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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Belarus 2020 – Russland 2024?

    Belarus 2020 – Russland 2024?

    Belarus hat gewählt. Es waren keine OSZE-Wahlbeobachter zugelassen, wie jedes Mal hat der autoritär regierende Amtsinhaber Alexander Lukaschenko, seit 26 Jahren an der Macht, laut offiziellen Zahlen die meisten Stimmen geholt, nämlich 80,23 Prozent. Und doch scheint diese Wahl noch längst nicht entschieden: „Lukaschenko mag zum Wahlsieger erklärt werden“, schreibt die belarussische Journalistin Hanna Liubakova, „aber dieser Sieg wird nicht lange dauern.“

    Schon im Vorfeld der Wahl hatte sich erstmals seit vielen Jahren landesweiter Protest geregt: Swetlana Tichanowskaja, Ehefrau des inhaftierten Präsidenschaftskandidaten Sergej Tichanowski, hatte die Kandidatur ihres Mannes übernommen. Tichanowskajas Wahlversprechen: Die Freilassung der politischen Gefangenen und faire Neuwahlen. Zu ihren Ansprachen in der Hauptstadt Minsk und in kleineren Städten des Landes strömten Zehntausende zusammen – ein Novum in der Geschichte von Belarus. 

    Am Wahltag machten in Sozialen Netzwerken Videos von Wahlfälschungen die Runde. Erste offizielle Zahlen sahen Lukaschenko deutlich vorne, es tauchten jedoch zahlreiche Fotos von Auszählprotokollen „ehrlicher“ Wahllokale auf, wonach Tichanowskaja deutlich mehr Stimmen als der Amtsinhaber bekommen hat. Noch in der Nacht kam es zu heftigen Ausschreitungen und Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und der Polizei, in Minsk wurden teils sogar Barrikaden errichtet, die Polizei setzte Gummigeschosse und Blendgranaten ein. Es gab Dutzende Schwerverletzte, nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Viasna sogar einen Toten. Laut offiziellen Zahlen wurden 3000 Menschen festgenommen, darunter auch drei Journalisten des unabhängigen russischen TV-Senders Doshd. Unterdessen hat sich Swetlana Tichanowskaja zur Wahlsiegerin erklärt und bot Lukaschenko Gespräche an.

    In Russland kommentieren zahlreiche Oppositionelle und Liberale das Geschehen im Nachbarland – und diskutieren vor allem, inwiefern es eine Blaupause für die Entwicklung in Russland sein könnte: Nimmt Belarus derzeit die Ereignisse im Russland von 2024 vorweg? Wir bringen Ausschnitte aus den Analysen und Kommentaren, die gleich in der Nacht unmittelbar nach der Wahl in Sozialen Medien gepostet wurden.

    Sergej Parchomenko: Schlüssel zum Erfolg liegt in den Regionen

    Journalist Sergej Parchomenko meint, dass den Regionen derzeit eine besondere Rolle zukomme:

    [bilingbox]Beim belarussischen Protest scheint der Schlüssel zum Erfolg jetzt nicht in Minsk zu liegen, sondern gerade in den kleinen Provinzstädten. Von dort wurden Miliz und OMON abgezogen, um Minsk abzusichern.
    Dort, in den kleinen Städten, wo alles übersichtlich ist und jeder jeden kennt, können die Menschen Druck ausüben auf die örtlichen Wahlkommissionen und Verwaltungen, sie können die Veröffentlichung der echten Wahlergebnisse fordern.
    Es müssten nur zwei, drei Städte auftauchen (ja, ganze Städte und nicht einzelne Wahlbezirke), in denen Tichanowskaja gewonnen hat und wo dieses Ergebnis offiziell festgehalten wird – und sofort würde eine Welle von Forderungen folgen, das echte Ergebnis im ganzen Land anzuerkennen. Das wird sich kaum unterdrücken lassen: Für die Verwaltungsleute und Offiziere ist es in der Provinz deutlich schwerer, das Plattmachen der eigenen Nachbarn zu befehligen, von Menschen, die man oft persönlich und beim Namen kennt.~~~Складывается такое впечатление, что ключ от успеха белорусского протеста сейчас оказался не в Минске, а наоборот, в небольших провинциальных городах. Оттуда забрали милицию и ОМОН […] и бросили на укрепление Минска.
    В такой ситуации люди там – в небольших городах, где все как на ладони, все друг друга знают, – могут надавить на местные избиркомы и на местные администрации и потребовать публикации реальных итогов голосования. 
    Если обнаружится хотя бы два-три города – именно не отдельных участка, а города, – где выиграла Тихановская, и результат этой победы будет зафиксирован официально, поднимется волна требований признать реальный результат по всей стране. Задавить его будет нечем и некому: администрациям и офицерам на местах гораздо труднее отдавать приказы жестко расправляться со своими соседями, с людьми, которых они часто знают по именам и в лицо.
    […] 
    Таким образом, судьба этой "льняной революции" в руках не столичной молодежи, а спокойных, простых, рассудительных, терпеливых людей в Лиде, Молодечно, Полоцке, Орше, Могилеве, Жлобине, Мозыре, Пинске и Гродно. 
    Пожелаем им успеха и будем надеяться на их храбрость и их терпение.[/bilingbox]

    erschienen am 09.08.2020, Original



    Tian'anmen von Brest

    Andrej Loschak: Die Angst besiegt

    Was unterscheidet die Demonstranten in Belarus von denen in Moskau im vergangenen Sommer? Journalist Andrej Loschak macht vor allem einen wesentlichen Unterschied aus, den die belarussischen den russischen Demonstranten (noch) voraus hätten:

    [bilingbox]Wissen Sie, was einem sofort auffällt in den zahlreichen Videos aus Belarus, die diese Nacht alle gucken? Die Menschen haben keine Angst mehr. Wenn der OMON aus jemandem Kleinholz machen will, dann laufen die Demonstranten zusammen und verteidigen ihre Leute. Letzten Sommer in Moskau hat die Bestie in Uniform ebenfalls Demonstranten zusammengeschlagen, aber niemand kam ihnen zu Hilfe. Einer warf einen Abfallkübel in Richtung der Bestie, und bekam dreieinhalb Jahre Gefängnis. Ein Zweiter hat gar nichts geworfen, und bekam dennoch eine Haftstrafe, damit die anderen gar nicht erst auf den Gedanken kommen irgendetwas zu tun. Sie bekamen ihre Strafen, weil alle dort nur rumstanden und zusahen. Ich stand auch rum und schaute zu.
    Vielleicht entwickelt sich dieser Mut, wenn du weißt, dass hinter dir nicht nur ein Häuflein Politaktivisten aus der Hauptstadt steht, sondern das ganze Land. Ich denke, genau so empfinden das die Belarussen, die heute auf die Straße gehen. Letzten Endes werden das auch die Jungs auf der anderen Seite der Barrikade spüren – und das war’s für den Schnauzbärtigen. Aber alles gut, wir haben noch vier Jahre, um so zu werden wie die Belarussen. Ich bin sicher, die Partei und die Regierung werden uns dabei helfen. Und bei den Belarussen ist wirklich alles möglich, denn sie haben die Angst besiegt.~~~Знаете, что бросается в глаза в многочисленных видео из Беларуси, которые все смотрят этой ночью? У людей пропал страх. Если ОМОН кого-то начинает пиздить, демонстранты бросаются скопом и отбивают своих. Прошлым летом в Москве зверье в униформе тоже избивало демонстрантов, но никто им на помощь не приходил. Один бросил в сторону зверья мусорную урну, не попал и получил 3,5 года. А кто-то ничего не бросал, но все равно получил – чтоб другим неповадно было. Они и получили, потому что все вокруг стояли и смотрели. Я тоже стоял и смотрел. Возможно, эта смелость приходит, когда ты знаешь, что за тобой – не кучка столичных политактивистов, а вся страна. Думаю, именно так ощущают себя беларусы, вышедшие сегодня на улицы. В конце концов, это почувствуют и парни по другую сторону баррикад – и тогда все, конец усатому. Но ничего, у нас еще есть 4 года, чтобы дойти до состояния беларусов. Уверен, партия и правительство помогут нам в этом. А у беларусов и вправду все может получиться, потому что они победили страх.[/bilingbox]

    erschienen am 10.08.2020, Original

    Olga Tschurakowa: Viele, unterschiedliche Leute vereint

    Einen ähnlichen Zusammenhalt vieler, sehr unterschiedlicher Menschen empfindet auch Journalistin Olga Tschurakowa von Projekt, die in der Nacht in Minsk vor Ort war und auf Facebook von ihren Eindrücken berichtet:

    [bilingbox]Ich habe NIE erlebt, dass Leute derart solidarisch in ihrer Haltung gegenüber dem Staat waren. Das sieht man auch gut daran, wer alles auf die Straße geht: Sogar in den Randbezirken von Minsk gehen die Leute auf die Straße, spontan organisiert, per Mund-zu-Mund-Propaganda statt Internet [das teilweise blockiert wurde – dek], ganze Familien, Mamas, Papas, alte Leute. […]
    Alle, die wir auf dem Heimweg getroffen haben, versicherten sich gegenseitig und uns, dass sie [wieder] auf die Straße gehen, anders ginge es nicht. Das waren völlig unterschiedliche Leute, die sich für mich in keiner sozialen Gruppen vereinen ließen. Viele haben den Montag vorab freigenommen, viele Cafés werden deswegen geschlossen sein. Das Internet funktioniert heute morgen überraschenderweise. Mir scheint, jetzt wachen alle auf und sind wahnsinnig wütend angesichts der nächtlichen Nachrichten, der Brutalität und Gemeinheit. Und sie werden wieder auf die Straße gehen, ja. ~~~я НИКОДА не видела, чтобы все были настолько солидарны в своём отношении к власти и это очень сильно видно по составу людей на улицах, выходят даже окраины Минска, по интуитивной организации и сарафанному радио вместо интернета. выходят семьями, мамами, папами, пожилые люди 
    […]
    Все, кого мы встречали по дороге домой, говорили друг другу и нам, что сегодня выйдут и иначе нельзя. Это были абсолютно разные люди и ни в какую соц группу они у меня не объединяются. Многие заранее брали на понедельник выходной, многие кафе будут сегодня из-за этого закрыты. Интернет на удивление утром работает, мне кажется, что сейчас все просыпаются и охереневают от ночных новостей, от жестокости и наглости. И снова пойдут на улицы, да. [/bilingbox]

    erschienen am 10.08.2020, Original

    Ekaterina Schulmann: Das belarussische 2020 ist unser 2024

    Es wurden zahlreiche Vorwürfe laut, dass bei der vorzeitigen Stimmabgabe zusätzliche Wahlzettel in die Urnen geworfen wurden. Politologin Ekaterina Schulmann sieht allein in den Zahlen deutliche Anzeichen von Wahlfälschung und fragt außerdem: Was bedeutet die belarussische Wahl für Russland? 

    [bilingbox]Abgesehen von allem anderen kommt auf Belarus nun das Problem zu, dass die Wahlbeteiligung auf über 100 Prozent steigt. Die haben schon bei der vorzeitigen Stimmabgabe eine Wahlbeteiligung von 40 Prozent verzeichnet (die vorzeitige Stimmabgabe ist das wichtigste Instrument der Wahlfälschung). Am eigentlichen Wahltag sind die Menschen aber tatsächlich in Massen an die Wahlurnen geströmt. Übrigens, man hört gar nichts davon, dass eine hohe Wahlbeteiligung die unehrlichen Wahlen ja nur legitimiert. […] Warum ist das aber für uns so wichtig? Weil das belarussische 2020 unser 2024 ist. ~~~Кроме всего прочего, в Беларуси сейчас будет та проблема, что явка начнет превышать 100%. Они сперва на своей досрочке (основной инструмент фальсификаций) 40% набросали, а в собственно день голосования народ взял да и пошел. Кстати, что-то не слышно разговоров, как высокая явка легитимизирует нечестные выборы. […] А нам почему всё это важно: потому что белорусский 2020-ый – это наш 2024-ый.[/bilingbox]

    erschienen am 09.08.2020, Original

    Konstantin Eggert: Vorletztes Kapitel des postsowjetischen Zeitalters

    Der Zerfall der Sowjetunion war einerseits eine einschneidende Zäsur, ist aber andererseits auch ein langanhaltender Prozess, der immer noch andauert – auf diese Formel haben es schon viele Beobachter in Russland gebracht. Wie weit ist es aber nun mit diesem Zerfallsprozess? Der Journalist und politische Analyst Konstantin Eggert kommentiert:

    [bilingbox]In Belarus schreiben sie gerade das vorletzte Kapitel des postsowjetischen Zeitalters. Das letzte wird in Moskau geschrieben werden.~~~В Беларуси прямо сейчас пишут предпоследнюю главу летописи «постсоветского» времени. Последнюю напишут в Москве.[/bilingbox]

    erschienen am 09.08.2020, Original

    Sergej Medwedew: Kartoffelrepublik?

    Manche Russen (gerade auch die liberal-demokratisch eingestellten) belächeln Belarus als eine Art Freakshow. Diese Arroganz ist jedoch blind, schreibt der Politologe Sergej Medwedew:

    [bilingbox]Wenn wir uns jetzt anschauen, was in den Straßen von Minsk und anderen Städten geschieht, sollten wir uns daran erinnern, dass Belarus, das viele hier von oben herab (ich würde sogar sagen kolonialistisch) als Kartoffelrepublik belächelt haben und als Freilichtmuseum der Sowjetzeit –, dass genau dieses Belarus seit zwanzig Jahren Modell steht für Russland. Alle Formen des reifen Autoritarismus sind dort einige Jahre vorher schon aufgetaucht: physische Ausschaltung der Gegner, Vertreibung der westlichen Organisationen, Säuberung der Medien, faktische Verstaatlichung der Wirtschaft durch den herrschenden Clan, Verdrängung von Protesten an die Stadtränder, gepaart mit der Forderung an die Organisatoren, selbst für die Polizei-Begleitung und Auflösung zu zahlen, Umschreiben der Verfassung, Stalins Comeback, totaler Wahlbetrug … außer, dass wir mit der Todesstrafe vorerst in Verzug sind. Und jetzt zeigen uns diese Straßenproteste wahrscheinlich unsere Zukunft – 2024 oder sogar noch früher –, deshalb sind die Ereignisse dieser Nacht und von morgen äußerst wichtig: nicht nur für Belarus, sondern für den gesamten postsowjetischen Raum, für die Schicksalsprognose von Resten des Imperiums.~~~Глядя сейчас на то, что происходит на улицах Минска и других городов, следует помнить, что Беларусь, на которую многие здесь снисходительно (я бы даже сказал колониально) смотрели как на картофельную республику и парк советского периода, […] а — эта самая Беларусь на протяжении двадцати лет была предиктивной моделью происходящего в России. Все формы зрелого авторитаризма появлялись там с опережением на несколько лет: физическое устранение оппонентов, изгнание западных организаций, зачистка СМИ, фактическая национализация экономики правящим кланом, отправка митингов на окраины с требованием организаторам оплачивать их сопровождение и разгон милицией, переписывание конституции, возвращение Сталина, тотальная фальсификация выборов… вот только со смертной казнью мы пока задержались. И вот теперь эти уличные протесты, возможно, показывают нам наше будущее — 2024 или даже ранее — поэтому события этой ночи и завтрашнего дня крайне важны: не только для Беларуси, но для всего постсоветского пространства, для предсказания судьбы остатков Империи.[/bilingbox]

    erschienen am 10.08.2020, Original

    Ilja Jaschin: Lukaschenko steht alleine da

    Der Oppositionpolitiker Ilja Jaschin glaubt, Lukaschenko habe es sich inzwischen mit zu vielen Leuten verscherzt: 

    [bilingbox]Außer den Silowiki hat Lukaschenko keine Verbündeten mehr und kann auch keine mehr haben. Für die westlichen Staatschefs wird er immer ein toxischer Abfall sein, mit dem man nichts zu tun haben sollte. Aber auch für Putin ist er inzwischen ein unberechenbarer Unmensch. Nicht nur wegen der gänzlich auf antirussische Rhetorik gebauten Wahlkampagne. Sondern auch, weil er die Wagner-Kämpfer festgenommen hat. Putin ist nun gezwungen, ihm lange Erklärungen zu schreiben, wie ein Schuljunge, der sich etwas hat zuschulden kommen lassen. Und Lukaschenko verkündet das den Journalisten mit Freude. Die Kreml-Propaganda macht keinen Hehl mehr daraus, dass der belarussische Diktator auf die Nerven geht.
    […]
    Aber so oder so: Der Wandel in Belarus wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Davon bin ich überzeugt.~~~Никаких союзников, кроме силовиков, у Лукашенко больше нет и быть не может. Для западных лидеров он всегда будет токсичным отбросом, с которым нельзя иметь никаких дел. Но и для Путина он теперь непредсказуемый отморозок. Мало того, что Лукашенко построил всю избирательную кампанию на антироссийской риторике, он еще и боевиков из ЧВК «Вагнер» арестовал. Путин теперь вынужден писать ему длинные объяснительные, как провинившийся школьник, а Лукашенко с удовольствием рассказывает об этом журналистам. Пропаганда Кремля уже не скрывает раздражения в адрес белорусского диктатора.
    […]
    Так или иначе, ждать перемен в Беларуси осталось недолго. В этом я уверен.[/bilingbox]

    erschienen am 10.08.2020, Original

    dekoder-Redaktion

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  • „Nur nicht Lukaschenko!“

    „Nur nicht Lukaschenko!“

    Knapp zwei Wochen vor der Präsidentschaftswahl in Belarus am 9. August 2020 protestieren Tausende in belarussische Städten. Sie folgen dem Aufruf von Swetlana Tichanowskaja. Ihr Mann, der bekannte Blogger Sergej Tichanowski, sitzt derzeit in Haft. Tichanowski sei unter fadenscheinigen Vorwürfen verhaftet worden, sagt seine Frau. Zuvor hatte er bekanntgeben, bei der Präsidentschaftswahl kandidieren zu wollen. 

    Tichanowski ist nicht der einzige Kandidat, der unter Amtsinhaber Alexander Lukaschenko im Vorfeld der Wahl ins Gefängnis wanderte. So hat Tichanowskaja kurzerhand die Kandidatur ihres Mannes übernommen und ein Bündnis gebildet mit Veronika Zepkalo – deren Mann Waleri von der Wahlkommission nicht zugelassen wurde und sich inzwischen mit zwei Kindern nach Moskau abgesetzt hat – und Maria Kolesnikowa. Letztere hatte den Wahlkampf des Ex-Bankiers Babariko organisiert – bis der aussichtsreiche Kandidat wegen Vorwürfen der „Geldwäsche und Korruption“ im Juni 2020 ebenfalls in Haft kam. Tichanowskaja verspricht im Fall eines Sieges die Freilassung aller politischen Gefangenen – sowie freie und faire Neuwahlen. Die OSZE etwa hatte bereits die vier vergangenen Präsidentschaftswahlen in Belarus wegen Betrugs und Einschüchterungen nicht anerkannt. 

    Egal wer – Hauptsache, nicht Lukaschenko: Nach Jahren der organisierten Alternativlosigkeit dreht sich derzeit die Wählerstimmung in Belarus. Warum ausgerechnet jetzt? Eine Analyse von Dimitri Nawoscha.

    Swetlana Tichanowskaja (Mitte) ist die einzige verbliebene unabhängige Kandidatin / © Pressestelle Viktor Babariko
    Swetlana Tichanowskaja (Mitte) ist die einzige verbliebene unabhängige Kandidatin / © Pressestelle Viktor Babariko

    Maidan, Orange Revolution und anderes mehr. Wenn von den Ereignissen in Belarus die Rede ist, wird allenthalben zu oberflächlichen Analogien gegriffen. Besonders häufig macht das Präsident Alexander Lukaschenko, der im Schnitt jeden zweiten Tag an den Maidan erinnert. Diese Analogien sind jedoch ungenau.

    Vielmehr ähnelt alles dem Abgang der Sowjets. Lukaschenko hat nämlich ein eben solches Sowjetsystem errichtet, mit Planwirtschaft, mit unfreien Wahlen und Medien, mit Paternalismus und sogar mit den Symbolen der Belarussischen Sowjetrepublik BSSR (Flagge, Wappen und Hymne), die er 1996 wieder eingeführt hat. Im Grunde ist Belarus von den Kommunisten direkt zu Lukaschenko übergegangen. Jenes Jahrzehnt [die 1990er Jahre], das Russland zufiel, sodass wenigstens irgendeine Art Zivilgesellschaft, Parteien und Institutionen entstehen konnte, hatten die Belarussen nicht. Angesichts der Unterdrückung haben sie sich nur langsam herausgebildet; jeglicher Keim wurde zertrampelt und mit der Wurzel ausgerissen. Repressionen gegen die Opposition (auch gegen Herausforderer Lukaschenkos bei den Wahlen) – von gewaltsam aufgelösten Demonstrationen und Gefängnisstrafen bis hin zu Exmatrikulationen und Entlassungen – haben die Oppositionellen zu Dissidenten sowjetischer Art degradiert. 

    Im Unterschied zur UdSSR sind die Grenzen in Belarus offen, und für einen belarussischen Aktivisten oder eine Person des öffentlichen Lebens führt der Weg aus den Repressionen typischerweise nach Europa. Jenen, die nicht bereit sind auszuwandern, bleibt innere Emigration und Anpassung.

    Zwangsweise entpolitisiert

    Die belarussische Gesellschaft wurde zwangsweise entpolitisiert. 2020 ist das verbrannte Feld plötzlich wieder aufgeblüht: Der belarussische Autoritarismus ist über das Internet gestolpert.

    Am uninteressantesten und leichtesten vorauszusagen ist bei den belarussischen Wahlen gewöhnlich ihr Ausgang: In der Nacht zum 10. August wird Lidija Jermoschina, Vorsitzende der belarussischen Zentralen Wahlkommission und langjährige Mitstreiterin Lukaschenkos, sich anschicken, einen weiteren Wahlsieg Alexander Lukaschenkos mit einem Ergebnis im Bereich von 75 bis 85 Prozent zu verkünden (und die Regierung scheint eindeutig auf solche Werte abzuzielen – koste es, was es wolle). Doch dieser Prozess ist jetzt ziemlich spannend geworden.

    Um das nötige Ergebnis zu erzielen, kommen eine Reihe primitiver, aber reibungsloser Mechanismen zum Einsatz, etwa die vorzeitige Stimmabgabe (mit der man sich jetzt auch in Russland vertraut macht – wie auch mit vielen anderen in Belarus eingeübten autoritären Praktiken). Hinzu kommen das Verbot von Wählerbefragungen und die Untergrabung der Institution der Wahlbeobachter: Die dürfen im Wahllokal fast gar nichts mehr, die Stimmauszählung etwa bekommen sie nicht zu sehen.

    Nichtzulassung von Kandidaten und Repressalien

    Lukaschenko steht ein großes Repertoire bewährter Mechanismen zur Verfügung, um das Feld möglicher Herausforderer zu bereinigen: Nichtzulassung von Kandidaten und Repressalien aller Art. Bei den Wahlen sind nacheinander Nikolaj Statkewitsch, Sergej Tichanowski, Viktor Babariko, Waleri Zepkalo entweder nicht zugelassen worden oder ihre Registrierung als Kandidat ist widerrufen worden. Ersterer gehört zu den langjährigen dissidentischen Oppositionellen. Die anderen drei – ein Blogger, ein Banker und ein ehemaliger Bürokrat – sind erst kürzlich in die Politik gegangen und haben umgehend die seit Langem angestauten Hoffnungen der Menschen auf einen Wandel absorbiert.

    Lukaschenko war gezwungen, in kürzester Zeit alle vorhandenen Mechanismen zugleich in Gang zu setzen, um das vom Regime geplante Szenario zu wiederholen, das den Titel trägt: „Das politische Schwergewicht fährt einen triumphalen Sieg gegen die Liliputaner der Opposition ein“. Es wurden sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt: der KGB, das Ermittlungskomitee [belarussische Strafverfolgungsbehörde – dek], die Propaganda, alle erdenklichen Aufsichtsbehörden und die vielen Sondereinheiten der Miliz, und hunderttausende Unterschriften für Herausforderer, die ohne viel Federlesen im Papierkorb landen.

    Drei der genannten vier Kandidaten sitzen jetzt hinter Gittern (Statkewitsch, Tichanowski, Barbariko); Zepkalo wird vom Innenministerium überprüft [inzwischen hat er zusammen mit seinen beiden Kindern das Land verlassen – dek]. Gegen mehr als 40 Personen, die während des Wahlkampfes festgenommen wurden, laufen Strafverfahren. Über tausend Personen sind während der im ganzen Land aufflammenden Protestaktionen wegen Ordnungswidrigkeiten verhaftet worden.

    Repressions-Quote eiligst abgearbeitet

    Die gewöhnlich für rund fünf Jahre geltende Repressions-Quote, wurde eiligst innerhalb von zwei Monaten abgearbeitet. Das bedeutet sogar für eine so eingespielte Polizeimaschinerie Turbulenzen und verhindert, dass alles zumindest den Anschein von Rechtmäßigkeit bewahrt.

    Jede Hausdurchsuchung und Verhaftung, jedes Strafverfahren hat anscheinend einem taktischen Ziel gedient: Lukaschenkos Herausforderer sollten aus dem Weg geräumt werden – und überhaupt alle Menschen, die in der Lage sind, Straßenproteste zu konsolidieren und ihnen eine Stoßrichtung zu geben. Doch die strategische Aufgabe bleibt ungelöst: Es ist nämlich nicht so, dass diese Maßnahmen den Rückhalt für Lukaschenko in der Gesellschaft stärken würde, eher umgekehrt. 

    Die einzige bislang „überlebende“ unabhängige Kandidatin ist Swetlana Tichanowskaja, die Frau des Bloggers Sergej Tichanowski, eine ganz normale Mutter und Hausfrau. 

    Als sie zu den Wahlen zugelassen wurde, war das für die Regierung Anlass zum Hohn, dass „bei uns eine Frau nicht gewählt wird“ (als Lukaschenko das sagte, hat er ganz bestimmt daran geglaubt). 

    Ihr Team ist zerschlagen und über diverse Gefängnisse verteilt. Nachdem aber die anderen Kandidaten von den Wahlen ausgeschlossen wurden, verkündete Tichanowskaja, dass sich deren Wahlkampfteams mit ihr zusammengeschlossen haben – und zwar ohne dass jemand untergebuttert würde: Tichanowskaja hat vor, im Falle eines Sieges sofort Neuwahlen anzusetzen, bei denen jeder Anwärter zugelassen werde (den derzeitigen „elektoralen Prozess“ erkennt sie nicht als Wahlen an). 

    Es ist nicht so, dass diese Maßnahmen den Rückhalt für Lukaschenko in der Gesellschaft stärken würden, eher umgekehrt

    „Wer, wenn nicht Lukaschenko?“ Es liegt auf der Hand, dass die Ausschaltung jedes seiner Herausforderer die Antwort auf diese Frage erschweren soll. Doch stattdessen hat Lukaschenko den Verfechtern eines Wandels die Antwort darauf nur leichter gemacht: „Wer auch immer, nur nicht Lukaschenko!“

    Bislang ist weiterhin unklar, was die Zentrale Wahlkommission daran hindern sollte, die traditionellen 75 bis 85 Prozent herzustellen. Doch diese Ziffern sind das Einzige, dessen sich Lukaschenko sicher sein kann. Mehr Gewissheiten hat er nicht.

    In früheren Jahren haben Gefängnisstrafen, zerschlagene Demonstrationen und andere Formen der Repression dafür gesorgt, dass in der belarussischen Gesellschaft schnell wieder Angst und Apathie herrschten, oder – wie die belarussischen Machthaber diesen Zustand bezeichnen – die „verfassungsgemäße Ordnung“. Jetzt nimmt das Engagement und die Politisierung der Belarussen jedoch zu. Was hat sich in der Gesellschaft getan?

    Aus dem künstlichen politischen Koma erwacht

    Das verbreitete Narrativ „sie ist aufgewacht“ vereinfacht die Dinge. Natürlich haben Viele keineswegs geschlafen und ihnen war seit langem bewusst, dass mit dem autoritären Regime etwas nicht stimmt. Belarus hält prozentual den Weltrekord bei der Anzahl an Schengen-Visa in der Bevölkerung – wobei viele in Europa keine neuen Eindrücke suchen, sondern zum Studium oder zur Arbeit dorthin fahren. Es handelt sich um eine urbane Bevölkerung – entgegen aller Stereotypen. Nach Angaben der UNO leben 78 Prozent der belarussischen Bevölkerung in Städten; das übertrifft sämtliche Werte in den Nachbarländern; nur neun Prozent der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Zugang zum Internet ist stark verbreitet (über 80 Prozent), auch unter Personen im Rentenalter.

    Die Entpolitisierung dieser Bevölkerungsgruppe, die Lukaschenko gegenüber keine Hochachtung hegt oder ihm gegenüber deutlich negativ eingestellt ist, jedoch nicht zu Dissidenten werden wollte, war erzwungen. Um die Metapher des Schlafs fortzuführen: Dieser fortschrittliche Teil der Gesellschaft wurde in ein künstliches Koma versetzt.

    Spirale des Schweigens gebrochen

    Als die Gesellschaft mit dem Beginn des Wahlkampfes aus dem Koma erwachte, geschah das in der Tat abrupt und für alle unerwartet. Der Grund war, dass man sich plötzlich bewusst wurde, dass es eine klare Mehrheit gibt, die Veränderungen will. Das ist ein interessanter Umstand, zu dem die Psychologen, die sich mit der Macht der vermeintlichen Mehrheit oder mit der Schweigespirale befassen, vieles erzählen können. Wenn die Spirale des Schweigens gebrochen wird, kann man zusehen, wie sich Konformismus und das Gefühl der Machtlosigkeit verflüchtigen.

    Als Reaktion auf das repressive Vorgehen der Behörden kam es zu Straßenprotesten. Darauf folgten weitere Repressionen, was wiederum eine neue Welle von Protestaktionen auslöste, die jetzt noch massiver ausfiel. Eine derartige geographische Ausbreitung von Protesten hat es in Belarus noch nie gegeben: In 20 Städten kam es zu Verhaftungen und Gerichtsverfahren. Die Protestwelle [nach der Nicht-Zulassung einzelner Oppositionskandidaten am 14. Juli – dek] wurde zwar unterdrückt, wobei Minsk nahezu unter Kriegsrecht gestellt wurde (im Stadtzentrum wurden zwei Tage lang Straßen abgesperrt, U-Bahneingänge geschlossen, das Internet blockiert und es wurden mit äußerster Härte Verhaftungen vorgenommen). Sie war aber auch von ersten Versuchen eines gewaltsamen Widerstandes gegen die OMON geprägt. So etwas hatte man in Belarus seit den 1990er Jahren nicht mehr gesehen.

    Zustrom Unzufriedener

    Wie kam es zu diesem Zustrom Unzufriedener, durch den das Blatt sich gewendet hat? Einer der wichtigsten Gründe ist sicher der immer rapidere Niedergang der Wirtschaft. Die Mankos des belarussischen Modells vom Sowjetstaatsplan wurden eine gewisse Zeit lang durch versteckte oder offene Subventionen aus Russland sowie durch Anleihen aus Europa und China verschleiert. Diese Mängel lassen sich jetzt nicht mehr verhehlen. Das belarussische Bruttoinlandsprodukt ist heute geringer als vor zwölf Jahren. Die Auslandsverschuldung ist um fast das Dreifache gestiegen (und das zu hohen Zinsen, die belarussischen Euro-Obligationen sind auf „Trash-Niveau“). Unter Lukaschenko gibt es keinerlei Aussichten auf Reformen oder eine Umkehr dieser Tendenzen.

    Die versprochene ‚Ruhe und Sicherheit‘ hat sich als Fiktion herausgestellt

    Ein anderer offensichtlicher Grund war, dass Lukaschenko die Corona-Epidemie ignoriert oder gar verlacht hatte. Dadurch ist Belarus jetzt in Europa das Land mit den zweithöchsten Fallzahlen pro Million Einwohner. Und das laut den offiziellen Statistiken, die, wie es aussieht, nach unten „korrigiert“ wurden. Die Dysfunktionalität der Regierung ist für einen zu großen Teil der Bürger spürbar geworden; die versprochene „Ruhe und Sicherheit“ hat sich als Fiktion herausgestellt.

    Interessant ist auch, dass es die gleichen Mechanismen sind, die früher die Diktatur gestärkt haben, die nun dem tektonischen sozialen Umbruch diese Kraft und Geschwindigkeit verleihen. Zum einen ist da die langjährige Unterdrückung unabhängiger Medien. Sie hat eine massive Nachfrage nach unzensierten Informationen und Meinungen erzeugt, die jetzt von YouTube– und Telegram-Kanälen befriedigt wird. Letzten Endes ist deren Nutzung nicht mehr nur eine Frage des Geschmacks, sondern auch ganz banal des physischen Überlebens. Das belarussische Agitprop hat das ganze Frühjahr über Lukaschenko folgend den Leuten weiszumachen versucht, dass das Coronavirus „nicht schlimmer als eine Grippe“ und überhaupt eine „Psychose“ sei. Und nach dem Unfall, durch den das Wasser in Minsker Leitungen vergiftet wurde, wurde behauptet, dass es trotzdem trinkbar sei. YouTube und Telegram sind in Belarus noch populärer als in Russland und haben letztlich die Wirksamkeit der Propaganda drastisch reduziert. Daher konzentriert sich die repressive Maschinerie auf Blogger: Bereits sieben Blogger sitzen wegen fingierter Strafverfahren in Haft und noch mehr wegen Ordnungswidrigkeitsverfahren; zwei Blogger versuchen sich der Verfolgung zu entziehen und konnten ins Ausland fliehen.

    Die gleichen Mechanismen, die früher die Diktatur gestärkt haben, verleihen nun dem tektonischen sozialen Umbruch diese Kraft und Geschwindigkeit

    Der zweite Faktor ist das zwar nicht formale, doch faktische Verbot von unabhängigen Umfragen. Das hat jahrelang die schwindende reale Unterstützung für das Regime verschleiert. Und so haben die Beliebtheitswerte der Präsidentschaftskandidaten, die auf den größten Internetportalen veröffentlicht wurden, den Herausforderern wieder Hoffnung gemacht: Lukaschenko hatte dort nur rund drei Prozent. Sie sind zu einem nationalen Meme geworden. Allerdings sind nun auch diese Umfragen verboten. Es gibt keine anderen unabhängigen Zahlen. Lukaschenko selbst hat sie unmöglich gemacht. Und ganz gleich, welche Ergebnisse die Zentrale Wahlkommission schließlich zusammenrechnen mag – eine Mehrheit wird diesen Ziffern keinen Glauben schenken.

    Als drittes ist die Hürde von 100.000 Unterschriften zu nennen, die eine Voraussetzung für die Nominierung eines Präsidentschaftskandidaten sind und die man in sehr kurzer Zeit zusammentragen muss. Früher hatte diese Praxis Lukaschenko ermöglicht, sich seine Herausforderer quasi auszuwählen. Jetzt ist dieses Werkzeug detoniert, dank der Mobilisierung von Wählern, die Veränderung wollen: Es haben sich in vielen Städten kilometerlange Schlangen von Menschen gebildet, die für einen der Herausforderer unterschreiben wollen.

    Die Menschen haben mit eigenen Augen gesehen, wie viele es sind. Selbst in verschlafenen Kreisstädten.

    Empörung und Solidarität statt Angst

    Der neue gesellschaftliche Konsens sorgt für eine Gegenreaktion auf die unverhältnismäßige, fast barbarische Gewalt, die chaotischen Festnahmen und die absurden Strafverfahren. Anstelle der gewohnten Angst zeigen sich Empörung und Solidarität. Früher bedeutete fehlende Loyalität den Verlust des Einkommens und eine Marginalisierung. Jetzt verliert man zwar immer noch sein Einkommen, aber man gehört zur Mehrheit und das eigene Handeln wird rundum gutgeheißen. Das ist eine für Belarus neue Situation.

    Lukaschenko setzt auf Charisma und Silowiki

    Lukaschenko hofft auf sein Charisma, dem er einst seinen Aufstieg verdankte, und hat seine Reisen in die belarussischen Regionen verstärkt. Zugleich überschüttete er die Wähler mit der doppelten Menge an Versprechen, etwas zu erhöhen, umzusetzen, sicherzustellen oder zu lösen. Zudem ist er in Bezug auf Russland aktiver geworden, das sich bei ihm zugleich zum wichtigsten Schreckbild („die russischen Oligarchen wollen Belarus destabilisieren“, „die Strippenzieher von Gazprom und weiter oben“, „Bedrohung für die Unabhängigkeit“) wie auch zur wichtigsten Hoffnung entwickelt (zwei Besuche bei Wladimir Putin innerhalb einer Woche, sein schmeichlerisches „Ich bin in die Hauptstadt der Heimat gefahren“). 

    Am meisten achtet er jedoch auf den Block der Silowiki. Die Hälfte seiner Treffen, die im Fernsehen gezeigt werden, sind mit Leuten in Uniform. Und auch der vor einem Monat neu ernannte Ministerpräsident Roman Golowtschenko ist ein Silowik. Beim KGB und bei den Inlandstruppen sind sämtliche Urlaube gestrichen worden, bei den Silowiki wurde ein spezielles Regime der Dienstausübung ausgerufen und sogar die Militärdoktrin der belarussischen Armee ist eilig um einen Passus über die Bekämpfung innerer Gefahren erweitert worden.

    Ich habe selbst in der belarussischen Armee gedient und eine recht gute Vorstellung davon, wie sie zerfällt. Ich glaube nicht, dass es dem Präsidenten irgendwie helfen würde, Rekruten in einen Kampf gegen jene hineinzuziehen, die mit ihm nicht einverstanden sind. Eher im Gegenteil. Der KGB, die OMON und die anderen Spezialeinheiten aber sind unter Hochdruck tätig – obwohl jeder ihrer Schläge gegen Unzufriedene einen Schlag gegen Lukaschenkos Umfragewerte bedeuten könnte. Nach Einschätzung von Experten liegt Belarus hinsichtlich der Zahl an Sicherheitskräften pro 100.000 Einwohnern weltweit mit an der Spitze. In Minsk hat es zwar nie Barrikaden gegeben, dafür aber mehr als genug Spezialgeräte, um Barrikaden zu durchbrechen. Hätte es in der späten UdSSR eine derartige Unterdrückungsmaschinerie gegeben und die entsprechende Bereitschaft, diese einzusetzen, hätte sich der Kommunismus wohl noch ein paar Jahre länger über Wasser halten können.

    Lukaschenko könnte wohl dazu in der Lage sein.

    Falls seine neuen Versprechungen nicht verfangen (und so wird es kommen), dann wird er sich nur und ausschließlich auf Gewalt stützen können.
    Allerdings hängt die gesamte jahrelang gehegte und gehätschelte Maschinerie der Silowiki jetzt schon in der Luft. Ihr fehlt jede Stütze.

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  • „Hier gibt es keine Viren“

    „Hier gibt es keine Viren“

    Wodka und Banja – diese Heilmittel empfiehlt der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko den Bürgern gegen Covid-19. „Hier gibt es keine Viren“, sagte Lukaschenko in die Kamera bei einem Eishockeyspiel. Eishockey- und Fußballspiele finden in Belarus weiterhin statt, auch sonst werden kaum offizielle Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Experten wie Ryhor Astapenia von Chatham House sehen dahinter vor allem wirtschaftliche Gründe: Belarus könne durch eine Abriegelung in die Rezession schlittern. Dem Land würden aber die Ressourcen fehlen, dies wieder aufzufangen.

    Wie die Bürger mit der offiziellen Corona-Politik umgehen und wie stark ihr Verhalten dabei von einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Staat geprägt ist, das schildert Denis Lawnikewitsch, Minsk-Korrespondent von The New Times.

    „Sehen Sie hier Viren? Hier gibt es keine Viren.“ Alexander Lukaschenko beim Eishockeyspiel am 4. April 2020 / Foto © president.gov.by
    „Sehen Sie hier Viren? Hier gibt es keine Viren.“ Alexander Lukaschenko beim Eishockeyspiel am 4. April 2020 / Foto © president.gov.by

    In Belarus wurden am Sonntag, den 5. April, 502 Fälle von Covid-19 registriert, 8 Menschen sind gestorben, 52 wieder genesen. Doch das sind nur die offiziellen Zahlen, denen in der Republik längst niemand mehr traut. Die Staatsmedien versuchen, so wenig wie möglich über die Epidemie zu berichten; die unabhängigen Medien sind mutiger, halten sich aus Angst vor Repressionen aber ebenfalls zurück. Dafür sind die Telegram-Kanäle voll von Fotos aus überfüllten Krankenhäusern und verzweifelten Hilferufen – sowohl von Ärzten als auch von Patienten.

    Am 1. April sagte Litauens Präsident Gitanas Nausėda gegenüber der Presse: „Wir können den Informationen, die wir offiziell aus Belarus bekommen, nicht trauen, denn ich finde, der belarussische Staatschef legt bei seiner Beurteilung der Lage eine gewisse Prahlerei an den Tag. Es ist durchaus möglich, dass die tatsächlichen Zahlen weit schlimmer sind, denn wir wissen von Infektionsherden im Land und von Todesfällen.“

    Die litauischen Behörden machten deutlich, dass nach dem Ende der europäischen Quarantänemaßnahmen die EU-Binnengrenzen wieder geöffnet würden – die Grenzen zu Belarus aber könnten dann möglicherweise geschlossen bleiben. Denn niemand kenne das reale Ausmaß der Epidemie im Land. Der belarussische Präsident antwortete in gewohnter Machomanier: „Wenn es irgendwo ein Feuer zu löschen gibt, dann werden wir es löschen. Und zwar viel effektiver als der litauische Präsident.“

    Belarus ist eines der wenigen europäischen Länder, die sich lange gegen jegliche Quarantänemaßnahmen gesperrt hatten. Mehr noch, in den ersten Wochen der Epidemie warnte Lukaschenko [angesichts der Anti-Corona-Maßnahmen – dek] vor einer „Psychose“ und empfahl, sich mit Wodka, Saunagängen und Feldarbeit zu kurieren. Später wurde die Liste der „Heilmittel“ um Eishockey, Spaziergänge an der frischen Luft und Butter ergänzt. Gesundheitsminister Wladimir Karanik wiederum riet den Bürgern, das Coronavirus mit „Frühlingsgefühlen und positiven Emotionen“ zu bekämpfen.

    Eishockey, Spaziergänge an der frischen Luft und Butter

    Als einzige Maßnahme ordnete die belarussische Regierung an, dass sich Rückkehrer aus den vom Coronavirus betroffenen Ländern vierzehn Tage lang zu Hause selbst isolieren sollen.

    Eine Quarantäne wurde nicht verhängt. Der Unterricht an den Schulen und Hochschulen ging bis Anfang April weiter. Dabei waren in vielen Klassen nur zwei oder drei Schüler anwesend, der Rest blieb zu Hause. Die Eltern kommunizierten über den Messengerdienst Viber und sprachen sich ab – mit dem Ergebnis, dass der Schulleitung manchmal Anträge auf Heimunterricht von den Eltern einer ganzen Klasse vorgelegt wurden.

    Erst Ende der letzten Woche kündigte Lukaschenko an, dass er den Schülern eine Woche Ferien geben werde. Das heißt, immer noch keine Quarantäne, nur verlängerte Frühjahrsferien.

    Schwerer haben es die Studierenden: Viele Hochschulen drohen damit, das Fernbleiben vom Unterricht als „Sabotage“ zu werten. Manche Institute sind allerdings aus einem anderen Grund leer: Die Studierenden wurden massenweise ins Krankenhaus geschickt oder sind in ihren Wohnheimen eingesperrt, weil sie Kontakt zu einem Corona-Infizierten hatten.

    Massenveranstaltungen werden hingegen nicht abgesagt. Die Vorbereitungen zur Siegesparade am 9. Mai sind im Gange. Am 19. März startete in Belarus die Fußballmeisterschaft, die Stadien sind für die Fans geöffnet.

    Am 14. und 28. März wurden im ganzen Land subbotniki durchgeführt. Die Vorbereitungen zum Musikfestival Slawjanski Basar laufen weiter. Kinos, Einkaufszentren, Cafés und Restaurants haben geöffnet. Die meisten Servicekräfte arbeiten ohne Mundschutz und Handschuhe. Inoffiziell geben sie zu, dass ihnen „dringend geraten“ worden sei, keinen Mundschutz zu tragen, um „keine Panik in der Bevölkerung auszulösen“ (in Turkmenistan kann man für das Tragen eines Mundschutzes sogar verhaftet werden).

    Ärzte unterzeichnen Geheimhaltungsvereinbarungen

    Ab dem 1. März wurde in Belarus erstmals das Bestattungsgeld gekürzt – um ganze 50 Euro, eine erhebliche Summe für das Land. Sofort machte das Gerücht die Runde, die Regierung würde sich auf ein Massensterben einstellen, besonders unter der älteren Bevölkerung, für die das Virus am gefährlichsten ist.

    Gleichzeitig werden Ärzte massenhaft gezwungen, „Geheimhaltungsvereinbarungen“ zu unterschreiben; der [belarussische Nachrichtendienst – dek] KGB und andere Sicherheitsorgane drohen mit Strafen, sollten Informationen über Corona-Patienten nach außen gelangen. Darüber reden wollen die Ärzte nur unter der Bedingung, dass sie anonym bleiben.

    Am 18. März starb in Witebsk eine Frau und wurde umgehend und ohne Aufbahrung im geschlossenen Sarg beigesetzt, an der Beerdigung durften keine Gäste teilnehmen. Einen Tag später gaben ihr Mann, ihre Schwiegertochter und ihre Nachbarin ein Interview, in dem sie mit unabhängigen Journalisten über das Coronavirus sprachen, das man bei ihr gefunden hatte. Am 21. März wies Lukaschenko den KGB-Chef Waleri Wakultschik an, „hart gegen Übeltäter vorzugehen, die Falschnachrichten über das Virus verbreiten“.

    Pressemitteilungen erinnern an Mathe-Aufgaben

    Das belarussische Gesundheitsministerium gibt keine vollständige Statistik der Covid-19-Erkrankungen nach Regionen und Städten heraus. Konkrete Zahlen sucht man auf der offiziellen Seite der Behörde vergebens. Über den Telegram-Kanal des Ministeriums werden Daten mit einer Verzögerung von zwei bis drei Tagen veröffentlicht. Die Pressemitteilungen des Gesundheitsministeriums erinnern dabei an Mathematik-Aufgaben, eine genaue Zahl der Erkrankten wird nicht genannt.

    Während es von offizieller Seite heißt, Schutzausrüstung sei im Überfluss vorhanden, herrscht vor Ort katastrophaler Mangel. Diagnostiziert werden akute Atemwegserkrankungen, Lungenentzündungen, Bronchitis und so weiter. Die Krankenhäuser in Minsk und Witebsk sind mittlerweile voll von Lungenpatienten – es sind um ein Vielfaches mehr als sonst. Jetzt werden Krankenhäuser in den Minsker Satellitenstädten für die Covid-Kranken geräumt.

    „Konnten Sie Witebsk verlassen?“

    Am schwersten betroffen ist die Stadt Witebsk und Umgebung. Die Region wurde sogar für die Polizei gesperrt: Polizeibeamte aus der Region dürfen nicht ausreisen, alle anderen nicht einreisen. Im Internet berichten Ärzte aus Witebsk, dass die Lage außer Kontrolle gerate.

    „99 Prozent derjenigen, die jetzt ins Krankenhaus eingeliefert werden, sind Patienten mit Lungenentzündungen und hohem Fieber. Wir nehmen kaum noch andere auf, sogar die Gynäkologen sind bei uns jetzt Lungenärzte“, sagte eine Ärztin gegenüber der New Times. „Die Krankenhäuser sind überfüllt, die Menschen liegen in den Fluren. Alle Ärzte sprechen untereinander vom Coronavirus, doch das örtliche Gesundheitsministerium will die Statistik nicht ruinieren. Aber diese Lungenentzündung unterscheidet sich deutlich von den bisherigen!“

    Witebsk wurde zu einem der Epizentren der Epidemie, nachdem eine größere Reisegruppe aus Italien zurückgekehrt war.

    Unterdessen musste selbst Lukaschenko eingestehen, dass die Situation in Witebsk besonders schwierig ist und dort bereits mehr als zehn Ärzte an Covid-19 erkrankt sind. Mehrfach tauchte im Internet das Gerücht auf, die Stadt selbst sei abgeriegelt, bislang konnte es nicht bestätigt werden. In den sozialen Netzwerken liest man dennoch weiterhin Fragen wie: „Konnten Sie Witebsk verlassen?“

    Flut von Lungenkranken

    Inoffiziell werden nun im ganzen Land massenweise Patienten aus Psychiatrien und anderen Fachkliniken sowie Fachabteilungen in Krankenhäusern entlassen. Die Ärzte sagen, man bereite sich auf eine Flut von Lungenkranken vor. Sogar die Präsidenten-Datscha Krupenino bei Witebsk sei entsprechend umfunktioniert worden.

    Am 29. März ordnete Lukaschenko an, bis zum 10. April einen Impfstoff gegen das Coronavirus zu entwickeln. Er betraute mit der Aufgabe seine rechte Hand Alexander Kosinez (einen ausgebildeten Mediziner) und versprach ihm einen Orden für die Entwicklung des Impfstoffs. Noch am selben Tag wurden inoffiziell alle Clubs und Diskotheken in Minsk geschlossen. Und am 30. März wurde das Verbot, das eigene Gebiet zu verlassen für die Polizei auf das ganze Land ausgeweitet.

    Unterdessen ist der Corona-Ausbruch in Belarus von dem Ausbruch einer anderen unangenehmen Seuche begleitet – der Schweineinfluenza [im Original swinoj gripp, wörtl. Schweinegrippe; der Autor verlinkt aber in dem Absatz auf diesen Telegram-Post, in dem von H1N1, der für den Menschen ungefährlichen Schweineinfluenza die Rede ist – dek]. Die Straßen in Minsk und anderen großen Städten werden desinfiziert. Privatunternehmen dürfen ihren Angestellten nicht mehr kündigen, die Supermärkte ihre Preise bis zum 30. Juni nicht erhöhen. Und zur wichtigsten Informationsquelle für die Belarussen ist nun endgültig Telegram avanciert.
     

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  • Politische Trends in Belarus

    Politische Trends in Belarus

    „Administratives Ritual“ nennt Artjom Schraibman die am vergangenen Sonntag in Belarus abgehaltene Parlamentswahl: 110 Abgeordnete ziehen in das Repräsentantenhaus ein, keiner davon gehört der Opposition an. Das sei wenig überraschend, meint Shraibman, und doch habe die Wahl einige bemerkenswerte politische Tendenzen offenbart, die auch für Russland von Bedeutung sind, kommentiert der Minsker Politologe und Kolumnist auf Carnegie.ru.

    Die belarussischen Parlamentswahlen sind nach dem traditionellen, rundum kontrollierten Szenario verlaufen. Bei den letzten Wahlen hatte das Regime zwei Oppositionelle ins Parlament einziehen lassen. Dieses Experiment wurde jetzt beendet. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2020 war der Führung des Landes ihr seelisches Wohlbefinden wohl wichtiger als Zugeständnisse an den Westen, bei denen unklar bleibt, welche Gegenleistungen man dafür erhält.

    Aber selbst ein derart administratives Ritual wie Wahlen in Belarus vermag gewisse politische Trends zu offenbaren. Zu den innersystemischen Tendenzen gehört, dass sich der Anteil parteigebundener Abgeordneter erhöht hat und einige hochrangige und prominente Funktionäre des Staates ins Parlament geschickt wurden.

    Wenigstens ein bisschen politisches Gewicht

    Es sieht ganz danach aus, als würden Lukaschenko und seine Administration versuchen, dem Parlament mit Hilfe dieser gewichtigen, aber noch nicht alten Funktionäre wenigstens ein bisschen politisches Gewicht innerhalb des Systems zu verleihen. Es passt in die Logik der von Lukaschenko angekündigten Verfassungsreform: In den kommenden vier bis fünf Jahren sollen die Vollmachten des Präsidenten in Richtung Parlament und Regierung verschoben werden.

    Gleichzeitig ist die Zahl der Abgeordneten gestiegen, die regimefreundlichen Parteien angehören. Das belarussische Parlament wird zwar nach dem Mehrheitssystem gewählt, doch wird bereits seit einigen Jahren der Übergang zu einem gemischten System diskutiert, bei dem ein Teil der Abgeordneten über Parteilisten gewählt wird.

    Eine solche Wahlreform soll wohl ebenfalls Teil der erneuerten Verfassung werden. Wenn das Land zukünftig auch über das Parlament regiert werden soll, ist eine eigene Partei der Macht vonnöten, samt Spoiler-Parteien und einer Systemopposition.

    Unzufriedene Kräfte verbreiten im Wahlkampf ihre Ideen

    Da der Wahlprozess in Belarus seit Langem schon nichts mehr mit einem Kampf um Mandate zu tun hat, werden die Parlamentswahlen nun von verschiedenen Gruppen Unzufriedener intensiv zur Verbreitung ihrer Ideen genutzt. So traten bei den Wahlen die Anführer der bekannten Umweltproteste gegen die Akkufabrik in Brest an, wie auch die der Initiative Mütter 328, deren Kinder wegen geringfügigen Drogenbesitzes zu sehr hohen Haftstrafen verurteilt wurden. Fast alle sind entweder von den Behörden nicht als Kandidaten zugelassen worden oder haben ihre Registrierung wieder verloren, damit sich sozialer Protest nicht politisiert.

    Schließlich wäre da noch das wohl interessanteste Phänomen dieser Wahlen: der Auftritt zweier Kandidaten mit einer prorussischen und gleichzeitig regimekritischen Rhetorik. Deren Botschaft ist schlicht: In den Regionen herrschen Stagnation und Niedergang, das Regime erfüllt den Gesellschaftsvertrag nicht, den Beamten sind wir schnurzpiepegal, wir müssen Freunde Russlands sein, weil es das einzige Land ist, das uns hilft.

    Zwei Kandidaten mit prorussischer, regimekritischer Rhetorik

    Prorussische Kritik am Regime in Belarus galt immer schon als sehr gefährliches Terrain. Lukaschenko hat stets versucht, in dieser Hinsicht das Monopol zu behalten. Kritik an ihm war nur aus pronationalen oder proeuropäischen Positionen heraus erlaubt. Drei russophile Autoren, die bei der Agentur Regnum publizieren, haben für ihre Texte, in denen scharfe Töne gegenüber dem belarussischen Regime und dessen Identitäts-Politik angeschlagen werden, unlängst Strafverfahren und ein Jahr Untersuchungshaft bekommen.

    In dem Maße allerdings, wie sich die Differenzen zwischen Minsk und Moskau mehren, ergeben sich in der belarussischen Politik auch Spielräume für die prorussische Opposition. In den vergangenen Jahren ist bereits eine Reihe derartiger regionaler Internetportale und ziemlich populärer Telegram-Kanäle entstanden.

    Dieser Prozess befindet sich noch im Anfangsstadium. Es hat sich noch keine prorussische Bewegung gegen Lukaschenko formiert, und die Geheimdienste werden eine solche auch kaum zulassen. Doch ein Scheitern der Integrationsbemühungen von Moskau und Minsk dürfte diesen Aktivisten und Gruppen zusätzliche Möglichkeiten eröffnen, insbesondere, wenn es in Belarus dadurch zu einer Wirtschaftskrise kommt. Je mehr Akteure dieser Art es gibt, desto größer wird für Moskau die Versuchung sein, diese zu unterstützen, wenn sich das Verhältnis zu Lukaschenko verschlechtert.

    Dass die Opposition im neuen Parlament nicht vertreten ist, bedeutet keinen Rückgang des Tauwetters, weil das Tauwetter in Belarus nie Einfluss auf die Wahlen hatte. 2016 war der Dialog mit dem Westen stärker in Gang gekommen, und man hatte sich entschieden, diesem einen zusätzlichen Impuls zu verleihen, indem zwei Oppositionelle zu Abgeordneten wurden. Am Wahlprozess selbst wurde aber nichts geändert.

    Parlament ohne Opposition

    Dieses Mal war auch der Ablauf der Wahlen rigider als gewöhnlich: Die Wahlbeteiligung wurde durch vorzeitige Stimmabgabe erhöht, und Oppositionelle, die Mitglieder von Wahlkommissionen oder Kandidaten werden wollten, wurden noch stärker ausgesiebt. Es gab – wie früher – keinen vernünftigen Grund, die Opposition ins Parlament zu lassen.

    Das bedeutet erstens, dass das belarussische Außenministerium, das gewöhnlich als proeuropäische Lobby im System gilt, keinen ernstzunehmenden Einfluss auf Lukaschenko und seine Administration hat, wenn es um Wahlen geht.

    Das Maximum, was das Außenministerium heute tun kann, ist, die übrigen Staatsorgane für eine gewisse Zeit davon zu überzeugen, von ganz heftigen Repressionen abzusehen – damit es keine neuen politischen Häftlinge gibt oder damit Straßenproteste nicht brutal niedergeschlagen werden.

    EU und USA: Weder Engagement noch Reaktionen

    Zweitens sieht auch Lukaschenko in den Beziehungen zum Westen keine Aufgaben, die man über eine Oppositionsquote lösen könnte. Wie Lukaschenko kürzlich in Wien erklärte, sei es für die westlichen Unternehmen egal, ob das belarussische Parlament als legitim anerkannt werde oder nicht. Das Wichtigste seien Investitionsgarantien durch die Führung des Regimes und Stabilität im Land.

    Politisch hat die EU Belarus für den Fall, dass die Opposition im Parlament vertreten ist, keinerlei konkrete politische Gegenleistung in Aussicht gestellt. 

    Die Stimmung in Brüssel und Washington wird durch ein ausnahmslos loyales belarussisches Parlament natürlich nicht besser. Der Elan, sich in Richtung Belarus zu engagieren, dürfte sich künftig noch mehr in Grenzen halten als jetzt. Aber auch eine heftige Reaktion der EU oder der USA wird es wohl kaum geben. Schließlich hat der Westen die Sanktionen gegen Belarus nicht wegen der Wahlen verhängt, sondern wegen der erheblichen Repressionen während und nach den Wahlen [den Präsidentschaftswahl 2006 und 2010 – dek]. Solche Repressionen gibt es derzeit nicht.

    Gleichzeitig wird schon seit etlichen Jahren eine Isolation von Belarus mit der Befürchtung verknüpft, dass Minsk dadurch in den Einflussbereich Moskaus gedrängt werde. Das strategische Interesse, Belarus ungestört zwischen den Machtzentren lavieren zu lassen, ist seit spätestens 2015 größer als die Sorge um demokratische Ideale im Land.

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  • Belarus: Brüderliche Einverleibung?!

    Belarus: Brüderliche Einverleibung?!

    „Öl gegen Küsse“, so nennt man das Modell in Belarus: Moskau liefert Öl und Gas zu günstigen Bedingungen, Minsk zeigt sich im Gegenzug als treuer Freund Moskaus. Doch derzeit gibt es immer mehr Verstimmungen zwischen beiden Seiten. Etwa wegen des sogenannten Steuermanövers Russlands: Während die Ausfuhrzölle auf Rohöl auf Null Prozent sinken, steigt die Steuer auf die Förderung – und soll in vollem Umfang an die Abnehmer weitergegeben werden. Für Belarus bedeutet dies nicht nur, dass die einst zollfreie Ware plötzlich mehr kostet, sondern auch eine Weiterverarbeitung ist dann nicht mehr lukrativ.
    So forderte Lukaschenko von Moskau Kompensation, doch Anfang Dezember 2018 stellte Premierminister Medwedew ein Ultimatum und verlangte nach einer Gegenleistung: Die sieht er in einer stärkeren Integration zwischen beiden Ländern, also einer Zoll- und Währungsunion etwa. Eine solche (schrittweise) Annäherung war bereits in einem Unionsvertrag im Jahr 1999 geplant, dieser sowie andere Verträge gingen aber selten über Absichtserklärungen hinaus. 

    Mehrere Treffen zwischen Moskau und Minsk im Dezember 2018 blieben ergebnislos, eine Arbeitsgruppe wurde ins Leben gerufen, die an der angestrebten Annäherung arbeiten soll. Zwar betonte Kreml-Sprecher Dimitri Peskow, eine Angliederung von Belarus an Russland sei nicht geplant, doch gleichzeitig sitzt der belarussische Präsident Lukaschenko in einer Abhängigkeitsfalle. Unterdessen schwelt der Streit weiter.

    Wird Belarus eine zweite Krim? Artyom Shraibman schaut sich die Gründe, die scheinbar dafür sprechen, auf Carnegie.ru genauer an.

    Wie ein altes Ehepaar neigen Minsk und Moskau dazu, sich ständig Fehltritte und Kränkungen aus längst vergangenen Tagen vorzuhalten. Beim Streit über das sogenannte Steuermanöver in der Erdölindustrie und potentielle Ausgleichszahlungen für Belarus hat Moskau nun einen der ältesten Sprengsätze hervorgeholt: den nicht eingelösten Unionsvertrag von 1999. 

    Von Russland heißt es nun: Ihr wollt Unterstützung? Dann integriert euch tatsächlich! Allerdings steht dieses Ultimatum in einem neuen Kontext: Die Umfragewerte des Kreml sinken, russische Experten beraten über eine mögliche Machtübergabe 2024, gleichzeitig betrachtet man Russland nicht mehr als ein Land, das die Souveränität seiner Nachbarstaaten allzu ernst nimmt. Das zusammen sorgte für eine Flut von anonymen Telegram-Meldungen, offiziellen Stellungnahmen und Artikeln in der westlichen, russischen und belarussischen Presse, inwieweit eine Einverleibung von Belarus unumgänglich sei. 

    Seit 2014 lassen sich solche Prognosen nicht mehr so leicht von der Hand weisen. Panikmacher wie besonnene Kritiker können zurecht darauf verweisen, dass auch 2014 niemand mit der Krim oder dem Donbass gerechnet hätte. Und dass es Situationen gebe, in denen Regierungschefs schwer nachvollziehbare Entscheidungen treffen, da sie, geleitet von Vorurteilen, Phobien und dem Gefühl einer historischen Mission und den zugänglichen Informationen, andere Lösungen für noch schlechter halten.

    Deswegen muss jede Analyse solcher Themen mit dem Vorbehalt beginnen, dass im Prinzip alles möglich ist. Jede Prognose ist gewissermaßen eine Aufbereitung des vergangenen Krieges. Ausgehend von den gegenwärtigen Bedingungen, können wir nur die Wahrscheinlichkeit gewisser Szenarien abschätzen. Und auf die Mythen über Belarus und sein Verhältnis zu Russland verweisen, die unter denen besonders verbreitet sind, die den Anschluss prognostizieren.

    Sehen wir uns das Szenario der Einverleibung von Belarus aus drei Perspektiven an: der belarussischen Gesellschaft, der Führungselite und Russland. 

    Liebe auf Distanz

    In Russland ist der Irrglaube verbreitet, allein der zickige Lukaschenko hielte Belarus, die  sowjetischste aller ehemaligen Sowjetrepubliken, davon ab, sich wie die Krim in einem freudestrahlenden Sprint Russland anzuschließen.

    In Wirklichkeit gibt es in der jüngsten Geschichte von Belarus kaum einen stabileren Trend als die wachsende Zahl von Befürwortern der Unabhängigkeit. 28 Jahre in einem eigenen Staat mit allem, was juristisch und politisch dazugehört, mit einer Generation, die in einem unabhängigen Land aufgewachsen ist und mittlerweile selbst Kinder hat, hinterlassen ihre Spuren in der kollektiven Identität einer Nation.

    Dass die Mehrheit der Belarussen die Union mit Russland befürwortet, heißt noch lange nicht, dass sie eine Verschmelzung beider Länder anstrebt. Werden die Belarussen befragt zu dem derzeitigen Ausmaß der Zusammenführung mit Russland und nach der Rechtmäßigkeit von Russlands Anspruch auf die Krim, zeigt sich für beides eine stabile Zustimmung zwischen 55 und 75 Prozent, je nach Formulierung der Fragen und den zur Wahl stehenden Optionen. 

    Wird jedoch gefragt: Vereinigung mit Russland oder Erhalt der Souveränität, dann hat erstere nicht die geringste Chance. Nur 15 bis 20 Prozent befürworten eine stärkere Zusammenführung und weniger als 5 Prozent wollen eine Eingliederung in die Russische Föderation (Umfrage der Belarussischen Analysewerkstatt von Andrej Wardomazki vom April 2017).

    Außerdem befindet sich die potentielle „russische Partei“ – anders als in der Ukraine, der Republik Moldau oder Kasachstan – in keiner bestimmten Region. Es gibt keine belarussische Krim und keinen belarussischen Donbass, die sich als Aufmarschgebiet für die Destabilisierung der Regierung in Minsk eignen würden.  

    Die prorussischen Belarussen sind im Gegensatz zu den prowestlichen nicht einmal eine eigene politische Kraft, sogar gemessen am belarussischen Maßstab gesellschaftlicher Apathie sind sie nicht mobilisiert. Sie empfinden keine Diskriminierung auf sprachlicher oder kultureller Ebene, um der Matrix von Krim-Donezk folgend zu argumentieren: Unsere ganz besondere, russlandnahe Identität wird von westbelarussischen Nationalisten bedroht – diese Karte lässt sich im heutigen Belarus nun wirklich nicht ausspielen. 

    Auch in der Außenpolitik gibt es keine uneingeschränkte Sympathie für Russland. Fügt man in den Umfragen dem simplen „Russland oder EU?“ noch ein paar Varianten hinzu, wie zum Beispiel „ähnlich enge Beziehungen zu allen“ oder „keinem Block beitreten“, liegt die Zustimmung zu diesen neutralen Optionen bei 60 Prozent (Umfrage der Belarussischen Analysewerkstatt von Andrej Wardomazki vom September 2018). Würde die belarussische Regierung in ihrer Außenpolitik also einen neutralen Kurs verkünden, stieße sie beim Großteil der Bürger auf enthusiastische Zustimmung. 

    Sogar die nicht einmal ansatzweise nationalistischen „sowjetischen Belarussen“ sehen Russland als ein Land der Oligarchen, der sozialen Ungleichheit, der Korruption, der Kriminalität und der falschen Wege. Wenn diese Menschen, von denen die meisten im Staatsdienst tätig oder Rentner sind, nostalgisch auf das einst große Land, die Sowjetunion, zurückblicken, dann ist das ein Land, das in seiner sozialen Ordnung dem heutigen Belarus wesentlich näher ist als dem heutigen Russland. 

    Belarus mag ein überraschend russlandfreundliches und russischsprachiges Land sein, aber wenn Moskau meint, in der belarussischen Gesellschaft eine Stütze zu finden, so wird das wohl kaum gelingen. 

    Schon seit vielen Jahren ist die Eingliederung in die Russische Föderation ein Tabuthema in der belarussischen Politik. Sogar für die Kommunisten, die sich ja theoretisch nach der Sowjetunion sehnen könnten, ist die Unabhängigkeit axiomatisch. Die Regierung hat gezeigt, dass sie bereit ist, eine Überschreitung der Grenzen des Zulässigen hart zu bestrafen: 2017 verbrachten drei allzu prorussische Journalisten ein ganzes Jahr wegen Anfachung von Hass zwischen den Nationen in Untersuchungshaft.

    Es ist schwer, eine „russische Partei“ zu mobilisieren, wenn es keine wirklichen Parteien oder wenigstens ein halbwegs entwickeltes Netz von nicht regierungsnahen Organisationen oder andere politische Infrastruktur gibt, weder in Russland noch in Belarus. Hinzu kommt, dass Belarus ein autoritär regiertes Land ist, wo jegliche Angriffe auf die Stabilität der Regierung im Keim erstickt werden. 

    Aber nehmen wir an, die Einverleibung von Belarus, wie wir sie uns ausmalen, geschieht schnell: mit Panzern auf der Straße oder einem Umsturz in Minsk. Würden sich die Menschen gegen die Okkupation wehren?

    Eine drei Jahre alte Umfrage besagt, dass 19 Prozent bereit wären, eine Waffe in die Hand zu nehmen (Umfrage des IISEPS vom Juni 2015). Aber die Frage ist viel zu hypothetisch, um sich auf diese Zahlen zu verlassen. 

    Allerdings lässt sich mit Sicherheit vorhersagen, dass sofort Politiker auftauchen und zum Widerstand aufrufen würden. In Belarus gibt es ein paar national-demokratische und nationalistische Parteien und Bewegungen, die sich mit der Situation nicht abfinden würden. Sie haben in etwa dasselbe Verhältnis zu Russland wie die ukrainischen Nationalisten: Sie sehen es als ein aggressives Imperium und eine permanente Bedrohung der belarussischen Unabhängigkeit. Der reale Beginn einer Einverleibung  würde die Stimmung in der Gesellschaft anheizen. Die Operation würde also nicht ohne Massenproteste in den Großstädten vonstattengehen können. 

    Aber ob wir hundertprozentig überzeugt sind oder nicht, dass es Widerstand geben würde, das ist nicht Kern unserer Analyse. Wichtiger ist, dass niemand, einschließlich Moskau, mit Sicherheit davon ausgehen kann, dass es keinen Widerstand geben wird. Es ist ein nicht kalkulierbares Risiko. Und das bedeutet, dass man bei der Planung einer solchen Operation damit rechnen muss, auf Proteste oder Partisanenwiderstand zu treffen. Diese Feststellungen brauchen wir später für die Analyse der Vorteile und Risiken für Russland in dieser Angelegenheit.

    Wenn man etwas zu verlieren hat

    Eine wesentliche Hürde für jedwede enge Anbindung von Belarus ist sein politisches Regime. Autokraten teilen ungern ihre Macht, weder im Inland noch außenpolitisch. Alexander Lukaschenko hat zwar stapelweise Unionsverträge mit Russland unterzeichnet, als der Rücktritt von Boris Jelzin in Sicht war und um den Platz im Kreml konkurriert wurde. Sobald der jedoch vergeben war, verschwand auch Minsks Wunsch, sich mit Russland zu verbünden.

    Lässt man brutale persönliche Erpressungen außer Acht, kann man sich nur schwer vorstellen, was Moskau Lukaschenko für den Verzicht auf seine Macht zu bieten hätte. Geld, eine Yacht und eine Villa bei Sotschi kompensieren wohl kaum den Verlust von Möglichkeiten und Status eines uneingeschränkten Herrschers von einem mittelgroßen europäischen Land. 

    Bleibt also nur die Variante einer Spaltung der belarussischen Elite und die Suche oder Schaffung einer prorussischen Fraktion vor Ort.

    Die Führungsriege in Belarus ist nicht homogen. Es gibt prowestliche Diplomaten, marktorientierte Technokraten, rote Direktoren und einfach nur opportunistische Beamte. Aber all diese Unterschiede verblassen vor dem Hintergrund der Treue zu Lukaschenko, die sie ihm schon viele Jahre halten.

    Die meisten, wenn nicht alle hochrangigen Beamten profitieren von der Souveränität. Nicht zuletzt durch die Möglichkeit, ohne finanzielle Sorgen zu leben und dank ihrer Beziehungen nach einem Rückzug aus dem Staatsdienst in die Privatwirtschaft zu gehen, und das in einem kleinen und bestens kontrollierten Land, das nicht in Einflusssphären einzelner Oligarchen unterteilt ist. Das russische Kapital, das die Vereinigung beider Länder mit sich brächte, würde nicht nur ihre angestammten Plätze, sondern auch ihre Garantie auf eine sorgenfreie Zukunft gefährden.

    Aber selbst wenn wir annehmen, dass irgendwo im Verborgenen noch überzeugte russophile Beamte sitzen, ginge für sie der Verrat an ihren Vorgesetzten mit allzu großen persönlichen Risiken einher, erst recht, wenn man bedenkt, dass der Ausgang dieses Abenteuers ungewiss ist. Ein belarussischer Beamter jeder Karrierestufe riskiert schon durch die Aufnahme von eigenständigen Verhandlungen mit Moskau oder mit Kollegen im Staatsapparat alles, was er hat, einschließlich seiner Freiheit. Besonders aktuell ist dieses Problem in einem System, in dem die begründete Angst herrscht, dass die Geheimdienste alle Beamten äußerst genau beobachten.

    Bislang gibt es keinen Grund anzunehmen, dass unter den belarussischen Silowiki, die sich – wie auch alle anderen Beamten – gegenseitig kontrollieren, der Wunsch bestünde, die Souveränität aufzugeben. Für sie ist das persönliche Risiko beim Scheitern eines solchen Vorhabens sogar wesentlich größer als für die Staatsbeamten. 

    Die kostspieligste Variante

    Damit sind wir bei der Kernfrage angekommen: Ist die Sache den Aufwand tatsächlich wert? Wollte Belarus von sich aus der Russischen Föderation beitreten, würde sich Moskau wohl kaum widersetzen. Aber da mit keinen freiwilligen Szenarien zu rechnen ist, blieben nur die gewaltsamen mit den dazugehörigen Ausgaben.

    Kosten würden sowohl durch die Operation selbst als auch durch die Mitfinanzierung der neuen Region mit fast zehn Millionen Menschen entstehen, die der Westen zudem wie im Fall der Krim durch Sanktionen isolieren und nicht anerkennen würde. Darüber hinaus könnten auch Russland selbst neue, schwerwiegende Sanktionen erwarten.

    Würde Russland einfach so Nachbarländer, die nicht niet- und nagelfest sind, einsammeln und anschließen, müsste man beispielsweise mit einer Angliederung des deutlich weniger komplizierten Südossetien rechnen. Weil dies aber bislang nicht geschehen ist, können wir davon ausgehen, dass für Moskau eine weitere Verschlechterung der Beziehungen zum Westen von Bedeutung wäre.

    Wäre Wladimir Putin so besessen von seinen Umfragewerten, dass er dafür sogar ganze Länder gewaltsam angliedern würde, wozu dann die Erhöhung des Rentenalters? Er hätte dieses Problem auch seinen Nachfolgern überlassen und die sakralen Zahlen der Volksliebe aufrechterhalten können.

    Soziologen beobachten schon seit Monaten eine gestiegene Nachfrage in der russischen Gesellschaft nach einer friedlichen Außenpolitik und einer Hinwendung der Regierung zu innenpolitischen Fragen. Offensichtlich sind diese Zahlen auch dem Kreml bekannt. Nicht nur, dass eine Angliederung von Belarus keinen Anstieg in den Umfragewerten garantiert, sie hätte womöglich sogar den gegenteiligen Effekt: die Unzufriedenheit des Volkes. Erst recht, wenn diese Operation mit neuen Sanktionen und finanziellem Aufwand verbunden wären. 

    Mit anderen Worten: Die Frage von 2024 durch die Vereinigung mit Belarus zu lösen, käme der Provokation eines scharfen Konflikts mit einem bislang verbündeten Land gleich. Es wäre ein Szenario voller unkalkulierbarer Risiken und Ausgaben, die nicht einmal steigende Umfragewerte garantieren. Wenn Putin an der Macht bleiben möchte, könnte er dieses Problem wesentlich leichter lösen: durch eine Verfassungsänderung.

    Es müsste viel passieren, damit die Waage sich noch zur anderen Seite neigt. Aber bis dahin gleicht Moskaus Annäherungsultimatum an Minsk eher dem Wunsch, endlich Geld zu machen, als dem Versuch, ein solches Projekt mit Gewalt bis zum Ende durchzuziehen.

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    „Wolodja, verdirb nicht den Abend“

    Langweilig ist es zwischen Moskau und Minsk selten. Einmal mehr illustrierten das die zahlreichen Spitzen und Vorwürfe, die der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko am vergangenen Freitag bei seiner siebeneinhalbstündigen Pressekonferenz in Richtung Russland losließ. Ein für den 9. Februar geplantes Treffen von Putin und Lukaschenko wurde danach auf unbestimmte Zeit verschoben.

    Hat man in den beiden Hauptstädten noch vor wenigen Jahren die Idee des Russisch-Belarussischen Unionsstaats weitergesponnen, sind inzwischen Streitigkeiten um Öl- und Gaszahlungen zur Regelmäßigkeit geworden. Deutlich verschärft hat sich der Ton nach der Krim-Angliederung im März 2014: Lukaschenko stellte damals etwa die vermeintliche historische Zugehörigkeit der Halbinsel zu Russland in Frage und meinte, dass man nach dieser Logik große Teile Russlands an Kasachstan und die Mongolei zurückgeben müsste.

    Artyom Shraibman, Politik-Redakteur des unabhängigen belarussischen Nachrichtenportals tut.by, vergleicht Russland und Belarus mit einem alten Ehepaar. Nach der jüngsten Wutrede Lukaschenkos fragt er im russischen Online-Medium Carnegie.ru: Ist es mit der Romantik nun endgültig vorbei? 

    Freundschaft auf Eis?  / Foto © kremlin.ru
    Freundschaft auf Eis? / Foto © kremlin.ru

    Die skandalöse Pressekonferenz von Alexander Lukaschenko Anfang Februar hat die Seiten der russischen Medien gefüllt. Was vielleicht wie ein plötzlicher Wutausbruch erschien, war wohl eher ein ziemlich erwartbares Ereignis in der Abwärtsspirale der russisch-belarussischen Beziehungen.

    Der aktuelle Streit zwischen Minsk und Moskau ist vielschichtig wie nie. Wie in einen Strudel werden jeden Monat neue Bereiche der bilateralen Beziehungen hineingezogen, angefangen bei Gas und Öl bis hin zu Grenzfragen und Streitereien um Lebensmittelbestimmungen. Diese Krise speist sich aus sich selbst. Das Negative in der Berichterstattung und wechselseitige Verärgerungen erzeugen neue, unnötige Skandale: Die Verhaftung prorussischer Publizisten, Lukaschenkos demonstrative Abwesenheit bei den Gipfeltreffen der OVKS und der Eurasischen Wirtschaftsunion in Sankt Petersburg sowie die Minsker Entscheidung, den russisch-israelischen Blogger Alexander Lapschin nach Aserbaidschan auszuliefern.

    Zuletzt erfolgte die Entscheidung des FSB, an der Grenze zu Belarus ein Grenzregime einzurichten. Dieser Schritt bedeutet in erster Auslegung eine de facto-Einführung von Passkontrollen, und zwar dort, wo es praktisch nie welche gab.

    Katharsis eines Präsidenten

    Lukaschenkos Pressekonferenz wäre womöglich nicht so emotional geraten, hätte der FSB diese Entscheidung nicht erst wenig Tage vorher verkündet. Vernichtend wäre sie allerdings trotzdem ausgefallen, weil so oder so der Siedepunkt erreicht war. Der Auftritt des belarussischen Präsidenten enthielt mehr Emotionen als Politik: Er machte seinem Ärger Luft, baute den angestauten Stress ab.

    Zu Beginn des rekordverdächtigen siebeneinhalbstündigen Gesprächs mit Presse und Volk vermied Lukaschenko sogar das Wort „Russland“. Ungefähr so, wie Wladimir Putin den Namen Alexej Nawalny niemals öffentlich in den Mund nimmt. Gefragt nach den Beziehungen zu Moskau sprach Lukaschenko fast anderthalb Stunden. Dabei begann er mit den Worten: „Die Lage ist an einem Punkt angelangt, an dem ich kaum das Recht habe, etwas zu verhehlen.“ Auf das Thema kam er sogar dann zurück, wenn es  um ganz andere Fragen ging. Eine vollständige Liste der auf der Pressekonferenz geäußerten Vorwürfe gegenüber Russland würde etliche Seiten füllen. Versuchen wir es stichpunktartig:

    Lukaschenko beschuldigte Moskau, internationale Öl-, Gas-, und Grenzverträge verletzt zu haben. Er erklärte, er habe wegen des Öl- und Gasstreits gegen Russland bereits Klage eingereicht und die belarussischen Vertreter aus den Zollgremien der Eurasischen Wirtschaftsunion abberufen. In Bezug auf die sich hinziehende Unterzeichnung des Zollgesetzbuches der Eurasischen Union erklärte Lukaschenko, dass er das Dokument bis zu einer Lösung des Öl- und Gasstreits nicht anrühren werde. Er äußerte den Vorwurf – der auf der Hand liegt, aus dem Munde eines Verbündeten jedoch grob klingt – dass Russland Belarus nicht als unabhängigen Staat wahrnehme.

    Lukaschenko hat den Innenminister angewiesen zu prüfen, ob nicht ein Strafverfahren gegen Sergej Dankwert, den Chef der russischen Landwirtschaftsaufsicht (Rosselchosnadsor), eröffnet werden könne. Dabei drohte er Dankwert mit einer Untersuchungshaft in Minsk, damit ihm die Lust vergehe, belarussische Lebensmittel zu verbieten. Erneut kam die Weigerung, einen russischen Luftwaffenstützpunkt einzurichten, dabei hat Moskau dieses Thema seit einem Jahr nicht mehr öffentlich angesprochen.

    „Wir sind durch Feuer und Flak geflogen. Und Sie wissen, wohin“, erklärte Lukaschenko programmatisch. Es wurden auch Details aus vertraulichen Verhandlungen auf höchster Ebene ausgeplaudert, mit bissigen Zitaten wie: „Wolodja [Koseform von Wladimir – dek], verdirb nicht den Abend“ und „Das habe ich Putin bereits gesagt, als der noch Demokrat war“.

    Wir sind durch Feuer und Flak geflogen. Und Sie wissen, wohin

    Es wäre falsch zu sagen, dass Lukaschenko vollständig die Kontrolle über sich verloren hätte. Neben Dutzenden skandalöser Erklärungen, die dann meist Schlagzeilen machen, gab es genauso viele besänftigende Töne. Der belarussische Präsident versprach, auf die FSB-Entscheidung über die Verschärfung des Grenzregimes nicht mit gleicher Münze zu antworten, um den Russen keine Probleme zu bereiten. Lukaschenko folgte der in unseren Ländern klassischen Formel „Gut ist der Zar, böse sind die Bojaren“ und gab nicht Putin die Schuld an der Verschlechterung der Beziehungen, sondern seinem Umkreis: „Da gibt es in der Tat unterschiedliche Kräfte. Sie sind heutzutage leider auch an der Spitze des Landes zu finden. Und was besonders schlecht ist: Einige Dinge weichen von den Ansichten und Entscheidungen des Präsidenten selbst ab.“

    Lukaschenko ist ein erfahrener Verhandlungsführer, und der rhetorische Schachzug leuchtet ein. Indem er Putins Untergebenen die Schuld an den Problemen in die Schuhe schiebt, gibt er Putin, so dieser will, die Möglichkeit zu einer Aussöhnung ohne Gesichtsverlust. Auf diese Weise haben beide Seiten die vergangenen 15 bis 20 Jahre agiert: Sobald die Menge der Streitereien auf Ebene der Ministerien und Staatskorporationen qualitativ relevant wurde, mischten sich die Präsidenten ein, und im Namen der jahrhundertealten Bruderschaft entschieden sie alles gütlich.

    Jetzt geschieht nichts dergleichen, und so gelangen wir zu einem weiteren Grund für Lukaschenkos  demonstrativen Zorn: Er will den früheren Putin am Verhandlungstisch zurückhaben, statt all jene unfreundlichen Gesprächspartner aus Moskau, mit denen Minsk in den vergangenen Monaten zu tun hatte.

    Es stimmt, dass zwischen den Präsidenten eine persönliche Abneigung und eine psychologische Unvereinbarkeit besteht. Andererseits war Wladimir Putin nahezu das einzige Kraftzentrum innerhalb der russischen Elite, das die Beziehungen der beiden Staaten potenziell auf positive Bahnen lenken konnte.

    Die schwindende goldene Mitte

    Traditionell hat es in der russischen Elite drei Ansätze für die Beziehungen zu Belarus gegeben, zwei extreme und einen zentristischen.

    Eins der Extreme ist der Ansatz der pragmatischen Marktwirtschaftler in der Regierung, zu deren Exponenten Dimitri Medwedew und Arkadi Dworkowitsch gezählt werden können – sowie zuvor auch Alexej Kudrin und Anatoli Tschubais. Auf der Expertenebene werden diese Positionen in Kreisen der Higher School of Economics vertreten. Diesen Leuten ist eine imperiale Agenda, die Idee eines „Sammelns postsowjetischer Erde“ fremd; Lukaschenkos Lieblingsargument „Wir haben doch gemeinsam in den Schützengräben gekämpft!“ lässt sie kalt. Das von einigen russischen Intellektuellen verehrte Lager der Pragmatiker war für die belarussische Regierung immer schon  der unangenehmste Verhandlungspartner. Diese russischen Funktionäre und Experten vertreten am aktivsten den Standpunkt, dass Minsk im Großen und Ganzen ein Schmarotzer sei und endlich nicht mehr durchgefüttert werden sollte.

    Das andere Extrem ist imperial und nationalistisch. Es ist im Block der Silowiki verbreitet sowie auf der Expertenebene unter Verfechtern des Russki mir, radikalen Eurasiern und Slawophilen. Deren Agenda ist einfach: Die Unabhängigkeitsspielchen der Provinz im Nordwesten sind natürlich amüsant, doch werden sie früher oder später ein Ende haben müssen. Solange Lukaschenko auf einem Integrationskurs bleibt, ist er auf unserer Seite, sobald er aber dem Westen Avancen macht, muss man ihn daran erinnern, wer hier der kleine Bruder ist.

    Der belarussische Präsident hat auch das imperiale Lager in der russischen Elite nicht allzu sehr in sein Herz geschlossen, weil er weiß, dass ihm in dessen Weltbild allenfalls ein Gouverneursposten zufallen würde. In guten Zeiten immerhin hatte Lukaschenkos traditionelle Rhetorik von der unverbrüchlichen slawischen Bruderschaft durchaus eine Wirkung auf die russischen Imperialen gehabt.

    Putin als Schlichter zwischen den Extremen

    Wladimir Putin übernimmt auf der innerrussischen Bühne oft die Rolle des zentristischen Schlichters zwischen dem pragmatisch-liberalen Kremlturm einerseits und dem der Konservativen und Silowiki andererseits. Einen solchen vermittelnden Ansatz hatte Putin auch stets gegenüber Minsk verfolgt, was Lukaschenko sehr entgegenkam.

    Zum einen ist der auf Integration gerichtete Eifer des Kreml fast immer duldsam gewesen, weil Putin kein fanatischer Anhänger der eurasischen Ideen ist. Zum anderen drehte Putin regelmäßig die von der eigenen Regierung zugedrehten Öl- und Gashähne wieder auf, weil er für Beschwörungen einer slawischen Bruderschaft empfänglich ist.

    Die Konflikte zwischen Minsk und Moskau erfolgten immer dann, wenn die Linie des Kreml einem der beiden Extreme zuneigte: angefangen mit Putins Vorschlag, dass Belarus 2004 in Form von sechs Verwaltungsgebieten Russland beitreten könnte, bis hin zum Schwenk in Richtung der Pragmatiker unter der formalen Präsidentschaft Medwedews. Es ist kein Zufall, dass die letzte anhaltende Krise der Beziehungen – mit ihren Milch-, Zucker-, Öl- und Informationskriegen – in den Jahren 2009 und 2010 war.

    Plumper Druck auf Minsk: Ölhahn auf und wieder zu

    Lukaschenkos Problem besteht heute darin, dass die goldene Mitte allmählich aus der Rechnung herausfällt. Denn diese extremen und bislang marginalen Ansätze innerhalb der russischen Außenpolitik sind nun eigenmächtig und ebenbürtig geworden, zumindest wenn es um Belarus geht. Es scheint, als sei Wladimir Putin vollauf mit der globalen Agenda beschäftigt und kümmere sich einfach nicht mehr um Kleinigkeiten wie die Streitereien mit Minsk. Deren Lösung wurde delegiert an Silowiki und Traditionalisten oder aber an Pragmatiker und Technokraten. Hierher rührte denn auch der plumpe Druck auf Minsk zur Errichtung eines Luftwaffenstützpunktes einen Monat vor Lukaschenkos Wiederwahl 2015 und das Ansetzen des Energiehebels bis zum Anschlag: Nämlich dann, wenn Moskau zur Eintreibung der Minsker Schulden aus Gaslieferungen ganz unverhohlen einfach die Öllieferungen drosselt.

    Das hatte auch Lukaschenko beiläufig erwähnt, als er auf der Pressekonferenz von den schleppenden Gasverhandlungen mit Putin sprach: „Als wir bei ihm waren, haben wir bis zwei Uhr nachts alles besprochen, ganz familiär. Und dann kam die letzte Frage: Er nimmt seine Unterlagen und versucht, mir irgendwas zu erklären. Ich sagte ihm: ‚Warte mal, willst du sagen, dass ihr diesen Weg nicht so gehen könnt, wie eigentlich beabsichtigt?‘ ‚Ja, ich habe meine Gründe, die Minister haben sich bei mir gemeldet‘.“

    Lukaschenko möchte, dass Putin wie früher die Minister im fraglichen Moment aus Konflikten heraushält und selbst entscheidet – und nicht, andersherum, die Probleme auf Untergebene abwälzt. Daher rührt auch der heftige Ton der Pressekonferenz. Der belarussische Präsident möchte sich beim russischen Kollegen laut Gehör verschaffen, damit dieser endlich den erbärmlichen Zustand der Beziehungen zur Kenntnis nimmt.

    Herbst einer Ehe

    Wie im Streit zweier Eheleute muss einer manchmal laut werden. Minsk hat Dampf abgelassen. Jetzt sollte das Pendel des Konflikts – zumindest auf der öffentlichen Ebene – vom nervenaufreibenden Höhepunkt langsam wieder in ruhigere, eingeschliffene Bahnen zurückschwingen.

    Der Öl- und Gasstreit wird, falls er nicht beim Treffen von Putin und Lukaschenko am 9. Februar beigelegt werden kann [das Treffen wurde verschoben – dek], vor dem Gerichtshof der Eurasischen Union landen. Die belarussischen Schulden von einer halben Milliarde US-Dollar werden derweil weiter anwachsen und darauf warten müssen, dass die Politiker sie wenigstens zum Teil abschreiben oder Kompensationsmechanismen finden.

    Derweil wird Sergej Dankwert wohl kaum ein Strafverfahren zu befürchten haben, solche Spitzen sind zu riskant, schließlich handelt es sich um einen hochrangigen Funktionär der föderalen Verwaltung. Dankwert wird allerdings auch kaum aufhören, immer mal belarussisches Rindfleisch und Milch an der Grenze zurückzuschicken. Der Blogger Lapschin wird wohl nach Aserbaidschan ausgeliefert werden [Lapschin wurde inzwischen bereits ausgeliefert – dek] und danach in eines der Länder überstellt, deren Staatsangehörigkeit er hat. Die Fachleute vom Grenzschutz werden sich hinsetzen und erörtern, wie man nun auf neue Art mit der gemeinsamen Grenze leben wird: Die visafreie Einreise für Europäer und Amerikaner nach Belarus tritt ab dem 12. Februar in Kraft, und Moskau wird begreifen, dass bisher kein Strom westlicher Migranten die Gebiete Smolensk und Brjansk im Sturm nimmt.

    Doch der Konflikt wird nie mehr ganz verschwinden. Um erneut die Ehe-Analogie zu bemühen: In den Beziehungen zwischen Belarus und Russland hat der Alltag endgültig die Romantik abgetötet, mit der vor 20 Jahren alles anfing. Aus einem komplizierten Bund zweier emotionaler Partner mit ihren Macken und einem Hang zu gegenseitiger Erpressung ist eine Scheinehe geworden. Der Mann hat jetzt neue Interessen, die Frau kokettiert mit dem Nachbarn, zuerst als Neckerei und Spiel der Eifersucht, dann aus längerfristigem Kalkül: Womöglich wird man sich früher oder später eine neue Bleibe suchen müssen.

    Geht es einer Scheidung entgegen?

    Geht es einer offiziellen Scheidung entgegen? In absehbarer Zukunft nicht, das wäre nicht die slawische Art. Die heutigen Eliten, seien es die in Minsk oder in Moskau, werden sich wohl an den vielzähligen Formaten bilateraler Integration festhalten: Unionsstaat, OVKS, Eurasische Wirtschaftsunion, GUS, all diese hübschen Stempel im Pass. Umso mehr, als von deren Existenz für Belarus ganze Wirtschaftszweige abhängen und für den russischen Nachbarn das Image eines attraktiven Gravitationszentrums, das Russland aufrechterhalten will.

    Doch das ändert nichts am Kern der Sache – das gewohnte Beziehungsformat steckt in der Sackgasse. Während sie sich ständig neue Beulen zufügen, wird beiden Seiten bewusst, dass eine Integration derart unterschiedlich großer und gleichzeitig autoritärer Länder nicht sowohl gleichberechtigt als auch finanziell unkompliziert sein kann. Alle Versuche Moskaus, seine jahrelangen Investitionen in einen größeren Einfluss auf Minsk umzumünzen, werden auf Widerstand stoßen. Im gleichen Maße, wie sich Belarus an seine Unabhängigkeit gewöhnt hat, ist dessen ewiger Präsident nicht fähig, seine Macht mit irgendjemandem zu teilen. Und die belarussischen Versuche, Moskau für das frühere Lehens-Modell wiederzugewinnen – in Belarus trägt das den schönen Namen „Öl gegen Küsse“ – sind ebenfalls fruchtlos. Der Kreml ist daran nicht mehr interessiert.
    Selbst wenn es gelingen sollte, den aktuellen Streit unter großen Anstrengungen einzudämmen, wird er in die Geschichtsbücher eingehen, zumindest in die belarussischen. Nach der Unabhängigkeitserklärung und deren institutioneller Verankerung – eine eigene Bürokratie, Währung und Armee – ist dieser Konflikt für Belarus eine der wichtigsten Etappen, um sich von der einstigen imperialen Metropole abzunabeln.

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