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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Ich wohne nirgendwo“

    „Ich wohne nirgendwo“

    Man könnte meinen, die Leipziger Buchmesse im Jahr 2025 stünde im Zeichen der belarussischen Literatur. Schließlich erhält der Schriftsteller Alhierd Bacharevič für seinen Roman Europas Hunde den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, zudem ist Thomas Weilers deutsche Übersetzung des Buches Feuerdörfer für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Damit steht eine europäische Literatur im Rampenlicht, der ansonsten nur wenig Beachtung zuteilwird.  

    Grund genug, etwas mehr Licht auf die belarussische Literatur zu werfen. dekoder-Autor Dsjanis Marzinowitsch hat mit Hanna Yankuta gesprochen – über das Leben aus dem Koffer, das Getrenntsein von Belarus und Entwicklungslinien der belarussischen Literatur, die sich nun weitgehend im Exil befindet. Die Schriftstellerin hat 2024 den Roman Tschas pustasellja (dt. Unkrautzeit) vorgelegt, den die Jury des belarussischen PEN sogleich auf den zweiten Platz des renommierten Jerzy-Giedroyc-Literaturpreises wählte.

    Unkrautzeit ist ein Versuch, die Unzeit zu beschreiben, in der sich die Belarussen seit 2020 bewegen. Das Buch zeigt die Welt aus Sicht einer Belarussin, die sich in der erzwungenen Emigration wiederfindet. Es besteht aus realen und fiktiven Geschichten, flüchtigen Eindrücken und Erinnerungen. 

     

    Die Übersetzung dieses Textes wurde durch ein Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen ermöglicht. 

    dekoder: Wenn man Ihnen auf Social Media folgt, bekommt man den Eindruck, dass Sie ständig auf Reisen sind. 

    Hanna Yankuta: Ich habe Belarus im Frühling 2021 verlassen, lebte dann zwei Jahre lang in Polen, und bin seit Mitte 2023 tatsächlich ständig unterwegs. 2024 habe ich einige Zeit in Lettland, Schweden, Deutschland und Österreich gelebt und auch kurze Reisen in andere Länder unternommen. Zentrum meines Lebens in der Emigration bleibt Polen, meine Bücher und Sachen sind dort bei Freunden eingelagert, ich halte mich dort häufig auf. 

    Kann man das ein „Leben aus dem Koffer“ nennen? 

    Ja, das ist eine gute Beschreibung. Auf die Frage, wo ich wohne, antworte ich in der Regel: nirgendwo. Manchmal habe ich Glück und bekomme eine Schriftstellerresidenz, manchmal miete ich irgendwo für kurze Zeit eine Unterkunft. Letztes Jahr habe ich zum Beispiel drei Monate in Argentinien verbracht, in diesem Winter ein Zimmer in Warschau gemietet. Manchmal kann ich einige Zeit bei Freunden unterkommen (in diesem Sommer lebte ich sechs Wochen bei Freunden in Berlin). Ein festes Zuhause habe ich nicht. Mein Zuhause ist in Belarus geblieben. 

    Hanna Yankuta bei einer Buchpräsentation in Vilnius / Foto © Darija Roskatsch
    Hanna Yankuta bei einer Buchpräsentation in Vilnius / Foto © Darija Roskatsch

    Warum haben Sie sich für diese Lebensart entschieden? 

    Einerseits liegt das an den Umständen, andererseits an Entscheidungen, die ich in den letzten Jahren getroffen habe. Mir ist es wichtig, solange es möglich ist, mich mit belarussischer Literatur zu beschäftigen – Texte zu schreiben, Bücher herauszugeben, Forschung zu betreiben und Buchprojekte zu unterstützen. Häufig bringt diese Arbeit kein Geld, und wenn doch, dann reicht es nicht zum Leben. Um mich irgendwo niederzulassen und dauerhaft etwas zu mieten, müsste ich eine Vollzeitarbeit finden, die höchstwahrscheinlich nichts mit belarussischer Sprache und Literatur zu tun haben würde. Auch hätte ich dann sehr viel weniger Zeit für meine Projekte. Deshalb führe ich so lange wie möglich dieses Leben auf Wanderschaft. 

    Ich vermisse Belarus sehr und will zurückkehren 

    Natürlich ist es eine temporäre Lösung. Es gibt nicht so viele Residenzen und Stipendien für belarussische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, und es ist physisch und emotional sehr anstrengend, ständig umzuziehen, zu überlegen, wo man in den nächsten Monaten leben wird, Bewerbungen zu schreiben (und häufig Absagen zu bekommen). Früher oder später muss ich mich irgendwo niederlassen. Noch ist Zeit, ich versuche, meine begonnenen Projekte fertigzustellen, so viel wie möglich zu schaffen. 

    Befördert oder behindert diese Lebensart das Schaffen? 

    Auf der einen Seite fördert das Emigrantendasein an sich das Schaffen nicht gerade: Ob man nun an einem Ort bleibt oder auf Reisen ist, man muss eine Menge neuer Aufgaben bewältigen, neue Sprachen lernen, neue Fähigkeiten erwerben. Das kostet viel Zeit, die ich in Belarus fürs Schreiben verwenden könnte. Andererseits lerne ich viel Neues, neue Sichtweisen, lerne neue Menschen kennen – vielleicht nennt man genau das „Erfahrung“. Ich weiß nicht, ob ich sie auf diese Weise sammeln möchte, aber da ich keine Wahl habe, passe ich mich den Umständen an. 

    Beeinträchtigt die physische Trennung von der Heimat die Kreativität, oder trägt man Belarus immer bei sich? 

    Ich vermisse Belarus sehr und will zurückkehren. Aber ich weiß auch, dass es nicht mehr das Land sein wird, das ich 2021 verlassen habe, wenn ich irgendwann wieder hinfahren kann. Alles, was ich jetzt im Bereich der Literatur mache, tue ich in der Hoffnung, dass die belarussische Sprache erhalten bleibt, dass Wissen über Belarus in der Welt verbreitet wird, und überhaupt für eine bessere Zukunft des Landes. Das gibt mir Kraft und hilft mir, mit der Verzweiflung klarzukommen. 

    Es hat sich so ergeben, dass ich nicht dort leben kann, wo ich will – also muss ich mir überlegen, was ich mit dieser Situation anfangen kann. Vielleicht stört es mich deshalb nicht, von Belarus getrennt zu sein, auch wenn es manchmal sehr wehtut. 

    Für die Mehrheit der Leserinnen und Leser sind Residenzen für Schriftsteller vermutlich etwas Geheimnisvolles, Unverständliches. Wie funktioniert das? 

    2021 wurde ich für das Gaude Polonia-Programm in Polen ausgewählt – ein renommiertes fünfmonatiges Stipendium für Ukrainer und Belarussen. Die Konkurrenz ist sehr stark: Man muss eine sehr gute Bewerbung schreiben, natürlich ein Projekt haben, das der Jury gefällt. Ich habe mehrere Wochen an der Bewerbung gearbeitet. Es ist das längste Stipendium, das ich bislang erhalten habe, die anderen dauerten einen oder zwei Monate. 

    Es gibt mehrere dieser Kurzzeitresidenzen für Schriftsteller aus Belarus und der Ukraine, in Warschau, Krakau und Danzig, es gibt das Kolegium tłumaczy für Übersetzer aus dem Polnischen. Dort muss man ebenfalls ein Projekt einreichen. Für das einmonatige Stipendium des SDK (Staromiejski Dom Kultury) in Warschau habe ich mich drei- oder viermal beworben, ehe ich Erfolg hatte. 

    2020 war der Höhepunkt, die Leserschaft wurde breiter und das Interesse an belarussischer Literatur ebenfalls 

    In der Regel stehen die Anforderungen fest, die die Organisatoren der Residenzen erwarten. Manchmal reicht eine Buchveröffentlichung, manchmal werden nur Schriftsteller gesucht, deren Werke in eine bestimmte Sprache übersetzt wurden, zum Beispiel Deutsch. Es gibt Aufenthaltstipendien für Schriftsteller, die in ihrem Land verfolgt werden, aber dafür habe ich mich nie beworben. 

    Die Residenzen, zu denen ich bislang das Glück hatte, eingeladen zu werden, waren offen für alle Schriftsteller, die Informationen sind frei zugänglich. Ich weiß nicht, ob es Geheimnisse gibt, die dabei helfen, zu gewinnen, viele meiner Bewerbungen hatten keinen Erfolg. Bewerbungen zu schreiben ist eine besondere Fähigkeit, ich bin noch dabei, das zu lernen. Vor Kurzem habe ich wieder eine Zusage erhalten – ich wurde zu einer Künstlerresidenz von November 2025 bis Januar 2026 eingeladen. Jetzt muss ich nur planen, wo ich bis dahin leben werde. 

    Womit verdienen Sie jetzt ihren Lebensunterhalt? 

    Ich übersetze verschiedenste Texte aus dem Russischen, Englischen und Polnischen ins Belarussische. In den seltensten Fällen sind es literarische Texte, eher aus den Bereichen Menschenrechte und Journalismus, für Kulturinstitutionen und NGOs. Das ist mein, wenn auch nicht großes, so doch stabiles Einkommen.  

    Ich könnte davon nicht leben, wenn ich nicht von Zeit zu Zeit zu einer Residenz eingeladen würde. Selbst wenn kein Stipendium für den Lebensunterhalt dabei ist, hilft so ein kostenloses Zimmer in einem Schriftstellerhaus für eine gewisse Zeit dabei, Geld zu sparen. Manchmal bekomme ich Honorare für literarische Veranstaltungen oder Vorträge, manchmal für Artikel oder Essays, die ich Zeitschriften anbiete oder die sie bei mir bestellen (das passiert selten, ein paar Mal im Jahr). Außerdem bekomme ich Anteile am Verkauf meiner Bücher. Aber Honorare und Tantiemen machen nur einen geringen Teil meines Einkommens aus, es sind keine Beträge, von denen es sich leben lässt. 

    Ist das Leben in der Emigration als Schriftstellerin leichter oder schwerer im Vergleich zu männlichen Kollegen? Oder ist es nicht korrekt, solche Geschlechtervergleiche anzustellen? 

    Ich denke, in der Emigration haben es diejenigen schwerer, die nicht nur für sich, sondern zusätzlich für andere Personen Verantwortung tragen – zum Beispiel für Kinder, für alte Eltern oder für ein krankes Familienmitglied. Betrachtet man zum Beispiel alleinerziehende Eltern, dann sind das statistisch gesehen häufiger Frauen – das ist ein Genderaspekt, der auch Literatinnen betrifft. Wenn ich Kinder hätte, würde ich in der Emigration sicher viel weniger im Literaturbetrieb arbeiten, vielleicht würde ich gar nicht schreiben. Es wäre auf jeden Fall ein ganz anderes Leben: Die Frauen mit Kindern, die ich in der Emigration kenne, haben zumindest in den ersten Jahren viel weniger Freizeit. 

    Das Cover des Romans Unkrautzeit von Hanna Yankuta.
    Das Cover des Romans Unkrautzeit von Hanna Yankuta.

    Unkrautzeit ist eine hervorragende Charakterisierung der Zeit. Haben Sie Hoffnung? Werden auf der verbrannten Erde wieder Gras und Pflanzen wachsen? 

    Einerseits verstehe ich Unkrautzeit als eine Metapher für diese Unzeit, in der wir Belarussen gelandet sind – in der du deine Zukunft nicht siehst und nichts ernsthaft planen kannst. [Im Belarussischen heißt Unkraut wörtlich „Leerkraut“ – dek] Diese Leere, die im Wort steckt, charakterisiert den Zustand, in dem wir leben. 

    Andererseits ist Unkraut ja nur aus Sicht des Menschen etwas Schlechtes. Als Unkraut bezeichnen wir Pflanzen, die uns nicht gefallen, die an Stellen wachsen, wo wir sie nicht wollen. Dabei sind sie sehr widerstandsfähig und wachsen selbst unter ungünstigen Bedingungen: auf verbrannter Erde oder in Beeten, aus denen wir sie ständig wieder ausreißen. Für mich ist dieser Titel ein Ausdruck von Hoffnung, auch wenn diese Hoffnung fragil und finster ist. Aber besser als keine. 

    Einer der Erzählstränge in Unkrautzeit liegt im Bereich der Geologie (zu Beginn des Krieges geht die Protagonistin ins Geologische Museum, ein Teil des Buches handelt von der Entstehung des Lebens auf der Erde, wie es seine Formen ändert, sich an die Welt anpasst und sie verändert) Haben Sie auch jetzt dieses Bedürfnis nach Distanz? Ist sie überhaupt möglich? 

    Ich hoffe, dass ich nie wieder ein Buch wie Unkrautzeit schreiben werde. Denn es war wirklich eine schreckliche Zeit, als Russland den vollumfänglichen Krieg gegen die Ukraine begann und es schwerfiel zu glauben, dass das überhaupt möglich ist. Die Psyche verlangte nach einer Erzählung, die, wenn sie sich nicht von den schrecklichen Ereignissen abgrenzte, so doch wenigstens eine andere Perspektive schuf. Für mich war diese Perspektive die geologische Geschichte der Erde, sie war das Prisma, durch das es mir damals möglich war, die Welt zu betrachten.  

    Ich bin überzeugt, dass das Buch, das ich jetzt schreibe, und alle, die ich in Zukunft schreibe, anders sein werden, denn ich und die Welt um mich herum ändern sich, und ich reagiere schon anders auf das, was passiert.  

    Sollte man über die Gegenwart – besonders die letzten Jahre in Belarus – besser distanziert oder doch emotional schreiben? 

    Ich denke, jede Schriftstellerin, jeder Schriftsteller hat einen eigenen Stil. Für mich ist Distanz eines der wichtigen Instrumente beim Schreiben. Ich schreibe nicht aus der Emotion heraus, ich bemühe mich, sie mit Abstand zu betrachten, in Einzelteile zu zerlegen. Aber natürlich sind auch andere Herangehensweisen möglich – Lyrik schreibt man zum Beispiel gerade aus den Tiefen eines Gefühls heraus, sie hilft, diese Emotion in Worte zu fassen. Man kann sogar mehr schreien als schreiben (unsere Wirklichkeit gibt dafür ja genügend Anlass) – und das ist auch Arbeit mit Emotionen. In schweren Momenten hilft mir als Leserin solche Literatur, um den eigenen Schmerz zu verarbeiten, oder Verzweiflung, oder Hass, und am Ende Erleichterung zu empfinden. 

    Ich selbst muss beim Schreiben aber immer einen Schritt wegtreten von den Emotionen. Deshalb habe ich für Kanstytucyja (eine Gedichtsammlung, die sich mit der Belarussischen Verfassung auseinandersetzt – dek.) und Tschas pustasellja jeweils ein Konzept entwickelt: Die Gedichte in Kanstytucyja basieren auf Gesetzestexten, und Unkrautzeit ist ein Tagebuch in der Emigration, das im Geologischen Museum in den ersten Monaten des Krieges entstand. Solche Konzeptionen helfen dabei, Distanz zu schaffen.  

    Sie sind bereits seit den 2000er Jahren im Literaturbetrieb. Beobachten Sie positive Entwicklungsdynamiken? Oder wird alles immer schlimmer? 

    Die Situation in der belarussischen Literatur ändert sich ständig. Vor fünfzehn Jahren gab es kaum unabhängige Verlage, es erschienen kaum Bücher und wenn, dann waren sie sehr dünn. Das sagt nichts über die Qualität aus, aber es zeugt davon, dass Autoren wenig Zeit für Literatur haben. 

    Schritt für Schritt wuchs die Anzahl der Verlage und Leser, es wurde einfacher, etwas zu veröffentlichen. Das war das Ergebnis der hingebungsvollen, manchmal unbemerkten, niedrig bezahlten oder gar ehrenamtlichen Arbeit vieler Menschen – Schriftsteller, Übersetzer, Verleger, Redakteure, Kritiker und Förderer. Aber auch Leser und Leserinnen, die belarussische Bücher suchten – denn in Belarus war es immer einfacher, ein russisches Buch zu finden als ein belarussisches.  

    2020 war der Höhepunkt, die Leserschaft wurde breiter und das Interesse an belarussischer Literatur ebenfalls. Nicht umsonst liquidierten die Machthaber später die Mehrheit der unabhängigen Verlage, belarussischsprachige Bücher wurden als Instrument der Herausbildung von Gemeinschaft und Widerstand betrachtet.  

    Die Arbeit auf dem Feld der Literatur kann einen Impuls für Veränderungen geben, auch innerhalb von Belarus 

    Jetzt ist das literarische Leben recht aktiv in der Emigration, auch in Belarus erscheint einiges, Bücher werden geschrieben und übersetzt – das gibt Hoffnung. Aber ich bin vorsichtig mit dieser Hoffnung. Erstens wissen wir aus Monitorings, dass die Russifizierung in Belarus seit 2020 noch stärker zugenommen hat. Das ist kein natürlicher Prozess, sondern einer, in den Russland viele Ressourcen investiert. Wir wissen nicht, wie die folgenden Generationen die belarussische Sprache annehmen werden. Ob in zehn bis 20 Jahren neue belarussischsprachige Autoren und Übersetzerinnen im Literaturbetrieb nachwachsen. 

    Zweitens ist der Boom des Interesses an belarussischer Literatur in der Emigration ein temporäres Phänomen: Die Kinder der Emigranten werden wohl kaum im selben Umfang belarussische Bücher kaufen und lesen, wie ihre Eltern es tun. Drittens kann man sich anschauen, wie viel bedeutende Prosa in belarussischer Sprache geschrieben wird: Es ist viel weniger als im Jahr 2019. Denn viele Autoren waren gezwungen, das Land zu verlassen, sie mussten ein neues Leben aufbauen, die Wenigsten haben die Möglichkeit zu schreiben. Viele verlassen den Literaturbetrieb, und ich denke, es werden noch mehr werden.  

    All das bedeutet nicht, dass man die Hände in den Schoß legen soll. Im Gegenteil – solange wir das Interesse der Leser haben, müssen wir alles nur Mögliche tun. Diese Arbeit auf dem Feld der Literatur, die wir jetzt verrichten, kann einen Impuls für Veränderungen geben, auch innerhalb von Belarus. Wenn belarussische Bücher in andere Sprachen übersetzt werden, stärkt das das Bild von Belarus im Ausland, festigt unsere Subjektivität. Je mehr belarussische Forschungen, Publikationen, aufsehenerregende Ereignisse, zum Beispiel Preisverleihungen, es gibt – desto mehr wird Belarus als eigenständiges Land mit eigener Kultur wahrgenommen statt als Anhängsel Russlands. Kulturelle Produkte, die im Ausland geschaffen wurden, können als Schmuggelware nach Belarus gelangen (genau wie das dort Geschaffene ins Ausland) und ihre Wirkung entfalten.  

    Man muss aber immer bedenken, dass die Situation instabil ist, sie wird sich weiterhin verändern, vielleicht auch zum Schlechteren. Ich weiß nicht, ob Kraft und Ressourcen ausreichen, um das zu bewältigen, aber ich denke, es ist sinnvoll zu kämpfen.  

    Wie stellen Sie sich Ihre eigene Zukunft vor? Wie weit im Voraus planen Sie gerade? 

    Ich habe einen ungefähren Plan für das nächste Jahr: Wo, wie und wovon ich leben werde. Die Pläne für die Zeit danach liegen noch im Dunkeln, aber das kümmert mich nicht. Anfang 2020 hatte ich einen konkreten beruflichen, finanziellen und künstlerischen Plan für die kommenden fünf Jahre – und die Wirklichkeit hat ihn komplett zerstört. Deshalb sehe ich gerade noch keine Möglichkeit langfristig zu planen, denn die Situation in meinem Leben, in Belarus und auf der Welt ist weit von Stabilität entfernt.  

    Ich schreibe jetzt ein neues Buch, das ich hoffentlich bis Herbst 2025 beende. Es gibt auch ein paar kleinere Projekte: Ich will einige Lyrikübersetzungen fertigstellen, die Neuausgaben einiger Bücher vorbereiten, die ich in der heutigen Zeit für bedeutend halte, und zwei kleine Geschichten für Kinder fertigschreiben und herausgeben.  

    Ich habe auch einen halbfertigen dicken Roman über meine Heimatstadt Hrodna und die Ereignisse von 2020 in der Schublade – wenn alles gut läuft, möchte ich ab kommendem Herbst daran weiterarbeiten. Und ich habe viele andere Ideen, die ich bislang auf „irgendwann später“ zurückstelle. Ich werde alles nur Mögliche tun, um so lange wie möglich im Bereich der belarussischen Literatur zu bleiben. Wenn wieder etwas Unvorhergesehenes geschieht und andere Probleme gelöst werden müssen (wie es nach 2020 mit meinen Plänen geschah) – dann bin ich jetzt besser darauf vorbereitet, als ich es vor fünf Jahren war.  

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  • Belarus im Karussell der Identitäten

    Belarus im Karussell der Identitäten

    Was macht die nationale Identität der Belarussen aus? Wie haben sich die Vorstellungen von einer belarussischen Nation im Lauf der Zeit gewandelt? Wie prägt das Lukaschenko-Regime diese Vorstellungen und wie haben sich diese seit den Protesten von 2020 verändert?  

    In einem großen Gespräch, das die Journalistin Bogdana Pawloskaja für das Online-Portal Gaseta.BY geführt hat, beleuchtet Alexey Bratochkin diese und andere Fragen. Bei seinem spannenden Rundumschlag durch die belarussische Geschichte und Gegenwart diskutiert der Historiker letztlich auch die Frage, in welcher Form die belarussische Nation eine Überlebenschance hat und inwieweit es ihr gelingen kann, zu einem demokratischen Staatswesen zu gelangen. 

    Die Veröffentlichung dieses Gesprächs in deutscher Übersetzung entstand in Kooperation mit dem Forum für historische Belarus-Forschung

    Belarussen protestieren vor der Botschaft ihres Landes in Kyjiw im August 2020 / Foto © Volodymyr Tarasov/ Imago 

    Ich würde gerne verstehen, was den belarussischen Nationalcharakter ausmacht. Welche Wesenszüge zeichnen unsere Nation aus und was unterscheidet uns von anderen? 

    Ich denke nicht in Kategorien wie „Nationalcharakter“ oder „genetische Programmierung“, deshalb kann ich diese Frage nicht beantworten. Natürlich können wir über die Unterschiede zwischen einzelnen Gesellschaften und Traditionen reden, aber das hängt weniger davon ab, ob man in Belarus geboren ist oder woanders, sondern vielmehr von den kulturellen, sozialen, politischen und anderen Umständen, in denen man lebt. 

    Ich glaube, richtiger wäre es, von einer belarussischen Identität als einer veränderlichen Kategorie zu sprechen. Ich habe Schwierigkeiten mit dem Gedanken, dass die Belarussen so und so sind und beispielsweise die Ukrainer anders. 

    Gut, und wie ist es dann mit unserer Identität? Können wir heute genau sagen, wer die Belarussen sind? 

    Diese Debatte reicht zurück in die 1980er Jahre, in die Zeit der Perestroika. Damals lautete die offizielle Definition: Die Einwohner von Belarus sind sowjetische Belarussen. Also ein Konstrukt aus zwei verschiedenen Begriffen: „sowjetisch“ und „Belarussen“. Das heißt, die Belarussen haben in diesem sowjetischen Kontext zwar eine Art Identität, doch hat sie keine echte politische Bedeutung. 

    Die Sowjetunion war der einzigartige Versuch, etwas „Universelles“ mit dem Nationalen zu verbinden, es war ein Experiment zur Erschaffung einer super-nationalen Gesellschaft. 

    Seit den späten 1980er Jahren, als die UdSSR zerfiel, gewannen die lokalen Nationalismen wieder an Bedeutung. Die nationale Agenda wurde dabei anders formuliert. In den spätsowjetischen Medien war das Bild der Mankurts populär (Menschen, die ihre Herkunft vergessen haben) – um zu zeigen, dass ob der großen Idee der Erschaffung eines sowjetischen Volkes willen nationale Identitäten ausgelöscht und das historische Gedächtnis vieler Völker zerstört und kolonialisiert werden. 

    Zur selben Zeit entstanden in Belarus die Nationale Front und das Projekt „nationale Wiedergeburt“. Man redete davon, dass wir uns als Belarussen wiederfinden müssten, eine Nation werden, während die Sowjetunion als künstliches politisches Projekt betrachtet wurde, das auf sehr viel Gewalt beruhte. Wir Belarussen wurden ermutigt, uns daran zu erinnern, dass wir eine eigenständige Nation sind, eine eigene, belarussische Sprache haben, eine eigene Kultur. Wir sollten das alles wiedererwecken und fördern. Die nationale Bewegung hatte damals etwas von politischer Emanzipation, Befreiung. 

    Soweit ich mich erinnere, waren bei weitem nicht alle unsere Mitbürger begeistert von der Idee. Das Projekt „sowjetischer Belarusse“ war ja scheinbar fast geglückt. 

    Ja, es wurde tatsächlich viel diskutiert. Oft konnte man hören, dass den Belarussen die nationale Idee, nationale Marker fehlen würden: Die Sprache würde von kaum jemandem gesprochen, die Kultur beschränke sich auf Folklore und die Verwendung von Ornamenten, aber es fehle an tieferer Bedeutung, die sich auch im Politischen zeigt.  

    Die Idee vom Fehlen einer belarussischen nationalen Identität war in den vergangenen 30 Jahren in vielerlei Hinsicht vorherrschend. Ständig war die Rede davon, dass die Belarussen nicht belarussisch genug wären, und wenn sie es nur würden, würden auch politische Veränderungen folgen. 

    Als 1999 das Buch Belarus: A Denationalized Nation des kanadischen Wissenschaftlers David Marples herauskam, war allein der Titel für viele eine Metapher für die Abwesenheit einer nationalen Identität. Der Autor stellt darin die These auf, unser autoritäres System und die spezifische Beziehung zu Russland sei eine Folge ebendieser Situation. 

    Ist das denn wirklich so? Reicht es, wenn wir einfach echte Belarussen werden – dann fällt das Regime, es kommt die Demokratie, und wir befreien uns von Russland? 

    Ein weiterer moderner Klassiker zum belarussischen Modell stammt von Nelly Bekus, einer belarussischen Wissenschaftlerin, die später in Polen und Großbritannien tätig war. Das Buch heißt Struggle over Identity: The Official and the Alternative „Belarusianness“ (2010). Stark vereinfacht, geht es darum, dass bei uns mindestens zwei Versionen einer belarussischen Identität kursieren: Eine ist geknüpft an die politische Opposition, und die zweite ist die offizielle, die das Regime Alexander Lukaschenkos zu erschaffen versucht. 

    Außerdem schreibt Bekus in einer Reihe anderer Artikel, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen Nationalismus und liberaler Demokratie gebe. Das heißt, selbst wenn das Projekt belarussische Identität sich plötzlich verwirklichen und wir Bilderbuch-Nationalisten werden sollten, bedeutet das noch lange nicht, dass unser Land sich im gleichen Moment in eine liberale Demokratie verwandelt. Das sind zwei unterschiedliche Prozesse, die nur zum Teil miteinander verbunden sind. Sie bezieht sich dabei auf die Erfahrungen anderer Länder in Osteuropa. 

    Über das Problem der nationalen Identität schrieb 2010 auch der Politologe Andrej Kasakewitsch. Er zählte ganze vier Modelle einer belarussischen Nation und entsprechender Identitäten. 

    Der Historiker Alexey Bratochkin bei einem Vortrag / Foto © privat 
    Der Historiker Alexey Bratochkin bei einem Vortrag / Foto © privat 

    Welche vier Modelle sind das? 

    Zum einen natürlich das ethnozentrische Modell: Der Fokus liegt darauf, dass wir Belarussen sind, fördert nur die belarussische Sprache und Kultur und konzentriert sich auf die Interessen dieser kulturell dominanten Gruppe. 

    Das zweite Modell ist dem diametral entgegengesetzt: Dieses Modell ist russozentrisch; die Belarussen sind darin quasi Teil des russischen Volkes. Solche Ideen waren besonders nach dem Zerfall der UdSSR populär, als man nicht so recht wusste, was man mit diesem abgespaltenen Teil anfangen sollte. 

    Was stellt der moderne belarussische Staat und Lukaschenkos Regime heute dar? 

    Das dritte Modell ist jenes, das das autoritäre Regime Alexander Lukaschenkos zu erschaffen versucht: Der Fokus liegt hier nicht auf einer nationalen Kultur, sondern auf der Loyalität gegenüber dem Staat. In diesem Konstrukt ist man ein Belarusse, wenn man das Regime unterstützt. 

    Das vierte Modell verfolgt laut Kasakewitsch eine eher liberale Idee, wo der Nationalismus demokratisch ausgerichtet ist. Das heißt, nicht nur Belarussen oder belarussischsprachige Menschen, sondern auch andere Gruppen, die in Belarus leben, werden in die Nation einbezogen. Also eine Art Bürger-Nationalismus. Dabei operiert jedes dieser Modelle mit unterschiedlichen Vorstellungen von Geschichte. 

    Unterschiedliche Geschichten einer Nation? 

    Das ist nicht ungewöhnlich. Für das ethnozentrische Modell stellt zum Beispiel die sowjetische Epoche ein großes Problem dar, weil man in dieser Periode die Nation zerstören wollte. Davor gab es aber eine Zeit, in der sich diese Nation formiert hat, die wird dann als Goldenes Zeitalter definiert, Schlüsselereignisse werden bestimmt und so weiter. 

    Für die Vertreter der Meinung, die Belarussen seien im Grunde Russen, steht hingegen im Vordergrund, dass wir schon seit zweihundert Jahren zusammengehören, auch wenn es ein Imperium war. In deren Vorstellung hat uns das Imperium vor allem und jedem beschützt; so hat es sich eben historisch ergeben. So wird die Geschichte in den verschiedenen Identitätsmodellen unterschiedlich interpretiert. 

    Im Endeffekt sehen wir heute, dass wir von den „sowjetischen Belarussen“ über das Projekt der „nationalen Wiedergeburt“ und die darauffolgenden Streitgespräche über den Grad der „Belarusianness“ bei einem viel komplexeren Bild angelangt sind. Nämlich dem, dass in Belarus verschiedene Identitäten nebeneinander existieren, je nach politischer Präferenz usw. Diese Komplexität müssen wir heute anders in den Blick nehmen. 

    Dazu sind noch andere Probleme gekommen. Zum Beispiel die Frage, was der moderne belarussische Staat und Lukaschenkos Regime heute darstellt. Sind sie nationalistisch oder nicht, belarussisch oder anti-belarussisch? 

    Und was glauben Sie? 

    Natürlich hat auch das Regime den Nationalismus als Element der politischen Mobilisierung genutzt, so zum Beispiel nach 2014/15. Aber auf sehr vorsichtige, spezielle Art. So entstand ein spezifisches offizielles Modell der Nation, das auf ganz spezielle Weise an den Patriotismus und nationale Gefühle appelliert. Erinnern Sie sich an die Werbekampagne Kuplyaitse Belaruskaie (dt. Kauft Belarussisch)? Hier appellierte das Regime an den Patriotismus, indem es sagte: Kauft unsere eigenen, belarussischen Produkte. Ein sehr merkwürdiger Appell, aber dennoch. 

    Doch ich betone noch einmal: Dieses Modell des offiziellen Nationalismus unter Alexander Lukaschenko baut weder auf einer ethnischen Solidarität (wir sind alle Belarussen) noch auf der Idee einer bürgerlichen Nation (wir gehören alle dieser Nation an) auf, sondern auf der Loyalität gegenüber dem Regime. Wer in Belarus lebt und loyal ist, gehört dazu, und wer das nicht ist, der gehört zur fünften Kolonne, den können wir hier nicht gebrauchen. 

    Genau das beobachten wir gerade.

    Ja, und hier stellt sich eine schwierige Frage: Kann man die Idee des Nationalismus in Belarus ohne staatliche Institute voranbringen? Wie umgeht man dieses Nationsmodell eines Lukaschenko? Denn es kann ja nur der Staat beispielsweise flächendeckenden Unterricht auf Belarussisch durchsetzen. 

    Was wird aus der belarussischen Kultur und der Sprache, wenn die unabhängige Kultur und „zufällig“ auch ihr belarussischsprachiger Teil zerstört wird? Wenn bestenfalls einige regionale Eigenheiten bestehen bleiben, die nicht besonders ins Gewicht fallen und die auch die Beziehungen zwischen dem Lukaschenko-Regime und Russland nicht gefährden? Wenn die Frage nach der schwierigen Vergangenheit zwischen Russland und Belarus nicht mehr gestellt wird, sondern es immer nur heißt, dass alles immer toll war. 

    Identität ist nichts, das von Natur aus da ist, auch wenn es manchmal so scheint. Sie ist ein soziales Konstrukt, das wir erschaffen. Deshalb gibt es keine Identität, die über Jahrhunderte besteht und sich nicht verändert. Verschiedene Identitätsmarker (zum Beispiel die Sprache) haben sich zwar schon vor langer Zeit herausgebildet, sind aber Veränderungen unterworfen. 

    Sogar zu Sowjetzeiten können wir gänzlich unterschiedliche Varianten der Identität beobachten 

    Die modernen Nationen sind noch recht jung, sie entstanden hauptsächlich nach dem 18. Jahrhundert. Die Frage der nationalen Identität ist die Frage danach, wie sich verschiedene Gemeinschaften als Nation denken: Wer gehört dazu und wer nicht? Wie war unsere Geschichte? Wie wählen wir die historischen Ereignisse aus, die für uns wichtig oder unwichtig sind, die wir als negativ oder positiv bewerten? 

    Und wenn zum Beispiel in Belarus in der Schule, in den Universitäten, in Theatern, Museen, staatlichen Institutionen und anderen Einrichtungen die Vorstellung von politischer Loyalität und diese ganz spezifische Vorstellung von der belarussischen Nation vorherrschen, wie kann man dann über andere Identitätsmodelle, über irgendeine Komplexität sprechen? Das ist wirklich ein großes Problem. 

    Aus dem Zyklus „Planet der Affen” / Illustration © Antanina Slabodchykava 

    Wir haben darüber gesprochen, wie sich das Projekt „sowjetischer Belarusse“ immer wieder gewandelt hat, bis es seine heutige Form mit den vielen verschiedenen Identitätsmodellen angenommen hat. Aber auch vorher haben sich die Belarussen doch mit irgendetwas identifiziert. Wann in unserer Geschichte haben wir angefangen, uns als eigenständige Nation zu positionieren? 

    Professor Oleg Łatyszonek hat seinerzeit ein Buch namens NazyjanalnastBelarus geschrieben [dt. Nationalität: Belarusse], in dem er die Geschichte der belarussischen Selbstidentifikation erforscht. Das Wort „Belarusse“ war nicht schon immer als Eigenbezeichnung geläufig. Selbst im 20. Jahrhundert bezeichneten sich die Menschen oft noch als tutejschyja [dt. die von hier], die Verbreitung des Ethnonyms dauerte bis in die 1920er Jahre hinein an. 

    Nicht alle fühlten sich gleich als Belarussen, aber der Prozess war angestoßen. Damals waren ja auch sehr viele Juden und andere ethnische Gruppen in Belarus vertreten. Sogar zu Sowjetzeiten können wir gänzlich unterschiedliche Varianten der Identität beobachten. Zum Beispiel auf der einen Seite die „sowjetischen Belarussen“, auf der anderen die postrevolutionäre und Nachkriegsemigration. Die Menschen, die sich im Exil wiederfanden, bemühten sich, ein Modell aufrechtzuerhalten, das gerade nicht sowjetisch war. 

    In der Sowjetunion selbst gab es innerhalb der Intelligenzija ebenfalls verschiedene Gruppen, die sich vom sowjetischen Lebensstil zu distanzieren suchten, grob gesagt, „größere Belarussen“ sein wollten: zum Beispiel die einzigartige Tätigkeit der Maisterny in den 1980er Jahren, die sich der Wiedergeburt des kulturellen Erbes verschrieben hatten, oder die bekannte Arbeit von Sjanon Pasnjak zum Schutz des historischen Zentrums von Minsk

    Die belarussische Identität wurde also durch ihre Träger problematisiert. In der UdSSR trafen verschiedene Nationalitäten aufeinander, die natürlich versuchten, sich ihre jeweiligen Besonderheiten auf ganz alltäglicher Ebene zu „erklären“ bzw. stereotyp an die ethnische Zugehörigkeit zu knüpfen: Die Ukrainer waren in ihrer Vorstellung so und so, die Georgier so und so und die Belarussen noch mal anders. 

    Aber warum stellte sich nach dem Zerfall der UdSSR plötzlich heraus, dass ausgerechnet die Belarussen eine der sowjetischen Nationen mit dem am wenigsten ausgeprägten nationalen Bewusstsein sind? Sind die Repressionen, die 200-jährige russische Okkupation schuld, oder gibt es auch andere Gründe? 

    Ich kann eine Vermutung äußern, aber ich weiß nicht, inwieweit man mir zustimmen wird. Es gibt einen älteren Text des Politologen Siarhej Bohdan, der ziemlich umstritten war. Seiner Ansicht nach bildete sich die moderne belarussische Nation ausgerechnet während der Epoche der UdSSR heraus. Der Entstehungsprozess fand dieser These zufolge vor dem Hintergrund der sowjetischen Modernisierung statt, die nach dem Zweiten Weltkrieg Turbogeschwindigkeit aufnahm. 

    Der belarussische Nationalismus des frühen 20. Jahrhunderts hatte keine institutionelle Basis, die stabil genug gewesen wäre. Die Belarussen wurden sich erst während der Sowjetepoche als solche im heutigen Sinne bewusst, aber eben im Rahmen der sowjetischen Nationalpolitik. Das alles fand, so Bohdan, auf dem Höhepunkt eines gewissen wirtschaftlichen Wohlstands der Nachkriegsjahre statt, etwa Mitte der 1960er bis Anfang der 1980er Jahre, während der sogenannten „goldenen Epoche“ unter Mascherow. Damals erschienen zahlreiche Bücher auf Belarussisch, es wurden Zeitungen gedruckt. 

    Andererseits war das alles sehr sowjetisch: sowjetische Autoren, sowjetische Texte. Jetzt sind wir dabei, herauszufinden, wo in diesen Texten das „Nationale“ ist und wo das „Sowjetische“. Wer war der größere Belarusse: Karatkewitsch, Schamjakin oder Bykau? Gleichzeitig wurde die Urbanisierung vorangetrieben – das Russische verbreitete sich als Sprache der sozialen Mobilität und des Alltags in der sowjetischen Gesellschaft. Und später dann stellte sich die Frage, wie man dieses sowjetische Volk in jene historischen Belarussen zurückverwandeln kann. 

    Das Problem war auch das sowjetische Projekt selbst: Es war in eine Zukunft gerichtet, die man sich damals, wie man heute sagen würde, als post-national vorstellte, obwohl man nicht diesen Ausdruck verwendete und darunter etwas anderes verstand. Nämlich den Moment, wenn die nationale Identität und die Unterschiede quasi „überwunden“ sind und die Menschen sich zu einem kommunistischen Gemeinwesen hinbewegen. Doch das stellte sich als Utopie heraus. Die Idee, ein universelles sowjetisches Volk zu erschaffen, innerhalb dessen verschiedene Identitäten miteinander verschmelzen, ist nicht aufgegangen. Sie basierte allzu häufig auf Unterdrückung und Gewalt. 

    Aber als sich die Möglichkeit eines Umdenkens eröffnete, waren die Belarussen nicht besonders enthusiastisch. 1991 sprachen sich bei einem Referendum fast 83 Prozent aller Bürger für den Erhalt der UdSSR aus – mehr als in jeder anderen Republik. 

    In der finalen Phase der Sowjetunion bedeutete es für die meisten eine radikale Veränderung des Maßstabs, Belarussen im neuen Sinn zu werden. Gerade noch waren wir so ein Riesenland, und jetzt sind wir so klein. Das ist schwer zu begreifen. Ein Teil der Gesellschaft nahm dies als eine Art Provinzialisierung wahr. Deshalb war es für viele Sowjetbürger ein ziemlich schmerzhafter Prozess. Dazu war es ein post-imperiales Setting, wir waren alle von diesem auf ganz bestimmte Weise kolonialisierten Bewusstsein geprägt. 

    Für die neuen Generationen war das Leben ohne die UdSSR jedoch vollkommen natürlich, sie richteten sich schnell darin ein. Was den offiziellen „Belarussismus” unter Lukaschenko angeht, so hat der Soziologe Alexej Lastowski zurecht bemerkt, dass die Identifikationsschwelle in diesem Fall sehr niedrig ist, man muss zum Beispiel weder die belarussische Sprache sprechen, noch die Geschichte kennen. Es reicht eine minimale Vorstellung von der Kultur. Die Hauptsache ist, dass man loyal ist. 

    Inwiefern haben die sowjetischen Repressionen, die Vernichtung der nationalen Elite in den 1930er Jahren unser nationales Selbstbewusstsein geprägt? Waren nicht sie dafür verantwortlich, dass der belarussische Nationalismus des frühen 20. Jahrhunderts nicht diese entscheidende Rolle gespielt hat? 

    Ja, natürlich haben die Repressionen damit zu tun. Denn wie konnte man in der sowjetischen Gesellschaft über die belarussische Identität sprechen, wenn man wusste, dass die Aktivistinnen und Aktivisten, die das bereits versucht hatten, schlichtweg ermordet wurden? Nicht umsonst erinnern wir uns heute Ende Oktober an die Vernichtung der Kulturelite in Belarus in den 1930er Jahren, zum Beispiel im Rahmen des Projekts (Ne)rasstraljanaja paesija [dt. (Nicht-)erschossene Poesie]. 

    Die Repressionen der 1920er und 1930er Jahre richteten sich ursprünglich gegen ganz bestimmte soziale Schichten. Dann nahm man sich auch die vor, die alternative Identitätsmodelle repräsentierten (die Rede ist nicht nur von ethnischen Belarussen; in der Kulturelite waren auch Juden vertreten und Leute, die durchaus kommunistische Ansichten hatten). Es wurde überhaupt jede Möglichkeit auf eine Alternative ausgemerzt. 

    Natürlich lag es nicht nur an dem Mascherowschen Wohlstand, als es plötzlich Fernseher und Kühlschränke gab und man in Städte reisen konnte, warum die Leute mit ihrem Dasein als sowjetische Belarussen ganz zufrieden waren. Die Repressionen haben ihr Übriges getan. Die Schattenseite der sowjetischen Modernisierung ist ausgesprochen düster. 

    Die Atmosphäre der Angst in den 1930er Jahren und später – im Grunde bis heute – hat die Wahrnehmung der Staatsmacht maßgeblich geprägt. Die staatliche Gewalt spielte eine riesengroße Rolle bei dem, was mit den Identitäten aller Belarussen geschehen ist. 

    Die Ereignisse von 2020 bezeichnen viele als wichtige Etappe im Werden der Nation. Aber jetzt sind wir mit nie dagewesenen Repressionen konfrontiert, darunter gegen alles Nationale. Wir können eine totale Russifizierung beobachten, wie der Russki Mir alle Bereiche des Lebens durchdringt. All das wirft die Frage auf, ob wir beim Aufbau der Nation wirklich einen Schritt vorangekommen sind. 

    Auch das ist eine schwierige Frage. Diese Situation dauert bereits seit über vier Jahren an, und es gibt unterschiedliche Bewertungen der Ereignisse. In der Tat war für viele das, was 2020 geschehen ist, die Geburt einer politischen Nation. Die Idee eines Selbstbewusstseins allein reicht nicht aus, man muss sie auch politisch realisieren. Als 2020 so viele Menschen auf die Straße gingen, um ihre eigene Identität, ihre politische Position zum Ausdruck zu bringen, war das genauso eine Erfahrung einer gelebten Politik. 

    Während zu Beginn der „Wahlkampagne“ im April/Mai so gut wie keine weiß-rot-weißen Fahnen zu sehen waren, änderte sich das später, bis die großen Protestmärsche schließlich unter diesen Fahnen stattfanden. Das bedeutet, dass ein bestimmtes Bild einer etwaigen Identität, ihre Elemente von vielen Menschen geteilt wurden. Damals regte sich auch ein großes Interesse an der Geschichte. Unsere Historiker können Ihnen von Vorträgen berichten, die sie in den Hinterhöfen gehalten haben. Es war den Menschen wichtig zu verstehen, wer wir sind, woher wir kommen und was wir darstellen. Denn damit eine Identität real wird, muss sie Teil des politischen Lebens werden, wir müssen die Politik mitgestalten, um das Bild, das uns wichtig ist, in die Tat umzusetzen. 

    Eine andere These besagt, dass die revolutionären Ereignisse von 2020 eher von einer belarussischen Zivil-Identität zeugen, einer Identität, die bereits auf dem Weg zur post-nationalen Gesellschaft einer neuen Art ist: nämlich, wenn alle innerhalb dieser Gesellschaft gleich sind und niemand von dem Projekt ausgeschlossen ist. Welche Rolle diese Ereignisse gespielt haben? Ich habe eine pessimistische und eine optimistische Antwort darauf. 

    Dann die pessimistische zuerst!

    Die pessimistische Antwort ist, dass der Autoritarismus sich ausgeweitet hat und er immer neue Bereiche kolonialisiert. Zum Beispiel wurden vor 2020 Handys eher selten kontrolliert, jetzt ist das an der Tagesordnung. Die Staatsmacht kolonialisiert den Alltag. Ganz zu schweigen von der Gewalt und den ganzen anderen Dingen. 

    Andererseits, ist 2020 allein daran schuld? Wäre das alles denn nicht passiert, wenn wir nicht protestiert hätten? Ich glaube, 2020 hat einfach die Mechanismen der Gewalt offenbart, die schon da waren, aber im Verborgenen. Es haben einfach nicht alle hingeschaut. Oder wollten es nicht. 

    Und die positive? 

    Die positive Antwort ist die, dass solche Momente der Einheit für eine Gesellschaft immer sehr wichtig sind. Diese massenhafte Willensbekundung, dem Autoritarismus eine Abfuhr zu erteilen, die damals nicht nur Minsk, sondern auch andere Städte in verschiedenen Teilen des Landes gezeigt haben. Das sieht man auch an den Repressionen, die wir heute beobachten und die nicht nur eine einzelne Gruppe oder nur Minsk betreffen. 

    Ich beobachte, dass viele im Alltag das Belarussische pflegen 

    Diese Erfahrung der Freiheit, so kurz sie auch gewesen sein mag, so unterdrückt und niedergeschlagen, ist für die Zukunft sehr wichtig. Es gibt Analogien zu anderen Ländern Osteuropas. So lag die tragische Erfahrung des Prager Frühlings, die Unterdrückung der Freiheit in der Tschechoslowakei 1968, später den Veränderungen zugrunde, die 1989 passierten. Oder die Erfahrung der polnischen Solidarność

    Es ist sehr wichtig, sich auf etwas stützen zu können, das eine Alternative zum Autoritarismus bietet. Unsere ebenfalls tragische Erfahrung des gewaltlosen Widerstands könnte künftig ein solcher Anhaltspunkt dafür sein, etwas anderes im Land zu erschaffen. Vorausgesetzt, wir leben so lange. Auch für die kollektive Identität ist das sehr wichtig – diese Momente der Einheit, der Abwesenheit von sichtbaren Konflikten (obwohl sie in jeder Gesellschaft zahlreich vorhanden sind), dass wir gezeigt haben, dass es uns gibt, dass wir ein kollektives Subjekt sind und wir unsere eigene Symbolik und unsere Vorstellungen haben. Das ist eine Lektion darin, dass politisches Leben wichtig und notwendig ist. 

    Das ist der Grund, warum das Regime sämtliche Spuren des Protests zu beseitigen und alle alternativen Versionen der Identität auszumerzen versucht, außer des offiziellen, formellen „Belarussismus“, der auf politischer Loyalität basiert. 

    Heute befinden sich sehr viele Belarussen im Exil. Wie fatal ist das? 

    Das kommt darauf an, wie viel Zeit vergeht. Nach den Ereignissen des Prager Frühlings 1968 verließen ebenfalls viele die Tschechoslowakei. Später, nach der Samtenen Revolution von 1989, kehrte ein Teil der politischen Emigranten wieder zurück. Es stellte sich jedoch heraus, dass sie in ein ganz anderes Land zurückgekehrt waren (beziehungsweise waren es jetzt sogar zwei Länder), in dem niemand auf sie gewartet hatte. Viele konnten ihren Platz darin nicht finden und gingen wieder weg. Es war also nicht unbedingt eine triumphale Rückkehr. 

    Andererseits gibt es auch erfolgreiche Beispiele, wie Menschen nach dem Zerfall der UdSSR in die Länder des Baltikums zurückkehrten. So wurde der Emigrant Valdas Adamkus sogar zweimal zum Präsidenten des unabhängigen Litauens gewählt. Auch nach Russland sind einige „Überläufer“ zurückgekehrt.

    Heute ist der öffentliche Raum in Belarus komplett gesäubert; es gibt kaum noch unabhängige Medien, sie arbeiten alle aus dem Ausland, und deshalb wissen wir wenig über die Prozesse Bescheid, die innerhalb der Gesellschaft vor sich gehen, über ihre Dynamik. Klar ist, dass die Gesellschaft sich verändert, und es ist schwer vorherzusagen, was sein wird. In jedem Fall wird es keine Rückkehr an diesen nur sehr bedingt „positiven“ Punkt geben, diese wenigen Wochen im August 2020. Dorthin wird niemand mehr zurückkehren. 

    Kann man eine Nation aufbauen, wenn man sich jenseits der Landesgrenzen befindet? 

    Die Frage ist, wie die Menschen, die weggegangen sind, mit ihrer Identität umgehen. Einerseits sind wir im Ausland in gewisser Weise sogar mehr zu Belarussen geworden denn je. Als Fremder in einem anderen Land stellt sich viel stärker die Frage, wie man mit der Nostalgie umgehen soll, dem Heimweh, diesem „Belarussismus“. Forscher sagen, dass die Ursprungsidentität in der Emigration lebenswichtig werden, aber auch der umgekehrte Prozess eintreten kann. 

    Ich beobachte, dass viele im Alltag das Belarussische pflegen. Sie lernen Polnisch oder Litauisch, aber gehen auf belarussische Veranstaltungen, kaufen belarussische Bücher, geben ihren Kinder die Möglichkeit, sich in einem belarussischsprachigen Umfeld zu bewegen. Ich meine damit die, die vorher Russisch gesprochen haben. 

    Interessant ist auch, dass die Ereignisse von 2020 die Identität der Diaspora gewissermaßen wiederbelebt haben. Die belarussische Diaspora war davor eher undefiniert, keine geschlossene Einheit. Vielleicht, weil sie meistens wirtschaftlich motiviert war, aus politischen Gründen emigrierten die Menschen eher vereinzelt. Aber 2020 hat diesen Strom geschaffen, in dem es einen gemeinsamen Bezugspunkt gibt, gemeinsame Werte. Das hat die Diaspora zu einer echten belarussischen Diaspora gemacht. Es sind neue Gemeinschaften entstanden, die das Belarussische an der Tagesordnung halten. 

    Aus dem Zyklus „Planet der Affen” / Illustration © Antanina Slabodchykava
    Aus dem Zyklus „Planet der Affen” / Illustration © Antanina Slabodchykava

    Sie sagten, vieles hängt davon ab, wie schnell die Veränderungen eintreten. Was könnte diese Veränderungen bewirken? Wird sich für die Belarussen in absehbarer Zukunft ein neues Fenster der Möglichkeiten eröffnen? 

    Als Historiker kann ich nur über die Geschichte Auskunft geben, nicht über die Zukunft. 

    Und was zeigt unsere Geschichte? Hat sich zum Beispiel durch den Tod eines Diktators je etwas grundlegend geändert? Was kann überhaupt Veränderungen anstoßen? 

    Die Geschichte kennt unterschiedliche Beispiele. Es gibt die Erfahrung der Perestroika, als die Sowjetunion so gut wie ohne Anwendung von Gewalt in Belarus verschwand – im Gegensatz zu, sagen wir, Bergkarabach, den Tragödien in Vilnius, Tbilissi und so weiter. Aber dann gibt es eben auch 2020, als friedliche Demonstrationen zu massenhafter Gewalt durch das Regime geführt haben und es nicht gefallen ist. 

    Die historische Erfahrung wiederholt sich nie eins zu eins, sie ist jedes Mal einzigartig. Deshalb lässt sie sich auch nicht eins zu eins auf die Zukunft übertragen. Als ich von Veränderungen im Land gesprochen habe, meinte ich, dass es jetzt eine bestimmte soziale Dynamik gibt. Jede Gesellschaft verändert sich. Aber wir können leider nicht genau vorhersagen, wie diese Veränderungen vonstattengehen werden. 

    Der Ausweg aus dem Autoritarismus passiert nicht magisch von heute auf morgen 

    Früher hieß es, man könne aus Belarus kein Nordkorea machen, aber jetzt sehen wir, wie der Autoritarismus in allen Bereichen um sich greift. Vieles wird von der Beständigkeit des Regimes selbst abhängen. Ja, das politische Regime in Belarus ist sehr personalistisch. Und natürlich ist entscheidend, was mit dem Machttransfer passiert, wenn der Anführer stirbt. In Kasachstan schrumpfte Nasarbajews Einfluss interessanterweise schon zu seinen Lebzeiten. Aber ob das Land dadurch viel freier geworden ist, ist sehr fraglich. 

    Der Ausweg aus dem Autoritarismus passiert nicht magisch von heute auf morgen. Das wird recht schmerzhaft. Man wird sich mit Fragen wie Lustration, Strafen für die Gewalt, die 2020 ausgebrochen ist, und anderen Problemen beschäftigen müssen. 

    Wie könnten sich äußere Faktoren auswirken? 

    Als äußerer Faktor ist da natürlich der russische Krieg gegen die Ukraine. Wenn der Konflikt jetzt eingefroren wird, wird auch die Situation in Belarus eingefroren. In dem Fall würde uns ein langsamer autoritärer Verfall erwarten, was niemandem zu wünschen wäre. Diesen Prozess können wir bereits jetzt beobachten: Einerseits wird alles zerstört, was aus Sicht des Staates zu den Protesten geführt hat, aber andererseits kommt nichts Neues hinzu. Wir sehen keine Alternativen zu den [zerstörten] zivilgesellschaftlichen Organisationen, die die Dynamik ermöglicht hatten. 

    Es gab zum Beispiel den Creative Space Imaguru in Minsk mit seinen Start-ups. Und jetzt? Imaguru wurde zerstört, und die Start-ups dazu. Solche Räume wurden allerorts zerstört. 

    Und wie stabil schätzen Sie den belarussischen Autoritarismus ein? 

    Auch ein autoritäres Modell hat seine Grenzen. Das Paradoxe ist, dass der Autoritarismus einerseits auf Druck aufbaut, und andererseits selbst auf Unterstützung, Mobilisierung angewiesen ist. Für diese Unterstützung braucht es irgendwelche Kanäle. 

    Hier stellt sich die Frage: Steckt Belarus momentan in einer politischen Sackgasse? Aus meiner Sicht absolut. Ich sehe nicht, dass das autoritäre System etwas Neues erfinden würde. Es erfindet neue Unterdrückungsmethoden, sie werden zunehmend digital, überall werden Kameras aufgehangen, das Internet wird überwacht, Likes kontrolliert – aber kann man das als Fortschritt bezeichnen? 

    Ich sehe zwei Szenarien, wie sich die Ereignisse entwickeln könnten. Das erste ist ein Einfrieren der Situation für etwa zehn Jahre (oder eben so lange, wie dieses Führer-Duett noch durchhält). Hier hängt vieles davon ab, was in Russland und Belarus passiert, wer von den beiden als erstes stirbt, wie der Machttransfer aussehen wird und so weiter.

    Das zweite Szenario ist, dass sich die Ereignisse kraft irgendwelcher äußeren Umstände plötzlich sehr schnell verändern. Welche Umstände das sein könnten, lässt sich im Moment schwer sagen. 

    Unser Schicksal scheint in vielerlei Hinsicht von äußeren Umständen abzuhängen. Was können wir denn selbst tun, um Einfluss auf unsere Zukunft zu nehmen, die Veränderungen zu beschleunigen? 

    Wie auch immer die äußeren Umstände aussehen, unser Leben darin geht weiter. Wir sind jeden Tag gezwungen, unsere Wahl zu treffen. Für die Menschen in Belarus ist diese Wahl auf jeden Fall sehr schwer. Aber man muss irgendwie man selbst bleiben, versuchen, in dem Bereich, für den man sich entschieden hat, seine Professionalität so gut wie möglich zu bewahren. 

    Es gibt Studien zum Verhalten von Menschen in autoritären Regimen, insbesondere den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel das Konzept des „Eigen-Sinns“ des deutschen Historikers Alf Lüdtke: Es geht darum, dass Menschen auch unter den schwierigsten Bedingungen „Sturheit“ und „Eigensinn“ beweisen, nicht gehorchen wollen, obwohl es unmöglich ist, das offen zu zeigen. 

    Auch diejenigen, die Belarus verlassen haben, stehen vor einer großen Herausforderung. Die Exilgemeinschaften müssen Alternativen schaffen und andere davon überzeugen, dass es diese Alternativen zur bestehenden Ordnung in Belarus gibt. Der belarussische Autoritarismus basiert ja auf der propagierten Annahme, dass es nur so und nicht anders sein kann. Die Aufgabe der Diaspora besteht darin, zu zeigen, dass es auch andere Wege für die Politik und die Entwicklung des Landes gibt.

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    Seit seinem fünften Lebensjahr begleitet Nikolai Lukaschenko seinen Vater bei offiziellen Auftritten und Staatsbesuchen. Im Vorfeld der Scheinwahlen Ende Januar 2025 war der 20-Jährige in Belarus unterwegs, um im Rahmen einer groß angelegten Propaganda-Show Klavierkonzerte zu geben. Der jüngste Sohn von Alexander Lukaschenko hilft seit langem, das Image des Langzeit-Diktators aufzupolieren und die Diktatur für junge Menschen attraktiver zu machen. Auch halten sich Vermutungen, dass der Sohn den Vater irgendwann beerben könnte. 

    Wer aber ist die Mutter von Nikolai Lukaschenko? Bis heute hat das Regime ihren Namen nicht offiziell bestätigt, wobei es eindeutige Hinweise gibt. Das Online-Portal Zerkalo ist den Hinweisen nachgegangen und erzählt eine Geschichte, die tief in die Funktionsweisen von autoritären Systemen blicken lässt. 

    Irina Abelskaja während eines Interviews am 12. Februar 2018 in Minsk / © Foto Tut.by
    Irina Abelskaja während eines Interviews am 12. Februar 2018 in Minsk / © Foto Tut.by

    Irina Abelskaja wurde 1965 in Brest geboren. „Ich bin Ärztin in dritter Generation, mein ältester Sohn schon in vierter. Meine Großmutter war Feldscherin, ihre ganze Verwandtschaft hatte auf die eine oder andere Weise mit Medizin zu tun. Meine Mutter und meine Tante sind ebenfalls Ärztinnen, genauso mein Bruder und seine Frau. Mein Sohn ist Augenarzt in einem Ärztezentrum“, erzählt sie Tut.by im Interview. 

    Im Verlauf unseres Gesprächs verliert Abelskaja kein Wort über ihren Vater. Das mag damit zu tun haben, dass er tatsächlich aus der Mediziner-Reihe ausschert, aber der Grund könnte auch ein anderer sein: Stepan Postojalko war zu Sowjetzeiten ein politischer Häftling. Er kam 1933 in der Oblast Brest zur Welt, in einem Dorf namens Batareja im Bezirk Beresowski. Während des Zweiten Weltkriegs war in dieser Gegend, wie in ganz West-Polesien, die Ukrainische Aufstandsarmee UPA beliebt: Viele identifizierten sich als Ukrainer, und vor dem Krieg hatte es auf politischer wie kultureller Ebene gut organisierte ukrainische Strukturen gegeben. 

    Die Familie Postojalko – Stepan, sein älterer Bruder und die Eltern – arbeitete zwei Jahre lang der UPA zu. Sie nahmen nur einmal an einer größeren Aktion teil: der Verteilung von Flugblättern in Berjosa. Trotzdem wurden 1952 Stepan, sein Bruder und ihr Vater wegen Unterstützung der UPA zu je 25, Stepans Mutter zu zehn Jahren Haft verurteilt. Auch nach dem Tod Josef Stalins 1953 musste die Familie drei weitere Jahre im Lager bleiben und kam erst im Sommer 1956 durch eine Amnestie frei. Stepan kehrte nach Belarus zurück, zog nach Brest und nahm eine Stelle bei Brestenergo an, wo er später verschiedene Führungspositionen innehatte. Erst 1992 wurde die ganze Familie rehabilitiert. 

    In Brest lernte Stepan seine zukünftige Frau Ljudmila kennen. Sie wurde 1941 in der ukrainischen Oblast Poltawa geboren und hatte in Kyjiw Medizin studiert. Sie arbeitete viele Jahrzehnte als Kinderärztin in der Brester Kinderklinik, zuletzt als Chefärztin. Das alles wohlgemerkt, bevor Lukaschenko an die Macht kam.  

    Lukaschenko wurde 1994 Präsident. Stepans und Ljudmilas Tochter Irina war damals 29 Jahre alt. Sie hatte in Minsk an der heutigen BGMU (Belarussische Staatliche Universität für Medizin) Pädiatrie studiert und arbeitete zunächst als Kinderärztin an einer Minsker Poliklinik, dann als Fachärztin für Endokrinologie in einem Behandlungszentrum und später in einem Minsker Diagnosezentrum. Aus ihrer kurzen Ehe ging ein Sohn namens Dmitri hervor; den Nachnamen ihres Mannes hat sie nach der Scheidung behalten. 

    Irinas Sohn ist heute promovierter Augenarzt. Im Oktober 2020 meldete er der Polizei eine weiß-rot-weiße Flagge, die in der Wohnanlage Kaskad hing. Heute veröffentlicht er auf TikTok und Instagram skurrile Werbe-Videos für die private Minsker Klinik, für die er arbeitet. Gegen ihn liegen über dreißig Strafverfahren wegen Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung vor. 

     

    Lukaschenkos Leibärztin 

    Doch zurück in das Jahr 1994. Gleich nach Amtsantritt suchte sich Lukaschenko einen Leibarzt. Sein Management fand offenbar, am besten wäre eine unverheiratete oder geschiedene Frau um die 30 geeignet, die nett anzuschauen ist und ein Kind hat. Irgendwann landeten auf dem Schreibtisch von Gesundheitsministerin Inessa Drobyschewskaja, die mit dem Recruiting betraut worden war, drei Bewerbungsmappen. Die Wahl fiel auf Irina Abelskaja. Im Herbst 1994 übernahm sie ihre Funktion in der Ärztekommission. 

    Das Konzept der Ärztekommissionen stammt aus dem Jahr 1931, als sie in praktisch allen Republiken der UdSSR zur medizinischen Behandlung hochrangiger Beamte eingerichtet wurden. Zu den „Klienten“ gehörten auch Volkskünstler und -schriftsteller, Träger staatlicher Auszeichnungen und dergleichen. Die belarussische Ärztekommission befand sich auf der Krasnoarmejskaja-Straße im Zentrum von Minsk, ganz in der Nähe des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei auf der Karl-Marx-Straße 38, wo heute die Präsidialadministration ihren Sitz hat. Allerdings engagierte Abelskaja sich de facto nicht in der Ärztekommission, sondern begleitete auf Schritt und Tritt den Präsidenten. Bald kamen Gerüchte auf, dass ihr Verhältnis über das dienstliche hinausging.     

    „Dass Irina nicht nur für Lukaschenkos Gesundheit zuständig ist, konnte man bei seinem ersten und einzigen offiziellen Besuch in Frankreich sehen“, schrieb die [staatsnahe – dek] russische Zeitung Moskowski Komsomolez. „Entgegen allen Regeln der diplomatischen Etikette ließ Lukaschenko den Außenminister aus dem benachbarten Hotelzimmer ausquartieren, um dort Platz für Irina zu schaffen. Als Irina Abelskaja dann nach Drosdy in die Präsidentenresidenz zog, wunderte das keinen mehr.“ 

    „Die medizinische Elite des Landes hatte damals von einer Irina Abelskaja noch nicht einmal gehört, sie war eher bei Journalisten bekannt, die das Staatsoberhaupt auf seinen Reisen begleiteten“, bemerkte die Belaruskaja Delowaja Gaseta. „Diese Frau, die immer nur lieb lächelte und nicht viel sagte (vielleicht, weil sie einen leichten Sprachfehler hat), wusste zu gefallen: Mal lotste sie ihn durch die Absperrungen der Wachdienste, mal zauberte sie Tabletten oder Heftpflaster aus ihrem ‚Präsidentenköfferchen’. Einige Male vergaß sie ihren ‚hohen Patienten‘ und eilte Zartbesaiteten zu Hilfe, die beim Anblick ihres Idols in Ohnmacht fielen. So geschehen etwa Anfang der Nullerjahre auf dem Platz des Sieges, als Alexander Lukaschenko vor Veteranen sprach und bei einem der Kriegshelden das Herz nicht mehr mitspielte.“ 

    Der Journalist Pawel Scheremet erinnert sich: „In den ersten Jahren von Lukaschenkos Regierungszeit konnte man während seiner stundenlangen Besprechungen ein paar Worte mit ihr auf dem Korridor wechseln. Sie wirkte sympathisch.“ Gelegentlich wurde die Leibärztin des Politikers an delikaten Entscheidungen beteiligt, die über ihr eigentliches Aufgabenfeld weit hinausgingen. Iwan Titenko, in Lukaschenkos frühen Jahren einer seiner engsten Mitstreiter, erzählte, dass er nach seinem Rücktritt erst über Abelskaja einen Termin bei seinem ehemaligen Chef bekam. Es wurde auch gemunkelt, dass sie auf Lukaschenkos Anweisung Tamara Winnikowa, die ehemalige Vorsitzende der Nationalbank, in der Untersuchungshaft besuchte. Und dass Abelskaja ein gutes Wort für Galina Shurawkowa bei Lukaschenko eingelegt habe: Seiner „Betriebswirtschafterin“ wurde Korruption vorgeworfen, aber nach dieser Intervention wurde sie wieder aus der Haft entlassen. 

    Irina Abelskajas Einfluss wuchs. 2001 wurde sie Chefärztin am Republikanischen Klinisch-Medizinischen Zentrum der Präsidialverwaltung (so heißt heute die Ärztekommission offiziell). Der alte Chefarzt wurde mit einem Skandal entlassen, und die Staatsanwaltschaft leitete ein Strafverfahren wegen Unterlassung und Fahrlässigkeit der Krankenhausbediensteten ein. Lukaschenko verlautbarte, Abelskaja käme, um dort eine „Schule der modernen Medizin“ aufbauen. Die Klinik wurde mit den modernsten medizinischen Geräten ausgestattet und bekam neue Flächen hinzu, nämlich die Gebäude, in denen sich das Zentrum für Radiologie und die Kinderklinik Nr. 4 befunden hatten. Sie bestand nun aus ganzen sechs Gebäudetrakten.      

            

    Familienbande 

    Parallel zu Abelskajas Höhenflug gewann auch ihre Mutter an Einfluss. Laut der Zeitung Narodnaja Wolja habe Lukaschenko Ljudmila Postojalko schon 2001 zur Gesundheitsministerin ernennen wollen. Doch die Chefärztin des Brester Kinderkrankenhauses hatte keinerlei Erfahrung mit der Hauptstadt und mit großen, „erwachsenen“ Strukturen. Da wandte er einen schlauen Trick an und ernannte Wladislaw Ostapenko, Doktor der Medizin, Mitglied der Belarussischen Akademie der Wissenschaften sowie Facharzt für Radiologie und Endokrinologie zum Gesundheitsminister. Er hatte mehrere Jahrzehnte lang verschiedene Forschungsinstitute geleitet. Postojalko wurde seine erste Stellvertreterin. 

    Narodnaja Wolja zufolge war es eigentlich Postojalko, die die Linie des Ministeriums vorgab, auch wenn sie nur Stellvertreterin war. Sie tadelte die angesehensten Experten, und die Ministeriumsmitarbeiter achteten darauf, nur ja nicht aufzufallen. Als im März 2002 in Mahiljou eine akute Darminfektion ausbrach, war es nicht Ostapenko, sondern Postojalko, die damit drohte, alle zu entlassen. Damals wurden innerhalb von 48 Stunden 140 Kindergartenkinder hospitalisiert, über weitere 100 Kinder wurden ambulant behandelt, ohne dass das lokale Seuchenschutzzentrum den Grund für die massenhafte Vergiftung hätte ausfindig machen können.         

    Ende April 2002 berichtete die Narodnaja Wolja, Lukaschenko habe Ostapenko aus einer Sitzung geworfen und ihn wegen „erheblicher dienstlicher Versäumnisse, die sich in mangelhafter Ausführung der Dienstpflichten zeigten“, seines Amtes enthoben. Er war gerade mal ein halbes Jahr im Amt gewesen. „Nach der aufsehenerregenden Entlassung von Wladislaw Ostapenko hat es niemand eilig, seine Funktion zu übernehmen. Angeblich hoffen manche hochrangigen Ärzte inständig, dass man sie bloß nicht anfragen möge“, schrieb die Narodnaja Wolja Anfang Mai. 

    So trat Postojalko, die damals bereits im Rentenalter war, das Amt der Ministerin an. Wie enorm ihr Einfluss war, konnte man an der Entlassung von Alexander Kosulin sehen, der als Rektor der Belarussischen Staatlichen Universität (BGU) sehr beliebt gewesen war. Laut dem Politologen Alexander Feduta wollte Kosulin aus der Institution eine „Universität im klassischen Sinn“ machen, wofür es seiner Ansicht nach unbedingt eine Fakultät für Alternativmedizin brauchte. Diese zugegebenermaßen fragwürdige Idee (die Alternativmedizin ist wissenschaftlich nicht anerkannt) kam 1998 auf und wurde im darauffolgenden Jahr in die Tat umgesetzt. 

    Präsidentschaftskandidat Alexander Kosulin (Mitte) im Jahr 2006 auf dem Minsker Oktoberplatz / © Foto naviny.by
    Präsidentschaftskandidat Alexander Kosulin (Mitte) im Jahr 2006 auf dem Minsker Oktoberplatz / © Foto naviny.by

    Die Fakultät war Postojalko ein Dorn im Auge. „Diese Schlacht wirst du nicht gewinnen“, soll der Schriftsteller Jewgeni Budinas laut Feduta zu Kosulin gesagt haben. „Doch das war Alexanders wunder Punkt, er blieb stur, wollte nichts hören. ‚Keine Ahnung‘, sagte er, ‚ob sie sich mit Medizin auskennt, aber mit Hochschulbildung bestimmt nicht‘. Das sagte er leider nicht zu mir, sondern zur Ministerin, und zwar nicht zu irgendeiner, sondern einem Quasi-Familienmitglied. So etwas ist unverzeihlich, ein Sakrileg. Das Einzige, was er jetzt noch tun konnte, war zurückzurudern und sich mit allem einverstanden zu erklären.“ 

    Das verweigerte der Rektor. Im November 2002 erklärte der Vorsitz des Ministerrats die Ausbildung von Fachkräften für Heilkunde und Pharmazie an der Fakultät für Grundlagen- und Alternativmedizin der BGU für „nicht zielführend”. Formal wurde zum Anlass genommen, dass die Universität keine Lizenz zur Bildungstätigkeit in diesen Fächern habe. Die Fakultät wurde im Februar 2003 geschlossen, ohne dass die Studenten noch die Möglichkeit hatten, ihr Studium abzuschließen.                   

    Kosulins Schicksal wurde im November 2003 besiegelt. Er war ein paar Tage früher aus dem Urlaub zurückgekehrt, um sich ein klares Bild zu verschaffen. Inzwischen hatte er aus dem Fernsehen erfahren, dass ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet wurde – wegen Diebstahls von Gold in einer der Betriebsstätten der BGU. In der darauffolgenden Woche wurde der Rektor suspendiert. Einige Wochen später wurde die Anklage gegen Kosulin fallengelassen. Doch seine Suspendierung blieb bestehen. 

    Ljudmila Postojalko war bis 2005 Ministerin. Noch während ihrer Amtszeit wurde Alexander Kossinez Vizepremier für soziale Fragen, einschließlich Medizin. Feduta zufolge sei es Kossinez gelungen, Postojalkos Reformen ein wenig abzumildern und die belarussische Medizin zu retten. Konkrete Maßnahmen nennt er dabei nicht, aber vermutlich bezieht er sich darauf, dass Kossinez bei einigen von Postojalkos strittigen Vorschlägen auf die Bremse trat. Zum Beispiel wollte sie mehrere Forschungsinstitute auflösen, Patienten nur noch in den Bezirken ihrer Meldeadressen behandeln lassen und die Dauer von bezahlten Klinikaufenthalten und Krankenständen verkürzen. All das klang abenteuerlich und realitätsfern. Da ein hoher Prozentsatz der Belarussen nicht an der Meldeadresse wohnt, hätte das Hunderttausenden Menschen erhebliche Probleme beschert. 

    Lukaschenkos Söhne: Dmitri, Nikolai und Viktor (v. l. n. r.) bei der Parade zum Tag der Unabhängigkeit am 3. Juni 2020 in Minsk / © Foto Natalia Fedosenko/ Tass Publication/ Imago 

     

    Ein neuer Sohn 

    In den Nullerjahren ging die Beziehung zwischen Lukaschenko und Abelskaja auf und ab. „Einmal vertrug Irina einen Flug schlecht und stieg ganz grün im Gesicht aus dem Hubschrauber“, schrieben damals die Zeitungen. „Ihr war so übel, dass sie sich übergeben musste. Lukaschenkos Kommentar zum Zustand seiner Begleiterin war so schroff, dass seine Bodyguards sie beruhigen mussten … Im selben Jahr, 2005, herrschte er sie auf der berühmt-berüchtigten Präsidentenloipe so wirsch an, dass er damit sogar seine Minister vor den Kopf stieß.“ Trotzdem begleitete Abelskaja den Politiker überallhin: „Sie ist bei allen von Lukaschenkos Treffen mit hochrangigen Vertrauensmännern dabei. Irina Stepanowna sitzt immer neben ihm, und wenn Alkohol ausgeschenkt wird, achtet sie darauf, dass Alexander Grigorjewitsch stets ausschließlich Mineralwasser im Glas hat.“ 

    2004 kam Nikolai Lukaschenko zur Welt. Die russische Zeitung Kommersant schrieb, Abelskaja hätte Gerüchten zufolge versucht, auf dem Standesamt Lukaschenko als Vater anzugeben, ihr das aber verweigert worden sei. Erst 2007, fast drei Jahre nach der Geburt, wurde offiziell bestätigt, dass Lukaschenko ein drittes Kind hat. Am 12. April gab der Präsident eine Pressekonferenz. Auf die Frage, ob er seinen ältesten Sohn Viktor als seinen Nachfolger sehen würde, antwortete Lukaschenko, nicht seine zwei Erstgeborenen kämen dafür in Frage, sondern sein dritter Sohn: „Den Kleinsten werde ich zum Nachfolger erziehen“, sagte er. Dabei waren bis dahin nur zwei Söhne offiziell bekannt gewesen: Viktor und Dmitri. Beide hatte ihm seine offizielle Ehefrau Galina bereits vor seiner politischen Karriere geboren (soweit bekannt, ist diese Ehe bis dato nicht geschieden). 

    Ob Zufall oder nicht, diese Information kam nach zwei besonderen Ereignissen ans Licht: Im März 2007 war Ljudmila Postojalko gestorben. Und am 10. April 2007 wurde Abelskaja als Vorsitzende der Ärztekommission entlassen. Zuvor hatte sie einen Teilzeitjob in einer Ordination für Ultraschall angenommen, um in ihrer Verwaltungsfunktion die medizinische Qualifikation nicht zu verlieren und Dienstjahre als Ärztin zu sammeln. Nun blieb ihr nur noch dieser Job. 

    Zu guter Letzt kritisierte Lukaschenko sie auch noch, sagte, die Präsidialklinik müsse eine Vorreiterrolle einnehmen, medizinische Versorgung auf höherem Niveau bieten und den anderen ein Vorbild sein. Zwei Tage später bekundete er die Existenz eines dritten Sohnes. Offenbar musste erst die mutmaßliche Großmutter verstorben sein und die Mutter auf sichere Distanz gebracht werden, bevor er den Sohn der Öffentlichkeit präsentieren konnte. 

    Ein Jahr später, im April 2008, erschien Lukaschenko mit dem kleinen Nikolai beim Subbotnik (das war dessen erster öffentlicher Auftritt). Am selben Tag lief der Knirps vor dem Spiel von Papas Hockeymannschaft übers Eis. 2008 bestätigte der Politiker, dass die Mutter seines Sohnes Ärztin sei. Abelskajas Name wurde bisher jedoch nie offiziell genannt. Über Abelskajas beruflichen Werdegang nach dem Ausscheiden aus der Ärztekommission ist nicht viel bekannt. Es gab zwar Gerüchte, dass sie eine Weile Oberärztin im Sanatorium Belarus in Sotschi war, aber die wurden nie bestätigt. „Heute ist sie einfach Ultraschall-Ärztin in einem Minsker Diagnosezentrum“, schrieb 2009 Pawel Scheremet. „Man kommt nur per Überweisung zu ihr, in der Regel behandelt sie nur Männer. Im Diagnosezentrum heißt es, Irina Stepanowa arbeite schichtweise und fahre zwischendurch immer wieder nach Europa. Ihre Ordination hat keine Kontaktnummer. Man weiß nicht, wie viel Zeit sie mit Kolja verbringt, wenn er von den gemeinsamen Reisen mit Alexander Lukaschenko zurück in Minsk ist.“ 

    Immerhin durfte sie in ihrem Elitedomizil bleiben, einem kleinen Landhaus in Drosdy, das für hochrangige Beamte vorgesehen war. 

     

    Karriere-Sprünge 

    Zwei Jahre später war die Zeit der Ächtung plötzlich vorbei. 2009 kehrte Abelskaja als Chefin der Ärztekommission zurück und trat bei diversen medizinischen Konferenzen auf. Obwohl sie noch im Mutterschutz war, verteidigte sie 2004 – gerade mal einen Monat nach der Entbindung – erfolgreich ihre Dissertation am Institut für Onkologie und Strahlenmedizin zum Thema Strahlendiagnostik bei Osteochondrose an der Halswirbelsäule. 2011 beendete sie auch noch eine Habilitationsschrift, woraufhin ihr 2012 der Professorentitel verliehen wurde. 

    „Irina Stepanowa hat fünf Jahre an ihrer Dissertation gearbeitet“, sagte ihr Doktorvater Anatoli Michailow, Mitglied der belarussischen Akademie der Wissenschaften, gegenüber der Zeitung Narodnaja Wolja. „Als sie 2007 ihre Chefarzt-Stelle am Republikanischen Klinisch-Medizinischen Zentrum verließ, wandte sie sich der Praxis zu und bereitete ihre Dissertation vor. Sie hat vier Patente, ist Verfasserin von drei Monografien. In den größten russischen und belarussischen Fachzeitschriften wurden 60 wissenschaftliche Artikel von ihr veröffentlicht. Sie nahm an zwei staatlichen Programmen für Wissenschaft, Technik und Innovation teil. Sie hat unter anderem einen enormen Beitrag für die Bestimmung des Behinderungsgrades und die Entwicklung eines Therapieplans für Patienten geleistet.“     

    Nach Abelskajas Rückkehr wurde die Ärztekommission erneut vergrößert. Zu den sechs bestehenden Trakten kamen zwei weitere hinzu: ein Therapie- und Diagnosezentrum sowie eine Intensivstation mit Operationssälen. Hier stand das landesweit erste Computertomografie-Gerät von General Electric, das hohe Bildqualität bei geringer Strahlendosis liefert. Außerdem ein Magnetresonanztomograf, ein vollständig digitaler Röntgenapparat von Siemens und ähnliche Apparaturen. In dieser Klinik wurde zum ersten Mal in Belarus eine künstliche Aortenklappe eingesetzt, und auch die erste von einem Roboter durchgeführte Operation fand hier statt. 

    2018 zog die Ärztekommission nach Shdanowitschi. In den Bau der neuen Klinik flossen 100 Millionen Euro, nach zwei Jahren war sie schlüsselfertig. Die früheren Räumlichkeiten bezog das städtische Krankenhaus Nr. 2. Trotz ihrer hohen Positionen scheint Abelskaja recht zugänglich geblieben zu sein. So erzählt die Kulturwissenschaftlerin Julija Tschernjawskaja von ihrem Mann, dem Tut.by-Gründer Juri Sisser: „Er ließ sich damals in der Ärztekommission behandeln und operieren. Auf Irina Abelskaja hielt er große Stücke, er sagte, sie sei eine freundliche, liebe Frau, die täglich alle Patienten der Intensivstation besuchte.“  

    Warum hat Lukaschenko Abelskaja zur Senatorin gemacht und angefangen, sie in die öffentliche Politik einzubeziehen? 

    An Abelskajas Geburtstagswünsche 2010 auf der Intensivstation erinnerte sich auch der Schriftsteller Ryhor Baradulin, auch wenn er kein Freund von Lukaschenko war: „Abelskaja gratulierte mir mit einem Blumenstrauß, siebzehn Rosen. Sie wünschte mir gute Besserung, ich bedankte mich. Dank ihr wurde ich sehr gut betreut, alle kümmerten sich um mich – dafür bin ich ihr wirklich dankbar.“ Wenn Abelskajas Name in den Zehnerjahren in den Medien genannt wurde, dann vor allem im medizinischen Kontext. Im November 2020 war sie wenig überraschend eine der Verantwortlichen für den Umgang mit der COVID-19-Pandemie in der Oblast Minsk. 

    Doch allmählich trat sie immer öfter in einer anderen Rolle auf. Im Februar 2023 unternahm Lukaschenko einen Staatsbesuch in Simbabwe und nahm nicht nur seinen Sohn Nikolai mit, sondern auch Abelskaja. Im April 2023 empfing sie bereits die Gattin des Präsidenten von Simbabwe in der belarussischen Ärztekommission. Und sie leitete eine auf Anweisung von Lukaschenko gegründete Arbeitsgruppe zur Qualitätssicherung der medizinischen Versorgung.  

    Im Januar 2024 flog Abelskaja bereits allein nach Simbabwe und wurde dort vom Präsidenten und seiner Frau empfangen. Im Grunde waren das ihre ersten Schritte in der offiziellen Politik. Im April wurde sie Mitglied des Rats der Republik, des Oberhauses im belarussischen Parlament (ihre Kandidatur hatte offenbar den Segen der Staatsspitze). Im Juni besuchte Abelskaja ein Krankenhaus für Notfallmedizin in Witebsk, um die Qualität der medizinischen Versorgung dort zu überprüfen, woraufhin einige Angestellte entlassen wurden (unter anderem der Chefarzt, eine Oberschwester sowie die Leitung der Station für Anästhesie und Reanimation).      

    Warum hat Lukaschenko Abelskaja zur Senatorin gemacht und angefangen, sie in die öffentliche Politik einzubeziehen? „Er will seinen Beamten und Funktionären zeigen, dass er treue Gefährten nicht nur nicht im Stich lässt, sondern sie auch beruflich voranbringt“, meint Alexander Friedman Zerkalo gegenüber. „Wenn man sich die Liste der Personen ansieht, die es ins Repräsentantenhaus geschafft haben, dann kann man praktisch von allen sagen, dass sie sich irgendwann einmal besonders hervorgetan haben. Sie fielen positiv auf und wurden als Gegenleistung befördert. Bei Irina Abelskaja gibt es vieles, wofür Lukaschenko sich bedanken muss. Sie begleitet ihn quasi ihr ganzes Leben lang. Sie ist keine Skandalnudel, die seinen Ruf beeinträchtigen könnte. Sie ist mit ihrer Rolle und der Rolle ihres mutmaßlichen Sohnes einverstanden, wir haben nie gehört, dass sie dagegen protestiert hätte. Die ganze Zeit über hat sie so gelebt, gehandelt und gearbeitet, wie Lukaschenko das wollte. Also, wieso sollte er sich in so einem wichtigen Moment nicht mit dieser Ernennung erkenntlich zeigen?“ 

    Dabei wird Abelskaja, offenbar auf Geheiß von oben, immer aktiver. Stehen dahinter etwa weiterführende Pläne? Soll sie zum Beispiel bald den Rat der Republik leiten? „Klar, wenn Lukaschenko Natalja Kotschanowa zur Leiterin der Allbelarussischen Volksversammlung ernennt, dann muss sie im Rat der Republik jemand ersetzen“, mutmaßt Friedman. „Die eine Vertraute durch eine andere Vertraute zu ersetzen wäre durchaus Lukaschenkos Stil. Wenn dieser Fall eintritt, müssen wir unser Bild vom Lukascheno-Klan überdenken. Wenn Irina Abelskaja, die als Nikolais Mutter und Lukaschenkos Freundin gilt, einen verfassungsrechtlich so wichtigen Posten einnimmt, dann lässt sich daraus ableiten, dass der Klan tatsächlich langfristig an der Macht bleiben und sich zu diesem Zweck absichern will.“             

    Diese Meinung äußerte Friedman im März 2024. Seitdem hat Irina Abelskaja keine neuen Sprossen auf der politischen Karriereleiter erklommen. Aber das Leben der Ärztin, die Lukaschenko praktisch seit Beginn seiner Amtszeit begleitet, hält bestimmt noch einige Überraschungen bereit. 

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    Ein Schweißer auf Abwegen

    Das war der Stoff, aus dem Helden gemacht werden: Ein bekannter junger Regimekritiker wird festgenommen, indem das Flugzeug, in dem er sitzt, zur Landung genötigt wird. Roman Protassewitsch wurde so zum bekanntesten politischen Gefangenen des Regimes von Alexander Lukaschenko, das ihn auf die Liste gesuchter „Terroristen” gesetzt hatte. Sein Vergehen: Der damals 26-Jährige war zeitweise Chefredakteur von Nexta, einer digitalen Plattform, die während der Proteste 2020 in Belarus zu einem der wichtigsten Medien avancierte.    

    Dann aber bekam die Geschichte einen gewaltigen Knick. Was ist passiert? Für das russische Online-Portal Novaya Gazeta Europe geht die belarussische Journalistin Iryna Chalip der Verwandlung des Roman Protassewitsch nach. 

    Die Verhaftung von Roman Protassewitsch und seiner Freundin Sofia Sapega war filmreif: Am 23. Mai 2021 machte ein Flugzeug der Ryanair, das von Athen nach Vilnius flog und sich gerade in belarussischem Luftraum befand, auf Anweisung der Flugsicherung eine Notlandung in Minsk. Angeblich bestand Verdacht, ein Sprengsatz sei an Bord. Alle Passagiere durften später nach Vilnius weiterreisen, nur Protassewitsch und Sapega wurden festgenommen.  

    Der Westen reagierte prompt: Der einzigen belarussischen Fluggesellschaft Belavia wurden nicht nur Flüge nach Europa verboten, sondern auch das Durchqueren des EU-Luftraums. Auf europäischen Flughäfen tauchten Porträts von Roman Protassewitsch auf, an Minsker Balkonen hingen Plakate mit einem einzigen Wort: Roma. Und schließlich erschien Roman höchstselbst.  

    Am 14. Juni versammelten sich Journalisten zu einer Pressekonferenz über den Zwischenfall mit dem Flugzeug. Das Aufgebot der Redner konnte sich sehen lassen: Igor Golub, Kommandeur der belarussischen Luftstreitkräfte und Flugabwehr, Dmitri Gora, Vorsitzender des Ermittlungskomitees, Artjom Sikorski, Chef der Abteilung für den Flugverkehr im Transportministerium, Andrej Filatow, Leiter der Ersten Hauptverwaltung des staatlichen Grenzkomitees – und der verhaftete Protassewitsch. 

    Roman war gutgelaunt und optimistisch, sagte, keiner würde ihm was tun, seine Kooperation mit den Ermittlern sei absolut freiwillig, das Wichtigste sei für ihn, den Schaden wiedergutzumachen, den er als Chefredakteur von Nexta seinem Heimatland zugefügt habe, er fordere seine Eltern zur Rückkehr nach Belarus auf, denn hier seien sie vollkommen außer Gefahr.  

    Damals hätte niemand gewagt, Protassewitschs Auftritt zu verurteilen oder auch nur schief zu gucken: Der Mann war im Gefängnis, und alle kennen die Methoden, mit denen Schuldeingeständnisse, Zusammenarbeit mit den Behörden und Reuebekundungen erzielt werden. Zehn Tage später wurde bekannt, dass Protassewitsch und Sapega in den Hausarrest wechseln durften, nämlich in ein Landhaus im Grünen, das die Silowiki den beiden zur Verfügung stellten.

     

    Ein Mann zeigt ein Plakat mit dem Porträt von Roman Protassewitsch auf dem Marsch der Solidarität mit Belarus am 29. Mai 2021 in Krakau / © Foto Beata Zawrzel/ NurPhoto/ Imago 

    Ein erfolgloser Telegram-Kanal 

    Im darauffolgenden Sommer 2021 gab Roman Protassewitsch reihenweise Interviews für Propagandamedien, in denen er genüsslich erzählte, wer von den Oppositionellen im Exil heftig trinke, wer Geldprobleme habe und wer Orgien feiere. Er stellte Nexta-Gründer Stepan Putilo bloß, der Roman zufolge gar nichts gegründet und geleitet habe, sondern nur ein Großmaul sei. Seine Behauptungen, die Proteste von 2020 in Belarus hätten westliche Geheimdienste organisiert und finanziert, waren Musik in den Ohren der Propagandisten. Alexander Lukaschenko war begeistert von Protassewitschs „eisernen Eiern“. 

    Im August gründete Protassewitsch seinen eigenen Telegram-Kanal, auf dem er Insiderwissen und exklusive Details versprach. Er kündigte an, auf seinem Kanal werde es „keine Feindseligkeit, keine ungesicherten Informationen und keinen Platz für unverblümte Propaganda“ geben. Der Hintergedanke des Regimes lag somit offen. Wer in Belarus unter Hausarrest steht, hat kein Recht auf Kontakte und darf keine Kommunikationsmittel benutzen. Interviews für Propagandamedien sind allerdings eine Ausnahme, für die auch Gefängnisse ihre Tore öffnen. Doch wenn einer unter Hausarrest einen Telegram-Kanal gründet, bedeutet das, dass er damit eine Aufgabe erfüllt, die ihm jene stellen, die ihn verhaftet haben.            

    In Protassewitschs Fall ist alles klar: Er ist der berühmteste Häftling von Belarus (niemand wurde je mit einer erzwungenen Landung eines Flugzeugs und unter Begleitung eines Kampffliegers MiG-29 im Abfangmodus verhaftet), sein Foto ist in der ganzen Welt bekannt, alle machen sich Sorgen um ihn. Immerhin war er Chefredakteur von Nexta, das 2020 über Belarus hinaus auf der ganzen Welt eines der beliebtesten Medien war. Und auch diesmal würden alle Belarussen und die ganze progressive Menschheit Roman Protassewitschs Telegram-Kanal abonnieren. Das ist kein Propagandist wie Asarjonok mit seinen anderthalb Bauarbeitern, die ihm folgen, und das nur zum Spaß. Das ist eine echte Chance, staatliche Lügen in einem riesigen Publikum zu verbreiten.        

    Doch dazu kam es nicht. Die Hoffnung wurde enttäuscht. Roman Protassewitschs Kanal folgten gerade mal zweieinhalbtausend Abonnenten – offenbar aus Mitgefühl. Die überwiegende Mehrheit der Belarussen, auch jene, denen er leidtat, ignorierten seinen Versuch, ein „alternatives“ Medium zu gründen: die einen, weil sie davon ausgingen, dass er das sowieso alles unter Folter macht, die anderen, weil sie den wahren Sinn dahinter schon begriffen hatten und nicht einmal mit simplen Views daran beteiligt sein wollten.  

    Zumal gleich der erste Post davon handelte, dass die Befreiung politischer Häftlinge kein Märchen sei, sondern Realität, aber unter der Bedingung, dass sie ihre Schuld eingestehen und ehrlichen Herzens bereuen. Und davon, dass auf Lukaschenkos Schreibtisch bereits die Liste der Menschenrechtler, Journalisten und engagierten Bürger liege, die demnächst das Gefängnis verlassen würden. Darunter auch der Blogger Ihar Losik, der seine Schuld gestehe und bereue. (Übrigens befindet sich Ihar Losik seit zwei Jahren in völliger Isolationshaft, sodass er diese Meldung nicht einmal dementieren oder bestätigen kann.)  

    Generell sind angesichts der Tatsache, dass noch nie eine Journalistin oder ein Menschenrechtsaktivist ohne [Lukaschenkos – dek] „Anruf“ freigekommen ist, die Informationen auf Protassewitschs Telegram-Kanal keinen roten Heller wert. Das haben wohl auch die Erfinder des Plans mit diesem alternativen Medium kapiert, denn der Kanal ist längst verstummt. 

    Im Mai 2022 gingen sogar den paar Wenigen die Augen auf, die noch glaubten, Protassewitsch werde auf der Folterbank dazu gezwungen, Posts über die notwendige Reue vor dem Staat zu verfassen. Gerade mal drei Tage, nachdem Sofia Sapega wegen „Anstiftung zum sozialen Unfrieden“ zu sechs Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurde, sagte Roman sich von ihr los und publizierte einen Post mit dem Text: „Sonja wurde für ihre reale Tätigkeit verurteilt und nicht dafür, dass sie eine Beziehung mit mir hatte.“ Er beschrieb detailreich, wie Sapega den Telegram-Kanal Tschjornaja kniga Belarusi (dt. Schwarzbuch Belarus) betrieb, auf dem persönliche Daten von Silowiki veröffentlicht wurden: Er berichtete von Spam-Angriffen und Drohanrufen an Telefonnummern aus diesem „Schwarzbuch“ und von „Brandstiftungen und diversen anderen Aktionen“.  

    Überhaupt, schrieb Protassewitsch, sei er nicht mehr mit ihr zusammen, er habe geheiratet, und außerdem sei er politisch engagiert, während sie immer ganz direkt gegen die Silowiki agiert habe.  

    Apropos, auch Protassewitsch hatte inzwischen vor Gericht gestanden und war sogar zu acht Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden. Wobei er nicht inhaftiert wurde, sondern nach Hause gehen durfte. Zehn Tage später wurde er begnadigt. 

    Der letzte Verrat 

    Die Belarussen sind in den vergangenen Jahren zu einer Nation von Gefangenen geworden. Und haben vor allem eines verinnerlicht: Man darf sein Leben und seine Freiheit mit allen Mitteln verteidigen – man darf öffentlich Reue bekunden, Gnadengesuche schreiben, seine Schuld bekennen, gegen sich selbst aussagen. Nur eines darf man nicht: Man darf keine anderen Menschen preisgeben. Man darf nicht denunzieren. Man darf sich nicht durch Petzen freikaufen. Mit seinen Berichten auf Propagandasendern darüber, wer säuft, wer schnieft und wer in einer zu teuren Wohnung wohnt, hat Roman diese Grenze überschritten. Sein Post über Sofia nach dem Urteil gegen sie war sein letzter Verrat – danach hielt ihn endgültig niemand mehr für ein Opfer.          

    Wenn 2021 die Hochsaison des Bloggens war, so stand 2022 der Versuch im Vordergrund, Protassewitsch zum staatlichen Rechtsvertreter zu machen. Das Regime versuchte, ihn in der Wirtschaft einzusetzen, und im Januar 2022 wurde Roman, der offiziell noch unter Hausarrest stand, Mitarbeiter des regierungstreuen Zentrums Sistemnaja prawosaschtschita (dt. Systemische Menschenrechtsarbeit). 

    Zusammen mit „System-Kollegen“ begann er, eine Klage gegen die Fluggesellschaft Ryanair vorzubereiten und gleichzeitig seine ehemaligen Anhänger zu beschuldigen, den belarussischen Geheimdiensten die Informationen zu seinem Flug „gesteckt“ zu haben. Das Schicksal dieser Klage ist nicht bekannt, im Mai 2023 allerdings kommentierte Dmitri Beljakow, Direktor von Sistemnaja prawosaschtschita, Roman Protassewitschs Begnadigung durch Lukaschenko mit den Worten: „Wir sind sehr froh, dass unser Freiwilliger Roman Protassewitsch begnadigt wurde.“  

    Eigentlich hatten ein Jahr davor noch beide gesagt, dass Roman dort angestellt sei und nicht nur ehrenamtlich helfe. Aber egal, schon hatte die nächste Saison angefangen, und die vorige war wieder gescheitert, da Protassewitsch als staatlicher Rechtsschützer auch nicht wirklich „glänzte“. Also gaben sie ihm Helm und Visier und sagten: Du wirst jetzt Schweißer, du hast ja eh von nichts ‘ne Ahnung. 

    Als Schweißer in den Diensten der Propaganda tauchte Protassewitsch wieder öfter im belarussischen und russischen Fernsehen auf – bei Asarjonok, Sobtschak, Pridybajlo. Er erzählte, dass Schweißer in Belarus so viel verdienten, wie angehende IT-Fachkräfte nicht mal zu träumen wagten. Dass bei ihm in der Fabrik lauter starke, echte Männer arbeiteten, die viel schafften, viel verdienten und sich einen Dreck um Politik scherten.  

    Nach eineinhalb Jahren Stille holte Protassewitsch seinen verstaubten Telegram-Kanal wieder hervor und postete dort seine Urlaubsfotos aus den Emiraten: Seht alle her, ein einfacher belarussischer Arbeiter kann sich locker einen Urlaub in den Emiraten leisten, also, wer im Exil ist – beneidet uns. Wer in Belarus bleibt, schätzt bitte das, was ihr habt, und wer hinter Gittern sitzt – zeigt Reue!     

    Man muss ihm lassen, das Schweißer-Image zeigte in den ersten Wochen fast Wirkung: Protassewitsch bekam wieder Aufmerksamkeit. Aber nicht lange.              

    Fotos wie von Zauberhand 

    Das Problem mit den schlauen Köpfen der belarussischen Regierung ist, dass sie nicht über den nächsten Tag hinausdenken können, für übermorgen fehlt ihnen die Fantasie. Vom Schweißer haben sie genug gesehen, also widmen sie sich wieder wichtigeren Dingen. Aber so viel Aufwand, so viel Mühe, so viel Sendezeit, so viele Projekte – das schmeißt man doch nicht einfach weg, für nichts und wieder nichts.  

    Und da ließen sich Lukaschenkos Superköpfe einen schlauen Plan einfallen. Denn wer die Belarussen am allermeisten interessiert, um wen sie sich Sorgen machen und über wen sie mehr wissen wollen, das sind die politischen Häftlinge. Vor allem jene, die inkommunikado, also völlig isoliert, inhaftiert sind. Und wenn es Protassewitsch ist, der die Eisentür zur Gefängnisbaracke öffnet, dann kriegt eben er die Lorbeeren und die Aufmerksamkeit des Publikums, und alles, was er sagt, wird gierig verschlungen.  

    Der 12. November 2024 brachte dann eine Sensation: Die Belarussen bekamen ein Foto von Maria Kolesnikowa gezeigt, die seit 22 Monaten inkommunikado inhaftiert war. Der Kontakt zu ihr war im Februar 2023 abgerissen: Es kamen keine Briefe mehr, der Anwalt wurde nicht vorgelassen, und Frauen, die aus der Strafkolonie in Homel entlassen wurden, erzählten, Maria sei in eine Isolationszelle gesperrt worden und niemand habe sie gesehen. Es gab nur schreckliche Gerüchte, dass man sie verhungern lasse, sie wiege 45 Kilogramm. Im September veröffentlichte Kolesnikowas Schwester Tatjana Chomitsch auf Facebook die Forderung nach Nahrung und ärztlicher Versorgung für Maria. 

    Am 12. November 2024 konnten alle sehen, dass Maria am Leben ist. Roman Protassewitsch brachte ihren Vater in die Strafanstalt, und das Tor öffnete sich wie von Zauberhand. Der Schweißer wurde in das Gefängnis eingelassen und durfte Vater und Tochter fotografieren. Später nahm Roman im Auto ein Video auf, in dem Marias Vater sagt, sie habe ihm versprochen, über ein Gnadengesuch nachzudenken. Insofern wurden dank Protassewitsch nicht nur zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, sondern ein ganzer Fliegenschwarm. Inkommunikado? Ach was, der Papa war da, die Tür ging auf, alle sind happy. Maria wiegt nur 45 kg? Aber seht doch, wie rosig ihre Wangen sind. Ihr Anwalt hat sie zwei Jahre nicht gesprochen? Offenbar war er nicht sehr hinterher. Protassewitsch wurde ja auch reingelassen, dabei ist er für Kolesnikowa ein Niemand – nur so ein Schweißer. Dann noch dieses Versprechen, über ein Gnadengesuch nachzudenken: einfach nur Bingo.                          

    Am 8. Januar 2025 war Protassewitsch wieder in einer Strafkolonie, diesmal in Nowopolozk. Und veröffentlichte Fotos und Videos des ebenfalls seit fast zwei Jahren isolierten Viktor Babariko. Genau wie Kolesnikowa war Babariko im Februar 2023 verschwunden. Kein Anwalt, kein Brief, kein Anruf, keine Besuche. Doch dann kam Roman Protassewitsch, und die Türen gingen sperrangelweit auf. Und alle sahen, wie gut es Viktor Babariko geht, wie freundlich er lächelt und wie er überhaupt nicht aussieht wie einer, der hinter Mauern gemartert wird. In dem Video gratulierte er seiner Tochter und seiner Enkelin, und auf dem Foto sah man, wie er etwas schrieb.       

    Protassewitsch erklärte: Ich bin hier, um Babariko schöne Grüße von seinen Lieben zu überbringen und umgekehrt einen Brief von ihm mitzunehmen. Die Botschaft war klar: Ihr Menschenrechtler und Anwälte, ihr Journalisten und Politiker, internationale Gemeinschaft und Zivilgesellschaft, ihr seid alle Loser. Ihr habt in zwei Jahren nicht geschafft, was Roma Protassewitsch elegant und mühelos zuwege bringt: die Betonmauern zu durchbrechen. „Wir haben uns ziemlich lange unterhalten, haben gescherzt, sogar das eine oder andere Mal gelacht“, sagte Protassewitsch übermütig. Solche Töne schlugen früher gern die Erzieherinnen auf Pionierlagern an – glückliche Herrscherinnen über Trommel und Horn, für kleine Pioniere unerreichbar. Protassewitsch ist nun der Herrscher über den Zugang zu isolierten politischen Gefangenen, deren Angehörige in ihrem Unwissen seit zwei Jahren am Durchdrehen sind. 

    In Belarus wird nicht mehr darüber diskutiert, ob Protassewitsch trotzdem noch als Opfer gelten kann. Selbst die mit den weichsten Herzen haben zugegeben, dass die Opferstory an dem Punkt zu Ende war, als kübelweise Schmutz aus dem Fernsehen quoll. Einer, der auf allen möglichen Sendern genüsslich erzählt, wer von den Oppositionellen kokst, wer einen Preis abgeräumt hat und wer für den Geheimdienst arbeitet – der ist kein Opfer mehr. Die Belarussen sind in den letzten Jahren zu einer Nation von Häftlingen geworden. Sie sind nett zu Mithäftlingen und böse auf Verräter.  

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    „Lukaschenko hat heute eine Wahlfarce veranstaltet, und wir fliegen mit der Person nach Brüssel, die wirklich zum Präsidenten gewählt wurde. Frau Präsidentin, herzlich willkommen.“ Das sagte der polnische Außenminister Radosław Sikorski am Abend des 26. Januar 2025 kurz vor seinem Flug in die belgische Hauptstadt. Seine Begleitung: Swetlana Tichanowskaja. In Belarus hatte sich der Langzeit-Diktator gerade zum Sieger einer Pseudo-Wahl küren lassen. 

    Gab es bei dieser Scheinwahl überhaupt Überraschungen? Unter welchen Bedingungen fand die Wahl-Inszenierung statt? Konnte die Demokratiebewegung im Exil in irgendeiner Form profitieren? Wird das Regime die Repressionen nun abmildern? 

    Auf diese und andere Fragen antwortet die belarussische Politologin Victoria Leukavets vom Stockholm Centre for Eastern European Studies (SCEEUS).

    Eine Gruppe junger Leute passiert ein Plakat, das die „Präsidentschaftswahlen” in Belarus bewirbt. Oktoberplatz, Minsk / © Foto IMAGO / ITAR-TASS Vladimir Smirnov

     

    dekoder: Was sagt das offizielle Ergebnis bei den Scheinwahlen aus? 

    Victoria Leukavets: Das Ergebnis von 86,82 Prozent, das sich das Regime selbst zuerkannt hat, zeigt den völligen Mangel an Glaubwürdigkeit und den zutiefst undemokratischen Charakter der Wahl. Schließlich hat das Regime die Gesellschaft in den vergangenen Jahren mit schrecklichen Repressionen überzogen. Eine solche Zahl deutet eindeutig darauf hin, dass die Wahl manipuliert wurde und das Ergebnis im Voraus feststand. Dies ist typisch für autoritäre Regime, in denen die offiziellen Ergebnisse von jeglichem echten Wahlprozess abgekoppelt sind. 

    Gab es tatsächlich keinerlei Überraschungen? 

    Die wahre Überraschung wäre, wenn die Wahl fair verlaufen wäre. Da es keine legitime Opposition gab und abweichende Meinungen unterdrückt wurden, war diese Wahl alles andere als frei und fair. Die Vorstellung, dass es „keine Überraschungen“ gab, zeigt nur, wie gründlich das System manipuliert ist.

    Wie sehen diese Manipulationen aus?

    Unter der Herrschaft von Aljaksandr Lukaschenka, der seit über drei Jahrzehnten an der Macht ist, wurden Oppositionelle systematisch zum Schweigen gebracht, entweder durch Inhaftierung, Exil oder Einschüchterung. Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen unterliegen mittlerweile strengen Beschränkungen, so dass die Wähler keinen Zugang zu alternativen Meinungsäußerungen hatten. Darüber hinaus mangelte es dem Wahlprozess an Transparenz und Fairness, es gab weit verbreitete Wahlmanipulationen und staatliche Kontrolle über die Wahlergebnisse. In einem solchen Umfeld, in dem echte Wahlmöglichkeiten und demokratische Grundsätze unterdrückt wurden, waren diese Wahlen weder frei noch rechtmäßig. 

    Die Parlamentswahlen Anfang 2024 fanden bereits unter enormen Sicherheitsvorkehrungen statt – wie sah es diesmal aus? 

    Es ist sehr wahrscheinlich, dass sowohl Schüler der Oberstufe als auch Studenten ideologisch geschult wurden, um auf die bevorstehenden Wahlen eingeschworen zu werden. Eine ähnliche Praxis gab es bereits vor den Wahlen 2020, und es wird erwartet, dass sie sich nach den Protesten von 2020 noch intensiviert hat. Der Staatssekretär von Lukaschenkas Sicherheitsrat, Aljaksandr Wolfawitsch, hat versucht, die Gesellschaft in Angst und Schrecken zu versetzen. Er hat vor möglichen Provokationen im Zusammenhang mit den Wahlen gewarnt. Die Staatsmedien und die „alternativen“ Kandidaten führten eine gedämpfte Agitationskampagne, vermieden Kundgebungen und Kritik an den Mitbewerbern. 

    Ab dem 20. Januar wurden die Miliz und die Truppen des Inneren in Erwartung der Wahl am 26. Januar rund um die Uhr in einen verstärkten Einsatzmodus versetzt. Mobile Einsatzteams, ausgerüstet mit Maschinenpistolen, waren zur Unterstützung in den Wahllokalen eingesetzt. Die vorzeitige Stimmabgabe begann am 21. Januar. Wjasna berichtete, dass die Belarussen gezwungen wurden, vor den Wahlen ein Dokument zu unterzeichnen, in dem sie sich verpflichteten, nicht zur Machtergreifung aufzurufen. Vor dem finalen Wahltag war von den Behörden angekündigt worden, dass der Zugang zu Webseiten in Belarus aus dem Ausland blockiert werde. 

    Welche Rolle haben Lukaschenkas Mitkandidaten gespielt? 

    Dieses Mal hat die Zentrale Wahlkommission nur regimetreue Kandidaten zugelassen. Insgesamt wurden fünf Kandidaten registriert – Lukaschenka selbst und Hanna Kanapazkaja – eine regimetreue Kandidatin – traten als Unabhängige an. Die anderen drei Kandidaten gehörten regimefreundlichen Parteien an: der Kommunistischen Partei, der Liberaldemokratischen Partei von Belarus und der Republikanischen Partei für Arbeit und Gerechtigkeit. Diese streng kontrollierte Kandidatenliste ließ wenig Raum für echten Wettbewerb und sicherte Lukaschenkas anhaltende Vorherrschaft.

    Die Spoiler-Kandidaten spielten für das Regime eine entscheidende Rolle, indem sie die Illusion eines politischen Wettbewerbs erzeugten und gleichzeitig die Macht der Herrschenden sicherten. Ihre Präsenz trug dazu bei, die das Bild als Mehrparteiensystems zu stärken, und vermittelte die Illusion einer Wahlmöglichkeit. In Wirklichkeit trugen diese Kandidaten jedoch dazu bei, die Legitimität der Wahlen aufrechtzuerhalten, die streng kontrolliert und manipuliert wurden, um jede ernsthafte Herausforderung der Regierung zu verhindern. 

    Im Vorfeld der Wahlen tourte ein „Marathon der Einheit“ durch das Land – eine Propagandashow mit Musikern, Kinderunterhaltung und Auftritten von Propagandisten. Einheit ist ein zentrales Konzept in Lukaschenkos Propaganda: Was verbirgt sich dahinter? 

    Der Marathon der Einheit war ein groß angelegtes soziales und kulturelles Ereignis, das am 17. September 2024 begann und sich über wichtige Städte und Regionen in ganz Belarus erstreckte. Er wurde bis zu den Wahlen fortgesetzt und fand seinen Höhepunkt in einem großen Konzert und einer Reihe von Aktivitäten in der Hauptstadt Minsk. Die Veranstaltung umfasste eine Vielzahl von Programmpunkten, wie beispielsweise die Vortragsreihe KEINE langweilige Vorlesung, Stadtspaziergänge mit dem Titel Das ist alles mein Geburtsland, Ausstellungen wie Belarus. Takeoff und Souveränes Belarus, eine mobile Ausstellung des Belarussischen Staatlichen Museums für die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges und eine Konzertreihe mit dem Titel Die Zeit hat uns erwählt.  

    Das Lukaschenka-Regime nutzte diesen Propaganda-Marathon, um Einigkeit zu demonstrieren und zu zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung hinter seiner Führung steht. Einige Veranstaltungen im Programm zielten ausdrücklich darauf ab, den Staat als gegensätzlich zu den demokratischen Kräften im Exil zu sehen. So wurde in der Ausstellung Parallelwelten der belarussische Staat als Symbol für positive Entwicklung und Fortschritt dargestellt, während die Opposition für Zerstörung und Verfall steht. 

    Plakat an einer Bushaltestelle mit den Kandidaten und ihren Wahlprogrammen / © Foto Gazetaby.com  

     

    Hat Lukaschenkos Staat außer Propaganda-Slogans irgendwelche konkreten Ideen für die Zukunft?   

    Eines der Schlüsseldokumente ist das Konzept für die sozioökonomische Entwicklung, das in sowjetischer Tradition als Fünfjahresplan konzipiert ist. Im Dezember letzten Jahres wurde ein Konzeptentwurf für das die Jahre 2026–2030 erstellt, der dem Ministerrat im Frühjahr vorgelegt werden soll. In dem Entwurf werden mehrere Prioritäten genannt: 1. Technologischer Aufschwung – Sicherung der Souveränität in strategisch wichtigen Branchen, insbesondere durch den Einsatz künstlicher Intelligenz. 2. Investitionsmanöver – die Priorisierung von Investitionen in Projekte mit hohem Multiplikatoreffekt. 3. Humanressourcen der Zukunft  – die Entwicklung von Humankapital, um den Anforderungen der digitalen Wirtschaft gerecht zu werden. 4. Proaktiver Export – die Ausweitung des Handels und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit aufstrebenden Märkten in Südostasien, dem Nahen Osten, Afrika und Lateinamerika. 5. Regionalentwicklung – die Schaffung umweltfreundlicher, gut entwickelter Regionen mit hohem Lebensstandard. 

    Diese Ziele mögen erstmal vernünftig klingen, aber sie stehen nur auf dem Papier und adressieren die aktuell drängenden Probleme von Regime und Land. Das Konzept ist also dazu da, die Gesellschaft zu beruhigen und sie hinter sich zu scharen. In der Praxis wird jedoch eine der dringlichsten Herausforderungen und künftigen Ziele für das Lukaschenka-Regime darin bestehen, seine Souveränität zu bewahren und eine stille Übernahme durch Russland in allen Bereichen – Kultur, Wirtschaft, Militär und Politik – zu verhindern. 

    Konnte die Demokratiebewegung im Exil in irgendeiner Weise von den Wahlen profitieren? 

    Die Demokratiebewegung hat die „Wahlen” vor allem genutzt, um das internationale Bewusstsein für die Lage in Belarus zu schärfen und auf die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen. Am Wahltag gab es in Warschau eine Großdemonstration, eine Konferenz mit dem Titel Belarussen haben Besseres verdient und hochrangige Gespräche am Rande des Rates für Auswärtige Angelegenheiten in Brüssel. Das Europäische Parlament hat bereits eine Resolution verabschiedet, die die EU dazu aufruft, die Wahlen in Belarus nicht anzuerkennen. Mit großer Sicherheit werden weitere nationale Parlamente dieser Resolution folgen. 

    Seit letztem Sommer sind über 240 politische Gefangene freigelassen worden – von Kalesnikawa und Babaryka gab es Lebenszeichen. Wie können diese Zeichen gedeutet werden? 

    Das Regime verfolgt mit dieser Politik möglicherweise mehrere Ziele. Innenpolitisch ging es Lukaschenka womöglich darum, die Spannungen innerhalb der belarussischen Gesellschaft im Vorfeld der Wahlen zu verringern. Darüber hinaus könnte er auch versuchen, den Dialog mit dem Westen wieder aufzunehmen. Seine Bemühungen um eine subtile Liberalisierung könnten als Versuch gewertet werden, den westlichen Ländern zu signalisieren, dass er für Verhandlungen offen ist, insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Lockerung oder Aufhebung der Sanktionen.  

    Außerdem könnte Lukaschenka seine Aussichten auf einen Dialog mit dem Westen in einem breiteren regionalen Kontext sehen. Angesichts der sich möglicherweise anbahnenden Verhandlungen über einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine verfolgt er diese Entwicklungen genau und kalkuliert ihre Auswirkungen. Möglicherweise geht er davon aus, dass Verhandlungen über die Ukraine unvermeidlich sind, und sein Handeln könnte ein frühzeitiger Versuch sein, sich auf eine mögliche Veränderung der regionalen Gegebenheiten vorzubereiten. 

    Viele fragen sich: Werden die Repressionen nach der Scheinwahl nachlassen?  

    Es ist höchst unwahrscheinlich, dass das Regime wirklich eine Liberalisierung oder eine Annäherung an den Westen anstrebt. Stattdessen wird sich das Lukaschenka-Regime mit ziemlicher Sicherheit darauf konzentrieren, die Kontrolle über die Lage im Land zu behalten, wobei die Wahlen nur einer von vielen Schritten in diesem Prozess waren. Tatsächlich könnte sich die Phase nach den Wahlen als noch kritischer erweisen als die Wahlen selbst, wie frühere Wahlzyklen gezeigt haben. Historisch gesehen ist die Zeit nach den Wahlen die Zeit, in der das Regime mit seinen größten Herausforderungen konfrontiert ist, mit möglichen Unruhen oder Versuchen, seine Macht in Frage zu stellen. In Anbetracht dessen ist Lukaschenkas Vorgehen eher Teil einer strategischen Bemühung, die Situation zu stabilisieren und dadurch sicherzustellen, dass jeglicher Dissens sowohl während als auch nach den Wahlen schnell eingedämmt wird. 

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  • Podcast mit dem ZOiS: Scheinwahlen in Belarus

    Podcast mit dem ZOiS: Scheinwahlen in Belarus

    Noch bis zum 26. Januar 2025 hält das Lukaschenko-Regime in Belarus „Präsidentschaftswahlen“ ab. Ohne transparente Formen der Wahlbeobachtung, ohne unabhängige Medien-Berichterstattung, ohne nennenswerte Konkurrenz, ohne die Möglichkeiten für Exil-Belarussen zu wählen oder zu kandidieren. Währenddessen sind Repression und Verfolgung im Land allgegenwärtig. Die sogenannten „Wahlen“ sind offensichtlich inszeniert statt demokratisch.  

    Und doch ist Amtsinhaber Lukaschenko bemüht, die Inszenierung aufrechtzuerhalten. Warum? 

    Ein Roundtable-Podcast des Zentrums für Osteuropa und internationale Studien (ZOiS) mit dekoder-Redakteur und Belarus-Experte Ingo Petz und den Wissenschaftlerinnen Nadja Douglas und Nina Frieß über die politischen Hintergründe der vorgezogenen „Wahlen“, darüber, wie europäische Staatsführungen mit der Inszenierung umgehen können und welche Rolle Lukaschenko in möglichen Verhandlungen über ein Kriegsende spielen könnte.

    ZOiS-Podcast #Roundtable_Osteuropa abonnieren:

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  • „I can almost hear the birds”

    „I can almost hear the birds”

    Zehntausende Menschen wurden bis November 1943 in Maly Trostenez erschossen oder in Gaswagen erstickt, darunter vor allem Juden aus dem Minsker Ghetto sowie aus mitteleuropäischen Städten wie Wien. Auschwitz, Bergen-Belsen oder Treblinka sind fester Bestandteil der Erinnerungskultur rund um die mörderische Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten. Das kleine Dorf Maly Trostenez nahe der belarussischen Hauptstadt Minsk mit seinem Wald Blagowschtschina ist als NS-Vernichtungsstätte weniger bekannt. Der belarussische Fotograf Maxim Sarychau hat sich auf den Weg gemacht, um Maly Trostenez im kollektiven Bewusstsein zu verankern. In seinen Bildern für das Projekt I can almost hear the birds visualisiert er die Auswirkungen und Spuren des Massenmordes, indem er Vergangenes und Gegenwärtiges verbindet.  

    Fragment eines offiziellen Denkmals, 2018 errichtet im Wald von Blagowschtschina, 74 Jahre nachdem die Massenmorde bekannt wurden. Das Denkmal ist das Ergebnis einer belarussisch-österreichisch-deutschen Kooperation, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau
    Fragment eines offiziellen Denkmals, 2018 errichtet im Wald von Blagowschtschina, 74 Jahre nachdem die Massenmorde bekannt wurden. Das Denkmal ist das Ergebnis einer belarussisch-österreichisch-deutschen Kooperation, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau

     

    dekoder: Wie entstand die Idee zu dem Projekt I can almost hear the birds

    Maxim Sarychau: Alles begann mit der Idee, eine Reportagen-Serie zu Maly Trostenez zu machen, die wir 2017 gemeinsam mit der österreichischen Journalistin Simone Brunner im Rahmen des Stipendiums Reporters in der the Field verwirklicht haben. Wir brachten eine Reihe von Beiträgen in deutschsprachigen Publikationen in Österreich und Deutschland heraus. Das Thema hat mich mit seiner historischen und politischen Vielschichtigkeit nicht mehr losgelassen, ich wusste, dass ich weiter daran arbeiten und ein Kunstprojekt dazu machen will, das von den Ereignissen in Maly Trostenez in der Sprache zeitgenössischer Fotografie erzählt. 

    Wann und wie sind Sie persönlich auf die Geschichte von Maly Trostenez gestoßen?  

    Zu meiner Schulzeit haben wir nichts über Maly Trostenez gelernt. In Geschichte nahmen wir den Holocaust nur flüchtig durch, im Kontext des Zweiten Weltkriegs, wobei der Fokus immer auf den Opfern der sowjetischen Bevölkerung lag: die verbrannten Dörfer, der heldenhafte Kampf der Partisanen, der sowjetischen Armee und so weiter. Die Todeslager waren irgendwo „weit weg“ in Europa, und ich hatte keine Ahnung, dass einer dieser schrecklichen Orte mitten in Minsk liegt, meiner Heimatstadt. 

    Als ich 2015 Maly Trostenez zum ersten Mal mit einer Exkursion besuchte, war ich erschüttert von dem Kontrast, den ich dort sah und hörte. In den 70 Jahren, in denen sich Stadt und Natur weiterentwickelt hatten, waren sämtliche Spuren dessen, was hier geschehen war, verschwunden. Die Führung erinnerte an eine Pfadfinderwanderung: Man zeigte uns die schöne Natur- und Stadtlandschaft und erzählte gleichzeitig von den grausamen Methoden des Massenmords. Das Verborgene und Unsichtbare der Geschichte, wo doch jeder Stein von ihr erzählen sollte, wurde zu einem der Konzepte und Themen meines Projekts. 

    Für das Projekt haben Sie Verwandte von Todesopfern in Maly Trostenez getroffen. Wie haben die auf Ihr Projekt reagiert? 

    Von den Angehörigen der Opfer habe ich nicht direkt Feedback zur Ausstellung selbst, da sie nur an zwei Orten gezeigt wurde: im Lettischen Museum für Fotografie in Riga (2020) und in einer gekürzten Version in der digitalen KX- Galerie in Brest (2021). Aber während der Arbeit am Projekt habe ich mit einigen Angehörigen gesprochen, und sie waren alle interessiert daran, die Geschichten ihrer Verwandten, die in Maly Trostenez umgekommen sind, zu erzählen und waren sehr offen, wofür ich sehr dankbar bin. Die jetzige Ausstellung ist die finale Form des Projekts. Sie ist relativ umfangreich, und wenn man den Rezensionen glauben darf, bringt sie die Idee gut rüber. Im Moment habe ich keine Kraft, nach Räumen oder Institutionen zu suchen, die sie noch zeigen könnten, aber ich hoffe, dass sich mit der Zeit etwas ergibt. 

    Was hat es mit dem Titel auf sich: I can almost hear the birds

    2017 besuchte ich das Waldstück Blagowschtschina, den Ort mit den meisten Erschießungsplätzen und Gräbern. Es war ein wunderschöner warmer Sommertag. Ich stand mitten in einem Märchenwald, umgeben von Pflanzen und Vogelgezwitscher. Und wieder war ich erschüttert von der Diskrepanz zwischen der Schönheit der Umgebung, der Ruhe des Ortes und dem, was hier 1942/43 geschehen ist. Als ich dann das Reisetagebuch von Vienna Duff las, die in Maly Trostenez ihre damals 22-jährige Großtante Adele Steiner verloren hat, fiel mir sofort ein Satz ins Auge, weil er so genau wiedergab, was ich an diesem Ort gefühlt hatte: „I can almost hear the birds, feel the gentle sunshine and breeze and sense the presence of the tall, straight pine trees as I write these words.“ 

    Welche ästhetischen Überlegungen leiteten Sie bei der Visualisierung?  

    Vom Konzept her habe ich hier mit der Unsichtbarkeit gearbeitet, die sich aufdrängt, von welcher Seite auch immer man auf die Vernichtungsstätte Trostenez schaut. Angefangen bei den naturgegebenen Vorgängen – der Natur und der Zeit, der Transformation der europäischen Städte, in denen die Opfer vor der Deportation gelebt haben, bis hin zu den verdeckten Mechanismen der Spezialoperation der Nazis und der Manipulation des historischen Gedenkens an diesem Ort. 

    Wir reagieren alle unterschiedlich stark auf fremdes Leid, das ist normal. Ich fühle mich zum Beispiel nicht bereit, nach Auschwitz zu fahren, um etwas zu begreifen oder zu erspüren. Das könnte eine traumatische Erfahrung sein. Bei diesem Projekt versuche ich, in der Sprache der Kunst über den Holocaust zu sprechen, ohne unmittelbar Bilder von Gewalt zu zeigen oder zu verwenden, sondern indem ich dem Zuschauer aus sicherer Distanz einen Raum für Reflexion und Anteilnahme anbiete. Anstatt zu rekonstruieren oder zu erklären, was in Maly Trostenez geschehen ist, versuche ich mich durch das Mittel der Dokumentarfotografie dem Geschehen anzunähern. Ich sammele visuelle Artefakte und Motive auf verschiedenen Ländern, Epochen, Institutionen und Archiven, die ich dem Publikum präsentiere. Damit möchte ich Fantasie und Einfühlungsvermögen anregen und eine neue Erfahrung ermöglichen. Ich gebe Hilfestellung und lade ein, einen eigenen Weg zu gehen bei dem Versuch, ins Dickicht von Blagowschtschina zu blicken. 

     

    Nicht identifizierter Knochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Aufschüttung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Nicht identifizierter Knochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Aufschüttung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Der Fluss Trostjanka, an dem das Dorf Maly Trostenez gelegen ist. Das Dorf wurde von den Nazis genutzt, um Lebensmittel zu produzieren und SS-Einheiten mit Essen zu versorgen. Es war auch ein militärischer Unterstützungspunkt, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Der Fluss Trostjanka, an dem das Dorf Maly Trostenez gelegen ist. Das Dorf wurde von den Nazis genutzt, um Lebensmittel zu produzieren und SS-Einheiten mit Essen zu versorgen. Es war auch ein militärischer Unterstützungspunkt, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Yael Kurzbauer im Wald von Blagowschtschina. Sie verlor ihre Urgroßmutter Sofie Tauber (47) und all deren Kinder: Ruth (14), Joseph (13), Erich (11) und Sonia (10), Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Foto vom Wald von Blagowschtschina, aufgenommen von der Staatlichen Sonderkommission, die die Vernichtungsstätte seit dem 14. Juli 1944 untersuchte (zwei Wochen nach der Befreiung von Belarus durch die Rote Armee). Markierungen und Beschriftungen wurden von der Kommission gemacht. Lettisches Nationalarchiv, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau
    Foto vom Wald von Blagowschtschina, aufgenommen von der Staatlichen Sonderkommission, die die Vernichtungsstätte seit dem 14. Juli 1944 untersuchte (zwei Wochen nach der Befreiung von Belarus durch die Rote Armee). Markierungen und Beschriftungen wurden von der Kommission gemacht. Lettisches Nationalarchiv, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau

    Legende zum Bild: Kreuzung 

    1. Die Straße zum Erschießungsplatz  

    2. Erschießungsplatz 

    3. Die Stelle, an der das Auto mit den Gefangenen anhielt. 

    4. Aufenthaltsorte der Strafeinheiten 

    5. Die Stelle, wo Albert Saukitens jeden Morgen Stellung bezog. Saukitens war ein lettischer Kollaborateur, der an den Massenerschießungen beteiligt war.  

     

    Aufgang zu Gleis 17 am Bahnhof Grunewald in Berlin, von wo aus Züge mit Menschen Richtung Osten abfuhren. Seit 1998 ist dies eine Gedenkstelle. Die Wahl fiel seinerzeit auf den abseits gelegenen Bahnhof am Stadtrand von Berlin, um die langen Schlangen mit Juden zu verbergen, die auf den Abtransport warteten, Berlin 2019 / © Foto Maxim Sarychau
    Aufgang zu Gleis 17 am Bahnhof Grunewald in Berlin, von wo aus Züge mit Menschen Richtung Osten abfuhren. Seit 1998 ist dies eine Gedenkstelle. Die Wahl fiel seinerzeit auf den abseits gelegenen Bahnhof am Stadtrand von Berlin, um die langen Schlangen mit Juden zu verbergen, die auf den Abtransport warteten, Berlin 2019 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Wald von Blagowschtschina, Minsk2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Wald von Blagowschtschina, Minsk2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Eingang des Wohnhauses Wollzeile 9 in Wien, eine der so genannten „Sammelwohnungen”, in denen mehrere Familien gezwungen wurden, zusammen auf sehr engem Raum zu leben. Diese Wohnungen entstanden im Rahmen der Zwangsumsiedlung von Juden im Rahmen der antijüdischen Wohnungsgesetze in Wien. Als 1941 die Deportationen begannen, waren sie für viele Juden vor der Deportation oft die letzte offizielle Adresse. 
    In diesem Haus wohnten mindestens elf Personen – deportiert und in Maly Trostinez umgebracht wurden: Johanna Kulka (52), Johanna Mahler (42), Elsa Friedmann (60), Emil Friedmann (59), Spitz Alice (40), Adolf Mahler (63), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Vienna Duff (57) verlor ihre Großtante mütterlicherseits Adele Steiner (22).   „Während ich diese Worte schreibe, höre ich beinahe die Vögel, fühle die sanfte Sonne und atme und spüre die Anwesenheit der hohen, geraden Kiefern.” Aus einem Tagebuch von Vienna während ihrer Gedenkfahrt nach Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Vienna Duff (57) verlor ihre Großtante mütterlicherseits Adele Steiner (22). „Während ich diese Worte schreibe, höre ich beinahe die Vögel, fühle die sanfte Sonne und atme und spüre die Anwesenheit der hohen, geraden Kiefern.” Aus einem Tagebuch von Vienna während ihrer Gedenkfahrt nach Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Hüftknochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Böschung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Hüftknochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Böschung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Mitglieder der Staatlichen Sonderkommission untersuchen eine Leiche auf dem Gebiet der Vernichtungsstätte. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau
    Mitglieder der Staatlichen Sonderkommission untersuchen eine Leiche auf dem Gebiet der Vernichtungsstätte. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Die Anthropologin Olga Emeljantchik während ihrer Arbeit im Lagerraum der Akademie der Wissenschaften von Belarus beim Identifizieren menschlicher Überreste, gefunden in Maly Trostenez, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau
    Die Anthropologin Olga Emeljantchik während ihrer Arbeit im Lagerraum der Akademie der Wissenschaften von Belarus beim Identifizieren menschlicher Überreste, gefunden in Maly Trostenez, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Wohnhaus Alser Str. 41, in dem Valerie Rören (57) vor dem 5. Oktober 1942 lebte, als sie nach Maly Trostenez deportiert und dort am 9. Oktober 1942 ermordet wurde, Wien 2020 / © Foto Maxim Sarychau
    Wohnhaus Alser Str. 41, in dem Valerie Rören (57) vor dem 5. Oktober 1942 lebte, als sie nach Maly Trostenez deportiert und dort am 9. Oktober 1942 ermordet wurde, Wien 2020 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Susanne Scholl (71) verlor ihre Großeltern mütterlicherseits in Maly Trostenez: Rudolf Werner (59) und Emilie Werner (59), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Blumen und Steine, die die Gedenkstätte im Wald von Blagowschtschina bei der Eröffnung schmückten, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau
    Blumen und Steine, die die Gedenkstätte im Wald von Blagowschtschina bei der Eröffnung schmückten, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Überreste eines Hangars, in dem die Nazis ungefähr 6000 Menschen lebendig verbrannten, bevor sie aus Minsk abzogen. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau
    Überreste eines Hangars, in dem die Nazis ungefähr 6000 Menschen lebendig verbrannten, bevor sie aus Minsk abzogen. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Bäume mit den Namen und Portraits europäischer Juden, die im Wald von Blagowschtschina getötet wurden, einem Ort der Massenermordungen in der Vernichtungsstätte von Maly Trostinez. Diese selbsterrichtete Gedenkstätte wurde von der österreichischen Initiative IM-MER im Jahr 2010 organisiert, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Bäume mit den Namen und Portraits europäischer Juden, die im Wald von Blagowschtschina getötet wurden, einem Ort der Massenermordungen in der Vernichtungsstätte von Maly Trostinez. Diese selbsterrichtete Gedenkstätte wurde von der österreichischen Initiative IM-MER im Jahr 2010 organisiert, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Femur (Oberschenkelknochen) eines menschlichen Erwachsenen. Gefunden im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Femur (Oberschenkelknochen) eines menschlichen Erwachsenen. Gefunden im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Wohnung am Petersplatz 9 in Wien, eine weitere der so genannten „Sammelwohnungen”, wo mehrere jüdische Familien gezwungen wurden, auf sehr engem Raum zusammenzuleben. In diesem Haus wohnten mindestens 14 Menschen – deportiert und in Maly Trostinez umgebracht wurden: Johanna Blumenfeld (49), Käthe Trepler (38), Helene Weiss (49), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Ein Lichtstrahl aus der Eingangstür des Wohnhauses in der Wollzeile 9 in Wien, einer „Sammelwohnung”. In diesem Haus wohnten mindestens 14 Menschen – deportiert und in Maly Trostinez umgebracht wurden: Johanna Kulka (52), Johanna Mahler (42), Elsa Friedmann (60), Emil Friedmann (59), Spitz Alice (40), Adolf Mahler (63), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Fotografie: Maxim Sarychau 
    Bildredaktion: Andy Heller 
    Interview: Ingo Petz 
    Veröffentlicht am 27.01.2025 

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  • „NADO!” – im Geiste Orwells

    „NADO!” – im Geiste Orwells

    Nado! Muss sein! – ist einer der zentralen Propaganda-Slogans der sogenannten Präsidentschaftswahlen am 26. Januar 2025 in Belarus. Man sieht die Parole auf riesigen Billboards und Leinwänden im ganzen Land. Aus Sicht des Regimes ist es notwendig, Lukaschenko einmal mehr zum Staatsführer zu krönen. Aber muss die belarussische Gesellschaft dafür in Angst und Schrecken leben? Der zynische Unterton des Slogans ist nur allzu deutlich.  

    Der Herrschaftsapparat tut alles dafür, dass die Wahl-Inszenierung ohne Störungen abläuft – Massenproteste wie im Jahr 2020 soll es schließlich nicht geben. Militär, Miliz und OMON werden im Einsatz sein, Schüler der Oberstufe bekommen Besuch von Ideologen, die die jungen Leute einschwören. Die Demokratiebewegung veranstaltet am Wahltag in Warschau das Festival Die Belarussen haben Besseres verdient, auf dem bekannte Politiker und Aktivisten über ihre Zukunftsvision von Belarus sprechen. Die belarussischen Sicherheitsbehörden warnen Teilnehmer und Streaming-Zuschauer des Festivals schon im Vorfeld, man werde sie dafür strafrechtlich verfolgen.  

    Lukaschenkos Mit-Kandidaten – es sind vier – sind handverlesen, alle Oppositionsparteien wurden längst verboten. Neben dem blassen Alexander Chischnjak, Vorsitzender der unbedeutenden Republikanischen Partei, und dem Dauer-Mitkandidaten Oleg Gaidukewitsch stehen der Stalinist Sergei Syrankow und eine Frau auf dem Wahlzettel: Anna Kanopazkaja. Der Sieger steht heute schon fest. 

    Der Journalist Alexander Klaskowski gibt für das Online-Portal Pozirk Einblicke in ein absurdes Wahltheater.

    Lukaschenko im renovierten Stadion „Traktor” in Minsk / © Foto president.gov.by 

     

    Als Alexander Lukaschenko am 14. November 2024 das frisch sanierte Stadion „Traktor” in Minsk besuchte, prahlte er scheinbar nebenbei mit der Menge an Unterstützungsunterschriften für seine Kandidatur: „Gestern wurde ich informiert, dass zum aktuellen Zeitpunkt mehr als 700.000 Stimmen gesammelt wurden.“ 

    Nonchalant merkte er noch an, er habe ja kaum Zeit für den Wahlkampf, sei er doch ständig im In- und Ausland unterwegs und müsse den erfolgreichen Abschluss der Erntekampagne im Blick behalten. Als ob für einen derart machtbesessenen Menschen wie ihn die Erntekampagne wichtiger sein könnte als der Wahlkampf.  

    Mit stalinscher Bescheidenheit 

    Tatsächlich muss er sich um die Unterschriften keine Sorgen machen. Erstens hat der Herrscher den Schätzungen unabhängiger Experten zufolge ohnehin die Unterstützung von 25-30 Prozent der Bevölkerung, und auf diese Wählerschaft ist Verlass. 

    Zweitens arbeitet die Verwaltungsebene auf vollen Touren. Der Vorsitzende der Oblast Witebsk, Alexander Subbotin, sagte offen im Fernsehen, beim Unterschriftensammeln für Lukaschenko entstehe traditionsgemäß ein Wettbewerbseffekt zwischen den Oblasten. Im Namen der Initiativgruppen des Herrschers werden zahlreiche Kundgebungen organisiert. Und in den Organisationen und Einrichtungen werden die Unterschriften in einer Atmosphäre gesammelt, in der eine Weigerung zu unterschreiben ein Risiko bedeutet.  

    Drittens arbeitet die Zentrale Wahlkommission nach dem Prinzip „wie es euch beliebt“ und verkündet jedes von oben gewünschte Ergebnis. 

    Lukaschenko demonstriert dabei stalinsche Bescheidenheit. Bekanntermaßen gab schon jener „Vater der Völker“ vor, den Kult um seine Person nur mit Mühe zu ertragen und sich ihm gar zu widersetzen. So teilte der belarussische Staatsführer im Stadion mit, er habe die Unterschriftensammlung für seine Person eigentlich schon beenden wollen, aber sein Administrationschef Dimitri Krutoi habe ihn überzeugt, dass man den Menschen die Möglichkeit geben müsse, ihren Anführer zu unterstützen. Gekünstelt gibt sich Lukaschenko besorgt darüber, dass die Leute nicht gerade darauf aus seien, für andere Kandidaten zu unterschreiben. Wie sollen sie das auch wagen, nach den Repressionen gegen diejenigen, die 2020 für alternative Kandidaten unterschrieben hatten. 

    Tatsächlich sind alle „Konkurrenten“ nur Staffage, dennoch gehen die Bürger lieber kein Risiko ein. Natürlich wird man Lukaschenkos Namen nicht als einzigen auf dem Stimmzettel stehen lassen. Zur Zierde werden vier Pseudokandidaten ergänzt, denen man die notwendige Anzahl an Unterschriften für die Nominierung zugesteht. 

    Lukaschenko beim Wahlkampf und Holzhacken zusammen mit seinem weißen Spitz / Screenshot Sendung RTR Belarus, 7.11.2024 

     

    „In Belarus wird keinesfalls eine Frau gewählt“ 

    Mit solchen Sparringspartnern ergibt sich natürlich der reinste Zirkus. Lukaschenko kommentierte den „Ausstieg aus dem Rennen um das Präsidentschaftsamt“ (eine Formulierung der staatlichen Nachrichtenagentur Belta) von Olga Tschemodanowa, Milizoberst der Reserve, und Sergej Bobrikow, Generalmajor der Reserve. Die Staatsmedien spielen mit der Lexik echter Wahlen wie in den USA. Aber was für ein beknacktes Rennen, bei dem das Ergebnis schon vorher feststeht? 

    „Klar stehen sie auf meiner Seite. Sie dachten: ‚Wir wissen, dass der Präsident gewinnen wird, aber wir lassen nicht zu, dass er diskreditiert wird.‘ Als würde ich mich diskreditieren lassen. Doch dann sahen sie: Innerhalb der Organisation hat man nicht so recht Verständnis. Also beschlossen sie: ‚Besser, wir steigen aus‘“, versuchte Lukaschenko, die seltsamen Manöver von Tschemodanowa und Bobrikow zu erklären. 

    Bobrikow selbst, der Vorsitzende des Belarussischen Offiziersverbandes, hatte zuvor erklärt, er sei ausgestiegen, „um die Geschlossenheit innerhalb des Offizierskorps zu wahren, kein Doppeldenk im Militär zu erzeugen und das amtierende Staatsoberhaupt, unseren Anführer zu unterstützen.“ 

    Warum war er überhaupt angetreten? Offenbar hatte er zunächst das eine, kurz darauf das andere Kommando erhalten. Irgendwas werden sich die Polittechnologen schon dabei gedacht haben. Der General ahnt indes möglicherweise gar nicht, dass er die Terminologie reproduziert, die in Orwells Dystopie 1984 den totalen Staat beschreibt: „Doppeldenk“, „Gedankenverbrechen“. 

    Das System hat sich in eine tragikomische Ecke manövriert. Es ist klar, dass es eine Lukaschenko-Wahl ist, ein anderes Ergebnis ist bei diesem Spektakel nicht in Sicht. Doch man muss das Ritual befolgen, den Anschein von Pluralismus und Spannung erwecken. Am Ende – Gelächter im Saal – begründen die Sparringspartner ihren Eintritt und ihren Austritt aus dem Wahlkampf mit demselben Argument: Wir unterstützen Lukaschenko.  

    Es gibt noch weitere vier Anwärter auf das Amt. Nach dem Ausscheiden von Oberst Tschemodanowa aus dem „Rennen“ ergatterte auch die extravagante Anna Kanopazkaja  einen Platz auf dem Stimmzettel. Die Kandidatur von Kanopazkaja, die früher Mitglied der mittlerweile vom Obersten Gerichtshof liquidierten Vereinigten Bürgerpartei war, ist ein Zeichen, dass die Staatsmacht beschlossen hat, auch das Feld der Opposition ein wenig zu bespielen. Vielleicht muss Lukaschenko auch unbedingt eine Frau überholen, als Trost für 2020, als ihm die „Hausfrau” Swetlana Tichanowskaja das Wasser abgrub. 

    Apropos, unter dem Deckmantel der Sorge um das „schwache Geschlecht“ tat sich Lukaschenko während seines Auftritts im Stadion wieder mal mit Sexismus hervor: „In Belarus wird keinesfalls eine Frau gewählt […] In den USA hat der Präsident keinen so weitreichenden Auftrag wie in Russland oder Belarus. Bei uns muss man alles können: alle füttern und tränken… Das ist Schwerstarbeit. Eine Frau darf man nicht so belasten. Das ist hier kein zeremonielles Amt.“ 

    Er beklagte sich auch über die Schwäche der europäischen Staatsoberhäupter: „Die Amerikaner behandeln Scholz doch schon wie den letzten Dreck.“ Mithin äußerte er aber Hoffnung: „Es werden wieder Männer wie de Gaulle auftauchen, ganz sicher. Oder Kohl, so einer wird auch wiederkommen. Auch Chirac war ein ganzer Kerl, einer fürs Volk.“ Über starke Frauen an der Spitze von Regierungen schwieg er. Dabei haben Margaret Thatcher oder Angela Merkel keineswegs nur zeremonielle Funktionen ausgeübt und waren dabei sehr erfolgreich.  

    Lukaschenkos Logik ist hier eine andere, sie resultiert aus dem Gefühl, einzigartig und unersetzlich zu sein. Nachdem er den Mechanismus der echten Wahlen zerschlagen hat, schaut er von oben auf die europäischen Politiker herab, die sich ernsthaft wählen lassen müssen und in der Regel auf zwei Amtszeiten beschränkt sind. Diese verfaulte Demokratie! 

    Wahlwerbung in Minsk / © Foto gazetaby

     

    Dystopie als Propaganda 

    Die aktuelle Wahlkampagne bildet im Grunde die Veränderungen im System Lukaschenko seit 2020 ab. Ja, die Opposition wurde auch früher diskriminiert und kleingehalten, aber ihre Kandidaten wurden noch zur Wahl zugelassen. Doch dann führten die Wahlen fast zum Umsturz. Also wurden Nägel mit Köpfen gemacht. Der schwere Brodem des Totalitären trat immer deutlicher hervor.       

    So wird das Absurde zur Norm. Die drei Wahlsprüche der herrschenden Partei in Orwells Roman 1984 lauten: „Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke.“ Lukaschenkos Propaganda arbeitet tatsächlich im Geiste dieser Dystopie, übertrifft teilweise sogar die künstlerische Vorlage. 

    Ein Beispiel: Das Regime beteiligt sich am Krieg, scharenweise fliegen Shahed-Dronen über das Land, und gleichzeitig inszeniert man Lukaschenko als Garanten eines friedlichen Himmels. Er selbst beteuert blauäugig, Wladimir Putin hätte seine Truppen 2022 nach den Übungen in Belarus wieder in den Fernen Osten verlegt, wenn ihn die bösen Ukrainer nicht provoziert hätten.  

    Lukaschenko und seine Propaganda malen zudem ein Bild, auf dem im Westen (vor allem in Polen und Litauen) die Massen unter dem Joch der Regierungen ächzen, während Belarus, das tatsächlich ein einziges großes Gefängnis ist, als Reich der wahren Freiheit erstrahlt. Schaut nur, sagen sie, wie furchtlos sich die Kandidaten ins Rennen um die Präsidentschaft stürzen!  

    Schließlich schneidet das Regime die Gesellschaft auch von alternativen Informationsquellen ab, vernichtet „aufrührerische“ Literatur: „Unwissenheit ist Stärke“. Im Geiste derselben Dystopie schreiben die Machthaber die Geschichte um, verbreiten ihre eigene Version der Ereignisse von 2020: Ein Teil der Gesellschaft sei geistig umnachtet gewesen, jetzt aber wieder zur Besinnung gekommen. Seht nur, sie schreiben Gnadengesuche. 

    Nado! (Muss sein!): der Propaganda-Slogan der Wahlkampagne von Lukaschenko im Dezember 2024 auf einem Bildschirm in der Capital Mall in Minsk / © Foto gazetaby 

     

    Belta zeigt eine Fotoreportage von einer Kundgebung der Lukaschenko-Initiativgruppe auf dem Gelände des High-Tech-Parks in Minsk. Auch das ist eine Botschaft. 2020 hatten sich hier die IT-Leute aktiv an den Protesten beteiligt, hier waren sie vom OMON verprügelt worden. Nun stehen die Menschen am Zelt mit dem Propaganda-Motto Nado gehorsam Schlange. Wieder ein Nest der Aufständischen zertreten – diese Botschaft sendet die Propaganda. Lukaschenko ruft seine Untergebenen immer wieder dazu auf, wachsam zu bleiben, und erinnert an die Feinde: die offensichtlichen (im Ausland) und die verdeckten (die sich ihm zufolge im Inland „unter der Scheuerleiste“ verstecken).  

    Er wittert in der unterdrückten Gesellschaft noch eine verborgene Bedrohung. Anscheinend hat er nicht begriffen, dass die Ursache dafür nicht in Machenschaften des „kollektiven Westens“ und der „Ausgebüchsten“ liegt, sondern in der Tatsache, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung aus seinem System herausgewachsen ist. Lukaschenko behauptet nach wie vor, er müsse das Volk „füttern und tränken“. Dabei haben Millionen von Belarussen im Jahr 2020 gezeigt, dass sie kein Stallvieh sind.  

    Man kann die Menschen im Land einschüchtern, man kann sie brechen, apathisch machen. Aber wie in einer Dystopie das Bewusstsein der Massen umzuformatieren, das wird wohl nicht gelingen.  

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    Viktor Babariko war im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2020 der aussichtsreichste mögliche Kandidat der Opposition in Belarus. Doch bereits vor der Registrierung wurde er festgenommen und schließlich zu 14 Jahren Straflager verurteilt, sein Anwalt Maxim Znak zu zehn Jahren. Seit Februar 2023 wird auch sein Verteidiger nicht mehr zu ihm vorgelassen. Über 600 Tage gab es keinerlei Lebenszeichen von Babariko, bis kürzlich immerhin Fotos mit ihm in den sozialen Medien auftauchten. So ergeht es vielen bekannten politischen Gefangenen: Sie werden im sogenannten Incommunicado-Regime gehalten, in Einzelhaft ohne Kontakt zur Außenwelt und zu ihren Anwälten. 

    Derweil stehen auch die Rechtsanwälte selbst im Fadenkreuz der Strafverfolgungsbehörden im Lukaschenko-Staat. Ihnen wird die Zulassung entzogen, sie werden festgenommen und weggesperrt, viele verlassen das Land. Die Journalistin Jana Machowa zeigt die Folgen dieser Verfolgung. 

    Der Anwalt Maxim Znak bei seiner Gerichtsverhandlung im Jahr 2021 (zusammen mit Maria Kolesnikowa) / Foto © Viktor Tolochko/ SNA/ Imago
    Der Anwalt Maxim Znak bei seiner Gerichtsverhandlung im Jahr 2021 (zusammen mit Maria Kolesnikowa) / Foto © Viktor Tolochko/ SNA/ Imago

    Lebt Maxim Znak? Keiner seiner Nächsten kann das mit Sicherheit sagen. 

    In Belarus wurde eine Repressionsspirale gegen Juristen losgetreten: Der Gründer der Rechtsanwaltskanzlei Braginez und Partner, Witali Braginez, wurde im Mai 2022 festgenommen, kurz vor dem Gerichtsprozess seines Mandanten Andrej Motschalow. Im Januar des folgenden Jahres wurde Braginez in einer nichtöffentlichen Verhandlung wegen vier Paragraphen des Strafgesetzbuches zu acht Jahren Freiheitsentzug im Straflager mit verschärften Bedingungen verurteilt. Sein ehemaliger Mandant Motschalow war übrigens auch Anwalt. Die Strafverteidiger von Viktor Babariko, Sergej Tichanowski, Maria Kolesnikowa, Sofia Sapega und vielen anderen mussten überstürzt das Land verlassen. 

    Insgesamt verloren von 2020 bis Anfang 2024 mehr als 140 belarussische Anwälte ihre Zulassung, mindestens 23 Anwälte wurden verhaftet, nachdem sie Menschen verteidigt hatten, die aus politischen Motiven festgenommen worden waren. Diese Angaben stammen aus dem Projekt Recht auf Verteidigung (russ. Prawo na saschtschitu). Gegen sechs Juristen wurden Strafverfahren eröffnet. Ende Februar 2024 startete der KGB eine erneute Razzia gegen Anwälte politischer Gefangener und ihre Familien, bei der mindestens zwölf Verteidiger festgenommen wurden, die juristisch Hilfe leisten. Ein Ende der Repressionen ist nicht absehbar. 

    Immer mehr unabhängige Verteidiger verlassen den Beruf 

    Mit der Änderung des Rechtsanwaltsgesetzes 2021 zerstörte die politische Führung die unabhängige Anwaltschaft, indem Einzelanwälte und unabhängige Anwaltskanzleien abgeschafft wurden. Jetzt kann man nur in juristischen Kanzleien arbeiten, die von Anwaltskollegien mit Zustimmung des Justizministeriums eröffnet werden. Anwälte mussten sich diesen Kanzleien anschließen – oder ihren Beruf aufgeben. 

    „Dadurch sollten die belarussischen Rechtsanwälte unter die Kontrolle der Staatsführung gebracht werden“, ist sich Maria Kolessowa-Gudilina sicher, die 2020 Dutzende politisch verfolgte Belarussen verteidigte. Dann wurde ihr die Lizenz entzogen, sie verließ das Land, ihre Social-Media-Accounts wurden als „extremistisch“ eingestuft. Früher hat sich das Ministerium mit der Widerrufung der Zulassungen befasst. Jetzt wurde diese Verantwortung an die Kollegien delegiert – denen kann aber nur eine Person vorsitzen, die vom Ministerium bestätigt wurde. 

    Silowiki, Staatsanwälte und Richter wechseln zunehmend in den Beruf des Rechtsanwalts 

    „Kollegen verfolgen jetzt Kollegen. Man findet praktisch keine Anwälte für politische Strafsachen mehr – wer einen Fall übernimmt, geht ein Risiko ein. Das ist ein großes Problem. 2023 wurden Anwälte festgenommen, die als Kontaktpersonen agierten [also als Empfänger und Übermittler von Informationen – dek]. Sechs Anwälte sitzen im Gefängnis, weil sie professionell ihre Arbeit ausgeführt haben. Und trotz alledem gibt es noch Menschen, die politische Fälle übernehmen und ihre Arbeit sorgfältig erledigen“, berichtet Kolessowa-Gudilina. 

    In Belarus nehmen die Anwälte derweil wahr: Während immer mehr unabhängige Verteidiger den Beruf verlassen, wechseln ehemalige Silowiki, Staatsanwälte und Richter zunehmend in den Beruf des Rechtsanwalts. Dafür gibt es eindeutig grünes Licht: Für den Quereinstieg reichen ein Empfehlungsschreiben vom Fachamt, ein verkürztes Praktikum und statt der regulären schriftlichen Prüfung im Justizministerium ein Vorstellungsgespräch.  

    Mehr als nur ein „teurer Briefträger“ 

    Viele Anwälte, denen die Zulassung entzogen wurde, sind in Belarus geblieben. Manche haben sich einen neuen Tätigkeitsbereich gesucht, aber einige arbeiten weiterhin im juristischen Geschäft. Ein belarussischer Anwalt, der seine Lizenz wegen der Verteidigung politischer Häftlinge verloren hat und daher anonym bleiben muss, berichtet: „Anwälte, die ihren Beruf weiterhin ausüben, sind quasi Staatsbeamte, von Unabhängigkeit kann keine Rede sein. Vereinzelt gibt es noch Anwälte, die in Ordnung sind. In vier Jahren Arbeit unter völlig wahnsinnigen, stressigen Bedingungen haben sie die neuen Regeln verstanden und sich angepasst. Es klingt vielleicht seltsam, aber es ist gut, dass sie sich angepasst haben und so weiterhin helfen können.“ 

    Viele Menschen in Belarus glauben gar nicht mehr an den Nutzen von Anwälten, insbesondere bei politischen Prozessen, und bezeichnen sie als „teure Briefträger“. Maria Kolessowa-Gudilina ist überzeugt, dass das nicht richtig ist: Die Arbeit eines Anwalts ist für die Öffentlichkeit oft nicht sichtbar, aber dank ihm kann ein Fall in völlig anderer Form vor Gericht kommen, mit weniger Anklagepunkten und entsprechend einer geringeren Haftdauer im Urteil.  

    Dem stimmt ein weiterer belarussischer Anwalt zu, dem die Lizenz entzogen wurde, er erinnert im Gespräch mit dekoder daran, dass seit 2020 viele politische Fälle verhandelt wurden, von denen die Öffentlichkeit gar nichts weiß. „Viele erhielten statt einer Lagerhaft nur Arrest mit Zwangsarbeit oder sogar nur Hausarrest, viele Anklagepunkte konnten abgewendet werden!“, sagt er unter der Bedingung, anonym zu bleiben.  

    „Es war nicht leicht, aber wir fanden einen Anwalt für unsere Mutter, die für einen Kommentar in den sozialen Netzwerken angeklagt war. Wir erwarteten nicht viel von ihm, und er erfüllte unsere „Nichterwartungen“. Aber wir sind froh, dass Mutter einen relativ unabhängigen Verteidiger hatte, der am Prozess teilnahm, uns zu juristischen Feinheiten beriet und uns Informationen über ihren Zustand überbrachte“, berichten die Angehörigen der Angeklagten, die letztlich zu einem Jahr Straflager verurteilt wurde. 

    Ein Anwalt kann eine riesige moralische Stütze für einen Menschen sein, der dem System sonst ganz allein gegenüberstünde. Er leistet Hilfe, die hier und jetzt gebraucht wird. „Dem Gefangenen, der sich in unmenschlichen Bedingungen befindet, zuhören, helfen, Rat geben“, zählt Kolessowa-Gudilina auf. „Manch einer sagt: Wozu einen Anwalt bezahlen, man bekommt ja doch Hausarrest nach Artikel 342? Aber man weiß ja nicht, ob sie nicht noch etwas finden. Manchmal belasten sich die Menschen vor Schreck selbst noch zusätzlich. Damit das nicht passiert, braucht man qualifizierte juristische Hilfe. Ja, die Rechtsanwaltskammer liegt in Trümmern, aber einzelne Anwälte gibt es noch, die Hilfe leisten.“ Ihr anonymer Kollege verweist zudem darauf, dass es – wenngleich selten – vorkommt, dass Verfahren eingestellt werden. Darüber wird aber nicht laut gesprochen, da es sich ansonsten schnell wieder ändern könnte. 

    „Schutz vor Maßlosigkeit“ 

    Außer Zweifel steht für die Juristen: Haben Ermittlungsbehörde und Staatsanwalt schon einen Plan bezüglich des Festgenommenen, dann hilft auch kein Anwalt, vor allem bei öffentlichkeitswirksamen Fällen. 

    „Aber der Anwalt kann vor Maßlosigkeit schützen und eine mildere Strafe erstreiten“, sagt ein belarussischer Anwalt und führt als Beispiel Personen an, die für die Teilnahme an einer der Minsker Großdemonstrationen auf Grundlage des Artikels 342 (Landfriedensbruch) bestraft wurden. „Das Verkehrsunternehmen Minsktrans forderte eine Entschädigungszahlung in Höhe von mehreren Millionen Rubeln. Die Richter erhoben auf dieser Grundlage bei jedem Verurteilten Geldstrafen, ohne zu beachten, wie viel von der Gesamtsumme bereits bezahlt wurde. Ich kenne Beispiele, wo Anwälte Dokumente vorlegen konnten, die belegten, dass die Gesamtsumme längst von zuvor Verurteilten beglichen worden war. Ohne Anwalt hätte man also nicht nur eine Haftstrafe, sondern auch noch eine maßlose Geldstrafe bekommen.“ 

    Die Repressionen gegen die Anwälte wirken sich nicht nur auf die politischen Gefangenen aus. „Die Einschüchterung hat sich auf alle Fälle ausgeweitet, die staatlichen Organe haben verstanden, dass sie grünes Licht haben“, konstatiert Maria Kolessowa-Gudilina. Verteidiger, die noch in Belarus sind, bestätigten gegenüber dekoder, dass seit 2020 für das Regime insgesamt und die Silowiki insbesondere alles „viel einfacher“ geworden sei: Was auch immer wir brauchen – kriegen wir. Gerichtsprozesse sind nur eine Formalität. 

    Es gibt aber auch eine andere Ansicht. 

    „Bei den nichtpolitischen Fällen war die Rechtsprechung auch vorher schon bedingt abhängig“, erzählt ein anderer anonym bleibender belarussischer Anwalt. „Es gab da aus meiner Sicht sehr seltsame Fälle, wo jemand, der bereits zum fünften Mal wegen Diebstahls angeklagt wird, einfach frei aus dem Gerichtssaal spaziert. Das ist das Wesen des belarussischen Gerichtssystems, so war es vor 2020, und so ist es auch jetzt noch.“ Allerdings stimmt der Anwalt zu, dass früher ein gerechtes Urteil möglich war, wenn der politische Apparat kein besonderes Interesse an einem Fall hatte. Betrachtet man Fälle nach 2020, bei denen ein solches Interesse vorlag, so wurden sie zwar nicht gesondert behandelt, aber man erkennt sehr deutlich die „Annahme der Rechtmäßigkeit staatlicher Interessen“. 

    „Wenn jemand auf dem Balkon eine rote Unterhose zwischen zwei weiße Socken gehängt hat, dann geht er auf jeden Fall ins Gefängnis“, fasst unser Gesprächspartner zusammen.  

    Aus der Kanzlei in die Backstube 

    Wie viele Anwälte genau Belarus verlassen haben, ist nicht bekannt, aber laut Kolessowa-Gudilina sind es definitiv mehr als 100. Oft sind es hochqualifizierte Fachleute, die im Durchschnitt 13,5 Jahre Berufspraxis haben. 

    „Die juristische Ausbildung ist sehr kompliziert und spezifisch. In Belarus und den EU-Staaten unterscheiden sich die Rechtssysteme stark“, berichtet einer der Verteidiger, der Belarus nach dem Entzug der Zulassung verlassen hat. Das belarussische Jurastudium wird in der Regel nicht anerkannt, man muss entweder neu studieren oder den Abschluss anerkennen lassen. Das ist teuer, langwierig und kompliziert. Die Psyche spielt dabei eine wichtige Rolle: Mit einem Mal die über Jahrzehnte hinweg erarbeitete berufliche Reputation zu verlieren und sich in einem Zustand wiederzufinden, als wäre man wieder 18 – das ist sehr schwer. Einige der Anwälte verdienen ihren Lebensunterhalt im Ausland in Arbeiterberufen.  

    „Ich weiß, dass einige Anwälte bei Lieferdiensten arbeiten, in Bäckereien oder in Geschäften“, bestätigt Kolessowa-Gudilina. „Es gibt keine schlechte Arbeit, aber das sind unsere Köpfe, alle Leute, die im Ausland sind, sollten sie nutzen können.“ 

    Ein Jurist, der Belarus verlassen hat, erzählt dekoder unter der Bedingung der Anonymität, dass einige seiner Kollegen sich mit dem polnischen Migrationsrecht beschäftigt haben und jetzt den nach Polen eingewanderten Belarussen bei Fragen zu Migration und Familie beraten. 

    „Ich hoffe, in Belarus wird die Rechtshoheit wiederhergestellt“  

    Die in Vilnius registrierte belarussische Organisation Anwälte der Menschenrechte befasst sich mit der Lösung des Hauptproblems, der Frage des Berufszugangs im Aufnahmeland für Juristen, die zur Emigration aus Belarus gezwungen wurden.  

    „Es ist das erste Beispiel für Selbstorganisation unabhängiger Rechtsanwälte“, sagt Maria Kolessowa-Gudilina, die die Vorsitzende der Organisation war, bis sie den Posten im Oktober 2024 aufgab. „Es gibt ein Leben nach dem Zulassungsentzug in Belarus, es gibt Möglichkeiten, weiterhin zu praktizieren. Unsere Anwälte wurden aus dem Beruf verbannt, weil sie sich den Machthabern nicht unterwerfen wollten, jetzt helfen sie ihren Mandanten vom Ausland aus.“ 

    Ich hoffe, dass die Rechtshoheit in Belarus wiederhergestellt wird und ich wieder als Anwalt arbeiten kann 

    Eine wichtige Kategorie von Fällen, mit denen die Anwälte im Ausland befasst sind, betreffen die Rechte von Belarussen im Land und im Exil. Die Anwälte können die Rechte ihrer Landsleute insbesondere vor internationalen Strukturen vertreten. Einige Mitglieder der Vereinigung bereiten auch die notwendigen Dokumente für ein zukünftiges Ermittlungsverfahren gegen das Lukaschenko-Regime vor. Dank der Bemühungen der Organisation und der Zusammenarbeit mit den litauischen Kollegen können die Belarussen seit März 2024 im Anwaltsverzeichnis Litauens als ausländische Verteidiger, „Anwälte aus Drittstaaten“, geführt werden, diese Möglichkeit gibt es nicht in vielen Staaten. 

    Als ihre wichtigste Mission nennen die Anwälte der Menschenrechte die Wiedererrichtung der Rechtsanwaltskammer im zukünftigen Belarus. „Ich arbeite in Westeuropa in einem Bereich, der dem Rechtswesen nahesteht, verdiene wenig, aber zum Leben ist es genug“, erzählt ein Anwalt, dem die Lizenz entzogen wurde. Er betont, dass das Problem für ihn nicht so sehr das Geld sei. „Ich kann nicht das tun, was ich am liebsten tue: Seinerzeit bin ich aus Liebe zum Fach Rechtsanwalt in Belarus geworden. Ich verstehe das jetzt als temporären Lebensabschnitt und hoffe, dass die Rechtshoheit in Belarus wiederhergestellt wird und ich wieder als Anwalt arbeiten kann.“ 

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    Die Zustände in belarussischen Arbeitslagern und Gefängnissen beschreiben ehemalige Inhaftierte als unmenschlich. Politische Gefangene werden zusätzlich erniedrigt. Vor allem Frauen wird die Haft zur Qual gemacht, indem das Gefängnispersonal ihnen Tampons und Binden vorenthält. Mit ihrem wenigen Geld müssen sie sich beim Einkauf im Gefängnisladen entscheiden, ob sie dafür Lebensmittel kaufen, die helfen, die körperlich und psychisch belastende Haft zu überstehen, oder eben Menstruationsprodukte. 

    Die Journalistin und Aktivistin Jewgenija Dolgaja hat im Exil die Initiative Politvyazynka gegründet, um auf die besondere Lage von weiblichen politischen Gefangenen in Belarus aufmerksam zu machen. Im Auftrag des russischen Online-Portals Meduza hat sie Berichte von Frauen über ihre Haft protokolliert. Dazu hat die unter Pseudonym arbeitende Fotografin Volya, die auch selbst Teil dieser Stimmen-Sammlung ist, beschriebene Vorfälle mit Videos und Fotos nachgestellt. 

    Die Untersuchungshaftanstalten: Waladarka, Akreszina, Shodino 

    Seit den Protesten 2020 haben sich die Untersuchungsgefängnisse auf der Wolodarski- und der Okrestin-Straße sowie in der Kleinstadt Shodino im Gebiet Minsk einen besonderen Namen gemacht: Die Festgenommenen, die gegen Alexander Lukaschenko und die Wahlfälschung protestiert hatten, wurden dort geschlagen und gefoltert.  

    Die Verfolgung Andersdenkender in Belarus dauert bis heute an. In Erwartung ihrer Gerichtsverhandlung oder in administrativer Kurzhaft leben die Menschen in diesen Gefängnissen ohne Matratze und Decke, ohne Zugang zu einer Dusche oder die Möglichkeit, Paketsendungen zu erhalten. Eine besondere Herausforderung ist das für Frauen während ihrer Monatsblutung. 

    Jelena (Name geändert)  

    Festgenommen im Jahr 2022 wegen Teilnahme an den Protesten, freigelassen 2023. Saß in den U-Haftanstalten Waladarka und Okrestina sowie im Frauenstraflager in Gomel.  

    Als sie mich festnahmen, hatte ich meine Tage. Zuerst brachten sie mich nach Hause, es gab eine Durchsuchung, dann brachten sie mich zur GUBOPIK. Zuhause schaffte ich es, mich umzuziehen und ein paar Sachen einzupacken: drei Unterhosen, fünf Paar Socken – es war ja nicht das erste Mal, ich kenne die Geschichte [meines Landes]. Außerdem nahm ich eine Packung Damenbinden mit. Natürlich packte ich auch Zahnbürsten ein, die wurden mir aber sofort weggenommen. Die Bindenpackung gab ich nicht aus der Hand, verwahrte sie immer zusammen mit meinem Pass. Ich nahm sie überall mit hin: zum Verhör bei der GUBOPIK und dann zum Bezirksamt des Inneren. 

    Dann brachten sie mich nach Okrestina. Dort nahmen sie mir alles ab. Aber die Binden drückte ich fest an meine Brust und sagte: „Das geht nicht, ich blute Ihnen sonst sie ganze Zelle voll, geben Sie sie mir.“ Sie gaben mir die Binden zurück, sie waren alles, was ich noch hatte. 

    Nach dem Gerichtstermin brachten sie uns [die Häftlinge] zur Verbüßung der Administrativstrafe ins ZIP [Isolationszentrum für Straffällige – dek], in die Strafzelle. Dort gibt es absolut nichts, nicht einmal Toilettenpapier. Wir waren acht Frauen in der Zelle. Eine hatte eine 1,5-Liter-Plastikflasche mit Wasser dabei – das war unsere Rettung. Erst tranken wir alle daraus, dann benutzten wir sie für die anderen Bedürfnis, alle acht. Wasser gab es im Karzer, der Hahn kam einfach aus der Wand, ohne Waschbecken. Um es aufzufangen, stellten wir den Abfalleimer unter den Wasserhahn. Wir versuchten, uns mit diesem kalten Wasser zu waschen – es war eh schon alles egal. 

    Durch die Panik wollte meine Periode gar nicht mehr aufhören. Irgendwann hatte ich nur noch fünf Binden übrig. Ich wusste, dass ich auf unbestimmte Zeit mit ihnen auskommen musste. Es war Februar und wir schliefen in der Strafzelle gestapelt auf dem Fußboden. Auf Beton. Wir merkten, wie uns langsam die Nieren abfroren. Wir teilten also diese letzten fünf Binden untereinander auf und klebten sie uns auf die Nieren – um wenigstens ein bisschen vor der Kälte geschützt zu sein [das hat sicher nicht geholfen]. Denn zusätzliche Kleidung hatten wie nicht, wir trugen bereits alle Kleidungsstücke, die wir besaßen – es war sehr kalt. So gingen also meine letzten Binden drauf.   

    Manchmal kam eine Krankenschwester und wir sagten – alle acht Frauen im Chor – dass wir alle gerade unsere Tage hätten. Sie gab, glaube ich, [jeder von uns] eine Binde pro Tag aus. Wir sammelten alle und gaben sie denen, die sie gerade brauchten. Indem wir teilten, retteten wir uns gewissermaßen. 

     
    Bei der Festnahme trugen die Silowiki Farbe auf die Kleidung der Protest-Teilnehmenden auf. Damit markierten sie diejenigen, die sich widersetzt hatten oder im Verdacht standen, Organisatoren zu sein. Blutflecken auf der Gefängniskleidung benutzten die Aufseherinnen ebenfalls als Möglichkeit, zu brandmarken und zu bestrafen, berichtet die Fotografin Volya, die ebenfalls in Kurzhaft saß.  

    Olga Loiko  

    Festgenommen im Mai 2021, saß bis März 2022 in U-Haft in der Waladarka. 

    Im Laden des Untersuchungsgefängnisses gibt es Damenbinden, aber man kommt nicht regelmäßig dorthin, vielleicht einmal aller zwei Wochen, manchmal seltener. Die Auswahl ist sehr dürftig, mehrmals gab es nur Slipeinlagen. Aber auch sonst haben sie dort nur die dünnen Binden mit dem Zwei-Tropfen-Symbol. „Super“, „Night“ oder Tampons gibt es nur in Paketen von Angehörigen oder als Mitbringsel. Wer keine oder nur selten Päckchen bekommt, ist schlecht dran.  

    Eine Zellengenossin [verurteilt wegen einer unpolitischen Sache] bekam von ihrer Mutter zu kleine Binden geschickt, was ihr sehr zu schaffen machte: Sie musste mehrere auf einmal einkleben und ging nicht mit zu den Spaziergängen – um nicht auszulaufen [und Blutflecken auf der Kleidung zu vermeiden]. 

    Einige Male im Monat trank sie vor dem Schlafengehen Kaffee und versuchte, halb im Sitzen zu schlummern. Andere Frauen in der Zelle hatten genügend verschiedene Hygieneartikel, aber sie wollte nicht darum bitten: Sie war überzeugt, dass sie allein zurechtkommt. Als ich ging, überließ ich ihr einen großen Vorrat. Sie nahm ihn und sagte: „Das hebe ich für die Verhandlung auf.“ Da ist man [während der Fahrten zum Gericht] tagelang im Gefängniswagen und danach im Käfig im Gerichtssaal. Da lässt einen keiner häufiger als nötig zur Toilette. 

    In diesen Positionen mussten Häftlinge auf Anweisung des Sicherheitspersonals während der Leibesvisitationen im Gefängnis stehen. 
    In diesen Positionen mussten Häftlinge auf Anweisung des Sicherheitspersonals während der Leibesvisitationen im Gefängnis stehen. 

    Tatjana  

    Festgenommen im Winter 2023, weil sie einen „extremistischen“ Instagram-Kanal abonniert hatte; saß im Minsker Isolationszentrum Okrestina. 

    Nach der Festnahme wurde ich sofort zur Aufnahme des Protokolls ins Bezirksamt gebracht. Dort überredete ich eine Mitarbeiterin, mich zur Toilette zu bringen und mir eine Binde aus meinen persönlichen Sachen zu geben. Ich wusste, dass mich im besten Fall Kurzhaft, im schlimmsten Fall ein Strafverfahren erwartete. Ich bat die Mitarbeiter, mir noch eine Binde mitzugeben, bevor es nach Okrestina weiterging. Sie lehnten ab. Da geriet ich in Panik: Ich wusste, dass bald meine Periode einsetzen würde. 

    Ich kam in Untersuchungshaft und am nächsten Tag gab mir das Gericht zehn Tage [Haft – dek]. In der Zelle waren acht Frauen. Eine von ihnen war obdachlos, sie hatte Läuse. Wir hatten weder Decken noch Matratzen. Die Verwandten konnten uns das Notwendigste nicht übergeben, wir hatten nur das, worin wir festgenommen worden waren. Ich trug ein schwarzes Blusenhemd, darunter ein weißes T-Shirt, und Jeans. 

    Die Binde, die ich eingelegt hatte, trug ich schon länger als 24 Stunden. Als sie nutzlos geworden war, musste ich mich entscheiden: Entweder ich zerreiße mein T-Shirt und habe ein paar Stoffeinlagen, friere dann aber in der Bluse (in der Zelle war es kalt), oder ich laufe aus. Ich zerriss das T-Shirt. Meine Zellengenossinnen begriffen, was ich vorhatte, und halfen mir, es in Lappen zu zerteilen. Ich erinnere mich an dieses Gefühl der Ohnmacht, als ich mein weißes Lieblings-T-Shirt zerriss, die Luke in der Tür sich öffnete und ein grinsender Mitarbeiter sagte: „Was machst du denn da?“  

    Es half nicht viel, ich lief trotzdem aus.  

    Ich bat um Binden, doch die Gefängnismitarbeiter sagten, das sei nicht vorgesehen. Ich fragte auch beim medizinischen Personal: Eine ältere Frau mit Locken kam und fragte, was los sei. Ich bat sie, wenigstens Watte zu bringen, aber sie hörte gar nicht hin. 

    In der Zelle gab es keine Möglichkeit, sich richtig zu waschen: nur kaltes Wasser. Ein Lappen, der vom T-Shirt übriggeblieben war, war mein Duschschwamm. Ich tunkte ihn in Wasser und versuchte mich damit zu waschen. Als ich aus der Haft entlassen wurde, war meine Jeans hinten voll Blut. Ich ging und heulte, ich schämte mich. Mir kam es vor, als würden alle Gefängnismitarbeiter mit dem Finger auf mich zeigen und lachen.  

    Olga (Name geändert)  

    Zweimal festgenommen während der Proteste – 2020 und 2021. Beide Male saß sie im Gefängnis Okrestina. 

    Im August 2020 gab es in Okrestina gar nichts [an Hygieneartikeln]. Man durfte auch nichts mitbringen, nicht einmal Zahnpasta. Wenigstens gab es Toilettenpapier – es war von den Vorgängerinnen übriggeblieben. Das war alles, was man für die Periode hatte. Ich hatte Glück: Während der Zeit dort bekam ich meine Tage nicht. Die Frauen, die sie hatten, nahmen Toilettenpapier, aber trotzdem lief das Blut an den Beinen herunter, ohne dass man duschen gehen konnte. 

    Die Frauen zerrissen ihre Kleidungsstücke, was sie eben hatten. Zum Beispiel ein T-Shirt, wenn sie noch eine zusätzliches Stück Oberbekleidung hatten. Daraus machten sie dann so etwas wie Einlagen. Diese mussten dann auch gewaschen werden, in der Zelle war es heiß, über 40 Grad, und Wäsche trocknete recht schnell. Bei den Aufsehern konnte man um nichts bitten. Einer Frau mit Diabetes wurde sogar ihr Medikament verweigert. 

    Ein Jahr später, 2021, musste ich noch einmal in Kurzhaft [in Okrestina]. Da mussten wir auch sparen: Wir bekamen eine Binde bei der medizinischen Visite, aber die fand nicht täglich statt. Wir taten also immer alle so, als hätten wir gerade unsere Periode, um wenigstens ein bisschen was zu bekommen. Aber auch das war nicht genug. Damals gab es schon keine Pakete von außen mehr, an Binden war kein Rankommen. Jeden Tag wurde die Zelle gefilzt, da gab es einen Mann [einen Mitarbeiter der Strafvollzugsbehörde], der in unseren Schränkchen wühlte und auch einen Tampon weggenommen hätte. Stellt euch das mal vor: Du brauchst etwas so dringend, ohne Tampon läuft dir das Blut die Beine runter, aber für ihn ist das ein Spaß. Er klaut es einfach, wozu auch immer. 

    Die Straflager: Gomel und Saretschje 

    In Belarus gibt es zwei Straflager für Frauen. Dort sitzen mindestens 111 belarussische politische Gefangene und hunderte Frauen, die aus nichtpolitischen Gründen verurteilt wurden, ihre Freiheitsstrafen ab. Das größere der beiden Lager ist in Gomel, dorthin kommen alle Frauen, die zum ersten Mal verurteilt werden. Dort sitzt auch Maria Kolesnikowa, eine der Anführerinnen der belarussischen Opposition. Sie verbüßt eine elfjährige Freiheitsstrafe in einer Einzelzelle. Bis Mitte November, als sie endlich ihren Vater treffen durfte, gab es mehr als 18 Monate lang keine Nachricht von ihr. Frauen, die zum zweiten Mal verurteilt werden – angebliche „Gewohnheitstäterinnen“ – kommen in das kleinere Straflager in der Siedlung Saretschje im Gebiet Gomel. 

    Ein Vergehen, das in den belarussischen Straflagern sehr weit verbreitet ist, ist der Verstoß gegen eine Regel der Lagerordnung, die als „Enteignung und Aneignung“ bezeichnet wird. Demnach dürfen die Gefangenen nichts miteinander teilen. Das Verbot bezieht sich auf alles, sogar Essen und Hygieneartikel. Für einen Verstoß gegen diese Regel können die Gefangenen in eine Strafisolationszelle gesteckt werden oder die Erlaubnis verlieren, Pakete zu erhalten, zu telefonieren oder Angehörige zu treffen.  

    Nahezu alle politischen Gefangenen müssen ohnehin auf diese Möglichkeiten verzichten: Viele von ihnen wurden von den belarussischen Machthabern zu „Extremisten“ erklärt. Im Frauenstraflager fallen die „Extremistinnen“ unter die Kategorie der Gewaltverbrecherinnen. Sie tragen Uniformen mit Aufnähern in Form eines gelben Dreiecks. 

    Die Lagerverwaltung kann den „Gewaltverbrecherinnen“ nach eigenem Ermessen Anrufe und Pakete untersagen, ebenso die Einkaufsmöglichkeit im Gefängnisladen limitieren. Diese Begrenzung kann bei ein oder zwei Basiseinheiten liegen [eine Basiseinheit beträgt aktuell 40 Belarussische Rubel, das sind etwa 11 Euro – Meduza/dek]. Für diesen Betrag muss die politische Gefangene dann Toilettenpapier, Binden und Tampons kaufen – und Lebensmittel, wenn sie keine Pakete erhält.  

    Alena  

    Verurteilt im Herbst 2022 wegen der Teilnahme an Protestaktionen, verbrachte zwei Jahre in Gefangenschaft, unter anderem im Frauenstraflager Gomel. 

    Der Arbeitslohn im Straflager liegt zwischen 2 und 20 Belarussischen Rubeln im Monat [entspricht aktuell 0,58 – 5,80 Euro – dek]. Die Eine kauft sich dafür einen Quarkriegel oder einen Jogurt, die Andere einen Apfel, um sich wenigstens eine kleine Freude zu bereiten. Man hat so einen Appetit auf Obst und Gemüse! Die Möglichkeit, Päckchen zu erhalten, durch die man ohne den Einkauf im Gefängnisladen auskommt, steht auf sehr wackeligen Füßen. Gegen politische Gefangene kann ohne nachvollziehbaren Grund Meldung gemacht werden – und schon wird die Paket-Erlaubnis entzogen. 

    Im Straflager darf man einmal im Monat eine Hygienebestellung aufgeben: ein Stück Kernseife, ein Stück Toilettenseife, eine Rolle vom billigsten Toilettenpapier, eine Packung Damenbinden. Das Toilettenpapier ist von so schlechter Qualität, dass es förmlich zwischen den Fingern zerfällt. Wenn diese Artikel aufgebraucht sind, behilft sich jede, wie sie eben kann. Die Eine stiehlt bei anderen, die Andere riecht schlichtweg nach Urin. Wieder andere bringen heimlich Stoffstücke aus der Nähwerkstatt mit.  

    Was Frauen in Straflagern und Gefängnissen als Monatsbinden verwenden: Kleidung, Stoffreste, Schnittmuster aus der Textilfabrik, Papier, Wattepads, Brot, Zellophan. 
    Was Frauen in Straflagern und Gefängnissen als Monatsbinden verwenden: Kleidung, Stoffreste, Schnittmuster aus der Textilfabrik, Papier, Wattepads, Brot, Zellophan. 

    Anna (Name geändert)  

    Festgenommen im Herbst 2022, verurteilt wegen der Teilnahme an den Protesten, freigelassen im Frühling 2024. 

    Den Frauen reicht nicht, was pro Monat an Hygieneartikeln verteilt wird. In meiner Einheit verschwanden ständig Socken vom Wäscheständer. Ich verstand nicht, woran das lag. Erst später erfuhr ich, dass die Häftlinge sie stehlen, die keine Hilfe von außen mehr bekommen – hauptsächlich Frauen, die schon lange einsitzen. Sie benutzen diese schwarzen Socken als Binden. Socken und Stoffreste, die sie aus der Textilfabrik mitnehmen, all das benutzen sie als Binden. Ich war entsetzt, als ich zum ersten Mal sah, dass in der Toilette der Werkshalle ständig blutige Stofffetzen liegen.  

    Die politischen Häftlinge haben es damit ein bisschen leichter, weil sie, auch wenn es nicht erlaubt ist, untereinander teilen. Aber im Allgemeinen ist die hygienische Situation furchtbar. Eine endlose Erniedrigung. Im Straflager ist einmal pro Woche Duschzeit, gründlich waschen kann man sich nicht. Gut ist schon, wenn man sich über der Toilette in der Zelle mit einer Wasserflasche waschen kann. Stell dir das mal vor: Du wäschst dich über der Toilette und um dich herum sind überall Menschen. Daran muss man sich erstmal gewöhnen. 

    Darja Afanassjewa  

    Belarussische Feministin und Aktivistin, die sich für Frauenrechte und die LGBTQ-Community in Belarus einsetzt. Festgenommen 2021 wegen Teilnahme an den Protesten, freigelassen 2024. Saß im Frauenstraflager in Gomel.  

    Im Straflager hatte ich zum ersten Mal Menstruationsschmerzen. Vorher war mein Zyklus immer regelmäßig, die Blutung dauerte drei Tage und ich hatte keinerlei Beschwerden. Mit Beginn meines Lebens in Unfreiheit kam die Regel nicht mehr regelmäßig: Es konnte eine mehrmonatige Pause geben, danach zwei Wochen ununterbrochene Blutung. Der erste und der letzte Tag waren immer sehr schmerzhaft. Ich weiß noch, dass ich mich bei der Zellenkontrolle nicht gerade hinstellen konnte, solche Bauchschmerzen hatte ich. 

    Dann gehst du zur sogenannten „Ausgabe“, einem Fenster, wo Tabletten ausgegeben werden. Du sagst, du hast deine Tage und bittest um Schmerzmittel. Das wird abgelehnt, weil du dafür ein Rezept vom Arzt brauchst, für dessen Sprechstunde du dich aber eine Woche vorher anmelden musst. Der Arzt überweist dich an den Gynäkologen, bei dem man sich wieder eine Woche vorher anmelden muss. Die Lagerangestellten wissen das alles. Du stehst also da, die Bauchschmerzen bringen dich fast um, du siehst vor dir diese Tabletten, die du aber nicht bekommen kannst. Zudem wirst du wegen der Schmerzen auch nicht von deinen Diensten (zum Beispiel Putzdienst), dem Abladen von angelieferten Kartoffelsäcken oder dem Reinigen des Außengeländes freigestellt. 

    Einmal bekam ich meine Periode – und draußen schneite es. Im Straflager ist Schnee verboten: Alles muss bis auf den Asphalt weggeschippt werden. Also schippte auch ich nach dem Frühstück mehrere Stunden lang Schnee. Nachdem ich schon eine Weile Schnee in Säcken herumgeschleppt hatte, merkte ich, dass der Schmerz mich umbringt, dass ich bereits auslaufe, aber ich habe nur einen Rock, wenn da Blutflecken draufkommen, muss ich Zeit finden, sie noch vor der Arbeitsschicht auszuwaschen [um keinen Verweis zu bekommen]. 

     
    Wie improvisiert man Binden mit verfügbaren Mitteln? Eine Rekonstruktion. Aus der Erzählung der politischen Gefangenen Nadeshda für das Projekt Politvyazynka: „Als ich nach Okrestina kam, gaben sie mir keine Binden. Schließlich machte ich mir selbst welche – aus Zellophan und Brot, eingewickelt in Toilettenpapier“. 

    Maria (Name geändert)  

    Saß von 2019 bis 2021 im Frauenstraflager in Gomel, verurteilt wegen Drogenbesitz. 

    Menstruation im Gefängnis ist ein schwieriges Erlebnis. Durch den Stress verschlimmern sich die Schmerzen und die Dauer der Blutung verlängert sich. All das vor dem Hintergrund fehlender Hygieneartikel, die man nirgends bekommen kann.   

    Ich hatte wirklich unglaubliches Glück: Ich hatte meine [wiederverwendbare] Menstruationstasse dabei. Damit hatte ich keinerlei Probleme, im Unterschied zu den anderen Frauen in der Zelle. Eine der Frauen, sie war schon über 40, benutzte Stofflappen, und ihre Monatsblutung dauerte 28 Tage lang. Ich teilte meine Binden mit ihr, bat meine Familie, mir mehr mitzuschicken, aber sie reichten trotzdem nicht. Sie verwendete Lappen, die sie dann wusch. Eine andere junge Frau wurde von der langen und schmerzhaften Monatsblutung krank. Sie hatte einen sehr niedrigen Eisenwert und wurde anämisch.  

    Einmal hatte ich aber auch eine schlimme Erfahrung. Etwa in der Mitte der Haftzeit wachte ich auf der oberen Pritsche auf, ringsum war ein schreckliches Chaos. Innerhalb von 20 Minuten mussten sich 120 Frauen für die Arbeit fertigmachen und perfekte Sauberkeit hinterlassen. Alle versuchten, sich an der Toilette anzustellen und so schnell wie möglich ihr Bett zu machen. Ich aber wachte in einer Blutlache auf, die – so schien es mir – schon durch die Matratze tropfte, so viel war es. 

    Ich wusste überhaupt nicht, wie ich aufstehen sollte. Alles war rot, was sollte ich machen, wohin gehen? Wo fange ich an, das zu beseitigen? Was mache ich mit der Bettwäsche, wie bringe ich das Bett in Ordnung? Mein Kopf drohte zu bersten, ich heulte los. Aber niemand hatte einen Nerv für mich. Ich begriff, dass ich absolut allein mit diesem Problem bin und dass ich keine Lösung dafür habe. Ich heulte einfach, mehr ging nicht. 

    Zehn Minuten saß ich da und weinte, bis ich allein in der Zelle war. Dann kam eine junge Frau herein, die ein bisschen mit mir sprach: „Was machst du denn? Du musst raus, sonst kommst du in die Strafzelle!“ – das ist die Strafe, wenn man zu spät kommt. Ich erklärte ihr, dass ich nicht weiß, was ich tun soll, wie ich damit fertigwerden soll. Sie sagte: „Zieh dich an, komm schnell!“ Innerhalb von 30 Sekunden waren wir draußen. Auf dem Bett war keine Bettwäsche, die Matratze war voll Blut, aber wie durch ein Wunder klärte sich alles: Ich bekam nur Toilettendienst für die Verspätung. Unterwegs fragte uns eine Offizierin, was los sei. Die andere Gefangene erklärte ihr, ich hätte einen Nervenzusammenbruch wegen der Periode. Mir kam es damals so vor, als sei die ganze Welt zusammengebrochen. 

    Ich denke, das lag an der Scham, die schon seit der Kindheit in mir steckt, seit der Zeit der ersten Periode. Damals wurde bei mir offensichtlich einiges ausgelöst: Angst und Scham, dass alle mich anstarren werden, dass in der Lagertoilette 40 andere Menschen zuschauen werden, wie ich das Blut auswasche. Ich muss jetzt neu betrachten, dass das alles überhaupt nicht peinlich ist. Du lebst einfach, und manchmal fließt Blut aus dir, das ist eine ganz normale physiologische Sache. Aber obwohl im Gefängnis nur Frauen um mich herum waren, gab es doch eine furchtbare Ablehnung dieses Normalen, Physiologischen, Weiblichen. Wenn irgendwo Tropfen vom Monatsblut zurückblieben, gab es gleich einen Skandal in der Zelle. Wahrscheinlich konnte ich aus diesem Grund mit der Situation nicht umgehen. 

    Jelena (Name geändert)  

    Festgenommen 2022 wegen Teilnahme an den Protesten, freigelassen 2023. Saß in der Waladarka und in Okrestina, danach im Frauenstraflager Gomel. 

    Ich hatte meine Periode, als man uns gerade in die Quarantänestation gebracht hatte, vor der Aufnahme ins Straflager. Aber in der Quarantäne interessiert es niemanden, ob du krank oder gesund bist. Alle müssen der Reihe nach das Essen [aus der allgemeinen Kantine] in dieses isolierte Gebäude schleppen. Das Wirtschaftsgebäude, in dem gekocht wird, befindet sich am anderen Ende des Geländes. Man muss [mit den Kübeln] durch das ganze Lager, durch diese ganze Kleinstadt laufen.   

    In der Quarantäne sind immer drei Einheiten à ungefähr 25 Personen. Für diese 60 bis 70 Leute muss das Essen in riesigen Gefäßen gebracht werden: Frühstück, Mittag, Abend. Eine nach der Anderen schleppten wir die Kübel, ich war vier Mal dran. Als ich einmal sagte, dass ich heute nicht schwer heben könne, antworteten sie mir: „Hier ist niemand gesund, alle sind krank. Es ist dein Problem. Alle tragen, also trägst du auch.“ 

    Nach einer Woche war meine Periode noch immer sehr stark. Mir war klar: Da stimmt etwas nicht. Die medizinische Kontrolle begann, wir wurden zur Gynäkologin gebracht. Ich sagte, ich könne heute nicht, ich hätte meine „kritischen Tage“. Die Gynäkologin sagte, das interessiere sie nicht: Los, ab auf den Stuhl. Ich kletterte hoch, bekleckerte alles mit Blut. Die Ärztin erschrak und sagte: „Sie haben ja eine Schwallblutung.“ 

    Mir wurden blutungsstillende Medikamente verschrieben, und etwa nach einer Woche hörte die Blutung endlich auf. Aus mir war also zwei, wenn nicht drei Wochen lang Blut geflossen. 

    Dann gab es ein weiteres Problem. Ich hatte einen Vorrat an Binden in einem Paket bekommen, aber vom Stress war meine Blutung ja viel stärker als in normalen Zeiten. Mein Vorrat war sehr schnell aufgebraucht. Woher also neue nehmen? Im Gefängnisladen gab es nur dünne Slipeinlagen, Tampons gab es auch nicht. Es war furchtbar. Ich probierte alles Mögliche, verwendete am Ende sogar Wattepads. 

    Es war jeden Monat von Neuem eine Herausforderung, besonders nachts. Alle „Extremistinnen“ schlafen auf der oberen Pritsche. Leise, ohne Knarren, kommst du dort nicht runter. Die „Eingesessenen“ schimpfen sofort fürchterlich, wenn sie gestört werden. Konflikte will man nicht. Aber diese ganze Wattekonstruktion muss man nachts austauschen. Duschen kann man nur einmal pro Woche, die übrige Zeit läuft man nur mit diesen Flaschen [mit Wasser für die Katzenwäsche] herum, und denkt permanent nur an eines – bloß nicht auslaufen. Wenn du nämlich Rock oder Uniform dreckig machst, kriegst du sie nicht wieder trocken. Auf dem Heizkörper darf man nichts aufhängen, eigentlich kann man nirgendwo etwas trocknen. Eine andere Uniform anzuziehen, ist nicht erlaubt – das ist dein Problem. Mit vollgeschmierten Sachen darfst du aber auch nicht rumlaufen [sonst gibt es einen Tadel]. Eine echte Denksportaufgabe. 

    Olga Klaskowskaja  

    Früher Journalistin bei Narodnaja Wolja, festgenommen im Oktober 2020, freigelassen im Winter 2022. Später noch einmal fast fünf Monate in der Strafzelle und im Karzer des Frauenstraflagers in Gomel im allgemeinen Strafvollzug. In Gefangenschaft erlitt sie abnorme Gebärmutterblutungen und musste zweimal operiert werden. 

    In die Strafzelle darf man keine Bindenpackung mitnehmen, selbst wenn sie aus der eigenen Paketsendung stammt. Binden werden einzeln und nach Laune der Mitarbeiter verteilt: Wenn sie Lust haben, geben sie welche, wenn nicht, dann nicht. Du bittest und bettelst um Seife und eine Binde. Dann wendet sich der Verantwortliche für die Strafzelle an die Hauswartin der Abteilung, in der du gelistet bist, und dann bringt dir die Hauswartin die Sachen – wenn du Glück hast. 

    Für mich war das ein Alptraum. Ich musste ständig betteln, mich erniedrigen. Aber welche Optionen hatte ich? Ich hatte starke Blutungen, hätte mehrere Binden gleichzeitig einlegen müssen. Man darf nur eine Unterhose in die Strafzelle mitnehmen. Aber bei starker Blutung reicht eine Unterhose nicht. Ein Mitarbeiter erbarmte sich und erlaubte mir eine zweite. Ich konnte also eine Unterhose mit kaltem Wasser waschen und hängte sie auf den Heizkörper, wofür ich gerügt wurde, weil man nur waschen darf, wenn Waschtag ist. Es war die reinste Hölle. 

    Als ich [aus dem Krankenhaus] wieder in meine Zelle zurückkam, verboten sie mir die Paketsendungen. Wenn du nur zwei Basiseinheiten [etwa 22 Euro – dek] zur Verfügung hast, kannst du nicht viele Binden kaufen. Die Qualität der Binden, die es im Gefängnisladen gibt, ist auch nicht gut. Deshalb musste ich mir mit Stofflappen behelfen. Ich sah andere Häftlinge, die das auch machten. Denn im Grunde gibt es keine andere Möglichkeit. 

    Ich empfand völlige Erniedrigung, Ausweglosigkeit, Frustration, Minderwertigkeit. Ich weiß noch, wie ich mit nackten Beinen in der Strafzelle stand – dort darf man keine Leggins oder Strumpfhosen tragen – und an meinen Beinen Blut herablief, auf dem Boden war schon eine Lache. Die Kolonie-Mitarbeiterinnen standen da, lachten und sagten: „Was musstest du auch das Gesetz brechen.“ 

    Die Fotografin Volya berichtet von ihrem Aufenthalt im Untersuchungsgefängnis 

    Während der Proteste in Belarus wurde Volya zweimal festgenommen – beim Frauenmarsch am 19. September und beim Sonntagsmarsch am 8. November 2020. 

    Am 8. November 2020 fand eine der größten Massenfestnahmen statt. Zuerst nahmen sie nur Männer mit. Doch dann hörten wir aus den Funkgeräten die Anweisung: „Alle Weiber einsammeln“. Im Bezirksamt des Inneren, wohin ich gebracht wurde, waren schon über hundert Festgenommene, die Hälfte davon Frauen. Eine der Frauen hatte eine rote Markierung auf dem Arm, einer anderen war ein rotes Kreuz auf den Rücken gemalt. So markierten sie diejenigen, die sich bei der Festnahme widersetzt hatten oder unter Verdacht standen, Organisatorinnen zu sein. 

    Nach den Formalitäten brachten sie uns ins Gefängnis Shodino. Dort begrüßte man uns mit Hunden und Beleidigungen. Sie nahmen uns die Taschen ab, dann mussten wir in der Hocke etwa einen Kilometer weit durch den unterirdischen Gang zu den Zellen rennen. Eine Frau bat darum, normal gehen zu dürfen, da sie Herzprobleme habe, aber man erlaubte es nicht. Sie sagten, wenn sie nicht so laufe wie alle, würde es für die anderen schlimmer. Die Frau weinte und lief weiter in der Hocke. 

    Dann begann die Visitation. Vor der Zuweisung in eine Zelle musst du dich vor einer Mitarbeiterin [des Gefängnisses] nackt ausziehen und dich hinhocken – auch wenn du deine Tage hast. Die Binde muss man aus der Unterhose entfernen. Nach der Visitation verteilten sie uns auf die Zellen. In einer Viererzelle waren wir 20 Personen. In der Zelle selbst gab es nichts – keine Hygieneartikel, keine Matratzen, keine Kissen, nur eine Rolle Toilettenpapier. Trinkwasser und Essen bekamen wir auch nicht. Manche schliefen auf dem Bettgestell, manche auf den Bänken am Tisch. Ich schlief auf dem Fußboden. In der Zelle war es kalt, doch bei geschlossenen Fenstern konnte man nicht atmen. Die ganze Zeit über hörten wir, wie die Männer geschlagen wurden, wie man sie zwang, die Hymne zu singen. Am Morgen kam der Ermittlungsrichter zu uns. 

    Ich las das Protokoll aufmerksam durch und fand Fehler darin. Meine Akte wurde zur Überarbeitung geschickt – unglaubliches Glück. Meine erste Akte [vom 19. September] war auf diesem Weg verloren gegangen, die zweite wurde überarbeitet, danach kam die Verhandlung. Ich bekam eine Geldstrafe mit fünf Basiseinheiten. An diesem Tag ließen sie fast alle gegen Geldstrafe gehen. Ziel der Festnahme war Einschüchterung und Aufnahme in die Datenbank [mit Teilnehmenden der Protestaktionen]. 

    Wenn es einem wie durch ein Wunder gelingt, Binden mit in die Isolationshaft zu bringen, dann ist das ein Erfolg, da man sie auch anders verwenden kann. Manchmal können sie ein Kopfkissen ersetzen, vor dem [kalten] Beton schützen. Manche benutzten sie als Schlafmaske, da das Zellenlicht durchgehend brennt. 

    Wenn du zu einem Protestmarsch gehst, nimm so viele Binden mit wie möglich: für dich selbst und deine Zellengenossinnen. So habe ich es gemacht – und alle meine Bekannten auch. 

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