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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Es lebe Belarus“: Woher kommt die Losung?

    „Es lebe Belarus“: Woher kommt die Losung?

    Auch am vergangenen Sonntag beim Marsch der Freiheit konnte man wieder hören, wie Demonstranten diese Losung schrien: Shywe Belarus!, Es lebe Belarus! Zudem sieht man den Ausruf auch immer wieder auf Wänden, Plakaten oder Fahnen. Es ist nicht so, dass diese Beschwörungsformel erst seit dem Beginn der Proteste im Sommer in Belarus populär geworden ist. Auf Kundgebungen und Demonstrationen der Opposition gehört sie schon lange zum Standardrepertoire, um seinen Protest gegen Machthaber Alexander Lukaschenko auszudrücken und die Souveränität der Republik Belarus zu betonen. 

    Aber woher stammt diese Losung eigentlich? Wann hat sie sich entwickelt? Und in welchen unterschiedlichen Kontexten wurde sie seitdem verwendet? Auf diese Fragen gibt der Historiker Denis Martinowitsch für das belarussische Medienportal tut.by eine Antwort.

    Protestmarsch in Brest im August 2020 / Foto © tut.by
    Protestmarsch in Brest im August 2020 / Foto © tut.by

    Der Historiker Alexej Kawka sieht den Ursprung dieses Ausspruchs in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als manche Teilnehmer am Aufstand von Kastus Kalinouski die Parole benutzten: „Wen liebst du? – Ich liebe Belarus. – Ganz meinerseits.“
    Doch die genaue Wortkombination trat erstmals am Ende eines Gedichts von Janka Kupala auf: „Ein Klagen, ein Schrei, dass Belarus lebt!“, entstanden in den Jahren 1905 bis 1907, als damals im Russischen Reich gerade eine Revolution im Gange war.
     
    Wer liebt nicht dieses Feld, den Wald,
    den grünen Garten, die schnatternde Gans!
    Der Wirbelsturm, der hier manchmal klagt –
    ist ein Klagen, ein Schrei, dass Belarus lebt!  

     
    Aber nicht nur Janka Kupala, auch andere Dichter, die in der Zeitung Nasha Niva publizierten, verwendeten aktiv diesen Spruch. Kein Wunder, dass im Editorial einer Ausgabe von 1911 stand:
     
    „Die belarussische Nationalbewegung wächst, die armseligen, in Vergessenheit geratenen belarussischen Dörfer erwachen zu einem neuen, eigenständigen Leben; unsere Städte und Ortschaften erwachen und werden ihrer nationalen Namen gewahr. Es erwacht die riesige, kriwitschische Weite mit unseren Äckern, Wiesen und Wäldern, und in den Liedern unserer Volkssänger erschallt, dass Belarus lebt!“.  

    Wie wurde diese Losung vor dem Zweiten Weltkrieg verwendet?

    Sehr aktiv. Aber bevor wir diese Frage beantworten, machen wir einen kleinen Exkurs.
    1917 fand in Minsk der Erste Allbelarussische Kongress statt. Die belarussischen Staatsbeamten betonten immer wieder dessen große Bedeutung. „Diese Volksversammlung hat die zentralen Werte erkennen lassen, die für uns bis zum heutigen Tag Gültigkeit haben: ein eigener Staat, dessen sozialer Charakter und das Faktum, dass nur das Volk, sein Wille, seine kollektive Vernunft und seine politische Führung ein echter Quell der Unabhängigkeit sein können“, erklärte Alexander Lukaschenko 2017.

    „Erstmals seit vielen Jahrhunderten zeigte das belarussische Volk seinen Willen zur Selbstbestimmung, und erstmals wurde die Idee einer belarussischen Staatlichkeit geäußert. Aus dieser Idee, der Idee des Allbelarussischen Kongresses, geht die Praxis der Allbelarussischen Versammlungen hervor“, sagte Igor Marsaljuk ebenfalls 2017 in einer Sendung des Staatsfernsehens ONT.  
    Auf eben diesem Kongress erklang die Losung „Es lebe das freie Belarus!“. Bis zum Krieg behielt die Losung in der Belarussischen SSR ihre Bedeutung bei. Nur dann in der Variante „Es lebe das sowjetische Belarus!“. Und auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Losung noch verwendet, wie auf dem Plakat zu sehen ist.

    Wie wurde die Losung während des Krieges verwendet?

    Der Verweis auf die Zeit der nationalsozialistischen Okkupation ist ein Lieblingsmotiv der belarussischen Propagandisten. Leider lässt auch der habilitierte Geschichtswissenschaftler Igor Marsaljuk es nicht aus.

    „Man kann sich natürlich auf Verse von Kupala oder Pimen Pantschenko beziehen, in denen diese Wendung vorkommt. Aber wenn wir nicht von der Wortverbindung sprechen, sondern von der Grußform, dann sehen wir in den Statuten des Weißruthenischen Jugendwerks, dass man als Rangniederer auf den Ranghöheren zuging, ihn begrüßte mit: Es lebe Belarus und dabei die Hand zum Hitlergruß hob. Die Antwort darauf war kurz und bündig: Es lebe. Dieser Gruß wurde, genauso wie Sieg heil!, während der deutsch-faschistischen Besetzung der BSSR kanonisch und in weiterer Folge zu einer konstanten, alltäglichen Formel der belarussischen Emigration in Kanada und den Vereinigten Staaten“, sagte Marsaljuk auf CTV.
     
    Während des Krieges gab es im besetzten Belarus tatsächlich eine solche Organisation mit dem Namen Weißruthenisches Jugendwerk. Sie wurde 1943 gegründet, ein Jahr vor der Befreiung. Und ja, ihre Mitglieder grüßten wirklich mit Hitlergruß. Doch auf ihrem Höhepunkt hatte die Organisation gerade mal 12.600 Mitglieder, von denen noch dazu später ein Teil zu den Partisanen überlief. Doch gleichzeitig wurde diese Losung auch auf der anderen Seite der Barrikaden verwendet. „Verfechter der BSSR und später auch Partisanen und Untergrundkämpfer im Zweiten Weltkrieg riefen: ‚Es lebe das sowjetische Belarus!‘“, schrieb 2007 die Zeitung SB. Belarus segodnja. Während des Krieges entstand ein Marschlied der belarussischen Partisanen. Ein kurzes Fragment daraus zitierte E. Tumas vom Lehrstuhl für Chor und Gesang der Belarussischen Universität für Kunst und Kultur. Wir bringen einen längeren Ausschnitt: 
     
    Niemals wird erliegen den heftigen Bränden
    unser großes und ruhmreiches Land.
    Auf in den Kampf für die Heimat, Genosse,
    schließ dich den Partisanen an.
    Am preußischen Henker
    für Dorf und Haus
    ruft das Volk zur Rache auf.
    Zum Angriff bereit sind die Waldsoldaten,
    Granaten krachen, Gewehre donnern –
    es lebe Belarus! Es lebe hoch! 

     
    Dieser Text ist in der Werksammlung von Pimen Pantschenko zu finden, einem Klassiker der belarussischen Literatur. Es handelt sich um eine Übersetzung des vom russischen Dichter Alexej Surkow verfassten Partisanenmarsches. Der Band, in dem das Gedicht erschien, wurde 1981 in einer Auflage von 17.000 Stück veröffentlicht. Die Losung Es lebe Belarus irritierte niemanden. 

    Wie der Slogan „Es lebe Belarus“ wieder aktuell wurde 

    Nach dem Krieg wurde die Losung in der Emigration aktiv verwendet, während sie in der BSSR in den Hintergrund trat. Aktuelle Bedeutung erlangte sie durch die Belarussische Nationale Front (BNF) und die politischen Ereignisse Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre. Doch nach dem Machtantritt Alexander Lukaschenkos ereilte die Parole Es lebe Belarus dasselbe Schicksal wie die weiß-rot-weiße Fahne: Die staatlichen Medien begannen, sie ausschließlich mit der Opposition im Allgemeinen und der BNF im Besonderen zu assoziieren. Diese Wahrnehmung herrschte lange Zeit vor und beeinflusste die Haltung eines Teils der Gesellschaft zu nationaler Symbolik und zu dieser Losung.   

    In den 2010er Jahren kehrte der Slogan wieder auf die Tagesordnung zurück. Die Opposition im ursprünglichen Wortsinn war praktisch zur Gänze vernichtet. Die Parteien (auch die BNF) hörten in diesen Jahren auf, das politische Geschehen mitzugestalten. Gleichzeitig traten anderweitig politisch aktive Belarussen bei politischen Aktionen weiterhin mit nationaler Symbolik auf und skandierten Es lebe Belarus! In der Folge wurden sowohl die nationale Fahne als auch die Losung nicht mehr nur der Opposition zugeordnet. Zumal: Ab dem Jahr 1990 erschien sie regelmäßig als Slogan auf der Titelseite der Narodnaja Gaseta, einer Publikation des Parlaments. Der oben erwähnte Igor Marsaljuk ist übrigens Abgeordneter des Repräsentantenhauses.  
    Seit den 1990er Jahren ist einiges an Zeit vergangen. Eine neue Generation ist herangewachsen, die bereits im unabhängigen Belarus zur Schule ging, Geschichte und Literatur des eigenen Landes gelernt hat und in der Lage war, selbst ihre Schlüsse zu ziehen. „Für Belarus!, Es lebe Belarus! oder Blühe, Belarus! – im Grunde ist das alles dasselbe mit anderen Worten. Ist es denn so außergewöhnlich oder gar – das fehlte gerade noch – das exklusive Recht bestimmter Parteien, seinem Land Wohlergehen zu wünschen, zu betonen, dass es lebt (und nicht im Sterben liegt und nicht untergeht – Gott bewahre!)? Soll das heißen, ein normaler Mensch, der mit Politik nichts am Hut hat, darf nicht einmal ein paar schöne Worte über sein eigenes Land verlieren?“, stellte 2007 die Zeitung SB. Belarus segodnja die rhetorische Frage. „Heimatliebe, Nationalbewusstsein oder, wenn man so will, ‚Bewusstheit‘ sind heute der Normalzustand jedes Belarussen.“   

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    Editorial: Warum wir nun auch Belarus entschlüsseln
    Foto © Vola Kuzmich/«Support Belarus» Art-action

    Seien wir ehrlich: Wir wissen kaum etwas über Belarus. Ich selbst bin 1995 als Student der Osteuropäischen Geschichte und Slawistik zum ersten Mal nach Belarus gereist. Ein Land, von dem ich keinen blassen Schimmer hatte. Überhaupt gab es nur wenige Informationen, die über die üblichen Formeln wie beispielsweise „Freilichtmuseum des Sozialismus“ oder später „die letzte Diktatur Europas“ hinausgingen. Exemplarische Geschichten und Tiefenwissen, die die komplexen kulturhistorischen Verwerfungen dieses faszinierenden Kulturraums sichtbar machen, erzählen, seine quicklebendige zeitgenössische Musik-, Literatur- und Kunstszene erklären, oder eben das über Jahrhunderte eingeübte Ertragen von autoritären Herrschern. Wer von uns hat in der Schule schon gelernt, dass das Magdeburger Stadtrecht auch im belarussischen Kulturraum galt oder dass sich die Geschichte vieler berühmter Juden, die als Warner Bros. oder als israelische Präsidenten Karriere machten, dorthin zurückverfolgen lässt? Und wer hat schon davon gehört, dass es im Belarussischen solche wunderbaren Wörter wie schtschymliwa (шчымліва) gibt, die einen schönen Herzschmerz beschreiben?

    Das Land zwischen Warschau und Moskau bietet viele solcher Überraschungen. Über die Jahre der Beschäftigung mit diesem Land ist in mir die Überzeugung gereift, dass Europa nur zusammenwachsen kann, wenn wir uns öffnen und wenn wir nicht nur übereinander lernen wollen, sondern vor allem voneinander. Das hilft nicht nur gegen ermüdende Stereotype und gefährliche Propaganda. Gut recherchierte und aufbereitete Informationen sind die Basis unseres demokratischen Zusammenlebens. 

    Seit über drei Monaten protestieren die Belarussen gegen den Machthaber, der das Land seit 1994 mit harter Hand regiert. Nicht nur den autoritären Strukturen scheint entgangen zu sein, dass sich die Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert hat und nun einen politischen Wandel einfordert. Von diesem schleichenden Wandlungsprozess haben auch in der EU und in Deutschland wohl nur die wenigsten etwas geahnt. Dass er sich in diesem Jahr auf eine derartig überwältigende, friedliche und kreative Art und Weise seinen Weg bahnen würde, hat wohl überhaupt niemand geahnt. Die Belarussen, die als duldsam und unpolitisch gelten, haben die Welt überrascht – und sich selbst. Noch 2010 sagte mir der Schriftsteller Viktor Martinowitsch: „Es ist nicht so, dass die Belarussen gar keine Veränderung wollten. Sie haben nur einfach Angst davor, die Quelle der Veränderung zu sein. Denn viele kennen all die Geschichten von denen, die politische Wechsel initiiert haben und vom Staat grausam bestraft wurden. Aber wenn wir wirkliche Bürger werden wollen, müssen wir das endlich lernen.“

    Offensichtlich sind die Belarussen nun bereit, wirkliche Bürger zu werden. Ein Wandel ist im Gange, dessen politischer Ausgang noch in den Sternen steht. Dennoch dürfte klar sein, dass es sich um einen tiefgreifenden Wandel handelt, der das Land schon heute verändert. 

    dekoder begleitet die Ereignisse in Belarus bereits seit August mit eigenen Übersetzungen. Aber wir haben beschlossen, das Dossier Werym, Mosham, Peramosham: Proteste in Belarus auch strukturell zu verankern und künftig auszubauen. Die Interviews, Essays, Reportagen oder Erklärstücke, die wir übersetzen und nach dekoder-Art journalistisch und wissenschaftlich kontextualisieren, stammen aus unabhängigen belarussischen Medien, die in den vergangenen Jahren ein hohes Niveau an Professionalität und thematischer Diversität erreicht haben. Diesem Pluralismus wollen wir eine Stimme geben. Zudem werden bekannte Wissenschaftler und Fachexperten im Textformat der Gnose landestypische Phänomene und Entwicklungen erklären – und es geht auch darum, die Ereignisse aus einer wissenschaftlichen Metaperspektive einzuordnen und zu begleiten.

    Seit dem 1. November verantworte ich bei dekoder alles, was mit Belarus zu tun hat. Wir freuen uns, dass wir mit dem German Marshall Fund of the United States, der Alfred Toepfer Stiftung und der S. Fischer Stiftung Partner gefunden haben, die diesen Neustart fördern. Und wir haben noch viel vor:

    dekoder Belarus soll, das ist unser Ziel, zu einer zentralen und lebendigen Wissens- und Informationsplattform werden, die neugierig macht und die den Wandel in Belarus auf lange Sicht begleitet. Wir sind uns sicher, dass unsere wissbegierigen Leserinnen und Leser diesen Schritt mitgehen werden. Es ist Zeit, dass wir Belarus besser kennenlernen. Auch damit wir uns in Europa besser kennenlernen. Darauf will ich, wollen wir dekoderщiki, mit Euch anstoßen, wie es die Belarussen tun: Будзьма! Budsma!

    Euer Ingo

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  • Neues belarussisches Wörterbuch – Teil 2

    Neues belarussisches Wörterbuch – Teil 2

    Beim Marsch der Nachbarn, der am vergangenen Sonntag in zahlreichen belarussischen Städten stattfand, wurden nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen über 420 Personen inhaftiert. Diesmal fanden Protestzüge und andere Aktionen in vielen unterschiedlichen städtischen Bezirken statt – eine neue Taktik, die verhindern soll, dass die Sicherheitskräfte gegen eine zentral organisierte Demonstration vorgehen können. 

    Belarus kommt weiterhin nicht zur Ruhe. Der langjährige Autokrat Alexander Lukaschenko weigert sich sich seit August, mit der Bürgerbewegung und mit dem Koordinationsrat der Opposition Gespräche aufzunehmen. Auch die Äußerungen Lukaschenkos vom vergangenen Freitag konnten die Lage nicht beruhigen. Der 66-Jährige hatte gesagt, dass er unter einer neuen Verfassung nicht mehr als Präsident zur Verfügung stehen werde. Eine mögliche Verfassungsreform wird seit Wochen diskutiert, von der Opposition allerdings als Täuschungsmanöver kritisiert. Am Vortag war Russlands Außenminister Sergej Lawrow zu einem Kurzbesuch in Minsk gewesen. Auch er hatte Verfassungsreformen eingefordert. 

    Solch tiefgreifende gesellschaftspolitische Prozesse äußern sich nicht nur in Musik, Kunst und Kultur, sondern auch in der Sprache. Anja Perowa hat für das belarussische Medienportal tut.by eine Erkundungstour unternommen – zu den neusten sprachlichen Ausformungen der Protestkultur.

    Typisch für das Partisanieren – an ungewöhnlichen Orten weiß-rot-weiße Flaggen aufhängen / Foto © Wadim Samirowski/tut.by
    Typisch für das Partisanieren – an ungewöhnlichen Orten weiß-rot-weiße Flaggen aufhängen / Foto © Wadim Samirowski/tut.by

    Bänder (russ. lenty). Der Protest der Belarussen äußert sich nicht nur in gemeinsamen Spaziergängen. Es kommen dabei auch rot-weiße Bändchen aus unterschiedlichen Materialien zum Einsatz. Möglicherweise wäre das Volk nie darauf gekommen, hätte es nicht den stillschweigenden Kampf der Autoritäten gegen die Symbolik der Protestierenden gegeben. Als die weiß-rot-weißen Flaggen von den Balkonen entfernt wurden (übrigens noch vor den Wahlen), haben die Belarussen einen neuen Trick entwickelt – indem sie sie eben aus Bändchen bastelten, die schwerer zu entfernen sind.

    Bussik (russ. busik). Dasselbe wie Kleinbus. Konkret bezeichnet dieser Begriff die Fortbewegungsmittel der Silowiki. In der Regel sind es die Modelle Volkswagen Transporter T5, Ford Transit (auch Custom), Mercedes-Benz Sprinter und spezielle Volkswagen Crafter. Die Fahrzeuge sind farblich meist dunkel, gelegentlich auch weiß oder silber. Solche Fahrzeuge wurden natürlich auch früher von Spezialeinheiten verwendet, doch vermutlich nicht in solchen Mengen. In diesem Zusammenhang ist noch ein weiteres Wort entstanden: „Bussophobie“. Sie tritt auf, wenn man einen Bussik sieht und befürchtet, in diesen hineingezerrt zu werden.

    Drahtzieher (russ. kuklowody). Da gibt es tschechische, amerikanische, litauische, ukrainische. Kurz – alle möglichen. In gewisser Hinsicht sind Drahtzieher die, die sich den Kosmonauten entgegenstellen. Doch wurden sie nie gesehen. Obwohl Alexander Lukaschenko der festen Überzeugung ist: Sie existieren. Das hat er bereits am 10. August verkündet: „Ein Gespräch zeigte uns, dass Drahtzieher am Werke sind. Eine der Linien von Drahtziehern führt nach Tschechien. Schon heute wird unser vereintes Hauptquartier aus Tschechien verwaltet, wo – verzeihen Sie mir – diese Schafe sitzen, die nichts verstehen, was man von ihnen will […] Sie hören nicht auf zu drücken und zu fordern: Bringt die Leute auf die Straße und führt Verhandlungen mit den Machthabern über eine freiwillige Machtübergabe.“ Die Belarussen zeigten sich nicht ratlos und druckten schnell „Geld von den Drahtziehern“ – das sind Dollarnoten mit den Bildern von Nina Baginskaja, Swetlana Tichanowskaja, Alexander Lukaschenko, mit Ratten und Kartoffeln, was sich auf unterschiedliche Ereignisse und Witze bezieht.

    Hündchen (russ. sobatschka). In den August fiel die Zeit der Pro-Lukaschenko-Kundgebungen. Die Teilnehmer riefen eine ganze Reihe von Losungen. Vom einfachen „Be-la-rus!“ bis zum Mem „Batka voran, das Volk geht mit dran“. Doch am liebsten schrien die Belarussen „Sa Batku“ (dt. Für Batka), die in Massenchören in die Forderung „So-batsch-ku!” (dt. Ein Hündchen!) mutiert. Selbstverständlich erschien sofort nach dieser Entdeckung ein Video, auf dem vor die Antwort der Demonstranten Fragen montiert wurden wie: „Wen werden wir füttern?“ Das Hündchen natürlich.

    Jabating. Ironische Bezeichnungen für Pro-Lukaschenko-Kundgebungen. Geht zurück auf den Slogan „Ja/My Batka“ (dt. Ich/Wir sind Batka). Manche denken, dass russische Polittechnologen und Propagandisten ihn sich ausgedacht haben, da die Belarussen Lukaschenko fast nie so nennen (außer freilich Natalja Eismont). Sehr schnell verkürzten Internet-Scherzkekse die Losung der Demonstranten zu einem donnernden „Ja Batka“. Dann gab es bald darauf die bekannten Jabatki (als Bezeichnung für die Teilnehmer der regierungsfreundlichen Kundgebungen) und Jabating (eine eben solche Kundgebung).

    Kette (russ. zep). Wir sprechen von Solidaritätsketten, die häufig aus dem Nichts in unterschiedlichen Stadtteilen nicht nur von Minsk, sondern in ganz Belarus entstehen. Wer weiß: Vielleicht wurde der gängige Satz „Mehr als drei dürfen sich nicht versammeln“ erdacht, weil man so etwas vorausgeahnt hat? Denn: Zwei Menschen sind noch keine Kette, aber drei – durchaus. Die größte Kette dieser Art war wohl die Menschenkette am 22. August. Sie verlief von der Okrestina bis Kuropaty.

    Kosmonauten (russ. kosmonawty). Wer das ist, das seht ihr auf dem Foto. Meistens bezeichnet dieses Wort OMON-Kräfte in Uniform und mit Helm. Die volle Ausrüstung umfasst außerdem Schulterprotektoren, Handschuhe, Ellbogenschützer und ähnliches Gedöns, wie Gamer es nennen würden. Der Grund für ihren Spitznamen ist offensichtlich – ihre Uniform erinnert wirklich an einen Raumanzug.

    Oliven (russ. oliwki). So nennt man im Volksmund die OMON-Mitarbeiter in ihrer olivgrünen Kleidung. Die Existenz einer Uniform in solch einem Farbton ist kein Geheimnis, man hat sie früher sogar im Fernsehen gezeigt. Jetzt haben wir hier dargelegt, warum man die OMON-Leute frank und frei „Oliven“ nennen darf und keine Angst haben muss sich zu vertun. Übrigens nennen die Leute die Silowiki in ihren schwarzen Standardklamotten auch Ölbäume und Johannisbeeren – ein komplettes Feinkostgeschäft findet sich hier.

    Partisanieren (russ. partisanit). Das Wort hat seine Bedeutung nicht wesentlich verändert, eher erlebt es eine Renaissance. Die, die „partisanieren“, gehen nicht etwa zu Protesten, sondern beteiligen sich an Untergrundaktivitäten. Zum Beispiel drucken sie Wandzeitungen, verteilen Flugblätter, kleben Sticker und helfen Freiwilligen. Oder sie hängen an sehr ungewöhnlichen Orten weiß-rot-weiße Flaggen auf.

    Prostituierte und Drogensüchtige (russ. prostitutki i narkomany). Sprich: Protestierende und Demonstranten. So nannten sich irgendwann die Belarussen selbst auf Anregung von Lukaschenko. Die „Drogensüchtigen“ tauchten am 10. August auf, als auch die Geschichte mit den Drahtziehern geschah. Daher kamen dann auch die „Schafe“. Mit den Prostituierten ist es ein bisschen komplizierter. Über sie hatte Lukaschenko schon vor der Wahl gesprochen, am 4. August, hatte aber niemanden wirklich so genannt: „Wir, der Staat – werden den Kampf im Internet nie gewinnen, da das gelbe Schmuddel-Presse ist. Wir können uns nicht auf ein derart vergilbtes Niveau hinunterbegeben und alle, die uns nicht gefallen, – entschuldigen Sie den Ausdruck – Schlampen und Nutten nennen.“ Offensichtlich passten die Prostituierten dermaßen gut zu den Drogensüchtigen und Schafen, dass man entschied, sie doch einzureihen.

    Shodino. Wenn jemand in der zweiten Hälfte 2020 gesagt hat, dass er nach Shodino fährt, war das höchstwahrscheinlich nicht einfach eine Vergnügungsfahrt in die Stadt in der Nähe von Minsk. Was hinter den Worten „in die Okrestina kommen“ stand, wussten die Belarussen auch früher, aber in das Gefängnis Nr. 8 in Shodino wurden nicht so viele festgenommene und inhaftierte Minsker gebracht. Doch jetzt ist die Adresse Sowjetskaja 22A wohlbekannt bei denen, die Briefe dorthin schreiben. Und wohlbekannt ist auch, was Maria Kolesnikowa eben dort für die unglaublichen Belarussen durchmacht.

    Spazierengehen (russ. guljat). Dank der legendären Nina Baginskaja, die zum Symbol des Prostestes wurde, haben die Belarussen einen neuen Satz gelernt: „Ich gehe grad spazieren.“ Genau das sagte die Rentnerin im August, als Vertreter der Sicherheitskräfte plötzlich Fragen hatten, an sie und ihre Flagge. Heute sagen viele Belarussen, wenn sie auf Protestaktionen sind, nicht, dass sie demonstrieren. Sie gehen grad spazieren. Und die Hauptsache dabei ist, dass allen völlig klar ist, was das heißt. In den Chats der einzelnen Bezirke lautet daher die Frage oft: „Wollen wir heute spazierengehen?“

    Teestündchen (russ. tschajepitije). Die Zusammengehörigkeit der Belarussen vor dem Hintergrund der diesjährigen Ereignisse ist in ein neues Gesprächsformat mit den Nachbarn eingeflossen: das Teestündchen. Erst gab es Stadtteil-Chats auf Telegram (noch so eine Erscheinung aus 2020), wo sich Leute miteinander unterhielten. Doch sehr schnell wurde das alles entvirtualisiert und man traf sich: trank Tee, brachte Torten und andere süße Sachen mit, lud Musiker ein und tanzte zu Livemusik. Kurz, es war herzig. Besonders berühmt für seine Teestunden im Hof wurden der Stadtteil Nowaja Borowaja, der Hof beim Platz des Wandels, Grushville und die Feste in der Osmolowka.

    23.34. Ist keineswegs eine Uhrzeit, sondern die Nummer des Paragraphen für Ordnungswidrigkeiten. Den Inhalt kennt mittlerweile fast jeder Belarusse, deswegen werden wir hier nichts erklären. Wenn ein Freund erzählt, dass man ihn „nach 23.34“ verurteilt hat, muss man ihn nichts weiter fragen. Er war spazieren, denn: Es gab bisher noch keinen Präzedenzfall, wo ein Jabating mit diesem Paragraphen geahndet wurde

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    „Die Proteste sind zu einer Befreiungsbewegung geworden“

  • Warum Lukaschenko nicht freiwillig gehen wird

    Warum Lukaschenko nicht freiwillig gehen wird

    Auch vergangenen Sonntag, am 22. November 2020, gingen die Belarussen beim Marsch gegen den Faschismus wieder auf die Straße, um gegen Machthaber Alexander Lukaschenko zu protestieren. In der Hauptstadt Minsk hatten sich die Demonstranten eine andere Taktik ausgedacht, um der Strategie der Aufreibung durch OMON und andere Spezialeinheiten entgegenzuwirken. Diesmal formierten sich die Bewohner in den Bezirken selbst zu Kolonnen, waren ausschließlich in ihren Rajony unterwegs und zielten nicht darauf ab, sich im Zentrum mit anderen Menschenmengen zusammenzuschließen. Dennoch wurden fast 400 Personen festgenommen. Seit Monaten scheint das Regime nur eine Art der Konfliktlösung zu verfolgen: den der Gewalt und der Repressionen. Über diesen eindimensionalen Weg sagte die Belaruskennerin Astrid Sahm in einem Interview mit der Deutschen Welle: „Aber wenn dies der einzige Schritt ist, dann ist es ein Schritt ins Nirgendwo.“

    Lukaschenko hat seit August, als die Proteste im Zuge der Präsidentschaftswahl an Fahrt aufnahmen, auch immer wieder Dialogangebote oder Verfassungsreformen in den Raum gestellt. Für Januar ist eine sogenannte Allbelarussische Volksversammlung angekündigt, die Lösungsvorschläge erörtern soll. Gleichzeitig hat Lukaschenko häufig betont, dass er seinen Posten, den er bereits seit 1994 innehat, nicht freiwillig räumen werde. Sind die Dialogangebote von Seiten Lukaschenkos also ernst zu nehmen? Verstehen Machtvertikale und Silowiki-Strukturen überhaupt, wie ernst die Lage ist? Wie geht es weiter in Belarus?

    Diesen Fragen geht der renommierte Analytiker und Journalist Alexander Klaskowski in einem Beitrag für das belarussische Internetportal Naviny nach. Dabei zeigt er auch auf, wie umfassend und tiefgreifend die Krise in Belarus tatsächlich ist.

    „Ich werde diesen Posten verlassen, wenn es an der Zeit ist. Wozu denn ‚sofort‘? ‚Sofort‘ ist gefährlich. Mit Verabschiedung der Verfassung und so weiter plane ich jetzt präzise und fristgemäß auf einer landesweiten Volksversammlung öffentlich zu erklären, wie und unter welchen Umständen wir weiter vorgehen“, erklärte Lukaschenko.

    Mit wem will sich der Machthaber einigen? 

    Der Mann, der seit 27 Jahren [sic!] an der Macht ist, hatte vor nicht allzu langer Zeit schon einmal eingestanden, er würde „schon ein wenig zu lange auf diesem Posten sitzen“. Darüber, dass er die Macht satthabe, lamentiert er seit Anfang der 2000er Jahre. Nur ist nach seiner Auslegung nie der richtige Zeitpunkt, um zu gehen, weil innere und äußere Feinde das Land bedrohen. Obendrein ist der Machthaber ja großherzig und will seine Gefährten nicht den Wölfen zum Fraß vorwerfen. 

    Diese Haltung klang auch in einem Interview vom 13. November an: „Außer Belarus habe ich nichts. Ich habe mich daran festgeklammert und lasse es nicht los. Weil ich weiß, was ihm zustoßen könnte. Und ihr auch, ihr wisst, was ihm zustoßen wird. Ich kann die Menschen nicht verraten und im Stich lassen.“

    Nun ja, er sitzt dort schon zu lange, andererseits hat er Angst ums Land. Was ist die Lösung? Nach Auffassung des Machthabers „muss man sich in Ruhe einigen. Beim Abgang Lukaschenkos möge im Land Ruhe und Frieden herrschen. Alle Regierungsorgane mögen funktionieren. Es bedarf einer friedlichen und ruhigen Atmosphäre. Und fair möge es sein. Wählt das Volk diesen, so soll er es sein, wählt es jenen, so soll es jener sein …“

    Gut, aber mit wem will sich Lukaschenko einigen? Er äußerte sich positiv über die Initiative von Juri Woskressenski, der aus der Untersuchungshaft des KGB entlassen wurde: Der habe „schon ein paar Dutzend Leute um sich versammelt, die an dem Dialog teilnehmen werden“. Lukaschenko versprach, sich mit ihnen zu treffen.  

    Damit nannte er Punkte eines Projekts, hinter dem selbst ein Blinder den Geheimdienst sieht: ein Pseudodialog mit einer Pseudoopposition. Gleichzeitig verkündete der Machthaber, „mit Verrätern und Terroristen“ sei er zu keinem Dialog bereit. Unter diese Kategorie fallen offensichtlich alle, die beim Projekt „Woskressenski“ nicht mitmachen wollen. 

    Auch den Dialog mit seiner wichtigsten Gegnerin Swetlana Tichanowskaja hat Lukaschenko abgelehnt: „Was soll ich mit einem Menschen besprechen, der mich gebeten hat: ‚Helfen Sie mir, Belarus zu verlassen, ich möchte zu meinen Kindern (sie hatte ihre Kinder vorsorglich nach Litauen geschickt).‘ Sie hat Belarus verlassen und schadet dem Land mit allen Mitteln. Was soll ich mit ihr besprechen? Wir haben keine gemeinsamen Themen.“

    Wer soll denn das Affentheater glauben? 

    Lassen wir die Frage beiseite, warum Tichanowskaja in Vilnius ist (laut ihren Bekannten war sie schwerster Erpressung durch ranghohe Sicherheitsbeamte ausgesetzt).

    Wie dem auch sei, es gibt genug Beweise, dass am 9. August 2020 Millionen Belarussen für Tichanowskaja gestimmt haben. Sie vom Dialog auszuschließen, bedeutet, den Willen dieser Millionen Bürger zu ignorieren, die immer noch in Belarus sind und sich nicht damit abfinden werden, dass man ihre Stimmen stiehlt. 

    Gleichzeitig werden die Protestierenden dämonisiert, als Radikale oder Abfall der Gesellschaft verunglimpft. Hier widerspricht sich Lukaschenko allerdings selbst, wenn er im selben Atemzug verkündet, es gingen nur Bewohner aus Luxusbezirken auf die Straße, die völlig übersättigt seien. So oder so werden auch diese Menschen vom Dialog ausgeschlossen. Wie kann dann überhaupt noch von einer Befriedung der Gesellschaft die Rede sein?

    „Sie sollten Protestierende nicht mit Oppositionellen verwechseln. Die haben nichts gemeinsam“, erklärte Lukaschenko. Er plant also eine gemütliche Zusammenkunft unter Gleichgesinnten, und zur Augenwischerei sind ein paar Pseudo-Oppositionelle (mittlerweile sicher Spitzel beim Geheimdienst) mit von der Partie. Aber wer soll diesem Affentheater glauben?

    Weiterhin setzt er immer noch auf die einzig dekorativen Zwecken dienende Allbelarussische Volksversammlung, in der es gar keinen Widerstand gegen seinen Verfassungsentwurf geben kann. Anders gesagt: Lukaschenko will die neue Verfassung in tiefstem Eigeninteresse schreiben.  

    Ein Referendum unter Machtmissbrauch und Willkür?

    Zugegeben, der Machthaber verspricht Befugnisse abzugeben, einige davon sogar schon jetzt: „Wir haben 57 oder 70 Befugnisse des Präsidenten gezählt, die nach der jetzigen Verfassung auch anderen Regierungsorganen überantwortet werden können.“ Schon die Zahl dieser großzügig abzugebenden Befugnisse lässt vermuten, dass es sich dabei um Peanuts handelt. 

    Zudem soll die neue Verfassung durch ein Referendum bestätigt werden. Wohlgemerkt unter demselben Regime, das nicht einmal mehr seine eigenen, oftmals drakonischen Gesetze ausführt. Mit derselben Zentralen Wahlkommission, die zu 120 Prozent von Lukaschenko kontrolliert wird. Und höchstwahrscheinlich nach demselben Muster des Machtmissbrauchs wie die letzte Präsidentschaftswahl. Denn anders könnte Lukaschenko kein Referendum gewinnen, wenn man bedenkt, wie viele Belarussen seine Politik ablehnen. 

    Hält man das Referendum allerdings unter Machtmissbrauch und Willkür ab, könnte eine noch größere Protestwelle folgen. Zum anderen wäre eine Verfassung, die Lukaschenko durchbringt, indem er die Meinungsfreiheit erstickt, wertlos und sicher kein Ausweg aus der innenpolitischen Krise.

    Aus Lukaschenkos Aussagen vom 13. November geht außerdem klar hervor, dass die Repressionen nicht aufhören werden. Er prophezeit eine Wirtschaftskrise und einen heißen Frühling. Was mit der Wirtschaft zu tun ist, davon hat der Machthaber keine Ahnung, aber den heißen Frühling will er mit allen Mitteln verhindern. 

    „Es ebbt ab – sie brauchen gewichtige Ereignisse, um die Proteststimmung wieder anzuheizen und bis zum Frühling durchzuhalten, wie sie es vorhatten. Aber wir werden säubern, wir werden sie finden – wir kennen jeden einzelnen von ihnen“, versprach Lukaschenko. Wenn das mal keine Einladung zum Dialog ist!

    Was will die Gesellschaft nur bloß?

    Wichtig ist außerdem, dass Lukaschenko die Ereignisse im Land als einen vom Ausland befeuerten Aufstand darstellt. Er versichert, seine politischen Gegner wollten „Belarus zu einer Provinz Polens machen“. Während in ausländischen Zentren, die für Aufruhr sorgten, Amerikaner säßen, „die leider ein zweites Zentrum in der Ukraine errichtet haben. Damit sie gegen Belarus arbeiten können. Aber wir haben dieses Zentrum im Blick“.

    Die Interviewer haben leider nicht nachgehakt, was denn aus den militärischen Ausbildungszentren bei Pskow und Newel geworden sei, von denen die Silowiki vor den Wahlen gesprochen hatten. Damals kursierte noch die Legende, dass die Strippenzieher im imperialen Russland säßen. Und wohin sind eigentlich die zweihundert russischen Soldaten verschwunden, die sich angeblich in den belarussischen Wäldern versteckten?

    Aber wir wollen uns nicht an Details hochziehen. Wichtig ist hier die Denkweise. Lukaschenko und seine Clique halten es scheinbar für ausgeschlossen, dass die Belarussen ohne Strippenzieher etwas ganz Grundlegendes wollen, wovon schon Kupala vor hundert Jahren schrieb: „Sich Mensch Nennen.“

    In einem Interview erklärte Lukaschenko, in Belarus hätte es keine Gründe für Protest gegeben, nichts hätte auf ihn hingedeutet. Das zeugt davon, dass die Machthaber so in ihre Verschwörungstheorien verstrickt sind, dass sie die Gründe für die innenpolitische Krise und den Kern der Forderungen der Avantgarde (mittlerweile allerdings schon der Mehrheit) der Gesellschaft tatsächlich nicht verstehen. Bei einer solchen Diskrepanz der Auffassungen dürfte es grundsätzlich schwierig werden, sich auf einen Ausweg aus der Krise zu einigen.

    Lukaschenko und einige seiner hochrangigen Amtsträger (Natalja Kotschanowa, Wladimir Karanik und andere) scheinen aufrichtig nicht zu begreifen, warum diese wohlgenährten Menschen, die nicht in Lumpen herumlaufen, protestieren? Was wollen sie noch? Offenbar hat den Leuten in der Führungsriege nie jemand Maslows Pyramide auf den Schreibtisch gestellt. Weder im Weltbild noch im Wortschatz von Lukaschenko und seinem Umfeld gibt es den Begriff der Freiheit.

    Deswegen ist das heutige, nennen wir es, mit Verlaub, Establishment per se gar nicht in der Lage den Forderungen nach einem Wandel gerecht zu werden. Es sieht den Ausweg in der Erstickung dieser Forderung. Eine lästige Angelegenheit.

    Der Wandel wird sehr dramatisch

    „Auf den Bajonetten der NATO in Belarus wird das Glück des belarussischen Volkes nicht gründen“, erklärte Lukaschenko in belehrendem Ton. Ja – aber auf den Gummiknüppeln der OMON wird solches Glück erst recht nicht gründen.

    Auf Gummiknüppel zu setzen (zudem das Wirtschaftssystem vor die Wand gefahren ist) bedeutet, dass Belarus auch fürderhin zittern und schütteln wird. Und Lukaschenko wird es immer so vorkommen, dass es nicht an der Zeit ist zu gehen.

    In dem Interview am 13. November hat er dargelegt : „Was, wenn es keinen Lukaschenko geben würde? Dann würde heute niemand dieses Land zusammenhalten. Es würde in Stücke gerissen.“

    Er hat sich allerdings verplappert, dass er „unter ruhigen, friedlichen Umständen“ bereit sei, „nach Russland zu gehen“, um dort „zu leben und zu arbeiten“. Doch es sieht so aus, als hätte er das um der schönen Worte willen gesagt, denn anschließend war zu hören: „Doch Ihnen wird klar sein, was dann mit ihnen (das ist zu übersetzen als: seinen Mitstreitern, Anhängern, Staatsbeamten, Silowiki und so weiter – A. K.) passiert? Sie werden in Stücke gerissen.“

    Wir stecken hier in einer Sackgasse. Das Regime baut auf eine Befriedung der Gesellschaft mit Hilfe von Repressionen. Doch Tatsache ist, je länger und brutaler sie sind, desto mehr Zorn wird sich in der Gesellschaft anhäufen. Und desto schärfer und unentrinnbarer wird die Angst der Machtelite, der Silowiki (und nicht nur sie – derzeit sind alle staatlichen Strukturen an den Repressionen beteiligt) vor Vergeltung.

    Unter Lukaschenko ist keinerlei Stabilität mehr möglich. Auch Vertrauen in den morgigen Tag wird es mit ihm nicht mehr geben. Die Perspektive, dass er politischen Gegnern Platz machen, dass es eine ernsthafte (und keine, wie jetzt geplante, dekorative) Erneuerung des politischen Systems, einen Machtwechsel geben wird, wird sich zu einer Katastrophe auswachsen.

    Und wenn er emotional erklärt: „Kein Machtwechsel! Keine Amtsnachfolger!“, dann wirkt es so, als wolle er den ekelhaften Gedanken verjagen, dass er irgendwann irgendwem seinen Sessel wird überlassen müssen. Er ist zu verliebt in die Macht, zu misstrauisch und hat zu große Angst um seine und seiner Nächsten Sicherheit im Falle seines Abtretens.

    Und das heißt, dass der Wandel in Belarus sehr dramatisch wird.
     

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  • „Die Proteste sind zu einer Befreiungsbewegung geworden“

    „Die Proteste sind zu einer Befreiungsbewegung geworden“

    „Ja wychoshu!”, „Ich gehe hinaus!“ Das waren die letzten Worte von Roman Bondarenko. Dann verließ er die Wohnung am sogenannten Platz des Wandels in einem der Minsker Hinterhöfe. Der Ort hat sich in den vergangenen drei Monaten als einer der Symbole der Protestkultur etabliert. Am Abend des 11. November 2020 waren maskierte Männer in den Hof gekommen, um die weißen und roten Bändchen vom Zaun zu schneiden, die Menschen dort als Zeichen der Solidarität angebunden hatten. Der 31-jährige Bondarenko schritt ein, wurde noch vor Ort von den unbekannten Männern verprügelt und schließlich mitgenommen. Stunden später lag er im Koma. Schließlich erlag er seinen Verletzungen.

    Die letzten Worte Bondarenkos wurden zum Motto des gestrigen Sonntagsmarsches. In vielen Städten gingen die Menschen wieder auf die Straße. Vor allem in Minsk standen die Demonstranten einer Übermacht aus OMON- und anderen Spezialkräften gegenüber, die auch den Platz des Wandels umzingelten. Die Menschen hatten sich in einer Kette aufgereiht, um die Gedenkstätte für Roman Bondarenko vor den Silowiki-Kräften zu schützen. Am Ende des Tages wurde der Platz geräumt, die Menschen festgenommen, die Gedenkstätte mit Blumen und Kerzen abgetragen. Über 1200 Inhaftierte registrierten Menschenrechtsorganisationen am gestrigen Sonntag.

    Seit zwei Wochen versucht der Machtapparat von Alexander Lukaschenko, die Proteste wieder verstärkt mit brutaler Gewalt, gezielten Inhaftierungen und scharfen Repressionen endgültig zu zerschlagen. Doch mittlerweile protestieren die Belarussen seit über drei Monaten gegen die exzessive Polizeigewalt und für Neuwahlen. Wer am Ende die Oberhand in diesem tiefgreifenden Machtkampf behält, steht längst noch nicht fest. Aus Anlass des heutigen Jubiläums des Protestes hat das Nachrichtenportal tut.by eine Fotostrecke zusammengestellt.

    Der renommierte Wissenschaftler Gennadi Korschunow, ehemaliger Direktor des Fachbereichs Soziologie an der Akademie der Wissenschaften in Belarus, erklärt in einem Stück für das Internet-Medium The Village Belarus, warum die Proteste längst nicht am Ende sind – und wie sie immer wieder mit neuen Erscheinungsformen aufwarten, um ihr eigenes Überleben zu sichern.

    Es ist offensichtlich, dass den Protesten in Belarus nicht die Luft ausgeht. Sie verlaufen in Wellen, vielleicht versetzt, asynchron, auf sehr vielen verschiedenen Ebenen.

    Es ist wirklich wie bei einem Moorbrand, bei dem die Beobachtenden meinen, nur die Baumkronen stünden in Flammen. Denn darunter ist ja Wasser – der Sumpf.

    Wir schauen meistens nur dorthin, was sofort sichtbar ist – auf die Straße. Wir sehen Märsche, Menschenketten, Kundgebungen, Scherben. Wie viele gehen gerade auf die Straßen? Es ist unmöglich, sie zu zählen, weil es die große Kolonne nicht mehr gibt – sie wird auseinandergejagt. Aber nach wie vor brausen Flüsse und Ströme von Menschen durch die Straßen der Stadt.

    Zunächst sind es Einzelne und Paare, Gruppen von Freunden, Dutzende Gleichgesinnter… Dann Hunderte, Tausende, die sich die Beine vertreten – mehrere Stunden und viele Kilometer. Das ist nur der harte Kern, in Minsk etwa 100.000 bis 150.000 Leute.

    Nach wie vor brausen Flüsse und Ströme von Menschen durch die Straßen der Stadt

    Dazu muss man ein paar Tausend zählen, die genau jetzt nicht das Haus verlassen können. Den einen fehlt es an Entschlossenheit, den anderen an Mut … Aber sie schämen sich, genau jetzt, in diesem Moment nicht „spazieren zu gehen“. Vielleicht können sie Kinder, alte Eltern oder Kranke nicht alleine lassen, vielleicht sind sie selbst krank und die ganze Familie sitzt in Quarantäne. Und die zweite Covid-Welle nimmt gerade erst so richtig Schwung auf …

    Aber schaut euch die Türen der Häuser an – wie viele stehen den Demonstranten offen? Schaut hoch zu den Fenstern – wie viele begrüßen die Märsche? Wie viele Autos begrüßen sie mit lautem Hupen? Wie viele Autofahrer nehmen Demonstranten mit und bringen sie wieder nach Hause? Geht durch die Viertel – wie viele Fahnen und weiße Zettel seht ihr in den Fenstern? Wie viele Bändchen, Flaggen, Wandmalereien, Treppen, Bänke …

    Wie Maxim Kaz zurecht sagte: Jeder hat jeder seine eigene Schmerzgrenze – aber jeder tut, was er kann. Und wir sind viele.

    Wie viele Menschen haben sich Krama heruntergeladen und achten genau darauf, was sie im Supermarkt einkaufen. Wie sieht es mit den Steuerzahlungen aus? Wie mit kommunalen Abgaben? Macht einfach die Augen auf und schaut genau hin, was noch passiert.

    Die Höfe. Das Stärkste sind im Moment wohl die Hinterhöfe. Die Selbstorganisation dort ist der Beginn einer neuen Regierung, die der aktuellen Regierung Angst macht. Die Hinterhöfe haben bewiesen, dass die Leute sich versammeln und gemeinsam eine Menge Probleme lösen können. Langsam werden sich die Höfe dieser Macht bewusst. Und kein Hof oder Viertel steht alleine da. Es sind viele. Sie tauschen sich aus. Sie helfen einander. Sie lernen voneinander. Die Beziehungen wachsen, und damit wächst die Macht, wächst das Potential. Genau deshalb macht man jetzt Jagd auf Musiker – denn die Kunst stärkt nicht nur den Geist in den einzelnen Höfen, sondern auch die Beziehungen: Sie vereint die Menschen zu einer Gemeinschaft und die Höfe zu einer Stadt.

    Zum Glück begreift die Regierung noch nicht, was Historiker und Philosophen für die Hinterhöfe tun.

    Das Stärkste sind im Moment wohl die Hinterhöfe

    Die Institutionen bewegen sich am langsamsten. Denn hier liegt der schmerzliche Beginn des gesellschaftlichen Bruchs: der Menschen mit dem Volk, der Vorgesetzten mit den Machthabern. Jeden Tag und jede Stunde herrscht da Druck, nicht nur sonntags. Jeder kennt jeden, da ist es leicht, Druck zu machen. Aber es ist etwas in Gang gekommen – und man kann nicht alle feuern. Erstens. Zweitens greift allmählich das Prinzip „Einer für alle und alle für Einen!“. Das ist sehr mächtig, und sein Höhepunkt steht noch bevor. Das kann man am Beispiel einiger Hochschulen beobachten. Drittens ist da der internationale Druck, der sich ebenfalls schwer einschätzen lässt – und auch der braucht seine Zeit. Die Auswirkungen werden beim Abschluss zukünftiger Verträge sichtbar werden. Aber schon das Beispiel Soligorsk zeigt, dass die internationale Aufmerksamkeit erste Früchte trägt.

    Eine weitere mächtige, aber unterschätzte Sache ist die genossenschaftliche Solidarität. Wenn ein paar tausend Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen „Nein“ zu Gewalt sagen, ist das stark. Wenn 1000 Sportler und Sportlerinnen ihre Stimme erheben, ist das stark. Wenn Kulturschaffende ihren Protest zum Ausdruck bringen, ist das stark. Wenn Designer einfache Arbeiter unterstützen, ist das stark. Es ist stark, weil fast jeder Berufsverband deutlich Stellung bezogen hat: Nein zu Gewalt!

    Mehr noch: Wenn Musiker, Lehrer, Mediziner, Künstler, Studenten, Rentner und Arbeiter mit ihrem Wort füreinander einstehen, dann eint das das Volk als Ganzes und macht es stark.

    Was Solidarität und Einigung angeht, muss man sich anschauen, wer etwas tut und in welcher Form. Es gibt viele Formen, und es werden immer mehr.

    Erstens: Geld. Hat jemand mal die Unterstützungsfonds gezählt? Gemeinnützige und korporative? Zweitens: Arbeit (oder Lehre für die Studierenden) und Weiterbildung, dazu kommt medizinische Hilfe für die Opfer der Gewalt; Unterstützung in den Bereichen Information, Recht und Kommunikation. Und die kulturelle Arbeit: Flaggen, Veranstaltungen, Lieder, Appelle an die Regierung …

    Die internationale Ebene – seit wie vielen Wochen schon steht Belarus im Mittelpunkt der europäischen Aufmerksamkeit? Die ganze Welt kennt uns. Ja, die Einen sagen: „Wollt ihr etwa Zustände wie in Belarus?“ (durchgestrichen). „Wir sind hier nicht in Belarus, wir müssen alle Stimmen zählen!“. Aber da geht es um den Staat. Über das Land heißt es: Dieses unglaubliche Belarus zeigt allen, was eine würdevolle Gesellschaft ist, und gibt Hoffnung auf die Wiederherstellung demokratischer Werte.

    Aber wir haben noch mehr gezeigt. Wir haben bewiesen und werden weiterhin beweisen, dass niemand über das Schicksal von Belarus ohne die Belarussen bestimmen wird. Weder Russland noch Europa noch die USA. Deshalb werden sowohl Russland als auch Europa und die USA sehr daran interessiert sein, mit einem freien Belarus und mit würdigen Belarussen zu sprechen und zusammenzuarbeiten.

    Wir haben bewiesen und werden weiterhin beweisen, dass niemand über das Schicksal von Belarus ohne die Belarussen bestimmen wird

    Das Wahrscheinlich ist das Wichtigste: die Straßen, Höfe, Institutionen, Berufsverbände, Belarussen in der ganzen Welt – auf all diesen Ebenen und dazwischen entsteht gerade ein neues Belarus. Es begann mit Protesten gegen Gewalt und Lüge, erreichte jeden einzelnen und verlangte von ihm eine Entscheidung – und diese Entscheidung treffen wir jeden Tag. Jeder von uns. 

    Die Straßenproteste wurden zu einer Revolution des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins und zu nun zum Widerstand fast der gesamten Gesellschaft und der Überreste der staatlichen Vertikale.

    Ich spreche  nicht vom „aktiveren Teil der Gesellschaft“, sondern von „fast der gesamten Gesellschaft“ – denn die Maßnahmen der Vertikale … nunja, sie sind sinnlos und bieten den Leuten nichts an, außer dem Gefühl der Fremdscham für die Machthaber und deren Anhänger. Die Revolution des Bewusstseins hingegen gibt Hoffnung und das Gefühl von Perspektive – ein Verständnis dessen, wer wir sind und wohin wir uns bewegen.

    Noch einmal: Die Proteste sind zu einer Befreiungsbewegung geworden – eine Befreiung von den Fesseln und eine Bewegung nach vorne.

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    „Die Belarussen sind wirklich aufgewacht!“

    Allein am vergangenen Sonntag, beim Marsch der Volksmacht, hat der Machtapparat von Alexander Lukaschenko über 1000 Menschen festgenommen, wie Menschenrechtsorganisationen berichten. Insgesamt wurden mehr als 18.000 Menschen seit dem Tag der Präsidentschaftswahl am 9. August und der nachfolgenden Proteste in Gewahrsam genommen oder inhaftiert. Die Belarussen demonstrieren seit über drei Monaten gegen die exzessive Gewalt, für ihre Grundrechte und für Neuwahlen.

    Auch Jelena Lewtschenko verbrachte 15 Tage im Okrestina Gefängnis von Minsk. Sie wurde für die „Teilnahme an einer nicht genehmigten Massenveranstaltung“ verurteilt. Die 37-Jährige gehört als Basketballerin zu den berühmtesten Sportlerinnen des Landes. Am 30. September war sie am internationalen Flughafen von Minsk festgenommen worden. Wie sie kritisieren mittlerweile auch zahlreiche andere bekannte Sportler und Sportlerinnen die Gewalt gegen die Demonstranten und Demonstrantinnen und fordern Neuwahlen. Das Regime reagiert darauf nicht nur mit Haft- und Geldstrafen, sondern auch mit Kündigung der staatlichen Unterstützungsleistungen. Viele verlieren ihren Platz in den Nationalteams.

    Über die alltäglichen Formen der Erniedrigung und der Manipulation in der Haft, darüber, wie sich die Insassen versuchen zu widersetzen, warum Jelena Lewtschenko selbst infolge der Proteste derart politisiert wurde – darüber sprach sie mit dem russischen Nachrichtenportal Meduza

    Alexandra Siwzowa: Wo sind Sie zur Zeit?

    Jelena Lewtschenko: Vor ein paar Tagen bin ich in Athen angekommen. Ich wollte schon im September hierher fliegen, bin aber am Flughafen verhaftet worden. Ich mache hier eine Reha, und es gibt die Möglichkeit, mit einem Team zu trainieren.

    Wie wurden Sie verhaftet?

    Ich hatte es noch nicht mal bis zum Check-in geschafft. Ich war gerade dabei, meine Taschen in Folie zu packen – da bemerke ich, wie mir jemand auf die Schulter klopft. Ich sehe zwei Milizionäre. Sie grüßen und sagen, dass sie mich wegen der Teilnahme an nicht genehmigten Kundgebungen verhaften müssen. Ich hatte das erwartet – aktuell ist es das Gängigste, wofür man in Belarus festgenommen wird.

    Haben Sie geahnt, dass man Sie verhaften könnte?

    Wenn sie gewollt hätten, hätten sie mich schon frühmorgens festnehmen können, oder auch am Vorabend. Ich habe es also nicht direkt erwartet. Ich war unter Schock, aber ich habe sie angelächelt. Ich habe sofort gebeten, meinen Anwalt und meine Mutter anrufen zu können. Schon als ich auf das Flughafengelände fuhr, war mir ein Auto der Miliz aufgefallen. Es stand entgegen der Fahrtrichtung, so konnten sie beobachten, wer in den Flughafen fuhr. Wie mir später klar wurde, wurde dann weitergegeben, wer das Gelände betrat. Ich fragte mich: „Warum haben die das nicht schon früher gemacht? Damit wenigstens das Gepäck nicht vollends eingewickelt würde.“ Offensichtlich haben sie den letzten Moment abgewartet – die Verhaftung war demonstrativ: Immerhin mussten sie 45 Kilometer zum Flughafen fahren, und dann dieselbe Strecke wieder zurück.

    Ich war ja noch nie im Gefängnis –

    Gott bewahre, dass das noch mal geschieht

    Sie wurden dann sofort in das Gefängnis in der Uliza Okrestina gebracht? 

    Nein, zuerst zum RUWD, dem Revier der Miliz im Leninski Rajon. Dort sprach ein Mann namens Iwan Alexandrowitsch Skorochodow mit mir – seine Position ist mir nicht bekannt; aber später stellte sich heraus, dass er Zeuge war in meinem Fall, obwohl er nicht vor Gericht erschien.
    Ich bat ihn, meinen Anwalt zu kontaktieren. Er sagte, dass er das noch nicht machen könne. Als ich dann ins Okrestina Gefängnis kam, bot er mir an, den Anwalt anzurufen, wenn ich denn die Tastensperre aufheben, die Nummer wählen und es ihm sofort reichen würde. Ich lehnte ab, weil ich wusste, dass er das Telefon hätte einstecken können – und ich es nicht mehr wiedergesehen hätte. 

    Beschreiben Sie Ihren ersten Tag in der Haft.

    Am ersten Tag [im Revier] kam ich in eine Zelle für zwei Personen. Es war bereits eine Frau dort. In der Zelle stand ein Etagenbett, Matratzen gab es nicht, dafür bekam ich Bettwäsche. Man sagte, dass ich wahrscheinlich einen Tag hierbleiben würde, ich würde eine Geldstrafe zahlen müssen und würde dann entlassen. Erst später habe ich herausgefunden, dass sie das allen sagen. Der Prozess fand am selben Tag statt. Als ich so dalag und auf den Beginn der Verhandlung wartete, hörte ich plötzlich, wie Frauen in anderen Zellen begannen, Grai und Kupalinka zu singen. Ich stimmte ein und weinte natürlich augenblicklich los. Es war so berührend, ich hatte das Gefühl, dass wir – sogar im Gefängnis – alle zusammen sind. 
    Als wir zu Ende gesungen hatten, klatschten alle los. Das werde ich nie vergessen. Dann kam der Prozess, ich bekam 15 Tage, und am nächsten Tag wurde ich in die Haftanstalt [in der Okrestina Straße] verlegt – in eine Vierer-Zelle, wo ich zwei Wochen verbrachte.

    Wie haben die 15 Tage Sie geprägt?

    Ich konnte mich nochmals vergewissern, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Ich sehe, wie grausam diese Menschen sind. Demütigung ist ihre Spezialität. Das Okrestina ist ein schwarzer Fleck, viele Tränen, viel Schmerz. Alles, was dort in den Tagen nach der Wahl passiert ist, ist irrsinnig. Jetzt gibt es dort nicht mehr so viel physische Misshandlung, nicht so viele Schläge, aber alles, was dort jetzt geschieht, bezeichne ich als psychische Gewalt und moralischen Druck. Die grundlegenden Menschenrechte werden verletzt.

    Wie waren die Haftbedingungen?

    Wir waren zu dritt in einer Zelle. In der ersten Nacht hatten wir Matratzen, Wasser, die Klospülung funktionierte. Doch am 2. Oktober ging es los. Nach dem Frühstück kam ein Mann herein und befahl uns, die Matratzen zusammenzurollen. Wir rollten sie ein; wir dachten, wir hätten vielleicht etwas falsch gemacht. Über die Regeln in der Haft hatte man uns nicht aufgeklärt. Ich war ja noch nie im Gefängnis – Gott bewahre, dass das noch mal geschieht. Doch wenn es Regeln gibt, muss man auch sagen, welche – aber nichts da. Es gab lediglich ein Papier, auf dem stand, dass man täglich 13,50 Rubel [etwa 4,50 Euro – dek] für die Verpflegung zahlen muss.

    Wann haben Sie die Matratzen zurückbekommen?

    Zunächst dachten wir, man habe sie eingesammelt, um sie zu säubern, um Läuse und Bettwanzen zu entfernen. Aber wir haben sie gar nicht zurückbekommen.

    Haben Sie denn versucht, sie zurückzubekommen?

    Ja, noch am selben Tag. In der Zelle gab es einen Knopf für Notfälle – den drückten und drückten wir. Lange hat niemand reagiert; dann kam ein wütender Wächter. Er öffnete die Zelle, packte die Frau, die ihm am nächsten stand, und führte sie heraus. Fünf Minuten später kam sie zurück. Er hatte ihr gesagt: „Sag den alten Schachteln, dass sie sich beruhigen sollen, Matratzen gibts nicht.“ 
    Am selben Tag wurde uns das warme Wasser abgestellt und auch die Spülung, dann wurden zwei weitere Personen zu uns in die Zelle gesteckt – in einer Vierer-Zelle waren wir dann zu fünft. 
    Wir wussten nicht, wie man so schlafen soll. Also haben wir Zeitungen und Kleidung ausgebreitet. Als Größte habe ich mich auf eine Bank gelegt, eine andere Frau auf den Tisch. Zwei lagen zusammen im Bett, denn es war sehr kalt, die Heizung wurde nicht warm.

    Innerhalb von 15 Tagen durften wir

    nur fünfmal an die frische Luft

    Was bekamen Sie als Antwort, als Sie darum baten, das Warmwasser und die Heizung einzuschalten? 

    Die Antworten waren immer dieselben: „Wir wissen nichts, wir entscheiden nichts, ihr müsst die Leitung fragen, das hängt nicht von uns ab.“ Oder wir wurden einfach ignoriert.

    Wie lange ging das im Endeffekt so?

    Die ganze Zeit, die ich dort war. Keine Matratzen, warmes Wasser gab es erst am vorletzten Tag. Wir baten um eine Waschmöglichkeit, aber in den 15 Tagen konnten wir nicht ein einziges Mal duschen. Innerhalb von 15 Tagen durften wir nur fünfmal an die frische Luft.

    Wer saß zusammen mit Ihnen ein?

    Die meisten im Okrestina Gefängnis hatten an den friedlichen Protesten teilgenommen. Ein Mädchen war aus dem Wahlkampfteam von Viktor Babariko. Es gab eine Belarussin, die in der Schweiz lebt – sie war nach Belarus gekommen, weil sie nicht gleichgültig zusehen konnte, was hier vor sich geht. 
    Mittlerweile ist mir klar, dass die Bedingungen, unter denen wir inhaftiert waren, dass das alles Absicht war.

    In den Zellen herrschten also unterschiedliche Bedingungen?

    Gegenüber von uns gab es eine Zelle mit jungen Männern. Wenn das Essen gebracht wurde, ließen die [Wachen] manchmal die Klappe auf und wir konnten einander zuwinken. Ich dachte, dies sei eine gute Gelegenheit, sie nach dem Wasser zu fragen. Mit großen Buchstaben schrieb ich diese Frage auf: „Habt ihr warmes Wasser?“, dann schob ich den Zettel rüber. Die Jungs haben es zuerst nicht gesehen; und als ich es noch einmal versuchte, sahen sie es schließlich und nickten. Da wussten wir Frauen, dass irgendetwas nicht stimmt.

    Haben Sie am Ende herausgefunden, warum es in Ihrer Zelle diese Bedingungen gab?

    Ja. Einen Abend durften wir rauf in einen tollen Raum mit Stühlen, Tischen und einem Fernseher. Irgendwann sahen wir einen Mann in Uniform – es war der Leiter der Haftanstalt, Jewgeni Schapetiko. Er stellte sich vor und sagte, dass wir die Polizei vielleicht nicht mögen, dass es für die Polizisten aber auch schwer sei. Dann wurde ein Film eingeschaltet. Später haben mir die Mädels erzählt, dass ihnen ein Kerl in Sturmhaube aufgefallen sei. Der hatte mit dem Telefon gefilmt, wie wir den Film anschauen.

    Was war das für ein Film?

    Ein regierungsfreundlicher Film aus dem belarussischen Fernsehen. Darin wurden verschiedene Bilder gezeigt – von Leuten, die Telefonnummern von Milizbeamten an Telegramkanäle schickten. Davon, wie jemand einen alten Mann angriff. Dann gab es Filmmaterial aus dem [Zweiten] Weltkrieg und wie die Großväter gekämpft haben. Dann noch von Kundgebungen und wie wir faschistische Flaggen tragen. Die Zielrichtung der Propaganda: Wir [Demonstranten] würden uns nur für unsere Handys interessieren, aber nicht fürs Kinderkriegen.
    Dann war der Film vorbei. Der Chef der Haftanstalt sagte, er werde so etwas in seiner Stadt nicht zulassen. Dann fing er an, über Gesetze zu reden. 

    Was hat er gesagt?

    Er sei hier für die Haftbedingungen verantwortlich: „Es läuft alles so, dass ihr nie wieder herwollt.“ 
    Er fragte: „Wie habt ihr euch das denn vorgestellt?“ Die jungen Männer entgegneten geschickt, dass sie sich das so vorgestellt haben, wie es in unserem belarussischen Fernsehen gezeigt wird. Kurz zuvor hatte der Sender CTV einen Beitrag gebracht, wie schön und gut doch alles in der Okrestina sei.

    Waren denn bei denen, die den Mund aufgemacht haben, die Bedingungen ähnlich schlecht?

    Eine Frau aus meiner Zelle hat den anderen nach dem Film diese Frage gestellt. Die Jungs verneinten. Dann hielten wir Schapetiko vor, dass man in der Okrestina offensichtlich Menschenrechte verletzen würde. Der Leiter der Haftanstalt entgegnete nur, dass er über diese Sache nachdenken werde, dann ging er zum Ausgang, und es änderte sich nichts.

    Die Grausamkeit, die sie meiner Familie angetan haben,

    kann ich nicht verzeihen

    Hat Sie im Gefängnis jemand erkannt?

    Die Milizionäre haben mich erkannt. Einmal kamen wir von einem Spaziergang zurück, und der Wächter fragte: „Lewtschenko, rauchst Du etwa? Hast ja sehr um den Spaziergang gebettelt.“ Und ich fragte zurück: „Darf man nicht spazierengehen wollen?“ 
    Meinen Nachnamen kannten sie. Wenn eine neue Frau in die Zelle kam, war es immer amüsant: „Und Sie sind wirklich Jelena Lewtschenko? Sind Sie Jelena Lewtschenko? Du bist tatsächlich Jelena? Ich hätte nie gedacht, dass ich dich in der Okrestina treffe.“ Nun, was soll ich darauf antworten? So was passiert eben. Machen wir uns also bekannt!

    Was haben Sie in der Zelle so gemacht?

    Jemand, der vor uns gesessen hatte, hatte ein Damespiel auf ein Blatt gezeichnet. Wir haben uns aus Weiß- und Schwarzbrot Figuren gebastelt und gespielt. Wir haben uns bemüht, Witze zu machen, haben Lieder gesungen und uns unterhalten. Und jetzt, wo ich durch die Sozialen Netzwerke surfe, sehe ich tatsächlich Nachrichten von den Jungs, die in der Zelle nebenan waren. Die schreiben da: „Wir haben gehört, wie ihr gesungen habt, wir haben euch applaudiert.“ Irgendwo in einer anderen Zelle gab es eine Frau, die jeden Abend sehr schön sang. Richtige Konzerte gibt es in der Okrestina.

    Nach 15 Tagen Haft wurden Sie erneut festgenommen – wiederum wegen der Teilnahme an Protesten. Aber dann bekamen Sie eine Geldstrafe und wurden entlassen. Warum?

    Ich denke, dass das alles eine große zusammenhängende Geschichte ist, „ein demonstrativer Vorgang“ sozusagen. Anderen Sportlern und Menschen sollte Angst gemacht werden, man wollte so demonstrieren, dass es jeden erwischen kann. Aber ich habe gar nicht erwartet, dass man mich gehen lässt, ich habe keine Gnade von denen erwartet. Eine Geldstrafe – bedeutet das in deren Verständnis nicht sogar Gnade? Doch die Grausamkeit, die sie meiner Familie angetan haben, kann ich nicht verzeihen.

    Was für eine Grausamkeit?

    Ich habe erst am Vorabend erfahren, dass ich am nächsten Morgen einen weiteren Prozess haben würde. Was bedeutete, dass man mich nicht entlassen würde. Aber darüber wurden meine Familie und Freunde nicht informiert. Sie brachten meine Mama und meinen Vater dazu, um sechs in der Früh zur Okrestina zu kommen und auf mich zu warten. Das Foto, das durch alle Medien ging, werde ich nie vergessen: wie Mama an Papas Schulter weint.

    Haben Sie keine Angst davor, sich zu äußern?

    Wenn die mir an den Kragen wollen, werden sie das sowieso tun. Wir sind in keiner Weise geschützt. Seien wir ehrlich: Ich habe keine Gesetze gebrochen oder Verbrechen begangen. Aber das spielt heute in Belarus keine Rolle, denn menschliches Leben hat keinen Wert. Das ist der rechtliche Normalzustand, und der ist das Einzige, was aktuell in Belarus zählt. Deshalb ist alles, was wir tun können, die Wahrheit zu sagen und davon zu berichten, was wir erleben.

    Unterhalten Sie sich mit Sportlern aus Belarus?

    Jeden Tag.

    Wie reagieren die auf die Proteste?

    Weltklasse-Athleten schweigen leider und kommentieren die Situation überhaupt nicht. Manchmal posten sie etwas, was sich gegen Gewalt richtet, aber Gewalt ist ja nur die Folge. Über den eigentlichen Grund sprechen sie nicht.

    Was halten Sie von Menschen, die in der aktuellen Situation nicht den Mund aufmachen?

    Es scheint, als säßen die im Gefängnis, und wir sind – im Gegenteil dazu – frei. Anfänglich war ich schon empört: Ich wollte, dass die Athleten reden – vor allem die berühmten. Doch darauf darf man sich nicht versteifen. Das soll jeder machen, wie er will. Hauptsache, es geht weiter. Wir sind viele. Bis heute haben bereits 998 Athleten einen offenen Brief mit Forderungen an die Machthaber unterschrieben.

    Sie waren bis 2020 ein unpolitischer Mensch, richtig?

    Ja, ich war unpolitisch – im Jahr 2020 habe ich zum ersten Mal in meinem Leben gewählt. Die Belarussen sind wirklich aufgewacht! Früher waren wir überzeugt, dass sich nichts ändern würde, wenn wir [gegen Lukaschenko] stimmen. Es war Teil der Mentalität. Man wird vergiftet – man tut so, als sei alles in Ordnung. Alles, was man tun kann, ist, alles runterzuschlucken. Das ist nicht nur mit der Politik so. Das betrifft alles.

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    Wer treibt hier wen vor sich her?

  • Wer treibt hier wen vor sich her?

    Wer treibt hier wen vor sich her?

    Lukaschenko muss zurücktreten, die Gewalt muss enden und die politischen Gefangenen müssen freigelassen werden: Diese drei Forderungen hatte Swetlana Tichanowskaja Mitte des Monats aufgestellt und dem Regime in Belarus eine Frist bis zum 25. Oktober gesetzt, andernfalls werde es einen landesweiten Generalstreik geben. 

    Verschiedene Kommentatoren bewerteten diesen Schritt als gewagt. Denn sollten die Streiks, die heute begonnen haben, nicht so umfangreich und dauerhaft wie erwartet ausfallen, könnte das dem Ruf von Tichanowskaja und ihrem Team erheblich schaden.

    Artyom Shraibman, unabhängiger Analyst und regelmäßiger Autor bei tut.by und Carnegie.ru, hatte sich zuvor ähnlich skeptisch geäußert. Nach den Massenprotesten vom Wochenende jedoch schreibt er auf seinem Telegram-Kanal, dass das Ultimatum schon jetzt erste Erfolge gezeigt habe. 

    Im politischen Kampf ist kaum etwas so bedeutend wie die Frage, wer gerade den Ton angibt. Der September war ein Monat, in dem die Staatsmacht scheinbar dauerhaft den Ton angab. 

    Nun passiert das Gegenteil, die Staatsmacht handelt inkonsistent: Mal wurde eine Demo [zur Unterstützung Lukaschenkos – dek] angesetzt, dann wieder abgesagt, mal gibt es politische Festnahmen, dann werden die Gefangenen wieder freigelassen, mal wird brutal auf der Straße eingegriffen, dann wieder nicht. 

    Man kann es kaum anders beschreiben denn als nervöses Schwanken. Die Gründe für dieses Schwanken sind klar – es ist ist teuflisch schwer zu beurteilen, was nun mit dem Kredit von Russland ist, angesichts der Drohungen im [russischen staatsnahen Sender – dek] NTW und dem Druck wegen der Verfassungsreform. Flaut der Protest nun ab oder nicht? Und die Opposition lässt sich nicht spalten, wie sehr man auch draufhaut.

    Vor diesem Hintergrund ist der erste Akt von Tichanowskajas Ultimatum gelungen. Der Protest ist zurück – zumindest in der Größenordnung des frühen September (über 100.000, vielleicht sogar 150.000 Teilnehmer). Morgen [Montag] ist natürlich der Tag X, aber selbst ohne landesweiten Generalstreik wäre das schon nicht mehr das völlige Versagen, das Skeptiker dem Ultimatum vorhergesagt haben.

    Alles geschieht nach dem Muster, mit dem ich euch wohl schon auf die Nerven gehe: Wer den Ton angibt und ungewöhnliche Züge macht, der bringt seinen Gegner aus dem Gleichgewicht und bringt ihn dazu, Fehler zu machen.

    Aus Angst vor wieder größeren Straßenprotesten ist die Staatsmacht gezwungen, ihre Taktik zu ändern. Das heißt: Entweder folgt eine neue Stufe an Repressionen oder ein noch deutlicheres Zurückweichen (die Freilassung von noch mehr politischen Gefangenen, ein schnellers Voranbringen der Verfassungsreform).

    In beiden Fällen begibt man sich auf dünnes Eis, denn es könnte dem Protest ein Gefühl des Sieges vermitteln: das heißt, neuen Enthusiasmus, oder neuen Antrieb aus Wut über die Brutalität. Es wird eine wichtige Woche. 
     

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    „Wir brauchen keine starken Anführer – wir brauchen eine starke Gesellschaft“

    Der Protest in Belarus wird besonders von Frauen getragen und geprägt, darüber ist schon viel gesagt worden. Olga Shparaga ist eine der prominentesten Stimmen in diesem Diskurs. Die Philosophin lehrt am European College of Liberal Arts in Belarus, ist Mitglied im Koordinationsrat der Opposition – und auch international bekannt, im April 2021 erscheint ihr Buch Die Revolution hat ein weibliches Gesicht in deutscher Übersetzung im Suhrkamp-Verlag.

    Shparaga befindet sich aktuell in der Haftanstalt Shodino östlich von Minsk, nachdem sie während einer friedlichen Demonstration Anfang Oktober zunächst für einen Tag festgenommen und am 12. Oktober schließlich zu einer 15-tägigen Haftstrafe verurteilt wurde – für die „Teilnahme an einer nicht genehmigten Massenveranstaltung“.

    Inwiefern die Figur der Frau in patriarchalen Strukturen heute stellvertretend für die gesamte belarussische Gesellschaft steht, warum sich so viele Menschen in Swetlana Tichanowskaja wiedererkennen können, und wie die Oppositionsbewegung auch auf diejenigen zugehen kann, die ihr kritisch gegenüber stehen – darüber sprach Shparaga noch kurz vor ihrer Haft beim Spaziergang mit Darja Amelkowitsch vom unabhängigen belarussischen Portal Reformation.

    Wir beobachten zurzeit, wie sich unterschiedlichste gesellschaftliche Gruppen zusammentun und gemeinsam protestieren. Kann man diese Bewegung als neue Solidarität bezeichnen?

    Schon während der Wahlkampagne haben wir gesehen, wie eine neue gesellschaftliche Energie freigesetzt wurde. Nach den Wahlen erreichte sie eine neue Intensität, als den Leuten nichts anderes übrigblieb, als auf die Fälschungen und den von der Regierung entfesselten Terror zu reagieren. Für die Gesellschaft gab es kein Zurück mehr. Die Leute spürten, was für eine gewaltige Energie plötzlich da war, was für eine Solidarisierung im Gange war, und suchten nach Formen, sie zu bewahren. Wir sehen auch jetzt noch, wie diese Formen sich wandeln, wie neue erfunden und weiterentwickelt werden.

    Darja Amelkowitsch im Gespräch mit Olga Shparaga (rechts) / Fotos © Anna Sharko
    Darja Amelkowitsch im Gespräch mit Olga Shparaga (rechts) / Fotos © Anna Sharko

    Was zeichnet diese Solidarität aus?

    Die Idee der Humanität. Dass Menschen sich miteinander solidarisieren, einfach weil sie Menschen sind. Weil sie finden, dass niemandem Gewalt angetan und niemand in seinen Grundrechten und seiner Freiheit eingeschränkt werden darf. Wir sehen, wie diese Idee die Leute über alle beruflichen, alle Alters- und Geschlechtsunterschiede hinweg vereint: Sie wollen aktive Bürgerinnen und Bürger sein, dafür stehen sie ein. Sie wollen keinen autoritären Staat und sind bereit, sich miteinander zu verständigen, um dieses Ziel zu erreichen. 

    Wir haben viel über die Atomisierung der belarussischen Gesellschaft diskutiert. Ihr fehlt Debattenerfahrung, ihr fehlt Vertrauen. Und plötzlich war da diese große Offenheit und Toleranz, der Wunsch der Menschen, gemeinsam etwas zu schaffen und sich daran zu freuen. 

    Derzeit wird viel diskutiert, ob man nicht alle Kräfte darauf richten sollte, den politischen Gefangenen zu helfen, ihr Trauma zu bewältigen. Oder ob es richtig ist, dass sich die Leute abends in den Innenhöfen versammeln, um positive Emotionen zu teilen – ich finde, das ist alles wichtig. Die Menschen brauchen einen emotionalen Rückhalt, sie suchen Verständigung und wollen vertrauensvolle Beziehungen aufbauen. Es ist genau die Art von Solidarität, die unserer Gesellschaft bislang gefehlt hat.

    Und doch lebt ein Teil der Gesellschaft immer noch in einer anderen Realität. Diese Menschen halten Veränderungen weder für notwendig noch für wünschenswert. Sie werfen dem progressiven Teil der Gesellschaft vor, die Stabilität aufs Spiel zu setzen. Was kann man diesem paradoxen Argument entgegnen, wenn man bedenkt, dass der Sozialstaat praktisch nicht mehr existiert? 

    Führen wir uns diese Gruppe vor Augen. Sie ist überaus heterogen. Glühende Lukaschenko-Anhänger gibt es dort kaum, sondern vor allem Frauen, die im Niedriglohnsektor arbeiten. Diese Frauen haben ein kleines Gehalt, sie müssen sich um ihre Kinder kümmern, oft auch um ihre alten Eltern. Die Angst, die Unterstützung zu verlieren und auf einmal mit nichts dazustehen, ist deshalb groß. Diese Gruppe hat sehr wenig Freizeit. Wenn die Frauen außerhalb von Minsk wohnen, haben sie häufig keine Zeit, ins Internet zu gehen. Deswegen bleiben ihnen die vielen Wege der Solidarität verborgen – sie wissen schlicht nicht, wo sie Hilfe erhalten können. Das Regime wiederum nutzt sie aus und droht ihnen damit, dass sie alles verlieren. Dasselbe tut auch die Propaganda, die behauptet, eine neue Regierung werde sich nicht um sozial schwache Gruppen kümmern. 

    Die Angst, die Unterstützung zu verlieren und auf einmal mit nichts dazustehen, ist groß

    Es gibt in dieser Gruppe sicher auch Menschen, die unter Lukaschenko Karriere gemacht haben und dank ihm sozial aufgestiegen sind. Sie sind dem System gegenüber loyaler. Aber es gibt auch Menschen, die in Lukaschenkos System gefangen sind. Beide muss man ansprechen, in unterschiedlicher Weise. 

    Wir müssen uns eingestehen, dass sich der alternative Diskurs derzeit überhaupt nicht an diese Gruppe richtet. Wir können nicht nur über Privatisierung [des staatlichen Eigentums] und politische Freiheiten sprechen. Wir müssen uns auch um die anderen Themen kümmern: Was wird aus dem Schulsystem, dem Gesundheitswesen, den sozial Benachteiligten? Die Gesellschaft braucht auch dieses Narrativ.

    Wie stehen Sie dazu? Sind Sie auch eine Verfechterin des Sozialstaats?

    Ja. Aber nur, wenn er funktioniert wie in Deutschland oder Schweden. In Belarus ist er seit langem erodiert, wie wir bei Corona gesehen haben, oder auch, als die halbe Stadt ohne Wasser war. Die Regierung unternahm nichts und erklärte: „Das ist euer Problem.“ Das wäre in einem Sozialstaat undenkbar. Der ganze Beamtenapparat, die Ministerien – wozu sind sie da? Ich bin sicher, dass sich viele Leute zum ersten Mal gefragt haben, ob sie mit einem anderen Staat nicht besser dran wären.

    Es wird weitere Pandemien wie Corona geben, und dafür braucht es ein funktionierendes Gesundheitssystem, und überhaupt soziale Unterstützung. Der Staat sollte keine Ideologie erfinden, sondern den Menschen helfen. Es gibt verschiedene Institutionen, die mit einem vernünftigen Steuersystem gut funktionieren würden. Ich denke, wenn wir heute für so ein Modell des Sozialstaates kämpfen, gewinnen wir gleichzeitig neue Anhänger. 

    Kommen wir zur Kreativität der Frauenbewegung, die zum Gesicht der belarussischen Proteste wurde. Frauen haben sich einen Glitzermarsch ausgedacht, oder sie kommen zusammen und bilden eine Kette, weiß gekleidet, Blumen in den Händen … Heute spricht die ganze Welt über die belarussischen Frauen, weil sie mutig, schön und kreativ sind. 

    Es war ein langer Prozess. Alles hat mit der Solidaritätsaktion für die Eva von Chaim Soutine begonnen. Das war noch im Juni. Diese Bewegung wurde überwiegend von Frauen unterstützt, weil viele von ihnen mit der Sammlung der Belgazprombank zu tun hatten: Künstlerinnen, Kuratorinnen. Auch im Kulturbetrieb gibt es sehr viele Frauen, insbesondere in den Projekten, die Viktor Babariko unterstützt hat. Die Frauen machten Eva zu einem Sinnbild für sich selbst: Viele fotografierten sich als Eva oder trugen T-Shirts mit Eva.

    Haben sie sich mit ihr identifiziert? 

    Ja. Wohlgemerkt nicht mit dem Bild einer halbnackten Frau auf dem Sofa, sondern mit Eva. Mit dieser strengen, ernsten, vielleicht sogar missbilligenden, herausfordernden Frau – sie wurde zum Gesicht der weiblichen Solidarität. Später kamen dann die Bilder, die für das schwache Geschlecht standen.  

    Die Frauen in Weiß? 

    Ja. Und mit Blumen. Als sich die Frauen am 12. August auf dem Komarowka-Markt versammelten, als der Terror der Behörden losging. Das war so ein Bild der Weiblichkeit, der Schwäche. Und gleichzeitig ein Symbol dafür, dass auch in der Schwäche eine Stärke liegt. Unsere Revolution – der friedliche Protest – ist ein Ausdruck dafür: Man kann sich wehren und für seine Rechte kämpfen, auch wenn man schwach ist. 

    Als die Frauen am 12. August eine Kette bildeten, wussten sie nicht, wie die Sicherheitskräfte reagieren würden. Heute können wir sagen, die Frauen werden nicht inhaftiert, ihnen wird weniger Gewalt angetan, aber ich weiß, dass sie Todesangst hatten, als die Aufseher um sie herumliefen und keiner wusste, wie es ausgehen würde. In dieser Haltung liegt eine große Selbstaufopferung.

    Diese Reaktion wurde zum Vorzeichen dafür, dass die Revolution friedlich verlaufen könnte. Dass wir friedliche, kreative Wege gehen. Wir werden sie, unsere Freunde, unsere Nächsten, bis zum Schluss verteidigen. 

    Die nächste Etappe, das waren dann schon die Frauenmärsche? 

    Die Frauen nehmen längst eine aktive Position ein. Ob feministische Elemente oder LGBTQ-Community, die Märsche zeigen, dass das weibliche Subjekt existiert. Die Frauen sprechen nicht mehr als Opfer. 

    Der Protest hat viele unterschiedliche weibliche Gesichter, denn auch die Frauen sind ja alle ganz unterschiedlich. Wir haben unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse. Doch das Thema Gewalt hat alle vereint. Eva wurde „verhaftet“. Die Männer landeten in den Gefängnissen – die Frauen gingen gegen Gewalt und Willkür auf die Straße. Die Frauen machen klar, dass die Gewalt die Gesellschaft als Ganze betrifft. Sie sagen es mit den unterschiedlichsten Slogans. Das Wichtigste ist, dass Plakate, die ich sonst auf feministischen Demos gesehen hatte (wie „Er schlägt dich, also wandert er in den Knast“), auf den großen Frauenmärschen auftauchten. Ein Plakat für ein Gesetz gegen häusliche Gewalt wurde zum Symbol dafür, wie sich die ganze Gesellschaft wahrnimmt. Das bedeutet, die Figur der Frau, die in einer patriarchalen Gesellschaft systematischer Gewalt ausgesetzt ist, steht heute für die Gesellschaft insgesamt. 

    Sobald die Frauen ihre Position behaupteten und Subjekte wurden, begegnete die Staatsmacht ihnen mit Gewalt. Bis dahin verhielt sie sich nachsichtig. Wie würden Sie das interpretieren? 

    Warum wohl hat Swetlana Tichanowskaja die Wahlen gewonnen? Weil Lukaschenko sie nicht ernstgenommen hat. Aber die Gesellschaft hat sie ernstgenommen. Maria Kolesnikowa hat ihren Pass zerrissen und ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Frauen haben erzwungen, dass man fortan mit ihnen zu rechnen hat. Die Staatsmacht, die nur auf Gewalt setzt, fand die entsprechende Antwort.

    Die Figur der Frau, die in einer patriarchalen Gesellschaft systematischer Gewalt ausgesetzt ist, steht heute für die Gesellschaft insgesamt

    Doch die Art des Protestes hat sich dadurch nicht geändert. Der Koordinationsrat plant keinen Staatsstreich, die Frauenmärsche sind völlig friedlich. Dieses Engagement hat mittlerweile einen Rückhalt in der Gesellschaft, es kann nicht mehr ignoriert werden. 

    Sprechen wir über unsere Anführerinnen – Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa. 

    Ihr Wahlkampfbündnis war gut, weil darin verschiedene Frauen vertreten waren. Jede von ihnen arbeitete für die eigene Gruppe. Maria Kolesnikowa vertritt eine eher aktivistische Position; in einem der Interviews bezeichnete sie sich als Feministin. Swetlana Tichanowskaja sagte, sie sehe sich selbst nicht in der Politik. Veronika Zepkalo ist Managerin und richtet sich an Frauen in der Wirtschaft. Ich denke, die Kraft lag in der Zusammensetzung dieses Bündnisses. 

    Und was Swetlana betrifft: Ihre Reaktion gleicht der Reaktion der belarussischen Gesellschaft. Auch sie überwindet sich selbst und schöpft daraus Kraft. Das ist toll. Ich denke, die Menschen erkennen in ihr sich selbst. Vielleicht wollten die Belarussen sich nicht an dieser Wahl beteiligen, wollten nicht aktiv werden. Aber dann entstand eine Situation, die die Leute in den Protest trieb. Die Wahlfälschungen, die brutale Gewalt des Staates gegen seine Bürger … Die Menschen haben Angst, es ist schwer, Alltag und Protest unter einen Hut zu bringen, aber sie machen es trotzdem, sie tun sich zusammen und kämpfen.

    Swetlana Tichanowskaja ist bis heute ein Spiegel, in dem die Gesellschaft sich selbst erkennt. Sie sagt: Wir sind keine Politiker, aber wir können nicht tatenlos bleiben. Wir wollen und können nicht mehr in einem autoritären Staat leben.

    Dabei sagt sie aber auch, ein starker Anführer werde künftig an ihre Stelle treten.

    Das ist schade. Ich finde, wir brauchen keine starken Anführer, wir brauchen eine starke Gesellschaft. „Wir wollen nicht auf Anführer hoffen“ – das höre ich von vielen engagierten Menschen. 

    Swetlana Tichanowskaja ist bis heute ein Spiegel, in dem die Gesellschaft sich selbst erkennt. Sie sagt: Wir sind keine Politiker, aber wir können nicht tatenlos bleiben

    Wie die Erfahrung gezeigt hat, kann ein starker Anführer uns und unsere Bedürfnisse ignorieren. Wichtig ist, dass der politische Anführer unser Partner ist, einer von uns. 

    Um Ihren Gedanken fortzuführen: Mir fällt der berühmte Ausspruch von Maria Kolesnikowa ein: „Liebe Belarussen, ihr seid unglaublich!“ Darin steckt doch die Grundeinstellung: Alles, was die Belarussen tun müssen, ist an sich selbst zu glauben. Oder etwa nicht? 

    Wenn wir davon ausgehen, dass sich unsere Gesellschaft in einem Zustand der Gewalt befindet, (erinnern Sie sich, wie Lukaschenko sagte: „Eine Geliebte lässt man nicht gehen“), so heißt das: Ihr fehlt der Glaube an die eigene Stärke. Es gibt viele Formen der Gewalt: physische, ökonomische, psychische. Oft fällt es schwer zu erkennen und sich einzugestehen, dass man Gewalt ausgesetzt ist. Oft wissen die Frauen nicht, wie sie aus dieser Situation herauskommen sollen. 
    Ich hatte von Anfang an den Eindruck, dass jenes Empowerment, von dem die Feministinnen reden, der Glaube an die eigene Stärke, genau das ist, was man in solchen Situationen braucht. „Ich beende eine Missbrauchsbeziehung“, sagen die Frauen heute. Offenbar ist es genau das, was heute die gesamte Gesellschaft tun muss. Und dafür muss sie auf ihre eigene Stärke vertrauen.  

    Das ist eine wichtige Parallele, aber ich muss doch fragen, wie es weitergeht. Natürlich verändert sich unsere Gesellschaft. Doch wie stehen die Chancen, dass die konkreten Frauen, über die wir heute gesprochen haben, aber auch die Frauen insgesamt, in der Politik bleiben, wenn das gegenwärtige Regime fällt?

    Ich denke, die Frauen, die das Problem erkennen, müssen kämpfen. Das ist eine der Aufgaben, die wir uns in der Koordinationsgruppe, dem Femsowjet, stellen. Wir meinen, dass die belarussische Gesellschaft eine patriarchale Gesellschaft ist. Natürlich verändert sich jetzt etwas, aber das bedeutet nicht, dass es morgen keinen Sexismus mehr gibt und alle Männer aufhören, Frauen herablassend zu behandeln. Deswegen ist es sehr wichtig, dass die Frauen, die sich dessen bewusst sind – die Feministinnen -, die anderen Frauen darin bestärken, sich zu vereinen und ihre Interessen und Probleme zu artikulieren. Ihnen dabei helfen, zu verstehen und daran zu glauben, dass ihre Probleme einer Erörterung wert sind. Ich wiederhole, diese Probleme betreffen die gesamte Gesellschaft. Häusliche Gewalt ist nicht nur das Problem der Frauen. 

    Warum ist die Gleichheit der Geschlechter so wichtig?

    Wenn Männer und Frauen in der Gesellschaft nicht gleichgestellt sind, wie sollen sie dann in anderen Gruppen kooperieren? In Gruppen unterschiedlichen Alters, im Beruf? Wie werden sie sich als Partner erkennen, wenn sie der Meinung sind, dass eine Frau einem Mann in vielerlei Hinsicht unterlegen ist? Deshalb wird die Gleichstellung der Geschlechter in demokratischen Ländern so sehr verteidigt – sie ist wichtig für die gesamte gesellschaftliche Ordnung.

    Und die letzte Frage, Olga: Wer ist Ihr Präsident? 

    Für mich ist der Präsident oder die Präsidentin eher eine technische Figur. Ich wiederhole es: Der Präsident, so würde ich sagen, ist einer oder oder eine von uns. Ein Mensch, der sensibel und offen ist für die Probleme der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen. Der Präsident muss nicht in erster Linie ein guter Manager, sondern ein guter Kommunikator sein, jemand, der zuhört und bereit ist, Kompromisse einzugehen. Er steht für bestimmte Werte, und für mich sind diese Werte verbunden mit einer inklusiven Gesellschaft. 

    Haben Sie eine bestimmte Person aus unseren Kreisen im Blick?

    Julia Mizkewitsch. Ich sehe sie als mögliche Präsidentin.

    PS: Die Feministin und Bürgerrechtlerin Julia Mizkewitsch befindet sich derzeit ebenfalls im Gefängnis. 

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    Zitat #10: „Lukaschenko kapiert nicht, wie massiv er die Belarussen verprellt hat“

    Alexander Lukaschenko sucht den Dialog – so will der belarussische Machthaber zumindest sein Treffen mit oppositionellen Gefangenen am vergangenen Wochenende verstanden wissen. Im Untersuchungsgefängnis des KGB hat er sich laut staatsnahem Telegram-Kanal Pul Perwogo viereinhalb Stunden lang mit inhaftierten Oppositionellen – darunter Viktor Babariko, der ebenfalls zur Wahl antreten wollte und verhaftet worden war – und inhaftierten Vertretern des Koordinationsrats unterhalten. Unter anderem diskutierte er eine Verfassungsänderung und betonte: „Unser Land lebt unter der Losung der Dialogbereitschaft.“ Zahlreiche Oppositionelle, wie etwa Pawel Latuschko, jedoch kritisierten einen Dialog und Runden Tisch im KGB-Untersuchungsgefängnis als „absurd“.

    Dialog oder Repression – welchen Weg wählt Lukaschenko? Diese Frage wirft der renommierte russische politische Kommentator Alexander Morosow im unabhängigen Meinungsmedium Republic auf: 

    [bilingbox]Es wäre falsch, darauf zu spekulieren, dass sich der Protest auf natürlichem Wege durch Müdigkeit und Routine irgendwann wieder verläuft. Lukaschenko kapiert nicht, wie massiv er die Belarussen verprellt und gekränkt hat.

    […]

    Das beste Szenario für Lukaschenko wäre ein echter (kein fiktiver) Runder Tisch, freie Neuwahlen, bei denen er kandidieren kann, mit einer neu besetzten Zentralen Wahlkommission und internationalen Beobachtern. Natürlich würde er verlieren. Aber er könnte im Wahlkampf seine Wähler mobilisieren, eine eigene Partei gründen und mit dieser anschließend ins Parlament einziehen. Das wäre der beste aller möglichen Fortgänge seines Lebenswegs.

    Die beiden anderen Varianten sind deutlich schlechter. Die erste ist: Das Land über Monate mit Gewalt zu überziehen und so den Konflikt von Volk gegen Polizei, Armee und Geheimdienste anzuheizen und das Land langfristig in die wirtschaftliche Stagnation zu stürzen. Die zweite: Alles de-facto mit Hilfe des Kreml zu unterdrücken, das heißt die Souveränität von Belarus zu opfern.~~~Расчет на естественный спад протеста за счет усталости, рутинизации – ошибочный. Лукашенко не понимает, насколько глубоко он задел и оскорбил белорусов.

    […] Лучший сценарий для Лукашенко – это не фиктивный, а реальный круглый стол, повторные свободные выборы, в которых он сможет участвовать, с новым составом ЦИКа, с международными наблюдателями. Очевидно, что он проиграет. Но он получит возможность в ходе кампании мобилизовать своих избирателей, создать себе партию и с ней затем войти в парламент. Это – лучшее из возможных продолжений его жизненного пути.

    Оба других варианта гораздо хуже. Первый: залить страну многомесячным насилием, стимулируя конфликт между населением, с одной стороны, и полицией, войсками, спецслужбами, с другой, и погрузить ее надолго в экономическую стагнацию. Второй: подавить все это де-факто руками Кремля, т. е. пожертвовав суверенитетом Беларуси.[/bilingbox]

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    oder: Ode an die Übersetzerinnen und Übersetzer über das, was in ihnen steckt, am Beispiel Belarus

    Was nicht sehr bekannt ist: Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja ist Übersetzerin. Sie hat Englisch und Deutsch studiert und anschließend unter anderem für die in Irland ansässige Organisation Chernobyl Life Line übersetzt. 

    Ihr Interview mit RBC, das dekoder übersetzt hat, atmet den Geist, der im Übersetzen steckt: Sie steht im Dienst der belarussischen Menschen, wie eine Übersetzerin im Dienst eines Textes steht. Vielleicht sind diese Sätze ein bisschen zu groß. Das darf ruhig sein, denn das kommt in Bezug auf Übersetzerinnen selten vor. Und heute ist der Internationale ÜbersetzerInnentag, an dem wir das Übersetzen und die, die es tun, feiern. 

    Dieses Im-Dienst-der-Menschen-Stehen und der Wille, die Menschen zu fragen und das Erfragte zu beherzigen, die bei Tichanowskaja durchklingen (etwa, wenn sie sagt, dass sie diese und jene Frage nicht beantworten kann, denn bei solchen Fragen müsse das belarussische Volk mitentscheiden) – das ist kein Sich-Herauswinden oder arrogantes Drüberstehen. Es ist die Einsicht, das Bewusstsein: dass man fragen muss, dass man kommunizieren muss, bevor man Ziele festlegt, wenn man stellvertretend für jemand anderen spricht. 
    Und es ist die demütige Einsicht, dass man nicht alles wissen kann, was man für seine Tätigkeit oder für die Übersetzung eines Textes braucht. („Wir begrüßen alle Vorschläge, die auf die Entwicklung unseres Landes abzielen. Die … Formen der Unterstützung sollen Experten vereinbaren, und ich weiß, dass sie schon in die Richtung arbeiten.“) Man weiß, wo man findet, was man sucht oder wen man fragt, mit wem man sich berät. Diese Haltung ist keine Entscheidungsschwäche: Denn jeder übersetzte Text steckt voller Entscheidungen, von manchmal schmerzlichen Kompromissen bis hin zu brillanten Würfen. Sonst gäbe es am Ende keinen Text.1

    Diese Fähigkeiten, die ich von vielen Kolleginnen kenne und die ich an ihnen schätze, bringt die derzeit im Zentrum der Weltaufmerksamkeit stehende Swetlana Tichanowskaja mit, zumindest lese ich es aus dem Interview mit ihr heraus. 

    Und da fange ich an, mich ein wenig zu ärgern, dass immer, auch von ihr selbst, die Rede ist von „Hausfrau“ oder der „Stay-at-Home Mom“, die nun zum „Revolution Leader“ wird … Natürlich ist das marketingtechnisch, beziehungsweise genderklischeemäßig ein echter Reißer.2 Viele Übersetzerinnen mit Kindern haben ein paar Jahre lang weniger oder nicht gearbeitet. Die Gründe dafür sind divers, manche schön, manche ärgerlich. In Belarus funktioniert das dann alles noch mal ganz anders, doch das wäre ein Editorial in einem anderen Ressort, und der Feiertag wäre nicht der 30. September, sondern der 8. März.

    S prasdnikom dorogije kollegy i soratniki!
    Herzlichen Glückwunsch zu unserem Tag, liebe KollegInnen und allen, die schätzen, was wir tun!

    eure Rike
    Übersetzungsredakteurin bei dekoder


    1.Nie steht in einer Fußnote: Die Übersetzerin konnte sich nicht entscheiden und hat deswegen einfach selbst etwas gedichtet.
    Obwohl sie in anderen Situationen vielleicht gerne dichtet. Doch da gilt es zu unterscheiden: Wo stehe ich im Dienst eines Textes, eines Volkes und wo kann ich machen, was ich will. 
    2.Als Stay at home Mom ist man übrigens ständig Revolution- oder Counter-Revolution-Leader und Entscheidungsträgerin, oder sehe ich das falsch? 

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