererseite enden. Viele westliche Politiker betrachten das Land und Lukaschenko nicht mehr als eigenständigen politischen Akteur, sondern nur als Anhängsel Russlands. 

    Putin wird bei diesen Verhandlungen wohl in erster Linie an seine imperialen Interessen denken, und nicht daran, Lukaschenko zufriedenzustellen. Diese Gedanken zermürben den belarussischen Herrscher, machen ihn nervös. Es ist noch nicht lange her, da sagte er öffentlich sinngemäß: „Litauen und die ganzen Ausreißer wollen mir einen internationalen Haftbefehl anhängen, damit ich nicht an den Gesprächen über die Ukraine teilnehmen kann.”  

    Lukaschenko ist 70, Putin 72 Jahre alt. Sehen wir hier den Plan zweier Herrscher, so lange an der Macht zu bleiben, wie die Gesundheit es zulässt? 

    Putin ist in meinen Augen schon in der Rolle des klassischen Alleinherrschers über Russland aufgegangen. Ich denke nicht, dass er sich als Rentner sieht. Allem Anschein nach glaubt er, von Gott auserwählt zu sein. Wie übrigens auch Lukaschenko („zum Präsidenten muss man geboren sein“). Aber während Putin wohl überhaupt nicht an einen Machttransfer denkt, hat Lukaschenko unlägst mit seiner Verfassungsänderung für Aufsehen gesorgt. Bislang musste er seinen „Ausweichflughafen”, die Allbelarussische Volksversammlung, jedoch nicht ansteuern; die Institution ist eine Leiche, da rührt sich nichts. 

    Lukaschenko prokrastiniert. Ich glaube, er sieht wirklich keine würdige Person, der er seine Macht übergeben könnte. Daran ist er auch selbst schuld, weil er sich mit Exekutivkräften umgab und politische Selbständigkeit in seiner Machtvertikale nicht begrüßte. So hat niemand im Umfeld des Herrschers echte politische Erfahrung. Lukaschenko scheint wirklich zu befürchten, dass jemand wie Katschanawa oder sein Sohn Viktor partout nicht zurechtkommen würden, wenn sie seine Zügel übernähmen. 

    Außerdem ist da noch eine große Portion Angst um die eigene physische Sicherheit und um die Sicherheit seiner Familie im weitesten Sinne. Viel Porzellan wurde zerschlagen, viele Feinde gemacht. Viele Menschen sagen offen, er müsse für seine Verbrechen bestraft werden. Am Beispiel Nasarbajews in Kasachstan hat Lukaschenko gesehen, wie ein Machttransfer auch schiefgehen kann: Dort ist der aus den eigenen Reihen gewählte, neue Präsident dazu übergegangen, seine eigene Linie durchzusetzen. Deshalb prokrastiniert Lukaschenko, und es ist nicht ausgeschlossen, dass das so lange weitergeht, bis eine Art Stalin-Variante eintritt. 

    Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski im Gespräch / Foto © Belsat
    Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski im Gespräch / Foto © Belsat

    Die demokratischen Kräfte sagen, Belarus gehöre in die Europäische Union, das Regime sieht das Land in einer Union mit Russland. Wie würde sich die Gesellschaft Ihrer Meinung nach entscheiden, wenn sie frei wählen könnte? 

    Unabhängige soziologische Erhebungen zeigen, dass heute eine Minderheit der Belarussen den europäischen Weg befürwortet. Die Mehrheit tendiert zu Russland. Wobei das nicht bedeutet, dass die Menschen für einen Anschluss der sechs Oblaste an Russland sind. Die Belarussen schauen pragmatisch auf die zunächst einmal wirtschaftlichen Vorteile, die eine Union mit Russland verspricht.  

    Es gab eine Zeit, da hatten die Belarussen die meisten Schengen-Visa je Einwohner, sie sahen die Vorteile des europäischen Lebensstils 

    Nach 2020 und 2022, nach dem Anstieg des Einflusses der russischen Propaganda und der Verdrängung der unabhängigen Medien aus dem Land, wird das gesellschaftliche Bewusstsein weiter in Richtung Russland gesteuert. Ich erinnere mich aber auch noch an die liberaleren Zeiten, als sich mehr als die Hälfte der Belarussen für einen EU-Beitritt aussprach. Ich denke, wenn die politische Situation in Belarus sich ändern würde, wenn es politische Konkurrenz und einen Wettbewerb der Ideen gäbe, könnte die öffentliche Meinung in Belarus recht schnell umschlagen. 

    Es gab eine Zeit, da hatten die Belarussen die meisten Schengen-Visa je Einwohner, sie sahen die Vorteile des europäischen Lebensstils, die Dynamik der Entwicklung im benachbarten Polen – entsprechend waren sie auch stärker proeuropäisch eingestellt. Würde sich die Politik ändern, könnte das Pendel also schnell wieder in Richtung Europa ausschlagen. 

    Darüber hinaus sind die Belarussen mental Europäer. Russen, die in unser Land kommen, müssen eingestehen, dass die Gesellschaft und selbst das Niveau der Alltagskultur sich unterscheiden. Der proeuropäische Background bleibt in den subkortialen Strukturen der Belarussen gespeichert, was sich in der Zukunft auszahlen kann. 

    Wenn sich die öffentliche Meinung in Belarus in der Zukunft zugunsten einer EU-Integration ändert, wie könnte die Reaktion aussehen? Braucht die EU Belarus? 

    Wir reden hier natürlich über ein komplett hypothetisches Szenario, da aktuell nicht absehbar ist, wie und wann es in Belarus zu einem Machtwechsel kommen wird. Zudem birgt auch ein Machtwechsel Risiken: Russland wird seinen strategischen Aufmarschplatz sehr genau beobachten. Aber theoretisch ist es für Europa von Vorteil, Belarus im eigenen Lager zu wissen. Für Russland ist unser Land ein strategischer Balkon, der ins Baltikum, nach Polen und in die Ukraine hineinragt. 

    Wir kennen die Achillesferse namens Suwałki-Lücke. Dieser Abschnitt wird im Moment zwar von den Polen und Litauern befestigt, aber dennoch bleibt die Lücke bestehen. Auch von Europa aus sieht Belarus heute wie der Aufmarschplatz aus, von dem aus Russland jederzeit angreifen könnte. Deshalb wäre es in geopolitischer Hinsicht und für die Sicherheit der Alten Welt von Vorteil, wenn Belarus in die europäische Gemeinschaft integriert wäre. In der aktuellen Situation ist Belarus auch Quelle hybrider Gefahren, zuallererst illegaler Migration. Wäre Belarus Mitglied der EU, fiele dieses brenzlige Problem weg. Und dann das Thema Transit: Das belarussische Regime hat die Beziehungen zu Polen und Litauen zerrüttet, die Grenzübergänge sind enger geworden, es gibt nur noch wenige Nadelöhre. Aber der Transit ist auch für China und Europa wichtig. 

    Russland ist eine existenzielle Bedrohung für Belarus 

    Die belarussische Gesellschaft, einschließlich der Beamten (einigen Stereotypen zum Trotz), sähe für europäische Augen vermutlich ganz annehmbar aus. Die Bevölkerung ist gebildet, die Mentalität europäisch. Leider mussten Hunderttausende gezwungenermaßen das Land verlassen, dafür wissen jetzt die Polen, dass die Belarussen (mit kleinen Ausnahmen) gute und disziplinierte Arbeiter sind. Dass es Menschen sind, die sich leicht in die europäische Gesellschaft integrieren. Selbst das belarussische Verwaltungssystem ist (bei allen anderen gerechtfertigten Vorwürfen) doch relativ diszipliniert, kann Anweisungen und Pläne akkurat ausführen. Stellt man sich diese Gesellschaft in einem anderen politischen und wirtschaftlichen Rahmen vor, dann könnte sich Belarus meiner Ansicht nach schneller als einige andere neue EU-Mitgliedsstaaten in die Gemeinschaft integrieren. Aber solange Russland Belarus am Haken hält, handelt es sich, wie gesagt, um rein hypothetische Überlegungen. 

    Illustration © Lilia Kvatsabaya  

    Wie würden Sie aus heutiger Sicht ein negatives und ein positives Szenario für Belarus beschreiben? 

    Das schlimmste Szenario wäre der Verlust der Unabhängigkeit. Oder, Gott bewahre, ein Atomkrieg. Dass Lukaschenko russische taktische Nuklearwaffen nach Belarus geholt hat, war alles andere als eine Glanzleistung. Lukaschenko selbst meint, dass er damit seine Macht gesichert hat, dass einer Atommacht – so sieht sich Lukaschenko nun – niemand etwas anhaben kann. Tatsächlich sind die Waffen aber ein Risikofaktor. An einem solchen Spielzeug verbrennt man sich schnell die Finger. Faktisch bestimmt Russland über diese Waffen, und was in Putins Kopf vor sich geht, weiß niemand. So ist Belarus jetzt auch noch eine nukleare Geisel der russischen Willkür. 

    Ebenso muss man ehrlich sagen (denn das ist kein einfaches Thema): Im Falle eines erneuten Volksaufstandes in Belarus, einer neuen Phase des Kampfes für Demokratisierung, könnte sich Moskau zum Einmarsch provoziert sehen. Russland ist eine existenzielle Bedrohung für Belarus. Wir haben ein Imperium zum Nachbarn, das immer noch stark ist, dessen Greifinstinkt funktioniert. Das bedeutet nicht, dass sich die demokratischen Kräfte und alle, die Veränderungen in Belarus wollen, die Hände in den Schoß legen und auf ein Wunder hoffen sollen. Aber das Kalinouski-Regiment wird wohl kaum morgen in Belarus einmarschieren, ebenso wenig wird Tichanowskaja übermorgen im weißen Jeep mit Maschinengewehr in Minsk einrollen. 

    Man darf nicht vergessen, wie schnell Diktaturen stürzen können 

    Wie könnte ein eher positives Szenario aussehen? Viele belarussische Experten neigen zu der Prognose, dass ein Rücktritt Lukaschenkos aus gesundheitlichen Gründen (es ist unwahrscheinlich, dass er die Macht übergibt, solange er einigermaßen gesund ist) und ein Wechsel an der Spitze Veränderungen einleiten könnten. Die Geschichte zeigt, dass auf grausame personalistische Regime in der Regel Tauwetterperioden folgen. Einigermaßen wahrscheinlich ist daher die Marathonvariante, bei der in einer Phase des sanfteren Autoritarismus ein schrittweiser Übergang zur Demokratie möglich wird. 

    Ich betone noch einmal, dass dies hypothetische Überlegungen sind, es kann jederzeit ein schwarzer Schwan herbeigeflogen kommen – sowohl im Kreml, als auch über Lukaschenkos Regime. Doch auch wenn man für unerwartete historische Veränderungen gewappnet bleiben muss, darf man sich darauf nicht verlassen, sondern sollte an der Marathonstrategie arbeiten. Zu Beginn der 1980er Jahre erschien die Sowjetunion trotz all ihrer Problemen stark, und wohl kaum jemand setzte darauf, dass das totalitäre Imperium genau ein Jahrzehnt später innerhalb kürzester Zeit zusammenbrechen würde. Man darf nicht vergessen, wie schnell Diktaturen stürzen können. 

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  • „Die belarussische Opposition braucht einen Freund, aber die Ukraine keinen weiteren Feind “

    „Die belarussische Opposition braucht einen Freund, aber die Ukraine keinen weiteren Feind “

    „Wir sind nicht nur durch ein gemeinsames Schicksal und eine verwandtschaftliche Bande verbunden, sondern auch durch den Wunsch, Freunde zu sein und mit unseren Nachbarn auszukommen.” Mit diesen Worten gratulierte Alexander Lukaschenko der Ukraine am 24. August 2024 zum Unabhängigkeitstag. Eine Antwort von ukrainischer Seite gab es nicht. Denn im dritten Jahr muss sich das Land dem russischen Angriffskrieg erwehren. Einem Krieg, in den auch der belarussische Machthaber unheilvoll verstrickt ist.   

    Bis zum Beginn der großen russischen Invasion im Februar 2022 haben die belarussische und die ukrainische Regierung ein sehr pragmatisches Verhältnis gepflegt. Dieser Pragmatismus scheint jedoch trotz der Kriegsbeteiligung Lukaschenkos für die ukrainische Regierung weiterhin nützlich zu sein. Warum das so ist, erklärt Olga Loiko, Chefredakteurin des belarussischen Online-Mediums Plan B., in ihrer Analyse. 

    Die Journalistin Olga Loiko musste ihre Heimat Belarus verlassen / Foto © Siarhei Balai
    Die Journalistin Olga Loiko musste ihre Heimat Belarus verlassen / Foto © Siarhei Balai

    Belarus braucht keinen Krieg. Erstens, weil Lukaschenko klar ist, dass er diesen Krieg nicht gewinnen kann. „Wir wollen nicht gegen euch kämpfen. Nicht, weil wir euch so liebhaben, sondern weil dann die Front um 1200 km länger wäre. So lang ist nämlich die ganze Grenze: 1200 km.“ So gab Lukaschenko im Interview mit einem russischen TV-Sender seinen imaginären Dialog mit der Ukraine wieder, wobei er die belarussisch-ukrainische Grenze meinte. Russlands zunächst lasche Reaktion auf den Vorstoß der Ukraine in der Oblast Kursk beweist: Die Ressourcen reichen nicht einmal für die Verteidigung des eigenen Territoriums. Schon früher hatte Lukaschenko auf Vorwürfe, er würde den Bündnispartner nicht tatkräftig genug unterstützen, erwidert, er würde ja gern, aber seine Vertikale würde nicht noch eine Front schaffen. Seit 2020 sind alle Kräfte auf die Bekämpfung des inneren Feindes konzentriert. Das Aufwenden von Ressourcen auf einen Feind im Außen könnte die innere Stabilität des belarussischen Regimes ernsthaft gefährden.  

    Der zweite Grund dafür, sich aus dem Krieg herauszuhalten, ist, dass die belarussische Bevölkerung von diesem Konflikt nicht persönlich betroffen sein will. Umfragen von Chatham House zufolge unterstützte im Dezember 2023 nur rund ein Drittel der Belarussen Russlands Aggression gegen die Ukraine. Und nicht einmal die wollten, dass sich Belarus direkt beteiligt. Eine aktive Teilnahme an den Kampfhandlungen auf russischer Seite zogen nur zwei Prozent der Befragten in Betracht, ein Prozent gab an, auf ukrainischer Seite kämpfen zu wollen. Das sollte man jedoch nicht als antimilitaristischen Konsens missverstehen. Nur 29 Prozent der Befragten waren bereit, eine absolute Neutralität auszurufen, die russischen Truppen aus Belarus abzuziehen und sich auf keine der beiden Seiten zu stellen. Weitere 27 Prozent meinten, Belarus sollte Russland unterstützen und die Ukraine verurteilen, sich jedoch nicht aktiv am Krieg beteiligen.     

    Russland greift zu einer simplen Methode, um seine Staatsbürger in den Krieg zu treiben: Geld. Würde Lukaschenko so wie Putin den Kämpfern einen anständigen Sold anbieten, würde sich womöglich so mancher freiwillig melden. Indessen gibt es genug Bewerber für die Fabrik bei Orscha, in der im Schichtbetrieb Projektile für die russische Rüstungsindustrie hergestellt werden. Nichts Persönliches. Rein geschäftlich.  

    Zeiten blühender Freundschaft 

    Apropos Geschäfte. An Lukaschenkos Friedfertigkeit gegenüber seinen Nachbarn im Süden könnte man zweifeln, wären da nicht seine langjährigen und durchaus lukrativen geschäftlichen Interessen in der Ukraine – sowohl seitens des Staates als auch einzelner belarussischer Staatsbürger, darunter Geschäftsleute aus Lukaschenkos engstem Kreis. Der Krieg hat ihnen Sanktionen, gesperrte Konten und sonstige Unannehmlichkeiten beschert. Natürlich werden auch am Krieg Milliarden verdient, doch dubiose Gewinne aus der Schattenwirtschaft lassen sich nun mal schlecht mit legal erworbenen und in geordneten Bahnen ausbezahlten Einkünften vergleichen. 

    Die Ukraine war vor dem Krieg zweitstärkster Handelspartner des Landes und lag damit zum Beispiel vor China. 2021 machten die Exporte in die Ukraine 5,4 Milliarden US-Dollar aus – das sind 13,6 Prozent des gesamten belarussischen Exportvolumens.      

    Etwa die Hälfte des Gesamtexports bildeten Erdölerzeugnisse. Für Belarus war das ein äußerst lukrativer Markt: Billige Rohstoffe aus Russland und kurze Lieferstrecken schufen optimale Bedingungen für satte Gewinne. In und durch die Ukraine wurden belarussische Düngemittel, Pkw und Busse, Lebensmittel und Strom exportiert. Soweit zu den guten Handelsbeziehungen. Doch die Freundschaft ging tiefer. Wie tief, das kann man an den Lieferungen von Bitumen aus der Raffinerie des Belarussen Nikolaj Worobej sehen, der Lukaschenko und Viktor Medwedtschuk, „Putins Mann in der Ukraine“, nahestehen soll.

    Außer Bitumen lieferten Worobejs Raffinerie und andere Firmen russisches Dieselöl und Kohle in die Ukraine. 2019 segnete das Antimonopolkomitee der Ukraine den Verkauf eines 51-Prozent-Anteils aus dem Grundkapital von PrikarpatSapadtrans an Worobej ab. Dabei handelt es sich um eine Pipeline für den Transport von Dieselöl aus Russland und Belarus über die Ukraine nach Europa. Allerdings beschloss der Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine schon im Februar 2021, also ein Jahr vor der großen Invasion, diese Leitung wieder zu Staatseigentum zu machen.  

    Verbrannte Erde? Nicht unbedingt 

    Der Sanktionsdruck auf belarussische Unternehmen in der Ukraine begann im Oktober 2022, als Wolodymyr Selensky den ersten Erlass über die Anwendung „persönlicher spezieller ökonomischer und anderer Beschränkungsmaßnahmen“ unterzeichnete. So wurden gegen 118 Unternehmen und Organisationen aus Belarus Sanktionen verhängt. Ihre Vermögen in der Ukraine wurden eingefroren, die Handelsverträge aufgelöst, die Lizenzen entzogen.         

    Jetzt spielen sich die ökonomischen Beziehungen im Bereich der Schattenwirtschaft ab. Aus den besetzten ukrainischen Gebieten werden Produkte aus der Landwirtschaft ausgeführt, in Belarus verarbeitet und weltweit verkauft. Umgekehrt wird Glas über eine polnische Handelsvertretung der belarussischen Firma Gomelsteklo in die Ukraine geliefert, weil dort durch die Kriegsschäden ein dringender Bedarf an Fensterglas besteht. 

    Außerdem ist die Ukraine auf Ersatzteile für technische Geräte angewiesen, die sie massenhaft in Belarus eingekauft hat und jetzt für militärische Zwecke nutzt. Auch wenn es vorkommt, dass man wegen des Kaufs eines belarussischen Traktors auf Staatskosten vor Gericht steht. Ein Spiel ohne klare Regeln, dafür mit eindeutigen Interessen und hohen Risiken.  

    Keine Lust auf demokratische Kräfte 

    Das andere, neue Belarus, das von Lukaschenkos Regime ins Ausland vertrieben wurde, pflegt währenddessen aktiv gute Beziehungen zu den USA, der EU und anderen Ländern. Doch weder 2020 noch nach Beginn des großangelegten Krieges gelang es den demokratischen Kräften von Belarus, den Dialog mit der ukrainischen Regierung in Schwung zu bringen. Zuerst waren die Belarussen mit den stürmischen Ereignissen von 2020 beschäftigt, als auf die Präsidentenwahlen ein Massenenthusiasmus folgte, der in nicht minder massenhafte Proteste und Repressionen mündete. Dann stand Selensky angesichts des russischen Einmarsches vor unzähligen Herausforderungen, die für den Fortbestand seines Landes von zentraler Bedeutung waren.   

    Ein ernstzunehmendes Thema für ein Treffen mit der belarussischen Exilregierung bot sich ohnehin nicht an. Spenden an die ukrainischen Streitkräfte und Kämpfer für das Kalinouski-Regiment sind natürlich gern gesehen, aber für Meetings, Bündnisse und Allianzen hat Kyjiw genug andere Kandidaten. Ein beinahe zufälliger Handschlag zwischen Selensky und Tichanowskaja auf einer Veranstaltung in Deutschland im Frühjahr 2023, ein fernmündlicher Austausch von Beistandsbekundungen für die europäische Zukunft – mehr ist da nicht.   

    Was die Ukraine wirklich interessiert, ist bislang nach wie vor fest in Lukaschenkos Hand. Mit ihm scheint die ukrainische Staatsführung Kontakt zu halten und Gespräche zu führen. Im Juni 2024 konnte Kyjiw fünf Personen aus belarussischer Gefangenschaft befreien. Einer davon war Nikolai Schwez, ein Ukrainer, dem Minsk einen Sabotageakt gegen ein russisches A-50-Kampfflugzeug in Matschulischtschi vorwarf. Die Gefangenen wurden gegen Metropolit Jonathan eingetauscht, der in der Ukraine wegen prorussischer Aktivitäten verurteilt war. Lukaschenko plauderte aus Versehen aus, dass dieser Austausch auf die Bitte des russischen Präsidenten hin erfolgt sei. 

    Übrigens wartete der Tag, an dem der Austausch bekannt wurde, mit einer weiteren Überraschung auf. Am Kyjiwer Berufungsgericht wurde die Beschlagnahme eines Teils des Vermögens einer Tochterfirma des belarussischen Staatsunternehmens Belarusneft aufgehoben. Insofern ist das Verhältnis Kyjiws zu Lukaschenko zwar nicht unbedingt besser als zu Tichanowskaja, aber effektiver. Und daran wird sich in nächster Zukunft wohl auch nicht viel ändern.                     

    Angespannte Grenze 

    Sämtliche Kontakte, Übereinkünfte und Andeutungen zwischen Minsk und Kyjiw sind momentan instabil. Nach der vollumfänglichen Invasion in der Ukraine im Februar 2022, die unter anderem von belarussischem Staatsgebiet aus erfolgte, war das Risiko sehr hoch, dass auch die belarussische Armee in die Kampfhandlungen einbezogen würde. Seitdem kam es im Grenzgebiet immer wieder zu Spannungen. Sowohl Belarus als auch die Ukraine positionierten zusätzliche Kampfeinheiten, um sie dann teilweise wieder abzuziehen. 

    „Ich musste fast ein Drittel meiner Armee zusätzlich einsetzen, um das, was da war, zu verstärken. Dann haben wir über unsere Kontakte zu den ukrainischen Geheimdiensten gefragt: Wozu macht ihr denn das? Sie sagten ehrlich: Ihr wollt uns mit den Russen zusammen von Homel aus beschießen. Aber das hatten wir gar nicht vor“, beteuerte Lukaschenko im August 2024. 

    Ein Konflikt zwischen Minsk und Kyjiw ließe sich heute ohne Weiteres provozieren. Allein die Kamikaze-Drohnen, die ständig über belarussisches Territorium fliegen, bieten dazu allen Anlass. Darüber hinaus finden routinemäßige Manöver statt, zu denen sich das ukrainische Außenministerium bereits geäußert hat: „Wir warnen die Amtsträger der Republik Belarus davor, unter dem Druck aus Moskau katastrophale Fehler zu begehen. Wir rufen ihre Streitkräfte dazu auf, die feindlichen Manöver zu unterlassen und die Truppen abzuziehen.“   

    Die Angst vor einer potenziellen Eskalation bringt Lukaschenko anscheinend dazu, an seinem Bündnispartner vorbeizuverkünden, dieser habe seine Ziele bereits erreicht: „Ihr redet manchmal von Nazis. Die gibt es da gar nicht mehr. Die Ukraine ist entnazifiziert. Ein paar Randalierer laufen vielleicht noch rum, aber die interessieren keinen mehr“, behauptete er unlängst.                             

    Aber Lukaschenko widerspricht sich so oft selbst, dass man lieber auf das schauen sollte, was er tut. Manchmal spricht auch sein Schweigen Bände. Im August 2024 zum Beispiel vermied Lukaschenko es vier Tage lang tunlichst, den ukrainischen Vorstoß in der russischen Oblast Kursk zu bemerken. Von offizieller Seite tat man weder Besorgnis kund noch reagierte man auf die Unterstellungen einiger Z-Blogger, es gebe bei der Vorbereitung des Angriffs eine belarussische Spur. Man analysierte offenbar die Schwachpunkte des Bündnispartners und überlegte, wie sich die Dinge wohl weiterentwickeln mochten. Etliche dieser Szenarien wären für Lukaschenkos Regime alles andere als günstig gewesen. 

    Dieses Rechenbeispiel zum Verhältnis zwischen Kyjiw und Minsk enthält vorerst noch zu viele Variablen. Die belarussischen demokratischen Kräfte brauchen einen Freund, aber Selensky nicht noch einen Feind. Und solange Lukaschenko so viel Macht hat, wird sich Kyjiw auf keine Eskalation einlassen. Wenn man einen Krieg gegen überlegene Gegner führt, ist es wohl am klügsten, auf Pragmatismus zu setzen. Es liegt bei den Gegnern von Lukaschenkos Regime, die Ukraine in ihrem Kampf aufrichtig und konsequent zu unterstützen, ohne beleidigt zu sein, Ansprüche zu stellen oder Gegenleistungen zu erwarten.

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  • „Meine Reise durch Podlachien ist eine Zeitreise”

    „Meine Reise durch Podlachien ist eine Zeitreise”

    Im Mai 2024 brach Pavel Kritchko Richtung Osten auf. Der belarussische Fotograf hatte wegen der Repressionen seine Heimat verlassen und war in Deutschland gelandet. Er fuhr nach Podlachien, eine Region im östlichen Polen, wo eine belarussische Minderheit beheimatet ist. „Während der gesamten Expedition hatte ich das Gefühl, nach Hause zurückzukehren”, sagt Kritchko, „und die gleichen Erfahrungen zu machen, die ich als Kind gemacht habe.” 

    So entstand das Fotoprojekt Podlachien, das sich um die Suche nach Identität dreht. Wir haben mit dem Fotografen gesprochen und zeigen eine Auswahl seiner Bilder.

    Eine alte Eisenbahnbrücke an der polnisch-belarussischen Grenze, nahe dem Grenzübergang Bobrowniki, der im Februar 2023 von den polnischen Behörden geschlossen wurde, 13.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Der Schriftzug МИР (dt. Frieden oder Welt) befindet sich auf belarussischer Seite. Ende Mai 2024 präsentierten die polnischen Behörden einen Plan zur Errichtung von Grenzbefestigungen entlang der gesamten Grenzlinie zu Belarus und Russland. Die Kosten betragen voraussichtlich 2,5 Milliarden Euro.” 

     

    dekoder: Nicht alle unserer Leser haben von der Region Podlachien gehört – erzählen Sie uns ein wenig darüber. Was ist das für eine Region und was ist so besonders an ihr? 

    Pavel Kritchko: Podlachien (poln. Podlasie, belaruss. Padljaschscha) ist eine Region im Osten Polens an der Grenze zu Belarus, wo 56.000 polnische Staatsbürger leben, die im Zensus 2021 angaben, Belarussen zu sein. In der Region gibt es einige belarussische Schulen, an denen belarussische Sprache und Literatur auf dem Lehrplan stehen. Meinem Gefühl nach sind es hauptsächlich das orthodoxe Christentum und die mit kirchlichen Festtagen verbundenen volkstümlichen Bräuche, die die belarussische Gemeinschaft Podlachiens verbinden. Vor allem die ältere Generation beherrscht noch frei die podlachischen Dialekte, während die Jugend sie zwar versteht, aber nicht mehr aktiv nutzt. Jahrzehntelang galten diese Dialekte als Dorfsprache mit geringem Prestige, in letzter Zeit ist das Interesse an ihnen wieder gestiegen, da Aktivisten, Musiker und Schauspieler sie wieder unters Volk bringen. 

    Die Bewohner der grenznahen Wojewodschaft Podlachien waren im 20. Jahrhundert durch den Ersten Weltkrieg und die anschließenden nationalen und religiösen Konflikte einschneidenden Migrationszwängen ausgesetzt. Heute symbolisiert diese Region die Grenze zwischen den Belarussen, die ab 2020 ihr Land verlassen haben, und jenen, die geblieben sind, aber auch zwischen dem Westen (EU) und dem Osten (Belarus, Russland, China). Die angespannte Situation spitzte sich durch den Bau eines Grenzzauns zu, die Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika davon abhalten soll, durch Belarus in die EU zu gelangen, aber auch potentielle militärische Konflikte mit Russland verhindern soll.  

    Wie ist Ihr Fotoprojekt zu Podlachien entstanden? 

    Im März 2024 wurde ich in die Internationale Klasse für Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover aufgenommen, wo ich mit großem zeitlichem Aufwand ein Archiv der Jahre 2020 bis 2023 anlegte: Ein Teil besteht aus Fotos von den Protesten, der andere aus Geschichten aus dem Exil. Das war ein sehr eigentümliches Großprojekt über parallele Realitäten: Belarus, wie ich es 2020 gesehen hatte, und die Belarussen, die – wie ich – im Ausland gestrandet waren. Je länger ich im Exil bin, desto schwächer wird meine Verbindung zu dem Land, in dem ich geboren wurde und aufwuchs, zu den Menschen und Orten. Gleichzeitig dachte ich darüber nach, dass Podlachien sich genau zwischen diesen beiden Realitäten befindet und dort viele ethnische Belarussen leben, die ungeachtet aller Schwierigkeiten und Veränderungen, die die letzten Jahrhunderte mit sich brachten, ihre Identität zu bewahren wussten. Ich dachte, diese Region könnte ein Bindeglied für mein Großprojekt sein, deshalb fuhr ich im Mai 2024 hin, um sie näher kennenzulernen.  

    Das Projekt als eine Art Spiegelbild ihrer eigenen Suche? 

    Als ich im Frühjahr 2024 durch Podlachien reiste, war ich fasziniert davon, dass ein Teil der ethnischen Belarussen dieser Gegend, oder einfach die Bewohner Podlachiens, sich jahrelang die Identitätsfrage gestellt und eine Antwort darin gefunden hatten, dass sie sich als Einheimische und ihre Dialekte als ihre bezeichneten.  

    Genau darum geht es in meinem Projekt – um das Finden und Bewahren der eigenen Identität. Darüber hinaus ist es auch ein sehr persönliches Thema. Meine Reise durch Podlachien ist eine Zeitreise, auf der ich meine Erfahrungen in verschiedenen Phasen meines Lebens nachempfinde: die Reise mit meinem Vater in sein Dorf vor 30 Jahren, oder das Belarussische Fest in Białystok, das mich irgendwie an Maladsetschna erinnerte, und viele andere Assoziationen.  

    Wie genau haben die Podlachen die Ereignisse in Belarus seit 2020 verfolgt? 

    Schwer zu sagen, weil ich 2020 in Belarus war und nicht gesehen habe, wie man in Podlachien auf die Ereignisse reagierte. Ende 2021 war ich einen Monat lang in Białystok und konnte dort die belarussische Diaspora beobachten, die sich im Exil wiederfand und die das Jahr 2020 zusammengeschweißt hatte. Diese Welle von Menschen, die ab 2020 nach Polen kamen, brachte neue Ideen, frischen Schwung und Energie, sie motivierten die schon früher emigrierten Belarussen, die den Neuankömmlingen bei der Eingewöhnung helfen wollten und konnten. 

    Ein Beispiel für die Anteilnahme an 2020 ist das Tattoo einer Belarussischlehrerin, die noch nie in Belarus war. Das Tattoo zeigt das Symbol der vereinten Opposition im Wahlkampf 2020. Ebenso kann man die Kundgebungen der lokalen Bevölkerung (sowohl polnischer Belarussen als auch einfach Polen aus Podlachien) zur Unterstützung des Wandels in Belarus erwähnen. Viele Podlachen haben Verbindungen nach Belarus: Manche haben dort Verwandte, manche haben dort gearbeitet, manche sind einfach hingefahren, um billige Zigaretten zu kaufen und zu tanken, manche hatten ein Geschäft für Belarussen, die nach Polen kamen. All das wurde von den Ereignissen 2020 indirekt beeinflusst.  

    Wie ist das Verhältnis zwischen den Podlachen und den Belarussen, die neu dazugekommen sind? 

    In Podlachien leben auch viele Belarussen, die Belarus aus politischen Gründen verlassen mussten. Man kann die Belarussen Podlachiens ins drei Gruppen unterteilen: die ethnische Minderheit (Belarussen, die in Polen geboren wurden, einen polnischen Pass haben, sich aber als Belarussen identifizieren), Belarussen, die vor 2020 emigriert sind, und diejenigen, die seit 2020 das Land verließen, um den Repressionen in Belarus oder dem Krieg in der Ukraine zu entgehen.  

    Die Frage nach dem Verhältnis zwischen diesen drei Gruppen konnte ich nicht abschließend klären. Mein Eindruck war, und das erzählte man mir auch, dass die erste Gruppe in einer anderen Realität lebt als die zweite und dritte Gruppe, sie haben unterschiedliche Interessen: Die Einen kämpfen für den Erhalt der belarussischen Schulen in der Region und für die Kultur, die Anderen müssen zunächst ihren Alltag regeln und sich ein Leben im erzwungenen Exil aufbauen.  

    Wann haben Sie selbst Belarus verlassen? 

    Im August 2021, um an einem Residenzprogramm für Fotografen in Warschau teilzunehmen, organisiert vom Kollektiv Sputnik Photo. Ich hatte ein Ticket für die Rückfahrt, aber angesichts der Umstände ließ ich es verfallen: zuerst die Gerichtsverhandlungen gegen Maria Kalesnikawa und Maxim Snak und die Urteile, dann die Selzer-Prozesse und die Verhaftung des Journalisten (Henadz – dek) Maschejka von der Komsomolskaja Prawda. Irgendwann war ich endgültig überzeugt, dass man nicht mehr offen sagen kann, was man denkt, Freunde rieten mir, ein wenig abzuwarten und nach Möglichkeit nicht sofort zurückzukehren, und schließlich ließen mich die Migrationskrise an der polnisch-belarussischen Grenze und der Beginn des Krieges in der Ukraine meine Rückkehr endgültig vergessen, solange sich nichts geändert hat.  

    War es schwer, sich an ein neues Leben zu gewöhnen? 

    Es war dann gar nicht so leicht, sich einzuleben. Das Schwierigste ist sich einzugestehen, dass es für lange ist. Es gibt einen Zustand der Ungewissheit. Leuten, die Belarus bewusst verlassen, fällt das Ankommen etwas leichter – weil es ihr Ziel ist, sich ein Leben irgendwo im Ausland aufzubauen. Ich würde nicht sagen, dass ich Heimweh habe, mich nach Dingen oder Orten sehne. Ich habe vielmehr das Gefühl, das irgendwo tief in mir vergraben zu haben und mir zu sagen, dass solche Gedanken mich nur daran hindern würden, auf die neue Umgebung einzulassen.  

    Ich habe zweieinhalb Jahre in Polen gelebt, davon fast anderthalb Jahre nur mit einem polnischen Visum [also ohne Reisemöglichkeit, Anm. dek], nun bin ich nach Hannover gezogen, um hier in die Fotografieszene einzutauchen. BelarusTown in Warschau lasse ich ein wenig hinter mir, weil es meine Integration und Sozialisation in der lokalen Gesellschaft auch ein bisschen behindert hat. Jetzt lebe ich in zwei Ländern – Deutschland und Polen: In dem einen studiere ich, im anderen setze ich meine Arbeit an den Geschichten über Belarus fort, weil es dort mehr Belarussen gibt und einfach deutlich mehr passiert. 

     

    Die Umgebung von Terespol nahe dem polnisch-belarussischen Grenzübergang für PKW und Busse, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Dort wird geparkt, geschraubt und gerastet. Im Moment ist Brest-Terespol der einzige offene Grenzübergang für den Personenverkehr aus Belarus, der dortige Übergang kann jederzeit eingeschränkt oder geschlossen werden. Seit April 2022 besteht seitens der EU ein Einreiseverbot für LKW aus Belarus und Russland, auch für den Transit. Belarus reagierte umgehend und zwingt nun auch Spediteure aus der EU, ihre Fracht an der Landesgrenze zu übergeben.” 

     

    Die LKW-Warteschlange zur Ausreise nach Belarus am Zollterminal Koroszczyn, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Der Fahrer, der mich aus Krzyczew in Richtung Terespol mitnahm, war ein Pole, der an den LKW-Warteschlangen Geld verdient. Er ist sehr zufrieden, dass gerade alle anderen Grenzübergänge geschlossen sind: ,Je länger sie geschlossen bleiben, desto besser für mich’.” 
    Das Mädchen Aja. Warschau, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Sie ist die Tochter der belarussischen Musikerin Rusia, deren Projekt Shuma traditionelle heidnische Gesänge mit elektronischer Musik verbindet: Ethno- und Ambient-Elemente, schwerer, hypnotischer Techno und abstrakte IDM (Intelligent Dance Music). Rusias Ziel ist es, das belarussische Kulturerbe zu erhalten und weltweit bekannt zu machen.”
    Ein Tattoo auf dem Arm von Alina Wawrzeniuk zeigt das Symbol der vereinten Wahlkampfstäbe der Opposition bei den belarussischen Präsidentschaftswahlen 2020. Białystok, 12.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Alina ist Belarussischlehrerin und Leiterin einer Theatergruppe an der Schule Nr. 4 in Białystok. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Journalisten Mikołaj Wawrzeniuk, lebt sie im Dorf Gredele in Podlachien. Beide sind in Polen geboren und identifizieren sich als Belarussen ,Ich habe nie in Belarus gelebt, aber das hindert mich nicht daran, mich als Belarusse zu fühlen’, sagt Mikołaj.”
    Kinder proben ein Schauspiel über Belarus in der Theatergruppe der Belarussischlehrerin Alina Wawrzeniuk an der Schule Nr. 4 in Białystok, 12.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko  
    „Alle Kinder sind außerhalb von Belarus geboren, lernen aber Belarussisch in der Schule, in den meisten Fällen, weil ihre Eltern sich als Belarussen in Polen identifizieren. Ich fragte die Kinder, warum sie in Polen Belarussisch lernen, bekam aber nur Antworten, die eine gewisse Gewohnheit erkennen ließen: Sie gingen in den Kindergarten, wo sie Belarussisch lernten, was sie in der Schule fortsetzten, und selbst nach dem Schulabschluss seien sie weiter in der Theatergruppe aktiv.” 
    Das ehemalige Bahnhofsgebäude in Hajnówka. Heute beherbergt es das Kulturzentrum Stacja Kultury, wo regelmäßig Theaterfestivals, Künstlerresidenzen und andere Kulturveranstaltungen stattfinden, 10.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „In der Stadt gibt es nur wenige Orte, an denen junge Leute ihre Freizeit verbringen können. Ich sprach mit einer Gruppe Teenager darüber, wie sie die Situation der belarussischen Sprache einschätzen, wie Jugendliche ihre Zeit in Hajnówka verbringen und ob sie später weggehen wollen. Andrej, ein 17-jähriger ukrainischer Geflüchteter, unterhielt sich mit mir. Ich sprach belarussisch und polnisch, er verstand alles und antwortete auf Polnisch. Er lebt seit fast zwei Jahren mit seinen Eltern in Polen, zwei seiner Brüder sind an der Front, auch er denkt darüber nach, in die Ukraine zurückzukehren, wenn er 18 wird, um im Krieg zu kämpfen.” 
    Der Imker Marian in der Nähe des Dorfes Krzyczew, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Marian sammelt Honig an der polnisch-belarussischen Grenze. Vor seiner Pensionierung arbeitete er in Brest (Belarus) im Eisenbahndepot und war für die Umspurung der Züge verantwortlich, die die Grenze überquerten. Die Spurweite der Eisenbahngleise in Belarus und Polen unterscheidet sich.” 
    Bewohner des polnischen Dorfes Ciełuszki kehren mit ihrem sowjetischen Wladimirez-Traktor vom Feld zurück, 04.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Das Dorf interessierte mich auch deshalb, weil mein Vater in einem Dorf namens Zeluscha im Gebiet Mahiljou geboren wurde, die Ortsnamen ähneln sich sehr. Ich erinnere mich nicht gut an meine Großeltern väterlicherseits, denn sie starben, als ich noch klein war. Ich kann mich aber sehr gut daran erinnern, wie aktiv sie Landwirtschaft betrieben, welche Tiere sie seinerzeit hatten: Hühner, Schafe, Schweine, Kühe und natürlich einen Gemüsegarten. Der Großvater war seit dem Zweiten Weltkrieg Invalide, er hatte nur ein Bein und ging an Krücken.” 
    In der Nähe des Dorfes Krzyczew, wo der Bug die polnisch-belarussische Grenze bildet, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Ich lief fast zehn Kilometer, um an diesen Ort zu gelangen, wo man ohne Mauer nach Belarus schauen kann. Unterwegs wurde ich dreimal von Fahrzeugen des Grenzschutzes gestoppt. Meine Dokumente wurden kontrolliert, ich wurde befragt, was ich hier mache, warum ich fotografiere, und sie notierten meine Mobilnummer, wahrscheinlich, um später meinen Aufenthaltsort tracken zu können.” 
    Schaufenster in Białystok, 13.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko   
    „Mich interessierte die Analogie der Hautfarbe der Schaufensterpuppen mit der Situation an der Grenze, wo Belarussen und Ukrainer, die illegal die Grenze überqueren, einfach Schutz und Asyl in Polen erhalten sollen, während Menschen mit anderer Hautfarbe, Herkunft, Religion in der Regel beim Versuch, ins Land zu kommen und um Asyl zu bitten, nach Belarus zurückgeschoben werden. Einige dieser Migranten tragen extra Kreuze bei sich und erklären, dass sie ebenfalls Christen sind, in der Hoffnung auf eine andere Haltung der Grenzsoldaten.” 
    Im Hof eines agrotouristischen Anwesens im Dorf Puchły, 04.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko   
    „Meine erste Nacht in Podlachien verbrachte ich im Dorf Puchły, wo ich ein Zimmer auf einem Bauernhof gebucht hatte. Ich hatte lange gezögert, da die Anreise ohne Auto kompliziert ist. Letztlich bereute ich die Entscheidung nicht: Nachdem ich angekommen war, lernte ich die Wirtin Maria kennen, mit der ich mich gut verstand und über das Leben, die Welt, mich selbst und die Umstände sprechen konnte. Maria lud mich zum Osterfrühstück mit der Familie ein, denn es sei nicht gut, an diesem Feiertag allein zu sein, ich solle mich wie zuhause fühlen und Teil ihrer Familie sein. Das Frühstück erinnerte mich sehr an die Tradition in meiner Familie, zu Ostern zusammenzukommen.”
    Ausfahrt des Urlaubs-Bauernhofes im Dorf Puchły, unterwegs zum Ostergottesdienst in der orthodoxen Kirche in der Nacht des 04.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko   
    „Es ist etwa 23:15 Uhr und sehr dunkel. Langsam gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit. Ab und an ist ein Geräusch zu hören und in der Ferne Licht zu sehen von den Autos, die ebenfalls auf dem Weg zur Kirche sind. Die Kirche verbinde ich mit meiner Großmutter (mütterlicherseits). Wir lebten alle zusammen in einer Wohnung in Minsk, und ich weiß noch, wie meine Oma fast jeden Morgen im gemeinsamen Wohnzimmer eine Kerze anzündete und betete. Ich konnte sie von meinem Zimmer aus durch den Vorhang an der Tür sehen. Im Winter, wenn es morgens noch besonders dunkel war, konnte ich das Flackern der Kerze sehen, das Flüstern der Großmutter hören und das heiße Kerzenwachs riechen.” 
    Ein Junge am orthodoxen Osterfest in der Kirche im Dorf Puchły, 05.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko   
    „Der Junge erinnert mich an mich selbst, denn ich war etwa in seinem Alter, als ich im Heimatdorf meines Vaters, Zeluscha in Belarus, orthodox getauft wurde. Ich erinnere mich nur undeutlich daran, da ich noch sehr klein war und mir während der Zeremonie heißes Kerzenwachs die Hand verbrannte. Ich glaube, meine Kirchgänge zu Gottesdiensten, Beichten und Kommunionen kann man an zwei Händen abzählen, alle fanden auf Bitten meiner Mutter statt. Sie wollte, dass ich die Tradition und den Glauben bewahre, die ihre Mutter (meine Großmutter) ihr beigebracht hatte. Ich verstand die Bedeutung dessen nicht ganz und beobachtete einfach alle notwendigen Gebräuche.”
    Osterprozession um die Kirche im Dorf Puchły, Polen, 05.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko   
    „Es gehört zu den Ostertraditionen, Ikonen und andere Gegenstände aus der Kirche zu tragen und damit dreimal um die Kirche zu gehen.” 
    Der Text des Liedes Oreszki (dt. Nüsse). Er ist in lateinischer Schrift geschrieben, die Sprache aber eigentlich ein lokaler Dialekt – eine Mischung aus Belarussisch, Ukrainisch, Polnisch und Russisch. / Foto © Pavel Kritchko 
    Mauer an der polnisch-belarussischen Grenze unweit des Dorfes Usnarz Górny, 13.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko
    Eliasz Fionik und Agata auf dem Weg in ihr Musikstudio in Bielsk Podlaski, 07.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Doroteusz Fionik hat zwei Söhne, Eliasz und Maksym. Maksym unterstützt den Vater stärker bei der Erhaltung der Kulturtradition, er ist Mitglied im traditionellen Liederensemble Żemerwa. Eliasz hingegen scheint all das etwas ferner zu liegen, vielleicht, weil er der Jüngste ist. Er findet, dass ein Akkordeon allein und alte Methoden nicht ausreichen, um die traditionelle Kultur zu fördern. Ihn interessiert eher, wie man die traditionelle Kultur durch moderne Musik zugänglicher machen kann. Deshalb verfolgt er sein eigenes Projekt, komponiert Musik und schreibt Songtexte im lokalen podlachischen Dialekt.” 
    Ein Storch im polnischen Dorf Trześcianka, 04.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „In den belarussischen Legenden ist der Storch (belarus. busel) ein heiliger Vogel, Verbindung zwischen Himmel und Erde, Herr und Beschützer der Ernte, des Himmelsfeuers und anderer himmlischer Elemente. Für viele Belarussen ist der Storch auch etwas Besonderes, das an Zuhause, an die Heimat erinnert. Der Storch wurde in Belarus zum Symbol der nationalen Reinheit und Wiedergeburt. Man glaubt, dass der Storch Erfolg bringt, wenn er sein Nest neben deinem Haus baut, weshalb die Menschen in den Dörfern Plattformen auf den Strommasten anbringen, damit die Störche leichter ihre Nester bauen können.” 

    Fotografie: Pavel Kritchko
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Ingo Petz
    Veröffentlicht am 21.11.2024

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    145 politische Gefangene wurden seit Juli 2024 in Belarus freigelassen. Von einem Abflauen der Repressionen kann allerdings keine Rede sein. Die Menschenrechtsorganisation Wjasna konstatiert in ihren monatlichen Analysen „ein unverändert hohes Niveau der politisch motivierten Repressionen“. Mit den bevorstehenden sogenannten Präsidentschaftswahlen zieht das Regime die Daumenschrauben wieder deutlich an. Allein seit Anfang November wurden über 100 Personen festgenommen

    Gleichzeitig werden auch Familien und Verwandte von politischen Gefangenen häufig Ziel der Sicherheitsbehörden. Eine solche Geschichte erzählt das Online-Medium Mediazona Belarus.  

    Galina Budai, ihre Kinder und der Familienhund / Foto © privat
    Galina Budai, ihre Kinder und der Familienhund / Foto © privat

    Mitte Sommer 2023. Der achtjährige Wanja, seine elfjährige Schwester Marija und der 16-jährige Daniil haben endlich Ferien. In ihrer Wohnung in Minsk finden regelmäßig Durchsuchungen statt. Weil eine Sonderkommission entschieden hat, die Familie als „sozial gefährdet“ einzustufen. 

    Ihre Mutter Galina Budai versucht bereits seit Monaten, der Kommission zu beweisen, dass mit ihrer Familie alles in Ordnung ist. Galina muss gleichzeitig die Formulare studieren, mit denen die Beamten sie überhäufen, die Kinder erziehen und ihren Mann in der Strafkolonie unterstützen. Im September 2022 wurde der 46-jährige Andrej im Fall Busly ljazjaz (dt. Die Störche fliegen) zu 15 Jahren Haft verurteilt. Die Behörden lassen keine Gelegenheit aus, daran zu erinnern, nach welchem Paragrafen Andrej verurteilt wurde, wie lange er sitzen muss und dass er auf der „Terrorliste“ steht. 

    Offiziell steht die Familie unter Beobachtung, weil Galina und Andrejs Kinder zu Hause unterrichtet werden. Dabei hat sich daran jahrelang niemand gestört. Bis eines Tages der damals 15-jährige Daniil kurz nach 23 Uhr in der Metro von der Miliz aufgegriffen wurde. Er fuhr ohne Begleitung eines Erwachsenen nach Hause. Die Beamten brachten den Teenager auf die Wache und durchsuchten sein Handy. Dort fanden sie ein Abo des Telegram-Kanals von Nexta

    „Sie fragten ihn aus, wo seine Eltern sind“, erzählt Galina. „Er sagte, wo ich bin, und dass sein Vater in Untersuchungshaft sitzt. Sie wollten wissen, weswegen, da hat er geantwortet: ‚Wegen nichts.‘ Die Antwort schmeckte ihnen gar nicht, sie fingen an zu brüllen und ihn zu beschimpfen. So was kennt er von zu Hause nicht. Sie haben ihm richtig Angst eingejagt, und mir auch, als ich ihn abholen kam. Zum Abschied sagten sie, so was verjährt nicht, und wenn er sechzehn wird, kommen sie ihn wegen diesem Kanal holen.“ 

    *** 

    Über den Vorfall wurde die Einzugsschule der Kinder informiert. Weil sie zu Hause unterrichtet werden, gehen sie dort nur für die Prüfungen hin. Die Eltern haben sich immer selbst um den Unterricht gekümmert: Galina ist diplomierte Pädagogin und hat eine entsprechende Zusatzausbildung abgeschlossen. Nach Daniils Verhaftung verlangte die Schulleiterin, dass die Kinder umgehend wieder die Schulbank drücken. Für Galina kam das gar nicht in Frage. 

    „Für mich sind die Mängel des belarussischen Schulsystems offensichtlich. Wir sind zum Beispiel gegen jeglichen Militarismus, gegen den Krieg und jede Form von Gewalt. Von Freunden wissen wir aber, dass diese Themen jetzt an den Schulen zum Alltag gehören.“ Weil Galina sich weigerte, die Kinder zur Schule zu schicken, wurde eine Sonderkommission darauf angesetzt, die Familie als „sozial gefährdet“ einzustufen. Über das Schicksal der Familie entschieden die Leiterin der Bildungsabteilung im Exekutivkomitee, die Schuldirektorin, eine Beamtin vom Sozialdienst, Milizionäre und aus irgendeinem Grund sogar Feuerwehrleute. „Die Dame vom Sozialdienst erzählte irgendwas von Pflegeeltern und Adoption“, erinnert sich Galina. 

    Dass die Kinder in einer akkreditierten Online-Schule angemeldet sind und ausgezeichnete Noten haben, dass die Mutter Pädagogin ist und keiner in der Familie je irgendwie auffällig geworden ist, interessierte die Kommission nicht im Geringsten. Die Familie wurde für drei Monate als „sozial gefährdet“ eingestuft. In dem Gutachten hieß es, die Eltern würden „den Grundbedürfnissen der Kinder nicht nachkommen und den Erhalt der obligatorischen allgemeinen Sekundarschulbildung (in jeglicher Form) verhindern“. Es wurden „Maßnahmen zur Beseitigung der Ursachen und Bedingungen, die zur Schaffung eines ungünstigen Umfelds für die Kinder geführt haben“ festgesetzt. 

    *** 

    Daraufhin begannen die ständigen Kontrollen – nicht nur durch die Schule, sondern auch durch den Sozialdienst, das Bezirkskrankenhaus und – seltener – durch die Polizei. „Ich saß nicht untätig herum, sondern versuchte, den Beschluss des Exekutivkomitees anzufechten, aber vergeblich“, sagt Galina. 

    Das Bildungsministerium, an das sich Galina ebenfalls wandte, äußerte sich widersprüchlich. Ein Anwalt, den sie konsultierte, sagte, das Dokument könne auf unterschiedliche Weise ausgelegt werden: Es ließe offen, ob häuslicher Unterricht nun verboten oder erlaubt war. „Ich pochte auf mein Recht, meine Kinder zu Hause zu unterrichten, und sah seitens des Ministeriums oder der Schule keine Spur von Unterstützung. Keinen Funken Menschlichkeit. Die Schule interessiert sich nur für die Ideologie, die Zukunft der Kinder ist ihr völlig egal“, meint Galina. 

    Für die Kinder, die 70-jährige Großmutter, die in der Familie lebt, und für Galina selbst bedeutete die Aufmerksamkeit des Staates eine enorme Belastung. Die Lehrer, Sozialarbeiter, Ärzte und anderen Beteiligten kamen meist ohne jede Vorwarnung, höchstens ein Anruf 15 Minuten vor dem Besuch. Die Familie musste immer in Alarmbereitschaft sein. Die Kontrolleure überprüften, ob im Haus genug zu essen war, ob die Kinder Arbeitsplätze hatten, die richtigen Hefte und Lehrbücher. Sie durchwühlten die Dokumente und sahen nach, ob die Kinder alle vorgeschriebenen Impfungen hatten. Zu beanstanden gab es nichts – außer, dass der Vater im Gefängnis war und die Kinder zu Hause lernten anstatt in der Schule. Nach drei Monaten kam die Kommission wieder zusammen. Der Status als „sozial gefährdet“ wurde verlängert. 

    „Wir standen alle unter Schock, wir waren sicher gewesen, dass sie uns endlich in Ruhe lassen würden. Aber nein, es gab weder Mitgefühl noch Verständnis. Mir kam es damals vor, als hätte der Staat mehr Anrecht auf die Kinder als ich. Er wollte entscheiden, wie sie lernen, mit wem sie Umgang haben und so weiter.“ Wegen der fremden Leute im Haus standen die Kinder extrem unter Stress, sie machten sich Sorgen um die Mutter und vermissten ihren Vater, dem sie regelmäßig Briefe schrieben. 

    „Er hat immer sehr viel Zeit mit den Kindern verbracht. Er spielte mit ihnen, fuhr die Kleinen mit dem Fahrrad herum, machte Touren mit unserem Großen. Sie waren es gewohnt, dass Mama die Hausarbeit macht und sie unterrichtet. Papa war für sie Freizeit, Ferien. Er dachte sich immer Abenteuer für sie aus: bei Hitze im Springbrunnen baden, mit dem Großen nachts heimlich Schawarma essen fahren oder mitten in Minsk einen Igel aufspüren und ein Video von ihm machen. Er steckte voller verrückter Ideen.“ 

    Andrej Budai war Im Juli 2021 verhaftet worden. Nach der Festnahme kamen Mitarbeiter des GUBOPiK mehrfach zu ihm nach Hause, durchsuchten die Wohnung nach Waffen – alles vor den Augen der Kinder. Andrej Budai leitete zuvor ein Bauunternehmen. 

    Die Familie nach ihrer Auswanderung nach Litauen / Foto © privat
    Die Familie nach ihrer Auswanderung nach Litauen / Foto © privat

    *** 

    In der Zeit, in der die Familie als „sozial gefährdet“ galt, sprach Galina mehrfach mit dem Schulamt. Einmal sagte man ihr: „Ihnen ist doch wohl klar, dass Sie diesen Status nicht ewig behalten werden. Beim nächsten Mal übergeben wir Ihre Akte einfach der Staatsanwaltschaft, und dann geht es bis hin zum Kindesentzug.“ 

    „Man hat mir also zu verstehen gegeben, dass sie mir die Kinder wegnehmen, wenn ich nicht pariere“, erinnert sich Galina. Das war der Moment, in dem sie zum ersten Mal ernsthaft darüber nachdachte, das Land zu verlassen. Für 2023 war bereits die dritte Sitzung der Kommission anberaumt. 

    „Im Herbst wollten wir Andrej in der Kolonie besuchen. Wir wollten ihn so gerne sehen, bevor wir wegziehen, aber die Lagerleitung hat uns nicht zu ihm gelassen. Diese Situation zog sich bis zum Winter hin, der Druck wurde immer größer. Dann brach der Kontakt zu meinem Mann ab.“ Später erfuhr Galina, dass Andrej in eine andere Kolonie verlegt worden war. 

    *** 

    Galina reiste mit ihren Kindern nach Litauen aus. Die Großmutter blieb und bekam noch mehrmals Besuch von diversen Behörden, die wissen wollten, wo die Kinder sind. Die Familie hatte immer noch den Status „sozial gefährdet“. „Aber das ist nicht mehr unsere Sache“, sagt Galina. 

    In Litauen hat die Familie nun eine Aufenthaltserlaubnis, aber vor Galina liegen noch viele Herausforderungen: Arbeit finden, in die Krankenversicherung aufgenommen werden, die Sprache lernen und den Kindern dabei helfen und darauf achten, dass sie ihren Vater nicht vergessen. „Wir beten für ihn und unterstützen ihn, so gut es geht. Wir erinnern uns an gemeinsame Momente mit ihm, was er zu wem gesagt hat. Denken daran, dass wir ein Team sind. Wie unser Team am Ende abschneidet, hängt davon ab, wie jeder einzelne von uns mit der Situation umgeht. Auch wenn mein Mann physisch nicht anwesend ist, sind wir trotzdem immer zusammen.“ 

    Der älteste Sohn Daniil ist in den letzten Monaten merklich erwachsener geworden, er möchte seiner Mutter eine Stütze sein. Marija und Wanja vermissen ihren Papa sehr. Wanja habe lange nicht darüber gesprochen, erzählt Galina, aber jetzt habe er ihr anvertraut, dass sein Papa ihm fehle und es ihm wehtue, andere Jungen mit ihren Vätern zu sehen. Zu Hause in Belarus hatte Wanja eine ganze Sammlung von selbstgezüchteten Veilchen, die er zurücklassen musste. Jetzt hat Wanja auch in der neuen Heimat sein Hobby wiederaufgenommen und kümmert sich um seine Blumen. 

    Andrej Budai befindet sich währenddessen in der Strafkolonie IK-2 in Bobruisk, wo er regelmäßig in den Strafisolator gesperrt wird. Am 23. September 2024 wurde eine neue Anklage gegen den Politgefangenen verhandelt: wegen „böswilligen Ungehorsams gegen die Lagerverwaltung“. 

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    Am 26. Januar 2025 sollen Präsidentschaftswahlen in Belarus stattfinden. Oppositionsparteien sind längst verboten, Gegenkandidaten wird es also kaum geben. Nach wie vor werden fast täglich Menschen festgenommen und weggesperrt, öffentlicher Widerstand und Protest sind de facto unmöglich. Es wird also keine Wahl sein, sondern die Inszenierung einer Wahl, bei der sich Alexander Lukaschenko abermals zum Sieger küren wird. Dennoch sind solche Ereignisse Stresstests für autoritäre Systeme.  

    Der Journalist Alexander Klaskowski erklärt in seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk, warum es die Machthaber eilig haben, die Wahlshow über die Bühne zu bringen.  

    Am 9. Oktober 2024 wurde Alexander Lukaschenko von Wladimir Putin in Moskau mit dem Andreas-Orden ausgezeichnet / Foto © president.gov.by
    Am 9. Oktober 2024 wurde Alexander Lukaschenko von Wladimir Putin in Moskau mit dem Andreas-Orden ausgezeichnet / Foto © president.gov.by

    Das war ganz bestimmt keine spontane Entscheidung. Man konnte sehen, dass der Herrscher seine Wahlkampagne bereits begonnen hatte. Indem er etwa die lokalen Erntefeste abklapperte, die Dаshynki, bei denen er die Dorfleute mit Lob überschüttete und ihnen alle möglichen Versprechungen machte. Auch die so schwierige Gruppe der Jugend hatte er im Blick: Er trat vor Studenten in Witebsk und Minsk auf. Gleichzeitig ging die groß angelegte Propagandashow Marathon der Einheit an den Start. 

    Zuvor hatte BYPOL, eine Initiative ehemaliger Silowiki, unter Berufung auf Insiderinformationen berichtet, dass die Wahlen für den 23. Februar angesetzt seien. Das mag zwar der Fall gewesen sein, aber „um seine Feinde zu ärgern“ beschloss Lukaschenko, den Termin auf Januar vorzuverlegen. Obwohl seine Amtszeit erst am 20. Juli 2025 abläuft. Der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Igor Karpenko erklärte diese „Phasenverschiebung“ auf der jüngsten Sitzung des Repräsentantenhauses damit, dass es für den Präsidenten einfacher sei, die neue fünfjährige Amtszeit zu planen, wenn er schon am Jahresanfang gewählt werde. 

    Das klingt ganz schön an den Haaren herbeigezogen. Ja, vielleicht wenn die Wahlen echte Wahlen wären und jemand Neues mit neuen Ideen an die Macht käme. Aber de facto geht es bloß darum, eine weitere Amtszeit für den alten Herrscher abzusegnen. Genauso bemüht klang auch Karpenkos Erklärung, die Präsidentschaftswahlen hätten ja auch 2006 schon einige Monate früher stattgefunden. „Die Praxis, Wahlen vor Ablauf der Amtszeit des Präsidenten abzuhalten, gibt es in etlichen Ländern, zum Beispiel in Kirgisistan, Usbekistan …“, führte er weiter aus. Klar, so wird es sein, Lukaschenko wird sich das in Kirgistan abgeschaut haben. 

    Dass die Wahlen 2006 vorgezogen wurden, war immerhin nachvollziehbar. Damals konnte sich die Opposition auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen, Aljaxandar Milinkewitsch, dessen Umfragewerte rasant stiegen. Deswegen wollte das Regime seine Kampagne unterminieren und die Konkurrenz im Keim ersticken. Aus heutiger Sicht wirken diese Zeiten wie eine blühende Demokratie. Jetzt sind in Belarus alle Schrauben so fest angezogen, das politische Feld so gründlich gesäubert, dass von einem oppositionellen Kandidaten nicht einmal mehr die Rede sein kann. 

    Also wozu dann die Eile? 

    Trauma des Jahres 2020? 

    Mir scheint, einer der Hauptgründe für Lukaschenkos Vorgehen ist das Trauma des Jahres 2020. Ja, die Opposition ist entweder zerschlagen, eingesperrt oder ins Ausland vertrieben. Aber der Diktator sieht trotzdem überall feindliche Intrigen. So instruierte er Ende September seine Funktionäre: „Glaubt ja nicht, dass wir reinen Tisch gemacht haben, wie manche sagen. Die, die wir erwischen wollten, sind abgehauen. Ist ihr gutes Recht, sollen sie doch. Aber wir müssen wachsam bleiben.“ Also lieber beeilen, bevor die Feinde noch hinterrücks einen Plan aushecken. Lieber noch schnell eine Machtspritze, damit es sich wieder ruhig schlafen lässt. 

    Damit wird formal ein neues Kapitel aufgeschlagen. Die Propaganda wird verkünden: 2020 ist Geschichte! Vielleicht gibt es dann auch einen Hoffnungsschimmer, dass der Westen sich allmählich mit der Realität abfindet, der politischen Emigration weniger Aufmerksamkeit schenkt und Swetlana Tichanowskaja an Bedeutung verliert. 

    Und noch ein Grund für den Termin im Winter: Viele Kommentatoren weisen darauf hin, dass es in der kalten Jahreszeit schwieriger sei zu protestieren. Im kalten März 2006 und im Dezember 2010 waren die Plätze trotzdem voller Menschen. Natürlich gibt es Angenehmeres, als in der Kälte draußen rumzustehen. Aber auch, wenn die Feinde des Regimes überhaupt keine Proteste planen (die Hauptstrategie der demokratischen Kräfte besteht heute darin, die Belarussen aufzufordern, gegen alle zu stimmen) – Vorsicht ist besser als Nachsicht. 

    Überhitzte Wirtschaft?  

    Die Wirtschaft ist im Aufschwung, die Einkommen steigen. Das liegt jedoch in erster Linie an der Konjunktur: daran, dass Wladimir Putin sich die Beihilfe seines Verbündeten im Krieg einiges kosten lässt. Viele belarussische Waren werden von der russischen Militärindustrie nachgefragt und wegen der westlichen Sanktionen teuer gehandelt. Manches spricht jedoch dafür, dass der Krieg relativ schnell zu Ende sein könnte. Zumindest die heiße Phase. Und dann wird diese Konjunktur höchstwahrscheinlich einbrechen. Außerdem werden die Belarussen auf dem russischen Markt von den Chinesen bedrängt. 

    Zweitens behaupten unabhängige Ökonomen, dass in der belarussischen Wirtschaft das Ungleichgewicht zunimmt. Vor allem die drakonischen Preisregulierungen könnten schmerzhafte Folgen haben. Hinter den vorzeitigen Wahlen könnten also auch wirtschaftliche Erwägungen stehen. Denken wir nur mal daran, wie das Land nach den Wahlen im Dezember 2010 von einer Hyperinflation heimgesucht wurde und der Rubel plötzlich nur noch ein Drittel wert war. Damals hatte Lukaschenko seine Wahlernte mit großzügig gedrucktem, aber wertlosem Geld eingefahren. Vielleicht will er das Eisen schmieden, solange es heiß ist, bevor sich die überhitzte Wirtschaft in Rauch auflöst. 

    Die Zeit des Diktators geht so oder so zu Ende 

    Ja, theoretisch wissen wir nicht, ob Lukaschenko überhaupt eine weitere Amtszeit anstrebt. Aber praktisch besteht daran kein Zweifel (es sei denn, es passiert etwas sehr Unerwartetes). Für die Einführung eines theoretischen Nachfolgers reicht die Zeit nicht mehr. Lukaschenko findet für sich auch keinen würdigen Nachfolger. Und er hat Angst, das Zepter abzugeben. 

    Der Kreml hat ihm offenbar seinen Segen für eine neue Amtszeit gegeben und dies symbolisch mit einem Orden illustriert. Moskau hat überhaupt kein Interesse daran, auf der Zielgeraden das Pferd zu wechseln. Für den Fall, dass Friedensgespräche über die Ukraine geführt werden sollten, säße der belarussische Herrscher außerdem gern mit einer frischen Krone am Tisch.  

    Gleichzeitig sind Kriege eine ziemlich unberechenbare Angelegenheit. Lukaschenko mag denken: Wer weiß schon, was diese Ukrainer im Schilde führen. Gestern sind sie in die Region Kursk einmarschiert, morgen greifen sie vielleicht die Ölraffinerie von Mozyr an – und so weiter und so fort. Dann kann man die Wahlen vergessen. 

    Und da ist noch etwas: Gerade hat das gemeinsame Gremium der Verteidigungsministerien von Russland und Belarus in Minsk eine strategische Übung namens Sapad-2025 (dt. Westen-2025) beschlossen. Was dahintersteckt, können wir nur vermuten. Erinnern wir uns: Im Februar 2022 waren die russischen Truppen unter genauso einem Vorwand gemeinsamer Manöver nach Belarus versetzt worden, um Kyjiw anzugreifen. Was, wenn Moskau das wiederholen will? Eine solche Aussicht ist für einen Wahlkampf ebenfalls wenig förderlich. Kurzum, es ist auch der Nebel des Krieges, der Lukaschenko dazu drängt, die Wahlen vorzuverlegen. 

    Und zu guter Letzt wissen wir nicht, wie es um seine Gesundheit wirklich steht. Klar ist nur: Er wird nicht jünger. Vielleicht ist das ebenfalls ein Faktor. Der Gedanke, dass die Zeit des Diktators auf die eine oder andere Weise sowieso zu Ende geht, wärmt die Herzen seiner politischen Gegner. Denn während Lukaschenko für die Konservierung des bestehenden Systems steht, gibt es nach ihm zumindest eine Chance auf Veränderung. 

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