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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Landschaft der Trauer

    Landschaft der Trauer

    Kirchen, einstige Adels-Residenzen oder Gutshäuser – der belarussische Fotograf Valery Vedrenko beschäftigt sich mit der belarussischen Geschichte auf dem Landstrich zwischen Polesien im Süden und der Seenlandschaft im Norden von Belarus. Er fotografiert Bauten, die oft wie in die Gegend gewürfelt scheinen: Kleinode, klassizistisch, barock oder gotisch. 
    Allesamt erzählen sie viel über die Geschichte seines Landes, die bis in die Zeit des Großfürstentums Litauen zurück reicht. Einige der Orte sind für die Nachwelt erhalten worden, besitzen sogar Unesco-Weltkulturerbestatus; andere sind sich selbst überlassene Ruinen.

    Vedrenko wurde mehrfach für seine Arbeit ausgezeichnet. Er hat sich mit unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen einen Namen gemacht, darunter mit Grafiken, Filmen und Malerei. Mit der Digitalisierung, sagt er, fand er einen ganz eigenen Zugang zur Fotografie, seither lässt er die Kunstformen miteinander verschmelzen. Wenn er die belarussischen Baudenkmäler dokumentiert, über die Jahre immer wieder zu ihnen zurückkehrt, hält er sich an digitale Schwarz-Weiß-Aufnahmen, ohne Filter, ohne Effekte. So sind Bilder entstanden, die auch zeigen, wie schwer es dieses kulturelle Erbe in Belarus hat, einen festen Platz zu finden.

    Njaswísh, Fronleichnamskirche aus dem 16. Jahrhundert, fotografiert im Jahr 2006 / Foto © Valery Vedrenko
    Njaswísh, Fronleichnamskirche aus dem 16. Jahrhundert, fotografiert im Jahr 2006 / Foto © Valery Vedrenko

    dekoder: Ihre Fotografien zeigen Architekturdenkmäler, hauptsächlich Kirchen. Glockentürme zwischen Bäumen, Ruinen im Wald oder imposante Gebäude entlang ausgestorbener Dorfstraßen. Wie kommt es zu dieser Motivauswahl? 

    Valery Vedrenko: Mich interessieren Sujets mit eigener Biografie. Die Wahl der Motive ergibt sich daher quasi von selbst. Die Architekturdenkmäler in den belarussischen Großstädten sind aus ihrem historischen Kontext gerissen und wirken eher wie Museumsstücke, die ihres natürlichen Umfelds beraubt sind. Daher reise ich umher und fotografiere in kleinen Ortschaften und Dörfern, in denen die Landschaft und das Alltagsleben noch mehr oder weniger natürlich sind. Allerdings gibt es von diesen Orten mit jedem Jahr weniger, und auch die Motive selbst verschwinden. Sie werden von den neuen Besitzern nach Gusto umgebaut, während sich die Orte selbst  in ländliche Siedlungen verwandeln, die dem Muster einer belarussischen Agrogorodok entsprechen. 

    Die Fotoserie heißt Landschaft der Trauer. Ist Belarus das Land der vergessenen Ruinen?

    Belarus hat zwei Gesichter. Es gibt das touristische und das lebendige Belarus. Im ersten werden Ihnen ein Dutzend restaurierter Schlösser und Kathedralen präsentiert, im zweiten finden Sie hunderte Kirchen, Gutshäuser und Wirtschaftsgebäude, die zu Ruinen verfallen. Zum historischen Erbe pflegt die Regierung ein Verhältnis wie zum Sport: Wichtig sind nur die Plätze auf dem Podest. Finanzielle Mittel werden nur für die herausragenden Denkmäler bereitgestellt, die Gewinn einbringen und von denen es nicht mehr viele gibt. Um die anderen sollen sich die lokalen Behörden kümmern, die weder über Geld, noch über die fachliche Ausbildung, noch über Infrastruktur verfügen. Deshalb nagt an vielen Architekturdenkmälern in den kleinen Städten und Dörfern der Zahn der Zeit, der leider alles in Ruinen verwandelt. Ich versuche, diese traurige Entwicklung in meinen Bildern festzuhalten, daher der Titel des Projekts.

    Hängt die Tatsache, dass Kulturdenkmäler verfallen und in Vergessenheit geraten auch damit zusammen, dass die Belarussen ihre eigene Geschichte oft schlecht kennen?

    Natürlich. Da kommen wir schon in den Bereich von Politik und der Bildung, die ihr untersteht. Um eine Metapher zu bemühen: Wenn in der Sowjetunion die Geschichte mit dem Jahr 1917 begann, dann hat die Geschichte in Belarus mit der Wahl der heutigen Staatsführung  begonnen. Alles, was davor war, ist kaum von Bedeutung. Die wirkliche Geschichte des Landes kann man nur in den Bibliotheken erfahren, nicht in den Schulbüchern, die alle fünf Jahre je nach aktueller Lage umgeschrieben werden. Ein solches Verhältnis zur Vergangenheit spiegelt sich unweigerlich auch im Zustand des architektonischen Erbes.

    Kann es also sein, dass der Staat kein Interesse daran hat, die Erinnerung an die Geschichte zu bewahren?

    Ich werde Ihnen meinen Standpunkt dazu erläutern: In Belarus gibt es weder eine klare Vorstellung von der eigenen Geschichte noch eine Beziehung zu ihr. Alles unterliegt der politischen Konjunktur. Was gestern noch erlaubt war, ist heute bereits verboten, und umgekehrt. Dieser Umstand wirkt sich auf die Einstellung der Beamten und lokalen Behörden aus, die über den Schutz des architektonischen Erbes entscheiden. Er führt zu Gleichgültigkeit nach dem Motto „Nur nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, nichts übereilen“. Und am einfachsten lässt sich das Problem mit der Antwort lösen: „Dafür ist kein Geld da“.

    Wie ist die Idee zu diesem Fotoprojekt entstanden?

    Ich war schon mein Leben lang viel in Belarus unterwegs. Als die Fotografie zu meiner Hauptbeschäftigung wurde, zeichnete sich auch das Genre ab, das mir besonders lag: historische Landschaften. Aus irgendeinem Grund befanden sich die meisten noch erhaltenen Architekturdenkmäler im Westen des Landes. Die Serie (etwa 500 Fotografien) ist das Ergebnis zahlreicher Reisen in diese Regionen und ich beschloss, sie in einem Kunstband zu vereinen. Nach Sichtung und Analyse des aufgenommenen Materials trat jener spezifische Ton hervor, der dem Projekt seinen Namen gab.

    Aus welcher Zeit stammen die Ruinen, die Sie fotografieren, und warum sind sie in so schlechtem Zustand?

    Aus der Zeit zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert, als das Großfürstentum Litauen und dann später die Rzeczpospolita  seine Bedeutung verlor und unsere Gebiete an das Russische Reich fielen. Am besten erhalten ist die Architektur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der Klassizismus, der Jugendstil, die Neugotik … Aber was die Geschichte bis dahin verschont hatte, fiel entweder dem letzten Krieg oder dem Sowjetregime zum Opfer. Die meisten sakralen Bauten und Gutshöfe wurden in Kolchosen verwandelt und solange sie standen, auch genutzt. Doch mit der Zeit wurde alles baufällig, die Gebäude hätten restauriert werden müssen, aber sie wurden, als sie ausgedient hatten, einfach verschlossen und ihrem Schicksal überlassen. In den 1990er Jahren gingen einige Gebäude an die Kirchengemeinden zurück, aber die alten Höfe blieben verwaist.

    Welche Fotografie aus dieser Serie gefällt Ihnen selbst am Besten und warum?

    Da gibt es selbstverständlich nicht die Eine. Aber es gibt eine Fotografie, die ich als Titelbild des Bandes Landschaft der Trauer verwenden wollte. Sie zeigt eine alte Lärche auf dem Friedhof von Ljachawitschy im Bezirk Brest. Ich finde, dass diese Fotografie aus dem Jahr 2013 sehr gut den Reichtum der Vergangenheit und die traurige Gegenwart des historischen Andenkens in Belarus widerspiegelt.

    Gibt es irgendwelche lokalen Initiativen, Projekte oder Hilfen, um Gebäude zu retten, die sich in einem besonders schlechten Zustand befinden?

    Die gibt es. Es gibt Versuche, leerstehende baufällige Gebäude bei Auktionen zu verkaufen. Manchmal, eher selten finden sich tatsächlich Käufer. Aber ich erinnere mich an keinen Fall, in dem das gekaufte historische Gebäude fachmännisch restauriert und entsprechend wieder genutzt wurde. Die für Belarus einzigartigen Schlösser in Shamyslaul und Shaludok haben schon mehrfach den Besitzer gewechselt. Ich war im September dieses Jahres dort und konnte nicht sehen, dass sich an ihrem traurigen Schicksal etwas geändert hätte. In der Regel treten die neuen Besitzer nach drei bis vier Jahren von ihrem Kauf zurück. Sie sind sich dann stärker bewusst, in was für einer Lage sich diese Schlösser befinden: Weit weg von den Hauptverkehrsstraßen – da gibt es keine Infrastruktur. Keine Hotels, keine Cafés, kein Freizeitangebot. Keine brauchbaren Straßen. Sie sehen sich mit zahlreichen Bau- und Sanierungsproblemen konfrontiert und begreifen, dass sie das investierte Geld nie wieder reinholen werden.

    Wie arbeiten Sie normalerweise, wie kann man sich das vorstellen: Suchen und finden Sie Ihre Motive mehr oder weniger zufällig, wenn Sie unterwegs sind? Oder wissen Sie im Voraus, wohin Sie fahren wollen und welches Motiv Sie genau interessiert?

    Da gibt es kein System. Selbst wenn ich an einen mir unbekannten Ort fahre, komme ich unterwegs unweigerlich an Orten vorbei, an denen ich schon mehrmals war. Belarus ist nicht groß. Das macht es leichter, Veränderungen wahrzunehmen und zu dokumentieren, sowohl die positiven als auch die negativen, wenn zum Beispiel etwas instandgesetzt wurde oder ein Haus, das eben noch da war, inzwischen eingestürzt ist. Aber besonders interessant ist, dass ich an mir bekannten Orten jedes Mal Motive entdecke, die ich zuvor noch nicht gesehen habe.

    Wehrschloss von Mir, zunächst in gotischem Stil erbaut, später erweitert und umgebaut, Renaissance- und Barockeinflüsse. Genießt heute Welterbestatus der Unesco, fotografiert im Jahr 2011 / Foto © Valery Vedrenko
    Ruinen der Burg von Nawahrudak, wo der litauische Großfürst Mindaugas seinen Sitz hatte, erbaut im 13. Jahrhundert, fotografiert im Jahr 2012 / Foto © Valery Vedrenko
    Ursprünglich rein gotische, später umgebaute Christi-Verklärungskirche in Nawahrudak aus dem 14. Jahrhundert. Grundstein von Großfürst Witold gelegt, fotografiert im Jahr 2012 / Foto © Valery Vedrenko
    Klassizistische Kirche aus dem 19. Jahrhundert im Dorf Wischnewo im Norden von Belarus, fotografiert im Jahr 2015 / Foto © Valery Vedrenko
    Kirche und Kirchturm aus dem 19. Jahrhundert, in einem Dorf nordwestlich von Minsk, fotografiert im Jahr 2013  / Foto © Valery Vedrenko
    Katholischer Golgatha-Friedhof in Minsk, auf dem auch belarussisch-polnisch-litauische Adelsgeschlechter bestattet sind. Im Hintergrund: Kirche der Kreuzerhöhung, im 19. Jahrhundert als Steinkirche (wieder-)errichtet, fotografiert im Jahr 2016  / Foto © Valery Vedrenko
    Kapelle auf einem Friedhof, erbaut im 19. Jahrhundert, Stadt Waloshyn, fotografiert im Jahr 2015  / Foto © Valery Vedrenko
    Kirche auf einem Friedhof im Städtchen Iwjanez. Ein Wagen zum Transport der Särge steht vor dem Eingang, fotografiert im Jahr 2017 / Foto © Valery Vedrenko
    Kapelle im Wald nahe dem Dorf Hruschauka, Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut. Sie gilt als Grab-Gewölbe der polnischen Adelsfamilie Reitan, fotografiert im Jahr 2010 / Foto © Valery Vedrenko
    Alte Dorfstraße, Warontscha, fotografiert im Jahr 2010 / Foto © Valery Vedrenko
    Njaswish, frühere Residenz des polnisch-litauischen Adelsgeschlechts Radziwiłł aus dem 15./16. Jahrhundert. Seit 2005 mit Welterbestatus der Unesco, fotografiert im Jahr 2011 / Foto © Valery Vedrenko
    Grabstein auf einem Friedhof im Dorf Lasduny, fotografiert im Jahr 2015  / Foto © Valery Vedrenko
    Siedlung Sembin: Ruinen einer Kirche, die im 19. Jahrhundert erbaut wurde, allerdings einen Vorgänger an selber Stelle aus dem 18. Jahrhundert hatte, fotografiert im Jahr 2017 / Foto © Valery Vedrenko
    Eine verfallene Kapelle im Schatten einer alten Lärche auf einem Friedhof in Ljachawitschy, fotografiert im Jahr 2016 / Foto © Valery Vedrenko
    Katholische Kirche in Rubjashewіtschy, eine ländliche Siedlung südwestlich von Minsk. Erbaut im neogotischen Stil Anfang des 20. Jahrhunderts, fotografiert im Jahr 2016 / Foto © Valery Vedrenko
    Kirche, neogotischer Stil, erbaut zu Beginn des 20. Jahrhunderts, fotografiert im Jahr 2013 / Foto © Valery Vedrenko
    Schloss in Shaludok, das der polnische Architekt Władysław Marconi für die fürstliche Familie Czetwertyński entworfen hatte, erbaut 1908, Neobarock, fotografiert im Jahr 2017  / Foto © Valery Vedrenko
    Kreuzung im Dorf Galschany im Nordwesten von Belarus nahe der litauischen Grenze, fotografiert im Jahr 2014 / Foto © Valery Vedrenko

    Fotograf: Valery Vedrenko
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: dekoder-Redaktion
    Übersetzung: Henriette Reisner
    Veröffentlicht am: 30.09.2021

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  • DIE FREMDEN

    DIE FREMDEN

    Tief hinab steigt die Lyrikerin Tanya Skarynkina, 1969 in der west-belarussischen Kleinstadt Smarhon geboren, – in ihre Erinnerungen und Träume, in die multikulturellen sprachlichen Bande der belarussischen Provinz, in die historische Verwerfungen und Brüche des belarussischen Kulturraums und in die schillernden Welten der Literatur und des Films. So macht sich Skarynkina, die zu den bedeutendsten Dichterinnen und Essayistinnen ihres Landes gehört, in ihrem literarisch-poetischen Text vor dem Hintergrund der Ereignisse seit dem Sommer 2020 auf die Suche nach einer Zukunft für Belarus. Ein Land, das auch in der Vergangenheit immer wieder die eigenen Menschen verloren hat, weil sie vor neuen Machthabern in andere Länder fliehen und als Fremde andernorts ein neues Leben beginnen mussten. 

    Belarussisches Original
    Russische Version auf Colta.ru
     

    „Knoten der Hoffnung” © Tosla
    „Knoten der Hoffnung” © Tosla

    Augustregen hat ohne Vorwarnung die Julihitze abgelöst. Ich gehe absichtlich ohne Regenschirm hinaus. Nach der Höllenhitze ist die Nässe angehm. Für alle Fälle nehme ich den Staubmantel mit, zu dem man hier früher koshówez sagte. An der Betonung auf der vorletzten Silbe merkt man, dass es ein polnisches Wort ist, und das verwundert auch nicht, denn früher war auf unserem Gebiet Polen. „Polschtsch“ sagt die ältere Generation. Warum es koshowez heißt, weiß ich nicht, denn er ist aus wasserundurchlässiger Plane genäht. Sicher nicht aus kosha, Leder. Vielleicht ist es ein ganz leichter Mantel (koshuch)? Im polnischen Wörterbuch konnte ich kożowiec nicht finden, auch im belarussischen suchte ich erfolglos. Also wohl ein dialektaler Schatz aus der Vergangenheit.

    Der Heilige Augustinus, einer der ersten Autoren des frühen Christentums, schreibt in seinen Confessiones, dass nur die Vergangenheit existiert, die Zukunft gibt es nicht. Die Gegenwart im Übrigen auch nicht. Es gibt nur die Gegenwart des Vergangenen und die Zukunft des Vergangenen. Darauf baut Augustinus sein gesamtes Verständnis der menschlichen Kultur. Ich laufe ohne Schirm durch den warmen Regen und denke darüber nach. Es fällt mir schwer zuzustimmen. Doch für gewöhnlich vertraue ich dem Heiligen Augustinus.

    Ich erreiche den Teich im Stadtzentrum. Obenauf Seerosen. Die Oberfläche des Blattes der Gelben Teichrose soll die Ebene der zukünftigen Geschichte sein, deswegen stelle ich mir beim Beobachten der Regentropfen vor, wie sie als Details, die täglich in den Text einfließen und ihn schwerer machen, das Blatt der Teichrose niederdrücken. Teichrosen wachsen auch im Weiher von Perawosy, dem Dorf, in dem meine Mutter geboren wurde. Alle meine Verwandten mütterlicherseits bis in die vierte Generation, vielleicht auch weiter zurück, lebten dort. Sie nannten den Weiher kutok – Winkel – und Teichrosen bulauka – Stecknadeln.

    Warum ich so viel über meine Vorfahren weiß? Ich hatte das Glück, mit der Archivarin Lena aus Minsk befreundet zu sein. Lena fand zum Beispiel Transportlisten der Flüchtlinge aus Perawosy aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Sie schickte mir die Kopie eines Dokuments von 1914, auf dem Großvater Iosifs Familie registriert ist – der Vater meiner Mutter mit seinen Eltern (Adelaida, Apalinary) und Schwestern (Genueva, Maryja), die vor dem Krieg nach Maladsetschna flohen. Ergebnis dieser Flucht war, dass Maryja, die von allen Marynja genannt wurde, den Chef der Eisenbahn von Maladsetschna kennenlernte, einen Józef Tyszko. Sie heirateten und seitdem haben wir polnische Verwandtschaft.

    Ich stelle mir die Kriegswirren vor, alle fliehen, die Züge sind vollgestopft bis unter’s Dach, keinerlei Komfort, und dann mittendrin diese Liebe, jedenfalls dachte ich das immer, aber sie sagten mir, Tanja, welche Liebe, nichts dergleichen, keinerlei Komfort, Wirrnis, Krieg, die Menschen flüchteten, egal wie, vor Explosionen, vor Deutschen mit Stahlhelmen. Es hat sich so ergeben, aus Ausweglosigkeit hat sie ihn genommen, weil sie wie Bettler lebten, und dann der Krieg, und er brachte sie nach Polschtsch. Eigentlich brauchte keiner den anderen.

    Als der Schriftsteller Dmitri Bykow den Schauspieler Konstantin Raikin fragte, worum es in Kafkas Verwandlung gehe, wunderte ich mich. Kennt ein bekannter Literat und Fernsehmoderator – denn gestellt wurde die Frage in der Sendung SSL (Shalkaja samena literatury, dt. Lausiger Literaturersatz) – wirklich die Antwort auf diese Frage nicht? Er beteuerte aufrichtig, es nicht zu wissen, also gab Raikin eine Antwort, die das Blut in den Adern gefrieren lässt: „Das Schlimmste ist, wenn man nicht gebraucht wird, aber existiert.“

    Zu diesem Thema habe ich ständig postapokalyptische Träume. Dass uns Außerirdische erobern, die sich in Menschen verwandeln. Die echten Menschen mit ihren Schwächen und romantischen Gefühlen werden sie in der Zukunft nicht mehr brauchen. Mal ehrlich, was sollen die realen Menschen in einer nicht-existenten postapokalyptischen Zukunft?

    Traum Nr. 1
    Wir fahren in einem offenen Auto durch die Berge. Serpentinen hinauf. Vielleicht in ein Sanatorium. Leichter Wind umweht unbeschwerte Gesichter. Noch eine Kurve, und da ist das Meer. Plötzlich, wie immer im Traum, alles passiert plötzlich, herrscht Chaos auf der Straße. Die Autos verhalten sich wie eine Herde wildgewordener Kühe. Jemand sagt, die Verkehrsregeln sind aufgehoben. Ein Lastwagen fährt vorbei, darin sitzen Soldaten in Reihen. Etwas mit ihren Gesichtern stimmt nicht. Die Gesichter glänzen in der Sonne als wären sie aus Plastik. Aus grauem Kunststoff. Auf jedem Gesicht liegt ein gleichbleibender Ausdruck von Selbstzufriedenheit. Angewidert und fassungslos wende ich mich ab, mir wird klar: Jetzt ist alles aus. Wir kehren in die Stadt zurück. Das Meer ist vergessen. Unsere fröhliche Gesellschaft zerfällt mit einem Mal. Ich gehe allein durch die Stadt. Ich beobachte, wie „diese“ – so nenne ich die außerirdischen Besatzer im Stillen – unsere Mädchen mustern und sich widerlich grinsend über die Objekte ihrer Begierde austauschen. Wenn sie das Verlangen nach Kopulation verspüren, bewegen sie sich mit riesigen Sätzen, wie Heuschrecken, zu einem kleinen Häuschen am Stadtrand. Vielleicht sitzt dort ihr Stab und sie konsultieren die Machthaber bezüglich dieser unbekannten körperlichen Impulse. Denn unter „diesen“ gibt es keine sogenannten Frauen. Ihre Arbeiter breiten behände unverhältnismäßig große Rollen mit künstlichem Dreck über die Gehwege und Rasenflächen. Kino wurde verboten. Auf Bildschirmen, die in unglaublicher Zahl in der ganzen Stadt installiert wurden, laufen Trickfilme, die jemand mit der Vorstellungskraft eines Wurms und ebensolchen künstlerischen Fähigkeiten gezeichnet hat. Ohne Musik und Sprache. Die Figürchen krümmen sich in seltsamen Rhythmen über die Bildschirme, ihre Augen sind leer, mit schwarzer Farbe ausgemalt. Ich stehe und schaue und muss mich beinahe übergeben. Einer von „diesen“ sagt hinter mir:
    „Schön.“
    Ich muss brechen.
    Da beschließt unsere kleine Gesellschaft, ein halbes Dutzend Invasionsgegner, die nicht einverstanden sind, zu fliehen. In die Wüste. Wie Beduinen gekleidet. Fliehen wir nach Afrika.
    Albert Camus’ Roman Der Fremde, dessen Titel ich ohne Erlaubnis leicht abgewandelt übernommen habe, spielt in Nordafrika, im kolonialen Algerien, wo der Autor auch geboren wurde. Plötzlich fällt mir auf, dass auch der Heilige Augustinus aus Algerien stammte. Das hat für mich Bedeutung. Ich sammle Koinzidenzen. Camus’ Protagonist Meursault sammelt seltsame Zufälle, schneidet sie aus Zeitungen aus und klebt sie in ein Heft. Manchmal liest er sie wieder, so wie ich nun zum vierten Male Der Fremde. Als er bereits im Gefängnis sitzt, nachdem er aus Versehen am Strand einen Araber getötet hat, und weiß, dass ihn die Guillotine erwartet, spielt ihm die böse Ironie des Schicksals noch einen ungewöhnlichen Fall aus der Presse in die Hände: Ein Mann war sich nach Amerika gegangen, dort zu Reichtum gekommen und dann heimgekehrt. Das interessiert Meursault:

    „Zwischen meinem Strohsack und dem Bettrost hatte ich nämlich ein fast an den Stoff geklebtes, vergilbtes, durchsichtiges altes Stück Zeitung gefunden. Es berichtete von einem Vorfall, dessen Anfang fehlte, der sich aber in der Tschechoslowakei ereignet haben musste. Ein Mann war aus einem tschechischen Dorf aufgebrochen, um sein Glück zu machen. Nach fünfundzwanzig Jahren war er reich und mit Frau und Kind zurückgekehrt. Seine Mutter unterhielt mit seiner Schwester in seinem Geburtsort ein Hotel. Um sie zu überraschen, hatte er seine Frau und sein Kind in einem anderen Gasthof gelassen, war zu seiner Mutter gegangen, die ihn nicht erkannt hatte, als er hereinkam. Er war auf die Idee gekommen, zum Spaß ein Zimmer zu nehmen. Er hatte sein Geld gezeigt. Nachts hatten seine Mutter und seine Schwester ihn mit einem Hammer totgeschlagen, um ihn auszurauben, und hatten seine Leiche in den Fluss geworfen. Am Morgen war die Frau gekommen, hatte, ohne es zu wissen, die Identität des Reisenden enthüllt. Die Mutter hatte sich erhängt. Die Schwester hatte sich in einen Brunnen gestürzt. Ich habe diese Geschichte wohl Tausende Male gelesen. Einerseits war sie unwahrscheinlich. Andererseits war sie normal. Jedenfalls fand ich, dass der Reisende es ein bisschen verdient hatte und dass man nie spielen soll.“

    „Unglaublich“, denkt Camus’ Held laut über diesen Fall.1 Im Theaterstück, nicht im Buch. Zuerst sah ich die Verfilmung von Luchino Visconti. Doch das reichte mir nicht. Ich suchte nach weiteren Inszenierungen über diesen Menschen, der von der Gesellschaft ausgestoßen worden war. Ich fand das Stück im Moskauer Theater Sowremennik, erst kürzlich, 50 Jahre nach Viscontis Film mit Marchello Mastroianni in der Hauptrolle. Eine junge, noch unbekannte Regisseurin hatte das Stück inszeniert und war dabei mutig genug gewesen, den Originaltext des Buches abzuwandeln. Im Buch bewertet der Held die Zeitungsnotiz über den Tschechen nicht. Er sagt nicht: „Unglaublich.“

    Ebenso unglaublich ist, dass der Tscheche aus der Gefängnis-Notiz nach Hause zurückkehrte, denn die Jantschukowitschs aus dem Dorf Perawosy zum Beispiel sind nicht zurückgekehrt. Jantschukowitsch war der Familienname meiner Mutter. Im Dorf am Flüsschen Wilija lebten nur Jantschukowitschs. Alle waren miteinander verwandt, manche näher, manche ferner. Ab Beginn des 20. Jahrhunderts wanderten sie nach Amerika aus. Meine Archivfreundin Lena schickte mir die Dokumente der Perawoser Jantschukowitschs zur Ausreise und zur Registrierung in Amerika. Meine eigenen Verwandten fand ich nicht darunter. Keine mir bekannten jedenfalls. Außer Dshan natürlich, auch ein Jantschukowitsch, über den ich seit meiner Kindheit Geschichten höre. Und der als einziger zurückgekehrt ist.

    Mama erzählt:
    „Nachbar Dshan hatte einen Hampelmann. Wenn wir am Faden zogen, machte der Faxen. Immer wenn wir zu Dshan kamen, wollte jeder der erste beim Hampelmann sein. Er war aus Sperrholz, hing an der Wand und war bunt angemalt. Dshan hatte ihn aus Amerika mitgebracht und aufgehängt.“

    Dshan hieß ursprünglich Iwan. In Amerika hieß er dann John. Aber John, so meine Vermutung, fügte sich wegen des „o“ nicht in die Sprache ein, denn das Belarussische liebt das „a“. Ich studiere die Kopie der Registrierungskarte von Dshan-Iwan genauer und erfahre, dass er von 1917 bis 1933 in der Textilfabrik von Worcester, Massachusetts gearbeitet hat. In seinem Haus hing eine riesige Fotografie, die in der Fabrikhalle aufgenommen worden war.

    Mama:
    „Da waren vielleicht 200 Menschen auf der Fotografie. Immer, wenn wir mit Mama und Papa dort zu Besuch waren, schaute ich sie an und versuchte, Dshan zu finden.“

    Ich weiß, wie Dshan ausgesehen hat. Wir haben ein Foto vom größten Hochwasser, das Perawosy erlebt hat. Darauf sind Mama und ihre Freundin Soja Warsozka zu sehen, wie sie mit dem Boot in die Stadt zur Arbeit fahren. Wie Statuen stehen sie in dem kleinen Boot, adrett mit ihren Handtäschchen. Torebka sagte man damals in polnischer Art zu einer Damenhandtasche. Und feine Schühchen tragen sie. Die Schuhe machte damals der berühmte Damenschuhmacher Baran von der Perschamajski-Straße. Mama und Soja sitzen ganz still. Am Ruder ein schmaler Mann mit dunkler Mütze. Das ist Dshan.

    Traum Nr. 2
    Es ging weiter und weiter und schließlich kamen wir nach Afrika. Mit dem Floß schlugen wir uns zum Anwesen durch, einem riesigen leerstehenden Haus mit Flachdach in arabischem Stil. Fast alle Fenster sind eingeschlagen. Ich erahne, dass hier ein Krieg stattgefunden hat, scheinbar ein Atomkrieg, der keine Menschen übriggelassen hat. Es wird Abend, der breite Fluss, an dessen Ufern das Haus steht, (genau wie in Perawosy), glänzt im Licht der tiefstehenden Sonne. Vogelschwärme. Krach, Geschrei. Als es dunkel ist, entfache ich ein kleines Feuer auf dem Flachdach eines der Wirtschaftsgebäude und röste Kartoffeln. Pelle sie und esse. In diesem Traum ist alles so langsam. Und überdeutlich.. Die Kartoffel zerfällt in meinen Händen. Kühlt ab. Ich esse. Ich spüre nichts von der Veränderung, die stattfindet,. Dass ich nichts außer Kartoffeln zu essen habe. Ich bin eine Verstoßene und muss mich den neuen Lebensbedingungen anpassen. Den Bedingungen ewiger Einsamkeit. Deshalb denke ich mir aus (und das ist einfach, wenn man träumt), dass das Haus dem meines Großvaters in Perawosy gleicht, in dem ich nie gewesen bin. Auch die Sonne ist dieselbe, nur heißer. Und der glitzernde Fluss ist wie unsere Wilija, das trockene Gras am Ufer und die vielen kleinen Punkte der Vögel im Glanz des Flusses sind fast wie unsere belarussischen in Smarhon. Nur zum Reden ist niemand da, aber daran kann man sich gewöhnen.

    Die Bewohner von Perawosy, dem Dorf an der Wilija, wo Ururgroßvater Ignacy, Urgroßvater Apalinary, Großvater Iosif und meine Mutter geboren wurden, verließen ihr schönes Dorf am Fluss, so denke ich, mit großer Bitterkeit und Angst, als sie in die amerikanische Ferne zogen, wo es schwierig war, mit Einheimischen zu reden. Und sie ja erstmal dieses Englisch lernen mussten. Der Familienname klang dort ungewohnt, wie ein wildes Wort. Also wurden sie zu Jankowskis, Janchuks und Janssons. Wie haben sie wohl beschlossen, in diese Ferne zu ziehen, die Jankowskis, Janowskis, Janchuks und Janssons? Mit welchem Geld, für welches Schiff kauften sie Fahrkarten? Der Gedanke macht mich unruhig. Warum hielt und hütete die Heimat sie nicht, warum zwang sie sie ans Ende der Welt für ein Stück Brot? Sie vertrieb sie wie Fremde, wie Dreck, wie Stroh. Dabei gehörten sie doch zu ihr. Es bringt mich um den Schlaf. Ich schalte einen amerikanischen Film ein, Edge of Tomorrow mit Tom Cruise, schaue, bis mir die Augen zufallen. Ich schalte ab, als die Protagonistin Cruise gerade befiehlt:
    „Du musst uns von diesem Strand wegbringen.“

    Am Strand werden „unsere amerikanischen Landsleute“ von den außerirdischen Mimics angegriffen. Agile Giganten, halb Spinne, halb Krabbe, halb Oktopus, halb Affe, halb was weiß ich. Vielleicht Tyrannosaurier. Ich schlafe spät ein. Um drei Uhr nachts klingelt das Telefon. Nummer unbekannt, aber man weiß ja nie. Ich gehe ran – Krach, Geschrei, Rufe. Ich höre, ohne zu begreifen:
    „Hol uns raus!“
    „Was?“
    „Hol uns hier raus!“
    Ich lege auf und stelle auf lautlos. Ich bin nicht Tom Cruise. Keine Retterin. Am Morgen sehe ich acht unbeantwortete Anrufe auf dem Display. Von verschiedenen nichtgespeicherten Nummern. Hätte ich sie doch retten sollen? Haben sie sich selbst vor den angreifenden Mimics gerettet? Die Hilferufe gehen mir nicht aus dem Kopf. Die unbekannte Stimme hallt in meinen Ohren nach.

    Traum Nr. 3
    Die nächste Postapokalypse beginnt mit einem lauten Geräusch aus dem Himmel. „Mu“, der zen-buddhistische Laut, alt wie die Welt. Aus dem Japanischen übersetzt bedeutet er „nichts“. Als sich im Traum aber am Himmel über dem Hauptplatz von Smarhon ein präzises Riesenloch bildete, war da der Kopf einer Kuh, die der ganzen Stadt „Mu“ zurief. Und es geht los. Der Kopf verschwindet. Durch das Loch, das in Sekundenschnelle größer wird, sinkt eine gewaltige fliegende Untertasse herab und schwebt über dem Hauptplatz. Heraus hagelt es gegnerische Soldaten in metallenen Raumanzügen. Die Gesichter verdeckt, die Absichten maximal feindlich. Die ganze Stadt zieht sich in den unterirdischen Gang zurück, der, wie sich herausstellt, schon immer unter dem Lenin-Denkmal ist, was aber keiner weiß. Ich, Heldin meiner eigenen Träume, achte darauf, dass niemand dem Massaker der erbarmungslosen Außerirdischen zum Opfer fällt. Erst als der letzte Bürger in den dunklen Schacht gestiegen und sein Rucksack außerhalb meiner Sichtweite ist, gehe auch ich. Über meinem Kopf ziehe ich den gusseisernen Deckel mit der Aufschrift „Smarhon“ zu. Die Aufschrift des Lukendeckels ist keine Erfindung der Autorin des Traums. In der Stadt gibt es tatsächlich eine Gießerei, die bis heute Kanaldeckel produziert. Wie schwarze Pfannkuchen lagen sie einst in der ganzen Sowjetunion verteilt. Ob es heute noch so ist, weiß ich nicht. Aber in unserer Stadt gibt es ein ganzes Meer davon.

    Mama:
    „So was gab es bei uns nicht, sagte Dshan immer. Hochhäuser, schwarze Menschen. Ihm graute vor alldem. Als er wieder hier war, hat er sich einmal in Smarhon betrunken und ist in eine Pfütze gefallen. Da erschienen ihm plötzlich Wolkenkratzer aus der Pfütze und er sprach mit sich selbst auf Englisch.“

    Die Nachfahren der Jantschukowitschs aus Massachusetts sehen schon aus wie Amerikaner. Man schickte mir Archivbilder der amerikanischen Perawoser. Ein junger hübscher Soldat mit weißer Schirmmütze und blauer Uniformjacke, der Enkel von Pjotr Jantschukowitsch aus Perawosy, ist ein Ebenbild von Tom Cruise. Dieselben grünen Augen, dichte Augenbrauen, kleiner klar umrissener Mund, große Nase. John Jansson. Hier würde er Iwan heißen. Selbst das Muttermal auf der linken Wange, genau in der Mitte, wie bei Cruise. Hätten die , die da „rausgeholt“ werden wollten, doch lieber Cruise angerufen und nicht mich. Im Film hat er immerhin die Welt von der monströsen Besatzung befreit, indem er sich in fantastischer Weise ins Gehirn des Wesens versetzte, das die Mimics steuerte. Ich dagegen konnte nicht mal im Traum meinem Vater helfen.

    Traum Nr. 4
    Das Zimmer, in dem Papa und ich wohnen, ist lang und schmal wie ein Korridor. An der Stirnseite gibt es ein großes Erkerfenster. Zum dritten Mal schon lebe ich im Traum hier, in einer Kommunalka. In der Nacht wache ich auf und begreife plötzlich, dass sie gleich hier sein werden, um uns zu holen. Die Nachbarin im Nachthemd hat schon zweimal mit besorgtem Gesicht hereingeschaut. Auch ohne dies ist klar, dass wir verloren sind. Die Angst wächst. Ich gehe zur Nachbarin in die Gemeinschaftsküche. Dort ist es wie im Mittelalter. Kupfergeschirr, ein rußgeschwärzter Kessel hängt über dem Feuer am Haken. Auf dem Holzboden liegen Kohlköpfe, Rüben und Zwiebeln herum. Und da kommen sie. Glatzköpfige Brüder in schweigender Reihe, alle in Schwarz. Über das Gemüse stolpern sie direkt zu Papa. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so furchtbar wäre. Ich weiß, dass sie ihn dort drin schlagen, aber es ist nichts zu hören. Dann führen sie ihn an uns vorbei aus der Wohnung. Ich halte die Augen geschlossen, um zu sehen, wie sie Papa zusammengeschlagen haben. Mit Beinen wie Watte gehe ich in unser Zimmer zurück. Nirgends ein Fleck Blut. Wahrscheinlich haben sie extra so geschlagen, dass man nichts sieht. Von Papa ist der Bambusstock geblieben. Mich schmerzt der Gedanke, wie Papa ohne ihn laufen wird. Dabei hat Papa im realen Leben den Stock gar nicht benutzt. Dann begreife ich, dass er jetzt keinen Stock mehr braucht, weil er nirgendwohin mehr gehen wird. Sie haben ihn weggebracht, um ihn zu töten. Auf dem Klavier liegt noch ein Spielzeug. Irgendwas Struppiges. Ich schaue genauer hin: es ist ein kleiner Löwe. Mein Vater hat mir sich selbst als Plüschtier hinterlassen, Löwe ist sein Sternbild. Ich verstehe nicht, warum sie mich nicht auch mitgenommen haben. Ich bin ihm doch so ähnlich. Wahrscheinlich lautet der Befehl, Mädchen nicht mitzunehmen. Vorläufig.  

    Aus den Dokumenten, die ich bekommen habe, geht hervor, dass nur eine einzige junge Frau aus Perawosy die Reise nach Amerika angetreten hat. Ältere Frauen gab es auch, sie fuhren mit ihren Männern. Aber diese 18-jährige Anna fuhr allein. „Marital status: Ledig (Single) Departure.“ So steht es auf dem Formular. Sie verließ das Dorf 1912. Auf der Pennsylvania fuhr sie von Hamburg nach New York. Ziel war natürlich Massachusetts. Wie bei allen. Zum Glück reiste sie über Deutschland und nicht über Großbritannien, wo 1912 die Titanic ihre erste und letzte Fahrt nach New York antrat. Ich habe mir den gleichnamigen Film von James Cameron extra noch einmal angeschaut, um zu verstehen, unter welchen Bedingungen die einfachen Leute auf den billigsten Plätzen über den blauen Ozean ihrem himmelblauen Ziel entgegenfuhren. Es waren nicht die besten. Ich stelle mir vor, dass gut und gerne Leute aus Perawosy auf der Titanic gewesen sein könnten. Und hoffe, dass sie zu den Geretteten gehörten. Man müsste die Passagierliste der Titanic auftreiben. Plötzlich sind mir diese Menschen nicht mehr egal.
    Ich frage meine Mutter: „Wie ist Dshan gestorben?“

    Mama:
    „Schlimm. Im Kolchos war ihm ein Auto gegen den Kopf gefahren. Die Dshanicha, also Julia, seine Frau, kümmerte sich nur leidlich um ihn. Gab ihm nichts zu trinken, damit er nicht auf den Topf musste, selbst gehen konnte er nicht mehr. Meine Eltern gingen mal zu Besuch und er bat um Wasser. Vater brachte welches, da flog die Dshanicha herbei und schimpfte ihn aus. Da hat sie von Vater aber was zu hören bekommen – und Dshan sein Wasser. Er war so klug, wohlerzogen und galant. Und wie er Maria mochte, meine mittlere Schwester, weil sie gerne mit ihm sprach. Über Englisch fragte sie ihn aus, aber er wusste nur noch wenig.“

    Wie wohl Dshans Leben verlaufen wäre, wenn er nicht zurückgekehrt wäre und das Englische nicht vergessen hätte? Wie wäre es John Jansson ergangen, wäre er hier geboren? In Amerika wurde John, trotz – oder vielleicht wegen – seiner heldenhaften Erscheinung, nur 30 Jahre alt. Dem Todesjahr und der Kriegsuniform auf dem Foto zufolge könnte er im Bürgerkrieg in El Salvador gestorben sein. Der wohl furchtbarste Film über diesen Krieg ist Salvador von Oliver Stone. In der 10. Klasse habe ich ihn mit einer Freundin im Kino angeschaut. Wir sind beide wegen der grausamen Terrorszenen völlig ausgeflippt: die Willkür der Todesschwadronen, die die schutzlose, unbewaffnete Bevölkerung traktieren, wie es ihnen die wahnsinnige Phantasie ungebildeter Menschen mit unbegrenzter Macht souffliert. Man konnte schon getötet werden, wenn man bei der Ausweiskontrolle seinen Pass nicht dabeihatte. Seitdem trage ich meinen Pass immer bei mir. Und habe sogar ein Gedicht darüber geschrieben:

    Ich habe immer meinen Pass dabei
    wer weiß

    wer weiß ob jemand kommt
    und streng befiehlt:

    „Dokumente her!
    Was zeige ich dann?

    Nach diesem Film fing ich an, methodisch von Flucht zu träumen, von Festnahmen, Gefängniszellen, sogar einer Erschießung. Sie erschossen mich, aber ich starb nicht. An meinem Körper zeichneten sich nur ein paar Löcher ab, eingebrannt, wie beim Terminator, der auch ein Weltretter ist, wie Tom Cruise in Edge of Tomorrow, wie ich in meinem Traum vom Laut „Mu“. Die perfekte Clique.

    Traum Nr. 5
    Ich habe die Schlüssel zu den Hintertüren einiger Läden in der Stadt. Mit einer Freundin gehe ich nachts durch die leeren, hallenden Räume. Niemand da, wir mögen die Stille. Plötzlich eine Razzia. Die Polizei stürmt das Gebäude und direkt im Lager, zwischen Kisten, Fässern und Säcken, wird uns der Prozess gemacht. Gleich hier im Laden sollen wir in die Zelle gesteckt werden. Im Keller, hinter ein Holzgitter. Offenbar gibt es Ladengefängnisse. Sie verkünden das Urteil – 10 Jahre. Zusammen mit uns werden zwei Männer verurteilt. Sie protestieren, beginnen einen Kampf, dabei geht die Tür der größten Zelle zu Bruch. 
    „Zum Teufel!“, schreit der Richter. Er wirft sich gegen die Tür, durch die schon die Häftlinge drängen. Schüsse fallen, mehrere Polizisten fallen tot um. Der Richter flüstert uns zu:
    „Seht ihr, jetzt achtet niemand auf euch.“
    Und wir rennen weg. Doch ich lebe weiterhin in Angst. Um sie zu vertreiben, küsse ich im Hauseingang einen Fremden. In der Wohnung sind Gäste – da geht das schlecht. Uns wird klar, dass wir heiraten müssen. Er hat sich verliebt, ich habe ein pragmatisches Ziel. Es wird mich retten. Er ist rothaarig, unrasiert und fühlt sich heiß an. Krank scheint er nicht zu sein, es ist eher seine natürliche amerikanische Temperatur, er ist nämlich Amerikaner, spricht aber gut Russisch. Wir gehen in die Wohnung zurück, treten glücklich auf den Balkon, weil alles beschlossen ist. Wir schauen hinunter. Dort steht die Polizei.
    Das war’s, denke ich entsetzt, sie haben sich an unsere nächtlichen Streifzüge erinnert.
    Plötzlich tauchen aus der Dunkelheit weiße Figuren auf. Die roten Scheinwerfer lassen ihre schwarzen Augen wie Blutstropfen leuchten. Es sind Mumins. Es stellt sich heraus, in unserem Hof wird ein Film gedreht. Und die Polizei sichert das Set vor Passanten. Die Gefahr ist vorbei. Wir beschließen zu bleiben. Amerika kann warten.

    Mama:
    „Dshan hatte aus Amerika eine Geige mitgebracht. Immer wenn im Dorf ein Fest war, kam er und spielte, aber erst nach der Hausarbeit. Seine Frau half ihm nie. Alle naselang rief sie:
    „Dshan! Bring mir die Strohmatte! Ich fall in Ohnmacht!“
    Auf den Festen spielte Dshan mit seinen Söhnen, als sie herangewachsen waren. Ihr Ensemble nannten sie Dshandshyki. Wazik (Wazlau) spielte die Zimbel, Stach Klarinette und Ljonka-Streuner (weil er so zottelig war und sich nie kämmte) die Harmonika.“

    Die Mundharmonika spielt auch meine Lieblingsfigur aus den Mumin-Geschichten, der Schnupferich, der immer einen alten Staubmantel trägt. Geschrieben hat die Geschichten die bekannte finnlandschwedische Schriftstellerin Tove Jansson. Ich habe fast einen Luftsprung gemacht, als mir auffiel, dass ihr Familienname eine der Varianten unseres Familiennamens ist. Ich fühlte mich Tove sofort verbunden. Ohnehin war sie mir schon lange unendlich nah, durch diesen einen Satz der Muminmutter:

    „Die Muminmutter ist eine Mutter, die jedem immer alles erlaubt und niemandem je etwas verbietet.“ 

    Lasst doch zusammen mit den Märchenfiguren die Staatsoberhäupter so denken – die Staatsoberhäupter der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, die es nicht gibt. Die es nicht gibt, solange wir auf unserem eigenen Land Fremde sind. Verzeih, Augustinus, dass ich widerspreche.


    1. Übersetzung ins Deutsche: Uli Aumüller, Rowohlt Verlag

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    ЧУЖЫНЦЫ

  • Machtspieler

    Machtspieler

    Anfang September 2020 trafen sich Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko, der sich mit der größten Krise seiner Amtszeit konfrontiert sah, in Sotschi. Dort sagte der russische Präsident seinem angeschlagenen belarussischen Kollegen die Unterstützung des Kreml zu, was durch einen Milliardenkredit untermauert wurde. Mit der Rückendeckung durch die russische Führung, die in drei weiteren Treffen manifestiert wurde, gingen die belarussischen Machthaber seit dem mit aller Gewalt gegen die Protestbewegung vor, gegen unabhängige Medien, gegen Kulturschaffende oder gegen die Zivilgesellschaft, um jeglichen Widerstand im Land zu ersticken. Der Repressionsapparat folgt bis heute konsequent seiner Linie, erst vor zwei Wochen wurde der unabhängige belarussische Journalistenverband BAJ von den Behörden liquidiert. Und Anfang dieser Woche wurde Maria Kolesnikowa, eine der führenden Oppositionsfiguren, zu elf Jahren Haft verurteilt. Viele Belarussen haben das Land im Zuge der Erstarkung des Machtapparates verlassen.

    Am heutigen 9. September 2021 steht in Moskau das fünfte Treffen der beiden autokratischen Staatsführer seit dem Bündnisschluss am Schwarzen Meer vor einem Jahr an. Dort sollen Medienberichten zufolge unter anderem auch weitere Integrationspläne zwischen Belarus und Russland besprochen werden. Der Journalist Alexander Klaskowski analysiert in seinem Stück für das belarussische Medium Naviny.by, welche Strategien der Kreml in Bezug auf Lukaschenko, der kürzlich Geburtstag hatte, und Belarus verfolgen könnte.
     

    Vor einem Jahr musste Alexander Lukaschenko seinen Geburtstag in kugelsicherer Weste und mit Kalaschnikow in der Hand feiern. Die protestierenden Belarussen brachten beleidigende „Geschenke“ zum Präsidentenpalast (z. B. einen Spielzeughubschrauber mit der Aufschrift „Nach Den Haag“) und riefen wenig schmeichelhafte Wünsche. Und obwohl niemand den Palast zu stürmen gedachte, fühlte es sich für die Führungsriege doch recht ungemütlich an. Dass das Regime in jenen Augusttagen standhielt, verdankt es in großem Maße der Unterstützung des Kreml.

    Heute, ein Jahr später, fühlt sich der Führer des Regimes ungleich selbstbewusster. Und Wladimir Putin, der im August 2020 Vertreter der Streitkräfte für den Unterstützungsfall an der belarussischen Grenze zusammengezogen hatte, versicherte in seinem Geburtstagsgruß an Lukaschenko: „Die belarussischen Freunde können immer auf die Unterstützung Russlands zählen.“

    Doch wer sind denn Putins Freunde?

    Stellt sich die Frage, wer eigentlich zu Putins Freunden gehört. Sicher nicht Swetlana Tichanowskaja oder gar Viktor Babariko (wobei dieser politische Feind Lukaschenkos, der zu 14 Jahren Strafkolonie verurteilt wurde, eine Bank mit Gazprom-Kapital leitete).

    Noch im August letzten Jahres ließ Putin verlauten, dass keine in der Verfassung nicht vorgesehenen Organe gegründet werden dürften, vermutlich mit Blick auf den auf Tichanowskajas Initiative hin entstandenen Koordinierungsrat. Im Großen und Ganzen hat Moskau der belarussischen Opposition noch nie vertraut – weder der alten, noch der neuen.

    Grundsätzlich hat sich Putin damals klar hinter Lukaschenko gestellt und erklärt, dass es Einflussversuche von außen auf die Prozesse in Belarus gäbe (sprich: westliche Puppenspieler). Damit unterstützte er letztlich die Interpretation der Ereignisse, die die belarussischen Machthaber und ihre Propaganda vertraten.

    Putin und Lukaschenko hatten nicht nur einmal Meinungsverschiedenheiten (und sie werden sie wohl auch in Zukunft haben), doch in diesem kritischen Moment überwog die Klassensolidarität.
    Für den russischen Präsidenten war das Wichtigste, dass der autoritäre Amtsbruder im Nachbarland (das zudem noch als Aufmarschgebiet von Bedeutung gilt) nicht von der aufbegehrenden Straße gestürzt wird. Zumal dies ein schlechter Präzedenzfall wäre, dessen Beispiel die Russen anstecken könnten.

    Die Oberhäupter beider Regime fürchten das politische Erwachen des Volkes, wenn es in Massen den Wunsch zum Ausdruck bringt – um mit Janka Kupala zu sprechen – „sich Menschen zu nennen“.

    Gab es einen Putin-Patruschew-Plan?

    Man sollte nicht vergessen, dass zu Beginn der belarussischen innenpolitischen Krise Putin und andere Moskauer Politiker sofort die Bedeutung von Verfassungsreformen und dem gesellschaftlichen Dialog bekräftigten.

    Einige Kommentatoren sprachen damals von einem Putin-Patruschew-Plan (Nikolai Patruschew, Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, war angeblich nach Minsk geflogen, um Lukaschenko mit dem Plan vertraut zu machen.)

    Dieser Version zufolge bestand Moskau auf einem sanften Machttransit in Belarus im Anschluss an eine Verfassungsreform. Einfacher gesagt, Lukaschenko sollte abgelöst werden, indem er nicht bei vorgezogenen Neuwahlen antritt, sondern durch einen beliebteren Kandidaten ersetzt wird, der dem Kreml zusagt  und dem Westen nicht aufstößt. Zusätzlich sollte zu einer parlamentarisch-präsidentiellen Regierungsform übergegangen, politische Gefangene befreit und ein Dialog mit den Gegnern, inklusive Tichanowskaja, geführt werden.

    Wir wissen nicht, ob es diesen Plan tatsächlich gegeben hat. Doch wenn es ihn gab, so liegt er heute schon in Schutt und Asche. Lukaschenko wird keinen Dialog mit politischen Gegnern führen. Sie kommen hinter Gitter, werden in die Emigration gedrängt, als Terroristen und Faschisten dargestellt. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind unters Messer gekommen, unabhängige Medien werden mit Napalm weggeätzt. Der Führer des Regimes hat entschieden, die Situation mit Gewalt und Verbreitung totaler Angst zu zementieren.

    Die neue Verfassung wird voraussichtlich keine Voraussetzungen für eine Demokratisierung des Landes schaffen. Ganz im Gegenteil, sie sieht sogar ein Organ mit Sonderstatus vor, das als zusätzliche Absicherung der gegenwärtigen Machtriege vor unerwünschten Veränderungen dient: die Allbelarussische Volksversammlung.

    Auch eine Freilassung der politischen Gefangenen ist derzeit nicht in Sicht. Zwar wird ab und zu jemand aus der Haft entlassen. Doch erstens kann nicht von voller Freiheit gesprochen werden (der ehemalige Diplomat Igor Leschtschenja teilte mit, dass er weiterhin als Verdächtigter in einem Strafverfahren gilt und ist damit kein Einzelfall). Zweitens werden vornehmlich jene freigelassen, die Gnadengesuche geschrieben haben oder auferlegte Geldstrafen beglichen haben (wie im Fall des Press Club Belarus).

    Die Behörden spielen also mit den politischen Häftlingen Katz und Maus. Ein Schuldeingeständnis, dass die Menschen unschuldig gelitten haben, die Freilassung aller oder gar die Bestrafung ihrer Peiniger kommt für das Regime nicht in Frage.

    Absolut nichts äußert Lukaschenko über Termine für Neuwahlen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er darauf zählt, bis zum Ende der Amtszeit – also 2025 – auf seinem Thron zu bleiben.

    Lukaschenko tut, was Moskau dient

    Seit August 2020 kam unter Politologen die Mode auf, Lukaschenko als zu „toxisch“ für den Kreml zu bezeichnen. Sind denn Baschar al-Assad oder Nicolas Maduro nicht toxisch? Moskau unterstützt bereitwillig die fragwürdigsten Machthaber auf der ganzen Welt, besonders, wenn es dabei Washington eins auswischen kann.

    Ja, vermutlich hätte der Kreml im Idealfall nichts dagegen, Lukaschenko mit einer eigenen Kreatur zu ersetzen, einem weniger schwierigen und skandalösen Menschen.

    Doch das ist nicht so einfach, solange Lukaschenko kein Interesse hat abzutreten. Und im Moment hat er ein starkes Gegenargument: Die Proteste sind niedergeschlagen, die Gewalt wirkt, er ist wieder Herr der Lage. Kein Grund also, die Pferde scheu zu machen und das System zu zerschlagen.

    Schließlich spielt Moskau in die Hände, dass Lukaschenko selbst Belarus in noch größere Abhängigkeit von Russland treibt. Er setzt die Konfrontation mit dem Westen fort und nimmt sich so die Möglichkeit, zwischen den Machtzentren zu manövrieren, wie das vormals der Fall war. Minsk drohen neue Sanktionen, die den Bedarf der belarussischen Wirtschaft an russischer Unterstützung verschärfen. Die Zerstörung einer nationalbewussten Zivilgesellschaft und unabhängiger Medien erleichtert es dem Kreml zudem, seine Großmachtsbestrebungen in Richtung Belarus zu expandieren.

    In Moskau erkennt man vermutlich, dass es einen so antiwestlichen Führer mit solcher Leidenschaft für die Unterdrückung der nationalen Idee in Belarus so bald nicht mehr geben wird.

    Des Weiteren hat die belarussische Führung angestrebt, das Neutralitätsgebot aus der Verfassung zu streichen und mit dem Leitsatz der kollektiven Verteidigung (also dem militärischen Bündnis mit Russland) zu ersetzen.

    Wichtig ist zudem, dass Lukaschenko faktisch bereits zugesagt hat, bis Jahresende ein Paket von Bündnisprogrammen zu unterzeichnen – diese Road Maps zur Vertiefung der Integration hatte er im Dezember 2019 noch abgelehnt. Ende August wurde bekanntgegeben, dass bei dem für den 9. September angesetzten Treffen zwischen Lukaschenko und Putin in Moskau die Bündnispläne zu den zentralen Punkten auf der Agenda gehören werden.

    Der belarussische Führer sträubt sich mittlerweile also weniger, und tut, was dem Kreml dient. Warum sollte man sich also damit beeilen, ihn abzusetzen? Zumal jeder Machtwechsel, vor allem in einem so überausgeprägt personalistischen Regime, auch ein Risiko birgt.

    Der Kreml treibt seine Interessen voran

    All das heißt natürlich nicht, dass im Verhältnis zwischen Lukaschenko und Putin Idylle herrscht. Das belarussische Regime braucht Geld und erschwingliche Rohstoffpreise, Moskau zeichnet sich nicht durch besondere Großzügigkeit aus.

    Lukaschenko gab kürzlich zu, dass die Frage des Gaspreises im Rahmen der Abstimmung des Unionsprogramms weiter für Diskussion sorge. Den durch das eigene Steuermanöver verursachten Anstieg des Ölpreises ist Russland gegenüber Minsk nur bereit, in Form von Krediten auszugleichen, nicht durch Abstandszahlungen, wie die belarussische Seite es wünscht.

    Geheimnisvoll bleiben die stundenlangen bilateralen Gespräche zwischen Putin und Lukaschenko. Unwahrscheinlich, dass sie verbissen um den Gaspreis streiten. Wahrscheinlicher ist, dass der Kreml doch die Idee einer gewissen Modernisierung des belarussischen politischen Systems in Gang bringen möchte, um mit einem weniger selbstherrlichen Präsidenten und mehr Machtverteilung zwischen einzelnen Organen die Möglichkeit zu haben, prorussische Parteien zu installieren und so in Parlament und Regierung mitspielen zu können.

    Interessant wird sein, ob Lukaschenko vor seinem Besuch bei Putin einen eigenen Vorschlag für die Verfassungsänderung vorstellen wird (ein Entwurf soll am 1. September auf seinem Schreibtisch liegen). Wenn er sich weiter bedeckt hält und Zeit schindet, deutet das mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass mit dem Kreml noch bei Weitem nicht alles abgestimmt ist.

    Auf jeden Fall versteht man in Moskau, dass Lukaschenko nicht ewig ist und steckt die eigenen Positionen in Belarus mit Weitblick ab, um auch in Zukunft die eigenen Interessen gesichert zu wissen. Und für diese Aufgabe benötigt Moskau Lukaschenko noch.

    Dabei scheint der Kreml aber nicht gewillt, den aktuellen Präsidenten um jeden Preis und in kürzester Zeit loszuwerden. Ebenso offensichtlich ist, dass Putin keine tatsächliche Demokratisierung von Belarus gebrauchen kann.

    Gleichwohl kann man kaum von echtem Vertrauen zwischen Putin und Lukaschenko sprechen. Letzterer versteht sehr gut, dass der Familienname des Herrschers von Belarus für den Kreml nicht von Belang ist – die Hauptsache ist die Kontrolle über dieses strategisch wichtige Territorium. Und deshalb kann irgendwann der Moment kommen, in dem auf einen anderen Spieler gesetzt wird.

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  • Strenges Schulregime

    Strenges Schulregime

    Am 1. September beginnt in Belarus wie in vielen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken traditionell die Schule. „Der Tag des Wissen“ (russ. Den Snanii), an dem die Schulanfänger feierlich eingeschult werden und an dem die Hochschulen wieder ihre Arbeit aufnehmen, war im vergangenen Jahr auch der Beginn der Studenten-Proteste in Belarus, die sich mit den landesweiten Demonstrationen gegen Wahlfälschungen und Gewalt solidarisierten. Seit vielen Jahren wird das Schulsystem sowie auch die Lehrpläne den autoritären Vorstellungen der Machthaber um Alexander Lukaschenko angepasst. In ihrem Beitrag für die Novaya Gazeta erklärt die belarussische Journalistin Irina Chalip, wie das genau geschieht und welche Folgen die Umerziehung für die belarussische Gesellschaft hat. 

    Gehirnwäsche ist an belarussischen Schulen schon lange Teil des Lehrplans. Ab kommendem Schuljahr wird es auch eigens dafür zuständige Bereichsleiter geben: Mit dem 1. September 2021 wird das Amt des Leiters des Lehrbetriebs für militärisch-patriotische Erziehung eingeführt. Einfacher gesagt: ein Politoffizier. Oder ein Politruk. Oder – ganz altmodisch gesagt – ein Kommissar.  
    Speziell für die Schul-Politruks stellt der Staat Geld für 2000 Gehälter bereit. Wobei kein zusätzlicher Unterricht geplant ist. Mit dem Zeigestab an der Tafel stehen, Hefte kontrollieren oder die Klassenleitung übernehmen werden die neuen Chefs nämlich nicht (was auch offen gestanden besser ist). Sie haben eine kniffligere Aufgabe: „Die Implementierung der Ideologie militärischer Sicherheit in Bezug auf die staatsbürgerliche und patriotische Erziehung von Kindern und Jugendlichen“. Außerdem die „Entwicklung der für die Verteidigung des Vaterlandes notwendigen moralisch-psychologischen Qualitäten bei Jungen und Mädchen“. So steht es zumindest im Allgemeinen Qualifikationshandbuch für Staatsbedienstete. Die akute Notwendigkeit für solche Kommissare entstand offenbar im vergangenen Schuljahr, dessen Beginn mit dem Höhepunkt der Protestaktivität in Belarus zusammenfiel.    
    Absolventen verschiedener Jahrgänge hängten ihre Goldmedaillen und Zeugnisse an die Zäune der Schulen, um durch nichts mehr mit jenen Mauern verbunden zu sein, hinter denen am 9. August die Wahlergebnisse so schamlos gefälscht wurden. Eltern unternahmen Protestaktionen auf Schulhöfen. Lehrer drehten Videos, in denen sie an ihre Kollegen appellierten, Fälschungen zu verweigern und die Wahrheit zu erzählen. Diese Lehrer verloren dann ihre Jobs. Die Eltern von Grundschülern nahmen ihre Kinder massenweise aus den staatlichen Schulen und schlossen sich zu sogenannten Elternkooperativen zusammen: Mehrere Familien mieten zusammen einen Raum und suchen selbst Lehrer für ihre Kinder, die sie ohne jegliche Schulideologie unterrichten. Dieser Trick ist allerdings nur für die Grundschule erlaubt: Will man sein Kind von der Schule befreien, muss man es zum individuellen Unterricht anmelden. Ob dies genehmigt wird oder nicht, entscheidet die jeweilige Schulleitung. Und während man in den ersten Schulstufen diese Genehmigung noch kriegen kann, wird dies später praktisch unmöglich. Heranwachsende Belarussen müssen zumindest einem qualifizierten Leiter des Lehrbetriebs unterstehen. Im Idealfall ist es einer für militärisch-patriotische Erziehung.

    Belarussische Geschichte im Schnelldurchlauf

    Diese Erziehung beginnt für jeden Schulanfänger sofort, gleich am 1. September. Seit vielen Jahren bekommen alle Erstklässler an allen belarussischen Schulen feierlich das Buch Belarus – unsere Heimat überreicht. Auf dem Umschlag steht unter dem Buchtitel: „Geschenk des Präsidenten der Republik Belarus A. G. Lukaschenko zum Schulanfang“. In dem Buch kommt A. G. Lukaschenko selbst reichlich vor, fast auf jeder Doppelseite. Zudem sind darin wie auf Schautafeln die historischen Meilensteine des unabhängigen Belarus angeführt:

    1991: Ausrufung der unabhängigen Republik Belarus
    1994: Beschluss einer neuen Verfassung der Republik Belarus
    1994: Wahl Alexander Grigorjewitsch Lukaschenkos zum Präsidenten der Republik Belarus

    Damit ist die Geschichte der Republik Belarus in diesem Buch auch schon zu Ende, und für die Kinder beginnt das Schuljahr. Einmal wöchentlich gibt es in allen Klassen, von der ersten bis zur elften, Politinformationen. Offiziell heißt das „Informationsstunde“ – an diesem Tag beginnt der Unterricht eine halbe Stunde früher. Alles Weitere hängt von den Lehrenden ab. Die einen nehmen den Auftrag wörtlich und erzählen den Kindern jedes Mal, was für ein märchenhaftes Glück sie haben, in Belarus mit seinen wirtschaftlichen Erfolgen und seiner politischen Stabilität zu leben. Andere sabotieren die Sache unauffällig, indem sie den Kindern erlauben, in dieser Zeit ihre Hausaufgaben zu machen. Doch im Klassenbuch wird bei allen Schülern klar und deutlich abgehakt: Informationsstunde erfolgt, Patriotismus gefördert. In den höheren Schulstufen gibt es außerdem Unterricht in vormilitärischer Ausbildung. Dort hören die Schüler der oberen Klassen nichts mehr von Stabilität, sondern im Gegenteil – man erklärt ihnen, dass Belarus von Feinden umzingelt sei, und zwar auch von inneren. 

    Nach dem Unterricht beginnen außerschulische Veranstaltungen. Ältere Kinder werden im Winter scharenweise in die Eispaläste getrieben, wo Lukaschenkos Jüngster, Nikolaj, Eishockey spielt, und im Sommer stellen alle, die nicht das Glück hatten, die Stadt zu verlassen, auf der Parade zum 3. Juli ihre glückliche Kindheit zur Schau. Die Jüngeren werden auf „patriotische“ Exkursionen geschleppt. Zum Beispiel hat es die Klasse meines Sohnes innerhalb eines Schuljahres geschafft, sowohl die OMON als auch die Sondertruppeneinheit 3214 zu besuchen, die landläufig längst Todesschwadron genannt wird. In der Polizei-Zeitung stand danach, die Kinder hätten „viel Spaß dabei gehabt, kugelsichere Westen, Helme und Schlagstöcke auszuprobieren“.  

    In der vierten Klasse werden aus den Oktjabrjata Pioniere, aus den roten Halstüchern werden rot-grüne / Foto © Zuma/tass
    In der vierten Klasse werden aus den Oktjabrjata Pioniere, aus den roten Halstüchern werden rot-grüne / Foto © Zuma/tass

    Ein weiteres beliebtes Exkursionsziel für Minsker Schüler ist die KGB-Schule, die mittlerweile Institut für nationale Sicherheit heißt. Dort dürfen sie schießen üben, und sie hören die Heldengeschichte der Bildungsanstalt, die viele herausragende Persönlichkeiten absolviert haben. Namen werden allerdings keine genannt – wahrscheinlich ein Militärgeheimnis. Und sie bekommen das Tschekistendenkmal zu sehen, das irgendwo in einer Nische steht, verborgen vor fremden Blicken. Anscheinend gehen die Offiziersschüler dahin, um zu beten und still zu trauern.  
    Auch schon in der ersten Klasse kommen die belarussischen Kinder zu den Oktjabrjata, der Vorstufe der Pioniere. Bei einer Feier in der Aula sprechen sie dem Sozialpädagogen den Schwur nach. Wer in der Sowjetunion Pionier war, kennt den Text. Er wurde, dem Willen des großen Lenin folgend, nie verändert.  
    In der vierten Klasse werden aus Oktjabrjata Pioniere. Nur tragen sie keine roten Halstücher mehr, sondern rot-grüne. Sonst bleibt alles beim Alten. In der Oberstufe kommen sie dann zur BRSM – der Belarussischen Republikanischen Jungen Union, im Volksmund „Lukamol“. 
    Zum Lukamol wird man sowohl mit der Peitsche getrieben als auch mit Zuckerbrot gelockt. Die Peitsche – das ist die Androhung eines schlechten Abschlusszeugnisses und die Warnung, ohne Mitgliedschaft in der BRSM nicht an der Universität aufgenommen zu werden. Das Zuckerbrot sind Rabatte bei Diskotheken und Konzerten und erleichterter Zugang zu Sommerjobs. Eine Bekannte erzählte mir, wie ihre jüngere Schwester sich um ein Haar hätte verführen lassen. Sie kam von der Schule nach Hause und sagte zum Vater, sie werde wohl der BRSM beitreten, weil  die ihr einen Sommerjob versprochen hätten. Der Vater sagte: „Das hast du dir ganz richtig überlegt, Tochter. Eine Arbeit wirst du nämlich brauchen, wenn du zum BRSM gehst, weil ein Dach über dem Kopf wirst du keines mehr haben.“

    Ein Aufseher für militärisch-patriotische Erziehung

    Früher waren die Eltern, die ihren Kindern alles richtig und wie Erwachsenen erklärten, in der Minderheit. Die Mehrheit schluckte angeekelt den Beitritt ihrer Sprösslinge zu all diesen Vereinen, um ihnen bloß nicht den Abschluss zu versauen. Nicht einmal den Jungen OMON-ler redeten sie ihnen aus – auch den gibt es in Belarus. 
    Doch das letzte Schuljahr hat Kinder wie Eltern verändert. Jetzt verbringen die Kinder ihre Zeit nicht mehr beim Jungen OMON-ler, sondern schreiben „Es lebe Belarus!“ auf den Asphalt. Oder sie sitzen auf der Polizeistation, weil sie wegen eines rot-weißen Regenschirms festgenommen wurden. Oder sie warten, dass ihre Eltern aus dem Gefängnis zurückkommen. Oder sie flüchten mit ihnen nachts über die Grenze. Sie werden jedenfalls schnell erwachsen – wie immer im Krieg.  

    Um dieses Erwachsenwerden und das Denken zu stoppen, um die Kinder wieder auf Linie zu bringen, verordnet ihnen der Staat nun einen Schulpolitruk für militärisch-patriotische Erziehung. Als Mutter eines Schülers, die sich mit seinen Klassenkameraden und Freunden sowie deren Eltern unterhält, sage ich felsenfest überzeugt: Da kann man das Geld gleich zum Fenster hinauswerfen. Was für ein erbärmliches und sinnloses Projekt, zum Scheitern verurteilt. Die Kinder stellen sich nicht mehr in Reih und Glied, und die Eltern werden nicht mehr den Mund halten, nur weil sie ein schlechtes Zeugnis fürchten. Nur Witze über diese Schulpolitruks werden in Belarus wie Pilze aus dem Boden schießen, sodass sich der Turn- und der Werklehrer von blöden Sprüchen endlich mal erholen können. 

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  • Bystro #26: Ist die belarussische Unabhängigkeit in Gefahr?

    Bystro #26: Ist die belarussische Unabhängigkeit in Gefahr?

    Am 25. August 1991, vier Tage nach dem gescheiterten Augustputsch in Moskau, stimmte der Oberste Sowjet der BSSR für die Unabhängigkeit der Sowjetrepublik. Damit war die Republik Belarus geboren. Neben einer kurzen Episode der Volksrepublik im Jahr 1918 war es das erste Mal in der Geschichte, dass die Belarussen eine Eigenstaatlichkeit erlangten. 

    Haben die Belarussen ihre Unabhängigkeit herbeigesehnt? Warum wurde 1994 ausgerechnet Alexander Lukaschenko in weitgehend freien Wahlen zum ersten Präsidenten gewählt? Welche Bedeutung haben die Proteste des Jahres 2020 für die Unabhängigkeit? In einem Bystro in acht Fragen und Antworten erklärt der renommierte kanadische Historiker David R. Marples 30 Jahre Unabhängigkeit für Belarus.

    1. 1. Wie war die Lage in der BSSR kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion? Gab es eine starke nationale Bewegung, die nach Unabhängigkeit strebte, wie etwa in den baltischen Staaten ?

      Die nationale Bewegung war ziemlich schwach und kämpfte ums Überleben. Zwar gewann die Belarussische Volksfront (Partyja BNF) Glaubwürdigkeit durch ihr Eintreten für die nationale Kultur und Sprache, durch ihre Reaktion auf die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe von 1986 und auch durch die Entdeckung der Massengräber von Stalins Opfern in Kurapaty dank des BNF-Vorsitzenden Sjanon Pasnjak. Pasnjaks übertriebene Behauptung, dort lägen bis zu 300.000 Opfer begraben, hat Aufsehen erregt. Die BNF blieb jedoch eine Randpartei und musste ihren Gründungskongress in Vilnius abhalten, da sie nicht in Minsk tagen durfte. Nach den Wahlen von 1990 war sie mit nur 26 Sitzen im kommunistisch dominierten Parlament vertreten – im Gegensatz zu einigen Volksfronten in anderen Ländern, insbesondere in den baltischen Staaten und der Ukraine. Das Endziel der BNF war zwar die Unabhängigkeit, doch ihre wichtigste Errungenschaft bestand wohl in der Anerkennung von Belarussisch als Staatssprache der Republik Anfang 1990. Diese Regelung blieb in den folgenden fünf Jahren bestehen. 

    2. 2. Wie hat der Oberste Sowjet der BSSR am 27. Juli 1990 schließlich die Unabhängigkeit erklärt?

      Ich möchte zwischen der Unabhängigkeitserklärung vom 25. August 1991 und der Erklärung der staatlichen Souveränität unterscheiden. Am 27. Juli erklärte die BSSR ihre Souveränität – das heißt aber nur, dass sie die Kontrolle über ihre natürlichen Ressourcen beanspruchte, nicht aber über den Staatshaushalt, die Außenpolitik oder Verteidigungsangelegenheiten. Auch andere Sowjetrepubliken verabschiedeten zu dieser Zeit solche Erklärungen; nur Litauen erklärte seine völlige Unabhängigkeit. Das Parlament von Belarus war zwischen den Parteien und ihren Anführern zerrissen mit besonders ausgeprägter Rivalität zwischen dem Parlamentsvorsitzenden Nikolaj Dementei und dem Premierminister Wjatscheslaw Kebitsch. Zum Zeitpunkt der Souveränitätserklärung war Kebitsch die führende politische Persönlichkeit in Belarus. Das Land hatte den Ruf einer „Partisanen-Republik“: Von 1956 bis 1980 wurde die Kommunistische Partei von ehemaligen Partisanen angeführt. Von Nationalismus waren sie weit entfernt – es sei denn, man betrachtet den sowjetischen Patriotismus als eine Form des Nationalismus –, es gab aber einige Spannungen zwischen den Parteioberhäuptern in Moskau und in der Republik. Nachdem der Vorsitzende des BSSR-Zentralkomitees Pjotr Mascherow 1980 bei einem Autounfall ums Leben kam, sorgte Moskau dafür, dass seine Nachfolger keine ehemaligen Partisanen oder auch nur deren Verbündete waren.

    3. 3. Die belarussischen Kommunisten galten als besonders konservativ und loyal gegenüber Moskau. Was geschah mit ihnen, vor allem mit den wichtigsten Politikern, nach der Unabhängigkeit?

      In Belarus dominierten die Kommunisten 1991 zwar im Obersten Sowjet, doch die Lage war unbeständig. Der erste Sekretär der Kommunistischen Partei Anatoli Malofejew und der Parlamentsvorsitzende Nikolaj Dementei unterstützten 1991 den Augustputsch in Moskau. Als der Putsch gescheitert war, wurde Dementei seines Amtes enthoben und durch den Physikprofessor Stanislaw Schuschkewitsch ersetzt, der als seine erste Amtshandlung die Abspaltung der Republik von der Sowjetunion verkündete. Die Kommunistische Partei von Belarus wurde nach dem gescheiterten Moskauer Putsch verboten; ein Jahr später entstand die Partei der Kommunisten von Belarus (PKB). Die Mitglieder der ursprünglichen Kommunistischen Partei traten 1993 offiziell der PKB bei (Malofejew war zwei Monate zuvor zurückgetreten). Es entstanden auch einige kommunistische Randparteien mit progressiveren Ansichten. Kurz nach der Unabhängigkeitserklärung 1991 hatten die Kommunisten noch eine beträchtliche Anzahl von Sitzen, sahen sich jedoch starkem Druck ausgesetzt, neue Parlamentswahlen abzuhalten. Kebitsch befürwortete eine Wirtschafts- und Sicherheitsunion mit Russland, wobei er sich auf die gemeinsame Geschichte und Kultur berief. Er galt jedoch als korrupt, was ihm bei der Präsidentschaftswahl von 1994 zum Verhängnis wurde.

    4. 4. In wirtschaftlicher Hinsicht hatte Belarus mit einer gut ausgebildeten Bevölkerung und relativ soliden Staatsbetrieben beste Voraussetzungen für eine erfolgreiche Transformation. Warum ist diese dennoch gescheitert?

      Belarus funktionierte gut als BSSR, innerhalb des kommunistischen Systems, in dem seine industrielle Entwicklung eng mit der seiner Nachbarn verflochten war. Als Russland 1992 mit seiner wirtschaftlichen Schocktherapie begann, blieb Belarus allerdings auf der Strecke. 
      Das Land litt unter mehreren Problemen: Erstens hatte es nicht genug natürliche Ressourcen und war damit stark von Energieimporten aus Russland abhängig. Zweitens fehlte auch ein Programm für Wirtschaftsreformen. Schuschkewitschs Bemühungen, dem Beispiel Russlands nachzueifern, wurden von den Kommunisten im Parlament blockiert. Drittens musste das unabhängige Belarus die Auswirkungen der Tschernobyl-Katastrophe tragen; die Unterstützung der Union war weggefallen. Einer Schätzung zufolge beliefen sich die Kosten des Unfalls für Belarus auf 32 Jahreshaushalte. So viel Geld stand zwar nicht zur Verfügung, aber immerhin wurden in den ersten Jahren etwa 25 Prozent des Haushalts für die Gesundheitsversorgung aufgewendet. Schließlich die Privatisierungsrate – sie war eine der niedrigsten unter allen ehemaligen Sowjetrepubliken. Viele Branchen waren auf staatliche Subventionen angewiesen, um zu überleben. In den ersten Jahren wurde Belarus von Jelzins Russland subventioniert, doch diese Großzügigkeit hatte ihren Preis: Russland strebte eine engere Integration von Währung, Volkswirtschaften, Armeen und Sicherheitsdiensten an. Als dann von 1991 bis 1999 die Wirtschaftskrise Russland ereilte, die im Finanzkollaps von 1998 gipfelte, litt Belarus mit.

    5. 5. Warum wurde Lukaschenko 1994 zum ersten Präsidenten der Republik Belarus gewählt?

      Lukaschenko war zwar keine ganz unbekannte Figur, als er 1994 bei der Präsidentschaftswahl antrat, aber als Favorit galt der 39-jährige Schweinezüchter sicherlich nicht. Er war zum Interimsdirektor einer parlamentarischen Kommission zur Untersuchung von Korruption berufen worden und nutzte gleich die Gelegenheit, die Führung des Landes anzugreifen. Er wurde aber schlichtweg nicht ernstgenommen – genauso wie er selbst 26 Jahre später Swetlana Tichanowskaja nicht ernst nahm. Die anderen Kandidaten argumentierten vor allem gegen Kebitsch als einen Vertreter des Establishments. Der Altkader Kebitsch selbst wiederum konzentrierte sich auf Pasnjak von der BNF, nannte ihn einen Nationalisten, der die wahren Sorgen der belarussischen Durchschnittsbürger nicht kenne. Auch Schuschkewitsch, der keine Partei hinter sich hatte, war misstrauisch gegenüber Pasnjak. Die beiden demokratischen Kandidaten, Schuschkewitsch und Pasnjak, konnten sich also nicht einigen und bekämpften sich gegenseitig. Die Bevölkerung war der alten Garde wie Kebitsch überdrüssig; Schuschkewitsch betrachtete sie als Teil derselben Hierarchie und Pasnjak als zu radikal. Damit blieb Lukaschenko übrig, eine scheinbar attraktive Alternative, unbelastet von früheren Verbindungen, ehrgeizig und leidenschaftlich prorussisch. Seine persönlichen Schwächen, wie etwa das jähzornige Temperament, wurden ignoriert.

    6. 6. Lukaschenko hat sich in den letzten 26 Jahren immer wieder als alleiniger Garant für die belarussische Souveränität positioniert. Wie ist diese Positionierung zu bewerten, auch im Hinblick auf den Unionsstaat?

      Lukaschenko hatte verschiedene Phasen. In seinen Anfangsjahren versuchte er, sich Russland kontinuierlich anzunähern, von einer Gemeinschaft bis zur Gründung der Union (1999). Er verstand sich gut mit Jelzin, der seine späteren Jahre abwechselnd in Sanatorien und im Kampf mit wirtschaftlichen Problemen verbrachte. Aber Putin war ein ganz anderer Präsident: Er stellte die Öl- und Gassubventionen in Frage, ebenso wie die Logik einer gleichberechtigten Partnerschaft mit einem Staat, der leicht in die Russische Föderation integriert werden könnte. Auch persönlich mochten sich die beiden Staatschefs nicht. 
      Die Jahre von 2008 bis 2020 waren geprägt von Spannungen und Handelsstreitigkeiten, von Belarus’ Unwillen, Anweisungen aus Russland zu befolgen; von Russlands Versuchen, profitable belarussische Industrien zu übernehmen, von gemeinsamen militärischen und sicherheitspolitischen Maßnahmen, und immer wieder von Versuchen Lukaschenkos, die russische Kontrolle zu begrenzen. Seine Hauptmethode bestand dabei darin, den Westen zu umwerben und die EU zu überzeugen, dass er ein zuverlässiger Partner sei. Kredite des IWF und Chinas bildeten eine Alternative zu denen aus Russland, das sie nur zu harten Konditionen gewährte. In dieser Zeit entwickelte sich auch eine Art „sanfter Nationalismus“ in Belarus, als Lukaschenko nationale Gefühle nutzte, um seine persönliche Macht zu sichern und zu fördern. Auf diese Art verband er den Staat unmittelbar  mit seiner Präsidentschaft.

    7. 7. Warum war die demokratische Bewegung im unabhängigen Belarus immer relativ schwach und bis 2020 chancenlos? 

      Von 2001 an kontrollierte der Staat den Wahlprozess über zentrale und lokale Wahlkommissionen sowie über Registrierungsverfahren. Lukaschenkos erster Schritt bestand darin, Zeitungsredakteure zu ersetzen, die seine Autorität in Frage stellten. Auch das Fernsehen wurde zum Teil der Staatspropaganda. 
      Die Opposition suchte den traditionellen Weg zur Macht – in der Regel über politische Parteien, die weder genug Mitglieder noch genug Mittel hatten und dazu noch innerlich gespalten waren. So existierten zeitweise drei Ableger der Sozialdemokratischen Partei und zwei der Volksfront. 
      Zwar gab es Bemühungen, die Wahlkampagnen zu vereinheitlichen, aber diese fruchteten erst 2001, und auch da nur bedingt. Belarus hatte also nie eine oppositionelle Partei mit bedeutendem Rückhalt in der Bevölkerung, im Gegensatz beispielsweise zu Viktor Juschtschenkos Unsere Ukraine (ab 2000). Lukaschenko erklärte die Oppositionsparteien geschickt zu ausländischen Kräften, zu Blutsaugern, die mit westlichen Geldern ihre persönlichen Ausschweifungen finanzierten. Über längere Zeit wurden Geldstrafen, Verhaftungen und Schikanen zur Einschüchterung eingesetzt. Dies führte dazu, dass einige führende Oppositionelle das Land verließen und die Wählerschaft bis 2020 Passivität und Apathie an den Tag legte.

    8. 8. Was bedeuten die Proteste von 2020 und die anschließende Repressionswelle für die belarussische Unabhängigkeit? 

      Die Proteste und Repressionen haben alle Illusionen über Lukaschenko endgültig zerstört. Für die meisten Belarussen ist er als Präsident nicht mehr akzeptabel. Aber die Proteste waren friedlich und hatten keine Chance, einen Regimewechsel herbeizuführen, vor allem weil die Sicherheitskräfte und das Kabinett dem Präsidenten gegenüber loyal blieben und zu extremen Maßnahmen bereit waren. Vor den Repressionen sind Tausende von (vor allem jungen) Menschen aus Belarus ins Ausland geflohen. Andere sitzen in Gefängnissen und Arbeitslagern. Westliche Sanktionen, insbesondere nach der Zwangslandung des Ryanair-Fluges im Mai, haben Belarus noch stabiler in die russische Umlaufbahn geschubst. Der sehr geschwächte Lukaschenko machte Zugeständnisse an Russland, die früher undenkbar gewesen wären. Die belarussische Außenpolitik ist nicht mehr von der russischen zu unterscheiden. Die offiziellen Medien werden von Russland betrieben; auch die Sicherheits- und Militärpolitik ist koordiniert. Lukaschenkos einziger (symbolischer) Widerstand besteht in der Hoffnung auf eine Verfassungsänderung im nächsten Frühjahr durch die unrechtmäßige Volksversammlung. Kurzum, die belarussische Unabhängigkeit hängt am seidenen Faden. Aber die belarussische Bevölkerung hat letztes Jahr ihre Meinung sehr deutlich gemacht. Es kann keine Rückkehr zu der Situation vor 2020 geben, keinen Gesellschaftsvertrag zwischen diesem Präsidenten und dem Volk. 

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: David R. Marples
    Übersetzung: Alexandra Berlina
    Veröffentlicht am: 24. August 2021

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  • Kampf der Kulturen

    Kampf der Kulturen

    Auch Künstler, Musiker, Schriftsteller oder Kulturmanager sind seit dem 9. August 2020 Ziel staatlicher Repressionen in Belarus. Bei den sogenannten Hinterhofkonzerten im Herbst 2020 wurden dutzende Musiker festgenommen. Uladzimir Liankevich, der ehemalige Frontmann der Band TonqiXod, landete sogar zweimal im Gefängnis. Auch überprüfen staatliche Stellen aktuell, ob der Roman Die Hunde Europas von Alhierd Bacharevich als „extremistisch“ eingestuft und damit verboten wird. Zum Jahrestag des Beginns der Proteste haben bekannte Vertreter und Vertreterinnen dieser alternativen Kultur in einem dekoder-Special von der Erschütterung erzählt, die Belarus mit der Eskalation der Gewalt erfahren hat. In einer Erhebung stellt der unabhängige Schriftstellerverband Belarussisches Pen-Zentrum, der wie über 100 NGOs von den Behörden liqudiert wurde, 621 Fälle fest, bei denen die Rechte von Kulturschaffenden verletzt wurden – und zwar allein für das Jahr 2021. Ist das ein Zeichen dafür, wie machtvoll die neue Kultur tatsächlich ist?

    Warum es die belarussischen Machthaber auf die sogenannte alternative Kultur abgesehen haben und was die aktuellen Entwicklungen für die Kulturszene bedeuten, analysiert der Philosoph, Kulturwissenschaftler und Medienanalytiker Maxim Shbankou in einem Beitrag für das belarussische Medium Belorusy i rynok.

    Störung des Wertegleichgewichts

    Es ist kein Geheimnis, dass bei uns – schon seit langer Zeit – nicht nur die eine Kultur existiert, sondern kulturelle Strömungen unterschiedlicher Qualität, Ausrichtung, ideeller Basis und Prinzipien. Wenn wir über die staatliche Kultur sprechen, so ist das stets, und in letzter Zeit verstärkt, eine Kultur der Loyalität, eine patriotismusgeleitete Kultur. Ihr zentrales Ziel war nicht die Entwicklung oder Suche nach neuen Formen, sondern vielmehr die Aufrechterhaltung quasisowjetischer Traditionen. Es ist also eine Kultur, und das sage ich auf Russisch, des „Bestandsschutzes“. Die auf staatlicher Ebene oft beschworene Stabilität wird im Kulturbereich durch eben diese Einförmigkeit sichergestellt, durch die Erziehung zu Staatsloyalität und zur Einsicht, dass Staat und Gesellschaft praktisch eins sind und all das geschützt werden muss, da das unser Schicksal ist, unser Land und so weiter und so fort.

    Auf der anderen Seite entwickelte sich auf der Ebene der, sagen wir, nichtstaatlichen oder alternativen Kultur viel Interessanteres und Komplexeres. Dort gab es kreatives Suchen, Experimente, Versuche, neue Beziehungen zur Vergangenheit herzustellen, zu kulturellen Traditionen, zum globalen Kontext – als nichtlineare Entwicklung. Die staatliche Kultur war stets einer konventionellen ideologischen Linie unterworfen (da unser System aber nie eine eigene Ideologie hatte und sie auch jetzt nicht hat, gibt es lediglich sekundäre, aus der Sowjetzeit entliehene Prioritäten und Werte). Die andere Kultur hingegen zeichnete sich gerade durch ihre Vielfältigkeit aus, durch Buntheit, Patchwork, Mosaik, eine viel breiter gefasste und interessantere schöpferische Bandbreite – und selbstverständlich auch durch den Charakter aller am Prozess Beteiligten und natürlich die Ergebnisse. Ich kann mit vollem Ernst und Verantwortungsgefühl sagen, dass die wertvollsten und interessantesten Ereignisse im Kulturbetrieb der vergangenen 20 Jahre in der freien, nichtstaatlichen Sphäre verortet sind, in einer Kultur, die nicht auf das Züchten von Loyalität, sondern, im Gegenteil, auf die Herausbildung einer gewissen kulturellen Freiheit abzielt, und dabei die unterschiedlichsten kulturellen Strömungen und Traditionen umfasst.

    Die politische Krise, in die wir im Sommer des vergangenen Jahres geraten sind, offenbarte die Stärke der unabhängigen Kultur, denn eben da begann ein sehr kraftvoller, explosiver kultureller Aktivismus, es entstanden unzählige neue visuelle Arbeiten, eine neue Street Art, eine neue literarische samt poetischer Lexik, neue musikalische Werke und vieles mehr. Es gab viele spontane Reaktionen auf die Situation, die eine für die stagnierende staatliche Kultur ungewöhnliche und komplett andere Dimension unserer Kunst bedeuteten. Es ist klar, dass in der Situation der politischen Konfrontation, in der der Staat sehr gewaltsam und energisch sein Recht zur Lenkung der Bevölkerung verteidigt, die kreative, „andere“ Kultur natürlicherweise zu einer Kultur des Dissens wird, einer Kultur der Unruhe, einer Kultur des intellektuellen Nonkonformismus und ideologischen Widerstandes. Und ebenso klar ist, dass eine solche Kultur des Dissens, eine Schule des freien Denkens und der unabhängigen Realitätsdeutung – in diesem Moment, meines Erachtens vollkommen angebracht, vom Staat als Problemquelle angesehen wird. 

    Wobei sich die staatliche Kultur in dieser Situation zusehends selbst eliminierte. Gefragt waren starke Slogans und frische Ideen, doch die staatliche Kultur vermochte nur eine Sammlung vermoderter Schablonen und banaler Verweise auf sowjetische Heldensprüche hervorzubringen. Das System der staatlichen Kulturindustrie stand also völlig hilflos vor den Herausforderungen einer neuen Epoche. Und diese Selbsteliminierung parallel zur Kulturrevolution, die meiner Ansicht nach im Sommer und Herbst des vergangenen Jahres stattfand, führten in der Summe zu einer Störung des Wertegleichgewichts. Oder dem, was die Machthaber für ein Wertegleichgewicht hielten. 

    Es zeigte sich, dass die ideologisch stabile Propaganda die Energie des Dissens, die zu jener Zeit im Umfeld der unabhängigen Kultur ausbrach, nicht blockieren konnte. Das Gefühl der Bedrohung, das mit der massenhaften Veränderung der grundlegenden Weltanschauung einherging, als ein beträchtlicher Teil der Nation plötzlich auf einer anderen Welle unterwegs war, führte daher tatsächlich zu einem Krieg der Kulturen, zu einer Konfrontation mit einer für den Staat völlig unverständlichen, feindlichen und verstörenden Sicht auf die Dinge.

    Der Feind muss vernichtet werden, der Gegner muss vom Feld

    Doch für einen Krieg der Kulturen braucht es einen angemessenen Gegner. In unserer Situation stand auf Seiten der offiziellen Kultur eine glatte Null: ein absolutes Kreativitätsdefizit, absolut unflexibles Schablonendenken und das Fehlen von energischen, markanten und überzeugenden Ausdrucksformen. Demgegenüber stand diese Kulturexplosion, die als ideologische Herausforderung, weltanschauliche Sabotage verstanden wurde. Aus ideologischer Konfrontation wurde Gewalt. Wenn ein Künstler nicht nur als Künstler, sondern auch als ideeller Gegner begriffen wird, wenn ein Musiker, ein Journalist oder wer auch immer aus dem kreativen Bereich nicht nur als anders, sondern als Feind aufgefasst wird, greifen plötzlich grundlegende Prinzipien des Selbstschutzes: Der Feind muss vernichtet werden, der Gegner muss vom Feld. Andere Mittel als die der Repression haben die Machthaber nicht gefunden. Das Standardvorgehen des bürokratischen Apparates wurde in Gang gesetzt: „Wer ist der Anstifter? Wer hat das genehmigt? Wer hat das losgetreten?“ Ein bürokratisches System, das ausschließlich auf Befehlen und Direktiven beruht, kann sich nicht vorstellen, dass die Gesellschaft in der Lage ist, eigenständig etwas umzusetzen. Der Dissens muss stets einen Regisseur haben, der Dissens braucht immer einen Strippenzieher. Und wen kann man am einfachsten als Strippenzieher abstempeln? Klare Sache: diejenigen, die herausstechen, diejenigen, die laut schreien, diejenigen, die sichtbare und markante künstlerische Zeichen setzen. 

    Trauer über die Ausreisewelle? Das wäre falsch

    Was die Frage der Emigration der Kulturschaffenden angeht, ob sie nun temporär ist oder nicht, so sei vorangestellt, dass jeder Mensch ein Recht auf die eigene Unversehrtheit hat. Jeder Mensch hat das Recht, sich und seine Nächsten zu schützen und zu verteidigen. Daher werde ich nie etwas Schlechtes über diejenigen sagen, die das Land verlassen. Der Mensch hat das Recht auf freie Entscheidung, Mobilität und Selbstschutz.

    Zweitens scheint mir, dass unsere Überlegungen darüber, dass jemand das Land verlassen und uns hier im Stich gelassen hat, dass wir hier zurückbleiben und sie nicht bei uns sind und so weiter, auf Vorstellungen aus dem vorvergangenen Jahrhundert beruhen. Denn damals war es ein unglaublicher Verlust, wenn ein Mensch nicht mehr an deiner Seite war, da es nur minimale Möglichkeiten des Kontakts, geschweige denn der ideellen oder ästhetischen Kommunikation gab. Damals hatte eine Änderung deines geografischen Aufenthaltsortes mitunter tragische Folgen. Wie für so viele im Emigrantenmilieu kam ein Verlassen der Heimat faktisch einer Lebenskatastrophe, einem existenziellen Debakel gleich.

    Heute bewegen wir uns jedoch in einem offenen, globalen Informationsraum. Heute ist die digitale Anwesenheit bedeutender und stärker als die physische Anwesenheit in einem konkreten Raum, vor allem im Bereich der Kultur. Darüber hinaus kann die physische Abwesenheit in einem Territorium der Gefahr und der zeitweise katastrophalen Ereignisse für Kulturschaffende durchaus zuträglich sein. Distanz schafft Reflexionsräume. Wenn du im Zentrum der Ereignisse stehst, bist du eine Geisel deiner Emotionen, eine Geisel der Gefühle. Um all das aber in Text, Musik, Bild, Film oder Ähnlichem abzubilden, braucht es eine gewisse Distanz. Deshalb können diese Distanzen und Grenzen dem kreativen Ausdruck seltsamerweise doch zum Vorteil gereichen.

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    „Glaube ihnen nicht, fürchte dich nicht, bitte um nichts und lache – das ist mein Prinzip“

    Seit Mittwoch, 4. August 2021, wird Maria Kolesnikowa in Minsk der Prozess gemacht. Die Oppositonelle sitzt seit September 2020 in Untersuchungshaft. Die Flötistin Maria Kolesnikowa, die auch lange Zeit in Stuttgart lebte und perfekt Deutsch spricht, leitete im vergangenen Jahr zunächst den Wahlkampfstab von Viktor Babariko und hatte sich nach dessen Verhaftung schließlich dem Frauentrio rund um Swetlana Tichanowskaja angeschlossen. Als die Behörden Anfang September 2020 versuchten, Kolesnikowa gewaltsam außer Landes zu bringen, zerriss sie an der Grenze ihren Pass. Ihre beiden Mitstreiterinnen Swetlana Tichanowskaja und Maria Zepkalo waren unterdessen gezwungen gewesen, Belarus zu verlassen.
    In dem Prozess, der vergangenen Mittwoch begann, wird Kolesnikowa und dem Anwalt Maxim Snak, ebenfalls Mitglied im Koordinationsrat der belarussischen Opposition, unter anderem die Gefährdung der nationalen Sicherheit vorgeworfen.


    Kurz vor Prozessbeginn hat der unabhängige russische Fernsehsender Doshd mit Kolesnikowa ein schriftliches Interview geführt und sie gefragt, wie sie zu den Vorwürfen steht und welche Zukunft sie für sich selbst und für Belarus sieht.


    Update am 06.09.2021: Am Montag, 6. September 2021, verurteilte das zuständige Minsker Gericht Maria Kolesnikowa zu einer Haftstrafe von elf Jahren. Die 39-jährige belarussische Oppositionelle wurde der Konspiration zur verfassungswidrigen Machtergreifung und der Gründung und Führung einer extremistischen Vereinigung für schuldig befunden. Außerdem habe sie zu Handlungen aufgerufen, die der nationalen Sicherheit der Republik Belarus schaden. Zu zehn Jahren Haft wurde der Jurist Maxim Snak, ebenfalls Mitglied des oppositionellen Koordinierungsrates, verurteilt. Der Prozess gegen beide fand seit 4. August unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Frühere Anwälte von Kolesnikowa und Snak war im Vorfeld die Lizenz entzogen worden. Die derzeitigen Anwälte mussten eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben und durften in der Öffentlichkeit nicht über den Prozess berichten. Trotz des Versammlungsverbotes hatten sich vor dem Gericht dutzende Menschen eingefunden.

    Seit dem 4. August 2021 wird Maria Kolesnikowa in Minsk der Prozess gemacht / Foto © Tatyana Belaeva/Sputnik RIA Novosti
    Seit dem 4. August 2021 wird Maria Kolesnikowa in Minsk der Prozess gemacht / Foto © Tatyana Belaeva/Sputnik RIA Novosti

    Maria Borsunowa/Doshd: Was können Sie derzeit über die Anklage sagen?

    Maria Kolesnikowa: Es ist eine absurde Anklage, nach der Maxim Snak und mir bis zu 12 Jahre Haft drohen für etwas, das wir nicht gemacht haben – das zeugt von der rechtlichen Willkür eines Polizeistaats. 

    Sie haben mir vorgeschlagen, einen Film à la Roman Protassewitsch zu drehen

    Die Staatsmacht hat panische Angst vor einem öffentlichen Prozess, bei dem alle sehen, dass die zentrale Gefahr und Bedrohung für die Belarussen, für Belarus und die nationale Sicherheit von der Staatsmacht ausgeht.  

    Haben Sie ein Angebot zur Kooperation bekommen? Vielleicht, ein Gnadengesuch zu schreiben oder ein Schuldeingeständnis im Tausch gegen Freiheit?

    Ja, in unterschiedlicher Form, aber schon während sie mir das anboten, glaubten sie nicht so recht an meine Zustimmung. Ich selber versuche, einen Dialog zu initiieren, Verhandlungen, um den Widerstand in der Gesellschaft zu beenden. Sie haben mich „angehört“ und vorgeschlagen, einen Film à la Roman [Protassewitsch] zu drehen. Ich sagte, Markow (Marat Markow, Chef des staatlichen belarussischen TV-Senders ONT – Anm. Doshd) kann gern kommen, und ich erzähle die schockierende Wahrheit über meine Entführung, die Ermittlungen gegen mich und den Wahnsinn im Gefängnis. Irgendwie kommt er nicht. 🙂 Und weil ich unschuldig bin, lehne ich es ab, ein Gnadengesuch zu schreiben.    

    Wenn Ihnen das vorgeschlagen würde, wie würden Sie reagieren?

    Das ist eine Bande fieser, feiger Hütchenspieler, es wäre merkwürdig, ihnen zu glauben. Die lügen doch immer. Glaube ihnen nicht, fürchte Dich nicht, bitte um nichts und lache – das ist das mein Prinzip bei der Kommunikation mit ihnen. 

    Was denken Sie über Menschen, die solche Bedingungen akzeptieren, um ihre Freiheit zurückzukriegen?

    Auf keinen Fall würde ich deswegen jemanden verurteilen. Jeder von uns trifft seine Entscheidung je nach den Umständen, in denen er sich befindet, und trägt allein die Verantwortung dafür, vor allem vor sich selbst.   

    Das ist eine Bande fieser, feiger Hütchenspieler, es wäre merkwürdig, ihnen zu glauben

    Gelingt es Ihnen, an Nachrichten zu kommen? Können Sie irgendwie verfolgen, was im Land passiert?

    Teils über Anwälte, teils über staatliche Zeitungen und Fernsehen. Manchmal ist allerdings nicht so klar, ob das BT (das belarussische Staatsfernsehen – Anm. Doshd) eine Außenstelle des KGB ist oder umgekehrt. Lustig, wie sie nun schon seit über einem Jahr einander um die Wette beweisen, dass sie die Mehrheit sind und nicht nur drei Prozent. 🙂

    Sie haben bestimmt vom Urteil gegen Viktor Babariko gehört (Kolesnikowa  war Koordinatorin von Babarikos Wahlkampfteam – Anm. Doshd). Haben Sie so eine lange Haftstrafe erwartet?

    Ich hatte keinen Zweifel, dass die Strafe hart wird. Denn je schwächer das Regime, desto grausamer das Urteil. Viktor Dimitrijewitsch ist schon über ein Jahr inhaftiert, aber seine Umfragewerte sind hoch, er hat eine Partei gegründet, ist sich selbst treu geblieben, hat keine Kompromisse mit seinem Gewissen geschlossen, obwohl sein Sohn, seine Familie und sein Team quasi in Geiselhaft sind. Sie haben Angst vor ihm, weil sie selber nichts können als Gewalt auszuüben. 

    Je schwächer das Regime, desto grausamer das Urteil

    Bald ist Ihre Verhaftung ein Jahr her. Haben Sie erwartet, dass Sie so lange in U-Haft sein werden? 

    Ich wusste, wenn ich nach dem 9. August in Belarus bleibe, wird es ganz bestimmt nicht einfach. Aber dazu war ich bereit. Und am 7. September (dem Tag, an dem Kolesnikowa verhaftet wurde – Anm. Doshd) war ich mir gar nicht sicher, ob ich am Leben bleibe und ob das nicht der letzte Montag meines Lebens sein wird. Ein Jahr später lebe ich noch – wie könnte mich das nicht freuen!

    Bereuen Sie im Nachhinein irgendetwas? Denken Sie manchmal, es wäre besser gewesen wegzugehen?

    Nein, ich bereue nichts, ich finde, es war die einzig richtige Entscheidung, meinen Pass zu zerreißen und damit meine Ausweisung zu verhindern. Wie sich zeigte, waren alle Gerüchte über die Macht des KGB maßlos übertrieben, und eine einzige Handbewegung reichte aus, um ihre feigen Pläne in Luft aufzulösen. Das Böse spielt sich immer selbst ins Aus. 

    Ein Jahr nach den Wahlen: Mit welchen Gefühlen erinnern Sie sich an jenen August und an das, was weiter passierte? Sind Sie enttäuscht, oder, im Gegenteil, gerade gar nicht?

    Der ganze Sommer hatte einen enormen Drive, es war ein Meer von positiver Stimmung, von Wärme, Lächeln und Liebe. Es war schwer, aber es hat sich gelohnt. 

    Das Böse spielt sich immer selbst ins Aus

    Enttäuschung spüre ich keine, dafür einen Ozean an Begeisterung! Ich bin begeistert von den unglaublichen Belarussen und ihrem unbeirrten Streben nach Freiheit, ihrer Bereitschaft, dafür zu kämpfen.

    Wie kann es weitergehen? Was muss passieren, damit sich die Situation in Belarus ändert?

    Die Situation ändert sich so rasant – mitten in den Turbulenzen lässt sich nichts vorhersagen. Es ist klar: Die herzlosen Aktionen der Staatsmacht – Repressionen, Säuberungen im Medien- und Infobereich, die Boeing-Geschichte (die Landung des Flugzeugs mit Protassewitsch – Anm. Doshd), die Migranten, die Vernichtung des Unternehmertums sowie die pathologische Unfähigkeit, die Folgen des eigenen Handelns wenigstens ein, zwei Schritte vorauszuberechnen – werden vor dem Hintergrund des absoluten Mangels an Vertrauen und Rückhalt seitens der Bevölkerung unweigerlich zum Zusammenbruch [der Staatsmacht] führen.   

    Verlassen Sie sich in dieser Hinsicht auf irgendjemanden oder irgendetwas?

    Ich glaube, dass die Belarussen ihre Probleme auch jetzt schon selbst lösen könnten, aber das braucht politischen Willen, Weisheit und Mut. Einen Dialog mit dem Volk zu beginnen – das ist das Einzige, was offensichtlich allen recht wäre und das Land wegführen würde vom Rand des Abgrunds, an den uns die Staatsmacht so unerbittlich drängt.  

    Können die europäischen Sanktionen das Geschehen irgendwie beeinflussen? Sollen die westlichen Länder auf die Ereignisse in Belarus reagieren, und wenn ja, wie?

    Für die Belarussen ist die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft sehr wichtig, nämlich zu wissen und zu spüren, dass wir mit diesem Terror und mit dieser wildgewordenen Dampfwalze nicht allein sind.   

    Die russische Regierung unterstützt Alexander Lukaschenko, zumindest auf offizieller Ebene. Wie groß ist die Rolle Russlands beim aktuellen Geschehen in Belarus und dabei, dass Alexander Lukaschenko im Amt bleibt? 

    Niemand kommt auf die Idee, dass die Führung Russlands Lukaschenko vertraut oder seinen Versprechungen auch nur ein Jota glaubt. Wir wissen nicht, ob es tatsächlich Unterstützung gibt und worin die besteht, abgesehen von Gesprächen darüber. 

    Für die Belarussen ist die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft sehr wichtig – zu wissen, dass sie mit dieser wildgewordenen Dampfwalze nicht allein sind

    Die harten Fakten: Die Bank der Gazprom (Gazprom und Gazprombank sind Aktionäre der Belgazprombank – Anm. Doshd) ist vernichtet, die Top-Manager sitzen hinter Gittern, [die Freundin von Roman Protassewitsch und russische Staatsbürgerin Sofia] Sapega ist in Minsk, Flüge auf die Krim gab es dann doch keine, und so weiter. Alle Gespräche über „Unterstützung“ sind Schaumschlägerei. Aber es ist auch klar, dass es für Lukaschenko einfacher ist, auf Knien um „Unterstützung“ zu betteln, als den Widerstand in Belarus zu beenden. Offenbar hat er vergessen, dass er nicht mit Putin zurechtkommen muss, sondern mit den Belarussen.  

    Haben Sie am Anfang mit Russlands Unterstützung gerechnet?

    Nein. Als Babarikos Wahlkampfteam waren wir strikt gegen eine Einmischung anderer Länder in innere Angelegenheiten der Republik Belarus. Als Lukaschenko den Krieg gegen uns anfing, schlugen wir vor, einen Dialog zu beginnen, entweder aus eigenen Kräften oder mit Vermittlung Russlands, der EU und der OSZE. Das ist unsere ehrliche und konsequente Position. Ich bin auch jetzt der Meinung, dass wir die Krise nur durch einen Dialog überwinden können.

    Was würden Sie den Belarussen gern sagen? 

    Ich glaube an die Belarussen, und ich liebe Belarus. Ich bin in Sorge um alle , weiß aber, dass das Böse sich selbst ins Aus spielen und das Gute siegen wird. Unsere kleinen Schritte führen zu großen Siegen. Für die Freiheit und die Zukunft von Belarus lohnt es sich zu kämpfen. Gemeinsam werden wir siegen! 

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    Grenzverschiebungen

    „Wir werden niemanden aufhalten“, sagte Alexander Lukaschenko Anfang Juli bei einem Treffen seiner Regierung in Minsk. Damit meinte der langjährige Autokrat Flüchtlinge vorwiegend aus dem Irak, aus Syrien oder Afghanistan, die versuchen, über Belarus in die EU zu gelangen. Tatsächlich sind seit Anfang des Jahres fast 4000 Flüchtlinge nach Litauen gelangt, täglich werden es mehr. Sie laufen durch die Wälder und Moorgebiete, die Belarus und Litauen auf einer Länge von 680 Kilometer voneinander trennen – es sind im Übrigen Fluchtwege, die zum Teil auch Belarussen nutzen, die aus politischen Gründen ins Nachbarland flüchten.

    In den vergangenen Tagen demonstrierten mehrere hundert Litauer in Vilnius gegen einen Plan der EU-Kommission, die Migranten in einem Camp im Grenzort Dieveniškės unterzubringen. Auch im Grenzort Rudninkai protestierten Menschen gegen ein bereits errichtetes Zeltlager. Das kleine Litauen steht unter hohem politischen Druck. Das drei Millionen Einwohner-Land hatte bereits Anfang Juli den Notstand ausgerufen. Über 30 Soldaten der EU-Grenzbehörde Frontex wurden nach Litauen geschickt, um die dortigen Grenzbehörden zu unterstützen, auch bei der besseren Sicherung der Grenze zu Belarus. Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis beschuldigte Lukaschenko, die Flüchtlinge als „hybride Waffen gegen die EU“ zu benutzen – sozusagen als Strafe für die Sanktionen, die die EU am 21. Juni gegen die belarussischen Machthaber beschloss. Auch Politiker der belarussischen Opposition wie beispielsweise Pawel Latuschko warfen Lukaschenko vor, die Migranten gezielt in Richtung EU zu schleusen. Die litauische Regierung gehört zu den schärfsten Kritikerinnen Lukaschenkos. Anfang Juli hatte Litauen der belarussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, die sich mit ihrem Team in Vilnius aufhält, einen offiziellen Status zuerkannt, worauf es zu einer diplomatischen Krise zwischen beiden Ländern kam.

    Aus welchen Ländern kommen die Flüchtlinge? Was sind ihre Beweggründe zu fliehen? Wer organisiert ihre Flucht vor Ort und in Belarus? Wie gelangen sie über die Grenzen? Das belarussische Online-Medium Reform.by beschäftigt sich in einer aufwändigen Reportage und Recherche mit diesen Fragen.

    Bagdad und Minsk verbindet ein recht belebter Luftweg. Bis vor Kurzem flog diese Strecke nur die Iraqi Airways – ein- bis zweimal pro Woche, je nach Saison; jetzt fliegt sie mittwochs und freitags. Doch seit dem 10. Mai hat sich die Zahl der Flüge zwischen der irakischen und der belarussischen Hauptstadt verdoppelt. Denn auch Fly Baghdad fliegt jetzt die Strecke – montags und donnerstags. [Inzwischen fliegt Iraqi Airways nach Informationen von Zerkalo.io (ehemals tut.by) vier Mal pro Woche von Bagdad nach Minsk, im August gibt es außerdem weitere Verbindungen von Sulaimaniyya, Basra und Erbil nach Minsk – dek].
    Seit Frühling 2021 preisen irakische Reisebüros massenhaft Urlaub in Minsk an. Die Kosten solcher Pakete variieren zwischen 560 und 950 Dollar. Im Preis inbegriffen sind Flugtickets, Visum, Versicherung, Unterbringung im Hotel und mehrere geführte Touren. 

    Die irakische Reiseagentur Jood Land wirbt für Reisen nach Belarus / Foto © Screenshot Reform.by
    Die irakische Reiseagentur Jood Land wirbt für Reisen nach Belarus / Foto © Screenshot Reform.by

    Solche Pauschalreisen aus dem Irak nach Belarus sind in den letzten Monaten deutlich billiger geworden. Das erwähnte im Gespräch mit Reform.by auch Jelena K. – eine Belarussin, die im irakischen Kurdistan lebt und mit einem Einheimischen verheiratet ist. 

    Lange Zeit plante das Paar eine Reise in Jelenas Heimat, konnte sich diese aber nicht leisten. Laut Jelena hätte noch im letzten Jahr ein Ticket nach Belarus und zurück mit Umsteigen in Istanbul rund 850 Dollar gekostet. Eine Pauschalreise wäre auf etwa 1000 Dollar pro Person gekommen. Jetzt, sagt Jelena, kann man Reisen nach Belarus ab 500 Dollar pro Person finden.

    Im August 2020 bot die irakische Reiseagentur Jood Land achttägige Touren nach Belarus an, von denen die billigste 949 Dollar kostete. Reform.by hat die Agentur kontaktiert und nach dem aktuellen Preis gefragt. Die Antwort: Eine achttägige Reise mit Unterbringung im Doppelzimmer kostet für eine Person 570 Dollar. In der Agentur betonte man, dass es jetzt viel mehr Iraker als früher gebe, die Belarus besuchen wollen.  

    Ich habe mein Leben lang davon geträumt, den Irak zu verlassen

    Angesichts der Preise für Pauschalreisen ist es nur logisch, dass viele Iraker sich für Belarus interessieren. Das beweisen auch die Facebook-Kommentare zu Werbungen von Reisebüros. Wir haben einige Iraker kontaktiert, die in FB-Kommentaren nach den Kosten für Belarus-Reisen fragten. 
    Gleich der erste junge Mann aus Bagdad erklärt: Er habe eine Werbung gesehen, von den vier Angeboten habe ihm Belarus am besten gefallen, daher wolle er hinfahren – nur als Tourist, zur Erholung. In Belarus sei er noch nie gewesen, und er kenne auch niemanden, der schon mal dort war. Doch schon ein paar Minuten später fragt er: „Wissen Sie überhaupt, wie es im Irak zugeht? Kennen Sie sich vielleicht mit Migration in die EU aus? Wenn ich nach Belarus fahre und dort heiraten würde, könnte ich dann legal im Land bleiben?“
      
    Wie uns der Iraker Amin (Name geändert) erzählt, wurde Alexander Lukaschenkos Verlautbarung, Belarus werde Flüchtlingen, die in die EU wollen, keine Steine mehr in den Weg legen, mehrere Tage hintereinander im irakischen Fernsehen gesendet. Und überhaupt würden die irakischen Medien Nachrichten zum Thema Migration viel Aufmerksamkeit schenken und jetzt oft über Belarus berichten. Daher würden viele Iraker, die permanent auf der Suche nach Möglichkeiten seien, das Land zu verlassen, diese Chance sofort nutzen.

    Für Migranten sei Belarus derzeit eine der billigsten und ungefährlichsten Arten, nach Europa zu gelangen

    Amins Karte / © Reform.by 
    Amins Karte / © Reform.by 

    Amin ist 25. Der junge Mann sagt, er habe sein Leben lang davon geträumt, den Irak zu verlassen, er nennt den Irak die Hölle auf Erden. Als er im Fernsehen von Belarus erfahren habe, hätten er und seine Freunde beschlossen, diese Gelegenheit beim Schopf zu packen. Er sagt, für Migranten sei eine Reise nach Belarus derzeit eine der billigsten und ungefährlichsten Arten, nach Europa zu gelangen.   
    „Schlepper kassieren meistens ein paar tausend Dollar für eine Lkw-Fahrt in ein europäisches Land“, sagt Amin.
    Er meint, nach Lukaschenkos Worten sei im Irak die Nachfrage nach Belarus-Reisen deutlich gestiegen. Er selbst und vier seiner Freunde haben im Reisebüro Al Qimma Travel and Tourism für 700 Dollar pro Person gebucht. Im Preis inkludiert sind PCR-Test, Visum, Unterkunft und mehrere Ausflüge. Ein Visum für zehn Tage bekam Amin gleich auf dem Nationalen Flughafen in Minsk ausgestellt.     

    Noch vor seiner Ankunft in Belarus erzählt uns Amin: Seine Freunde und er verfolgen Meldungen über Festnahmen illegal Reisender an der litauischen Grenze und markieren die jeweiligen Orte auf einer Karte. Den Grenzübertritt planen die jungen Männer in der Region Grodno – weil dieses Gebiet auf Satellitenkarten bewaldet aussehe. Außerdem suchen sie Informationen darüber, mit welchen Transportmitteln sie bis zur Grenze kommen und wo sie litauische SIM-Karten kaufen können. Amin und seine Freunde entscheiden sich, mit öffentlichen Verkehrsmitteln bis Lida zu fahren und von dort mit dem Taxi zur Grenze. 

    Mit dem Taxi bis zur Grenze

    Zuerst hatte die Gruppe vor, etwa drei Tage in Minsk zu bleiben, aber als sie am 10. Juli ankommen, wollen sie lieber keine Zeit verlieren und am selben Tag noch bis zur Grenze fahren. Dann passiert etwas Kurioses, das illustriert, wie illegale Einwanderer in Belarus – wenn auch nicht in allen, so doch in vielen Fällen – absolut auf sich gestellt und ohne jegliche Organisation und Hilfe agieren. Die Jungs verlassen das Hotel und gehen zur nächsten Bushaltestelle, wo Amin dem Journalisten, mit dem er Kontakt hat, ein Foto des Fahrplans schickt und fragt: „Welcher von diesen Bussen fährt an die Grenze?“
    Im Endeffekt fahren sie mit dem Taxi. Wahrscheinlich sind sie über der Grenze, als unser Kontakt zu Amin abreißt. Soweit wir wissen, werden den Leuten in den Auffanglagern während der Quarantäne die Handys abgenommen und nur zu bestimmten Zeiten ausgehändigt.

    „Welcher von diesen Bussen fährt an die Grenze?“ / Foto © Reform.by
    „Welcher von diesen Bussen fährt an die Grenze?“ / Foto © Reform.by


    Die Fluchtbewegung nach Litauen besteht nicht nur aus Irakern. Mansur (Name geändert) ist ein 23-jähriger Syrer, er hat in der Türkei einen Uni-Abschluss als Energieingenieur gemacht. Jetzt wird er zur Armee einberufen und hat beschlossen, das Land zu verlassen.  
      
    „Von Migration über Belarus habe ich in der Zeitung gelesen, in Syrien liest man aufmerksam alle Nachrichten zum Thema Migration. Ich habe von der Situation in Belarus und von Lukaschenkos Aussage über Einwanderer gehört, daher wollte ich die Chance nutzen“, erzählt der junge Mann. 
    Da Mansur in der Türkei studiert hat, hat er eine doppelte Staatsbürgerschaft: die syrische und die türkische. Türkische Staatsbürger haben das Recht, sich bis zu 30 Tage ohne Visum in Belarus aufzuhalten. Daher braucht Mansur kein Visum zu beantragen.

    Wenn ich über die Grenze gehe, werde ich ein Handy mit aufgeladener Karte, zwei Kilo Bananen, zwei Liter Wasser, eine Hose und ein Hemd einpacken

    Dreiländereck Polen, Litauen, Belarus / © Reform.by
    Dreiländereck Polen, Litauen, Belarus / © Reform.by

    „Vom Flughafen fuhr ich mit dem Bus nach Minsk und ging zum Bahnhof, wo ich dem Schalterbeamten auf meinem Handy den Satz ‚Ich möchte ein Ticket Minsk–Grodno kaufen‘ auf Russisch zeigte. So fuhr ich nach Grodno. Auf der Karte hatte ich gesehen, dass es in der Nähe der polnischen und der litauischen Grenze liegt, daher wollte ich sofort in diese Stadt. Hier wohne ich bis auf Weiteres in einem Hotel im Zentrum und tüftle mir eine Route aus. Ich überlege, wo ich am besten hingehe, sehe mir diesen Ort an“, Mansur zeigt uns einen Screenshot. 

    „Wenn ich über die Grenze gehe, werde ich ein Handy mit aufgeladener Karte, zwei Kilo Bananen, zwei Liter Wasser, eine Hose und ein Hemd einpacken. Aber ich muss erst herausfinden, wie ich zur Grenze komme, wie das hier mit dem Taxi ist“, erzählt Mansur weiter.
    Der junge Mann gibt zu, große Angst vor der belarussischen Miliz zu haben. Das letzte Mal haben wir am 7. Juli mit Mansur gesprochen, seitdem war er nicht mehr telefonisch erreichbar und nicht mehr online.

    Nach dem Irak kommt ihnen Belarus wie ein Polizeistaat vor

    Wie wir von unseren Gesprächspartnern wissen, haben Migranten, die durch unser Land flüchten, generell große Angst vor Begegnungen mit der Miliz: Nach dem Irak kommt ihnen Belarus wie ein Polizeistaat vor. Sollte es dennoch passieren, wollen sie sich als Studenten der Universität Grodno ausgeben. Ihrer Meinung nach klingt das glaubwürdig und kann sie vor Festnahmen bewahren. 

    Keiner der Migranten erzählt uns (obwohl sie recht gesprächig sind), dass sie in Belarus Anweisungen bekommen hätten, wo sie hinfahren und was sie dort sagen sollen, schon gar nicht von Grenzbeamten. Daraus schließen wir, dass sie vor allem untereinander ihre Erfahrungen weitergeben. Sie verkehren in unzähligen Social-Media-Gruppen und Telegram-Chats für Flüchtlinge – in der Regel geschlossenen, in die man schwer reinkommt, aber uns ist es gelungen. 

    Hast du es geschafft – dann hilf dem Nächsten

    Samir, der eine solche Community gegründet hat, erzählt uns, dass solche Gruppen in erster Linie dazu da sind, Informationen über möglichst ungefährliche Transitrouten nach Europa zu teilen. Mit dem Ziel, dass sich möglichst wenige Leute dem Risiko aussetzen, in Booten das Meer zu überqueren oder sich in mit Menschen vollgestopften Lastwagen über den halben Kontinent karren zu lassen und dafür noch Unsummen hinzublättern. 
    Jetzt entstehen spezielle Gruppen, in denen es darum geht, wie man über Belarus nach Europa gelangt. 

    Tausende Dollar für Europa?

    Samid (Name geändert) ist Kurde. Er will über Belarus nach Polen, um dann nach Deutschland weiterzureisen. Von ihm haben wir die Kontaktdaten eines kurdischen Schleppers bekommen, der die Leute von Litauen nach Deutschland bringt.

    „Sie bringen die Leute von Litauen nach Deutschland, pro Person kostet das 85.000 US-Dollar. Außerdem haben sie noch jemanden an der Grenze, der den Weg erklärt, vielleicht ein Einwohner Litauens“, erzählt Samid.

    Laut Samid sind in dem Preis ein Visum und andere Dokumente enthalten, die für die Einreise nach Belarus und den Transit zur Grenze nötig sind. An der Grenze werde den Leuten erklärt, wohin sie gehen müssen. Nach dem Grenzübertritt würden sie in Litauen von jemandem empfangen und nach Deutschland gebracht. 

    Samids Bericht ist die einzige uns vorliegende Quelle, die sich mit den Informationen überschneidet, die sich mittlerweile vielfach in den Medien finden: Dass viele Migranten bis zu 15.000 Dollar bezahlen würden, um über Belarus nach Litauen zu gelangen. In den Chats von irakischen Migranten haben wir diese Informationen nicht gefunden, und auch von unseren Interviewpartnern, die überwiegend aus dem Irak stammen, wurden sie nicht bestätigt.

    Interessant ist, dass in den vergangenen Jahren illegal reisende Migranten (auch aus dem Irak) Belarus gemieden und sogar davor gewarnt haben, über dieses Land in die EU einzureisen, weil die Grenze zu streng bewacht werde.

    Wir haben einen Post von 2017 gefunden, in dem Iraker darüber diskutieren, warum es gefährlich sei, die belarussische Grenze zu passieren. In den Kommentaren schrieb ein Syrer namens Hatim, Belarus sei als ein Staat bekannt, in dem jeder verhaftet würde, man solle diese Variante lieber nicht in Betracht ziehen.

    Eine offene Grenze

    Warum gilt der belarussische Korridor also jetzt als eine nahezu sichere Möglichkeit, in die EU zu gelangen? Das liegt nicht nur an den gesunkenen Preisen für Flüge und touristische Reisen. Aus den Berichten aller unserer Interviewpartner geht klar hervor, dass sich das Verhalten der Grenzbeamten grundlegend geändert hat. Das sagen nicht nur Migranten, sondern auch Belarussen. Diese Angaben wurden uns außerdem von zwei Grenzbeamten bestätigt, die bereit waren, anonym mit uns zu sprechen.

    Ein anonymer Informant von Reform.by, der an einem Grenzkontrollpunkt arbeitet, erzählt von der gegenwärtigen Situation an der belarussisch-litauischen Grenze:

    „Derzeit passieren ziemlich erstaunliche Dinge. Früher wurde man dafür belohnt, wenn man einen Zigarettenschmuggler erwischt hat, jetzt ist das nicht gern gesehen. Und was die Illegalen angeht, die Grenzbeamten verhaften zwar welche, doch neuerdings gibt es den Befehl von oben, dass die Beamten ihre Patrouillen nach einem festen Plan durchführen sollen, so dass gewisse Fenster entstehen, durch die die Illegalen hindurchkönnen. Es gibt keinen konkreten Befehl, aber wenn du zum Beispiel deinen Vorgesetzten sagst, die rechte Flanke der Grenzzone ist nicht abgedeckt, heißt es, das sei nicht weiter schlimm, und keiner unternimmt etwas.“

    Es ist offensichtlich, dass die Schleusen für Schmuggelei und illegale Migration geöffnet sind

    „Früher hat ein Grenzbeamter einen Illegalen festgenommen und dafür 200 Rubel [knapp 70 Euro – dek] Prämie bekommen, aber wenn ein Grenzbeamter heute trotz allem noch jemanden festnimmt, bekommt er gar nichts mehr. Kollegen, die neulich Gruppen von je 14 und fünf Irakern festgenommen haben, haben gerade mal 20 Rubel bekommen.

    Es ist offensichtlich, dass die Schleusen für Schmuggelei und illegale Migration jetzt geöffnet sind. Sogar die festgenommenen Illegalen bekommen jetzt nur eine kleine Geldstrafe und werden wieder freigelassen. Früher wurde ein Protokoll erstellt, Anklage erhoben, sie wurden in spezielle Abschiebelager gebracht. Das Ergebnis ist ein starker Beamtenschwund, viele verlängern ihre Verträge nicht.“

    Roman (Name geändert) ist Grenzbeamter an der belarussisch-litauischen Grenze in der Oblast Grodno. Auch er bestätigt die Informationen über den Beamtenschwund im Grenzdienst.

    Es gab den mündlichen Befehl, die Augen vor illegalen Migranten zu verschließen

    „Es gab den mündlichen Befehl, die Augen vor illegalen Migranten zu verschließen, sie nur festzunehmen, wenn sie extrem dreist werden, quasi direkt über den Grenzkontrollpunkt marschieren. Normalen Grenzbeamten gefällt das natürlich gar nicht, sie versuchen trotzdem, die Gesetzesbrecher festzunehmen. Dann gibt es einen Stempel, ein Protokoll, eine Geldstrafe und die Illegalen werden mit ihren Sachen in ein Untersuchungsgefängnis gebracht. Wobei sie oft nur einen Rucksack dabeihaben oder gar keine Sachen, keine Ahnung, wo sie die lassen.

    Übrigens werden statt Grenzbeamten derzeit OSAM (Spezialeinheiten der Grenztruppen) auf Grenzpatrouille geschickt – schon möglich, dass diese Spezialeinheiten den Migranten selbst den Weg zeigen.“

     

    Belarussische Grenzschützer bei der Arbeit / Symbolbild © gpk.gov.by

    Auch Belarussen bemerken an der Grenze Gruppen von Migranten. Anfang Juli posten viele Anwohner der Grenzregion in Telegram-Kanälen, dass sie immer wieder Busse zur Grenze und wieder zurückfahren sehen und dass die Beamten keine Passkontrollen bei den Nichteinheimischen mehr durchführen.

    Wir sprechen außerdem mit einem Belarussen, der Ende Juli ins Ausland geflohen ist, um einer politisch motivierten Gefängnisstrafe zu entgehen. Zunächst hat er knapp eine Woche in der Nähe von Lida gewohnt und auf den richtigen Moment gewartet. Er sagt, er hätte von Einheimischen gehört, dass sie oft Kleinbusse mit zugezogenen Vorhängen sehen – ihrer Meinung nach werden darin Migranten transportiert. Unser Interviewpartner hat auch selbst einen solchen Bus gesehen.

    Schon möglich, dass diese Spezialeinheiten den Migranten selbst den Weg zeigen

    Unmittelbar hatte er nur beim Grenzübertritt mit Migranten zu tun. Er berichtet, er und seine Begleiter hätten kurz vor der Grenze, unweit der Stelle, an der sie das Land verlassen wollten, ein militärisches Zeltlager mit Grenzbeamten gesehen. „Als würden sie auf jemanden warten, oder sich abseits halten, um nicht zu stören“, sagte er. Deswegen entschieden er und seine Begleiter sich, nicht an dieser Stelle, sondern direkt, wo sie waren, über die Grenze zu gehen. Sie mussten also durch den Sumpf fliehen, überquerten die Grenze und trafen dort auf litauische Grenzbeamte. Eine Viertelstunde später kam auf demselben Weg eine Gruppe von Migranten: knapp zwölf arabisch aussehende Menschen. Sie erklärten den Grenzbeamten, sie wären Studenten der Universität Grodno, wurden verhaftet und in ein Lager gebracht.

    Außerdem wissen wir von einem Mann, der Anfang Juli nach einer Festnahme durch Sicherheitskräfte aus Belarus geflohen ist. Er berichtet, ein befreundeter Grenzbeamter hätte ihm zu einem Grenzübertritt in der Oblast Grodno geraten, denn „dort achtet gerade keiner auf die Grenze“. Tatsächlich konnte unser Interviewpartner die Grenze bei Lida problemlos überqueren. Er sagt auch, er habe an dem Grenzabschnitt noch vier arabisch aussehende „Kollegen“ gesehen, die auf der belarussischen Seite ebenfalls nicht aufgehalten worden seien.

    Migranten als aktive Teilnehmer eines hybriden Angriffs zu betrachten

    Alena Tschechowitsch ist Juristin bei Human Constanta, einer öffentlichen Beratungsstelle für Migranten und staatenlose Menschen. Sie kommentiert für Reform.by die Situation aus Sicht des Migrationsrechts. Tschechowitsch ist der Meinung, dass Migranten, die die politische Situation in Belarus nutzen wollen, in einer sehr gefährlichen Lage sind:

    „Nach polnischem und litauischem Recht können die Migranten, die in diesen Ländern Asylanträge stellen, nicht abgeschoben werden, bevor über diese Anträge entschieden wurde. Diese Gesetze gelten für alle Asylsuchenden, unabhängig davon, ob sie legal oder illegal ins Land gekommen sind. Wenn die Migranten nicht nachweisen können, dass ihnen im Herkunftsland Gefahr droht, wird ihnen das Asyl verweigert, dann können Polen oder Litauen sie nach ihren jeweiligen internen Verfahren abschieben. In der gegenwärtigen Situation, also angesichts der hohen Zahl von Ankommenden, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass die litauischen und polnischen Behörden die Anträge auf Asyl und einen Flüchtlingsstatus unbegründet ablehnen. 

    Zudem hat das litauische Parlament die gestiegene Fluchtbewegung über die belarussische Grenze als hybride Kriegsführung bezeichnet. Das Parlament fordert, die Migranten aus Drittstaaten, die illegal über die litauische Grenze einreisen und keine Papiere haben – ausgenommen sind Frauen mit Kindern, behinderte Menschen und Kinder unter 16 – , als aktive Teilnehmer eines hybriden Angriffs zu betrachten, solange nicht das Gegenteil bewiesen wurde. Wenn die litauische Regierung diesem Gesetzesentwurf zustimmt, könnten sich hunderte Menschen in einer sehr gefährlichen Lage wiederfinden, ohne den ihnen zustehenden Schutz.“

    Am 21. Juli wurde der Gesetzesentwurf vom litauischen Präsidenten unterzeichnet.

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    „Ich wurde unter Druck gesetzt, man versucht, mich gegen meinen Willen außer Landes zu bringen.“ Mit diesen Worten wandte sich die belarussische Leichtathletin Kristina Timanowskaja am Sonntag aus Tokio an das Internationale Olympische Komitee.

    Das Belarussische Olympische Komitee hatte zuvor den Abzug der Sportlerin von den Olympischen Spielen erklärt und dies offiziell mit ihrer „emotional-psychischen Verfassung“ begründet. Kritiker sehen den tatsächlichen Grund allerdings in Aussagen Timanowskajas, die sie zwei Tage zuvor auf ihrer Instagram-Seite gemacht hatte: Dort hatte sie sich darüber empört, dass sie nun kurzfristig und unabgesprochen in einer weiteren Disziplin (4-mal-400-Meter-Staffel) antreten müsse – anstelle ihrer Kolleginnen, die nicht an den Spielen teilnehmen konnten, weil Sportfunktionäre bei den Dopingtests geschlampt hätten.

    Timanowskaja musste am Sonntag letztlich nicht nach Belarus ausreisen, wo sie nach eigenen Angaben womöglich Repressionen erwartet hätten. Kurz nach dem Vorfall am Flughafen von Tokio veröffentlichte der Telegram-Kanal Nik i Maik den mutmaßlichen Mitschnitt eines Gespräches, in dem Nationaltrainer Juri Moissewitsch und ein weiter Sportfunktionär Timanowskaja die Ausreise nahelegen und auch, in der Angelegenheit von nun an zu schweigen. Dimitri Nawoscha, Gründer des Sportportals sports.ru, spricht von einem „epochalen Dokument“: „Eine Mischung aus Lügen, direkten Drohungen, Victimblaming (,Du zerstörst das Schicksal anderer Menschen‘), Überredungen (,Mach es fürs Team!‘) – ein Dogmen-Mix aus Orthodoxie und Komsomol.“

    Der im Juni nach Kiew geflohene politische Analyst Artyom Shraibman kommentiert den Vorfall um Timanowskaja auf seinem Telegram-Kanal und sieht darin seine bereits mehrfach geäußerte These über den Machtapparat Lukaschenkos bestätigt: „Das System verliert an Kompetenz und macht einen Fehler nach dem anderen.“ 

    Der Fall der Athletin Timanowskaja demonstriert höchst anschaulich, wie ein bürokratisches System – das sich im vergangenen Jahr jegliche Selbstkontrolle abgewöhnt und innere Checks and Balances sowie die Reste von Kritikfähigkeit aufgegeben hat – wie dieses System aus einer völlig unbedeutenden Episode einen internationalen Skandal macht.

    Ausländische Journalisten fragen oft: Warum musste man denn gleich Sanktionen provozieren, um Protassewitsch festzunehmen? Warum musste man sich ausgerechnet 80 Prozent [der Wählerstimmen – dek] andichten vor einem Jahr?

    Doch dafür gibt es keinen Grund. Das System funktioniert nicht so, dass es bei der Entscheidungsfindung alle Risiken abwägt. Die Anreize sind hier anders gelagert: Um jeden Preis gilt es, das zu löschen, was den Zorn des Ersten [Mannes im Staate – dek] entflammen könnte. Und wenn der Zorn entbrannt ist, dann muss er mit doppeltem Einsatz gelöscht werden.

    Ich bin ziemlich sicher, dass sich alles wie folgt entwickelt hat: Timanowskaja veröffentlicht ein Video mit Kritik an den Sportfunktionären, die die Dopingtests von anderen Athletinnen vergeigt haben und nun Timanowskaja zwingen, an deren Stelle zu laufen. Telegram-Kanäle greifen das Video auf.

    Wenn Lukaschenkos Zorn entbrannt ist, dann muss er mit doppeltem Einsatz gelöscht werden

    Das Fernsehen läuft in dem Modus: Auf alles eindreschen, was Telegram-Kanäle aufgreifen. Im Endeffekt ist Timanowskaja nun die Anti-Heldin aller Nachrichtensendungen im Staatsfernsehen. Lukaschenko schaut Fernsehen und ist wütend: Wir haben ihr doch alles gegeben, haben sie auf unsere Kosten trainiert, und sie zieht da ihre Show ab und postet solche Sachen. Lukaschenko greift zum Hörer und fordert, Timanowskaja von den Spielen abzuziehen und sie mit dem nächsten Flugzeug nach Hause zu schicken.

    Die Sportfunktionäre beeilen sich, die Weisung auszuführen, aber es sickern schon Informationen durch. Also denken sie sich eine Version aus über eine ärztliche Untersuchung und eine instabile Gefühlslage der Läuferin [als offizielle Erklärung des Rückzugs von den Spielen – dek]. Die Läuferin bestreitet aber, dass sie überhaupt untersucht worden sei. Internationale Medien greifen die Geschichte auf und machen daraus einen Skandal, der durchaus zum Ausschluss von Belarus aus dem IOC oder anderen Sanktionen im Sportbereich führen kann.

    Ich wette – sollte es so kommen – dann wird im nächsten Stadium von einer geplanten Provokation und einer im Voraus gekauften Timanowskaja die Rede sein. Sie hat ja auch einen verdächtigen Nachnamen [ähnlich zu dem von Swetlana Tichanowskaja – dek]. Und alles im Rahmen eines hybriden Kriegs, nach dem gescheiterten Blitzkrieg. Alles, damit die Region Grodno an Polen fällt. Oder ist es jetzt die Region Gomel an Japan?

    Aber im Ernst: Bei dieser Geschichte geht es nicht nur um die Mechanismen, wie unser Staat funktioniert, sondern auch um dessen Reputation. Hätten Sportfunktionäre irgendeines anderen Landes als Belarus – und vielleicht abgesehen von Nordkorea – beschlossen, einen Sportler zum Flughafen zu bringen, der wegen einer Meinungsverschiedenheit mit seinen Vorgesetzten von den Spielen abgezogen wurde, hätte dem niemand Beachtung geschenkt. Aber in unserem Fall ist selbst im fernen Japan jedem klar, was Timanowskaja im Vorzeigeland der europäischen Sicherheit droht.

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    Seit 2016 lädt die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zu einem Diskussionsklub ein – um die dringendsten gesellschaftlichen Veränderungsprozesse zu diskutieren. Beim zweiten Klub-Treffen des Jahres Anfang Juni 2021 ging es um das Buch Das Licht, das erlosch des bulgarischen politischen Analysten Iwan Krastew. Neben Krastew und Alexijewitsch nahm die russische Politologin Ekaterina Schulmann an der Diskussion teil, die der belarussische Analyst Artyom Shraibman moderierte. 
    Mit seinem Co-Autor Stephen Holmes vertritt Krastew in Das Licht, das erlosch einmal mehr die These eines „Nachahmungsimperativs“ des Westens nach dem Kalten Krieg. Damals hätte in Mittel- und Osteuropa ein Zeitalter der Imitation begonnen, doch auch unter dem Eindruck der Bevormundung seien Gefühle der eigenen Unzulänglichkeit immer größer geworden. Schließlich habe der Westen knapp 30 Jahre nach Ende des Kalten Kriegs seine Glaubwürdigkeit und Strahlkraft verloren. 

    Krastews Buch wurde in Westeuropa kontrovers diskutiert. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann etwa kritisiert unter anderem, dass Krastew mit „dem Westen“ einen Kampfbegriff und eine normative Bezugsgröße aus Zeiten des Kalten Krieges bemühe, die es so heute gar nicht mehr gebe. Auch unterscheide Krastew zu wenig zwischen liberaler Demokratie und neoliberaler Wirtschaftsordnung. 

    Vor dem Hintergrund zunehmender Gewalt und Repression in beiden Gesellschaften, sowie angespannter politischer Beziehungen mit Westeuropa fragt der Klub: Wo stehen Russland und Belarus knapp 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion? Und wie sieht ihre gesellschaftliche und politische Zukunft aus? Das belarussische Magazin Kyky hat Teile der Diskussion transkribiert – in denen vor allem die Politologin Ekaterina Schulmann den Thesen Krastews teilweise energisch widerspricht.

    Swetlana Alexijewitsch: Die Zeit hat alle unsere Illusionen und Erwartungen auf den Kopf gestellt, unsere ganze emotionale Trägheit. Vor allem in Belarus sind wir gezwungen, nach Solshenizyns Büchern zu leben. Weder meine noch eure Generation – niemand hat damit gerechnet. Wenn wir an unseren Enthusiasmus der 1990er Jahre denken, hätten wir nie gedacht, dass wir dort hinkommen, wo wir heute sind. Es gibt viele drängende Fragen, aber ich glaube, noch viel wichtiger ist es zu verstehen, warum wir da gelandet sind, wo wir heute sind. Warum all unsere Illusionen, die wir hatten, als wir uns an die Perestroika machten – warum nichts davon eingetroffen ist, sich nichts bewahrheitet hat.


    Wenn wir an unseren Enthusiasmus der 1990er Jahre denken, hätten wir nie gedacht, dass wir dort hinkommen, wo wir heute sind

    Als ich Das Licht, das erlosch von Iwan Krastew und Stephen Holmes gesehen habe, war ich schwer beeindruckt. Wir sollten aufhören, Angst zu haben, mal vor der Vergangenheit, mal vor der Zukunft, mal vor der Gegenwart. Wir leben in ständiger Angst. Versuchen wir doch einmal, unserer neuen Realität ins Gesicht zu schauen.

    Artyom Shraibman: Nachahmung ist ein Prozess, der viele Länder der Welt erfasst hat, aber vermutlich nicht alle. Es ist wichtig zu verstehen, warum er ausgerechnet unsere Länder erfasste und was das Ende dieser Epoche für uns bedeutet. 

    Iwan Krastew: Anfang der 1990er Jahre war klar, dass die Welt das westliche Lebensmodell imitieren würde, weil es zwei globale Ideologien gab, die den Kalten Krieg begründeten. Eine davon hat den Krieg nicht nur verloren, sie hat auch aufgehört, sich selbst zu glauben.

    [Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis] Fukuyama sprach von dem Ende der Geschichte, heute lachen alle über diese Idee. Aber Anfang der 1990er Jahre war Demokratie ein Synonym für die Modernisierung der Gesellschaft. Alle dachten, dass sie dieses Modell imitieren werden. Wir wollten leben wie im Westen: Die Ungarn wollten das, die Bulgaren, die Polen. 

    Aber wenn man jemanden imitiert, gibt man zu, dass er besser ist als man selbst. Das wirft eine zweite Frage auf: Was passiert mit der eigenen Identität? Und es gibt noch einen dritten Punkt: Man imitiert nicht Christus, sondern eine andere Gesellschaft, die sich ständig verändert. Daher kommen die starken antiliberalen Stimmungen, die man in Teilen der ungarischen und auch der polnischen Gesellschaft beobachten kann: Man wollte etwas anderes als das, was man imitiert hat. Schließlich erschien den Polen die westliche Gesellschaft Ende der 1980er als durchaus konservativ, alle gingen in die Kirche. Und sehen Sie sich an, wie sich diese Gesellschaft innerhalb von 30 Jahren verändert hat.

    Man wollte etwas anderes als das, was man imitiert hat

    Es gab in der Tat eine Zeit, in der selbst autoritäre Regime die Menschen davon überzeugen wollten, dass sie demokratisch legitimiert sind, dass sie wie die westlichen Demokratien sein wollen, es aber nicht gelingt. Doch diese Zeiten sind seit vier, fünf Jahren vorbei. Jetzt sehen wir in Russland und Belarus eine andere Rhetorik: Wir wollen nicht so sein wie ihr, im Gegenteil, und wir werden nie so sein wie ihr.

    Ekaterina Schulmann: Einen Teil dessen, was Iwan anspricht, bezeichnet man als Problem oder, wenn man so will, als Tragödie der aufholenden Entwicklung. Länder, die das Gefühl haben, rückständig zu sein, versuchen den Weg zum Fortschritt durch Nachahmung abzukürzen. Doch bevor wir konstatieren, dass die Länder der Zweiten Welt aufgehört haben, die Länder der Ersten Welt zu imitieren, sollten wir uns daran erinnern, dass das westliche Lebensmodell universelle Anziehungskraft besitzt.
    Niemand will etwas grundsätzlich anderes (das gilt auch für China und den postsowjetischen Raum), alle wollen iPhones, Supermärkte und Cafés, niemand will in Askese leben. Außerdem reagieren die Menschen sehr empfindlich auf Einschränkungen, die ihr Privatleben betreffen. Sie sind bereit, politische Freiheiten zu opfern – zum einen, weil sie nicht wirklich verstehen, was das ist, zum anderen, weil sie diese Freiheiten nie wirklich gehabt haben. Sie haben den unmittelbaren Zusammenhang zwischen politischer Freiheit und Lebensstandard noch nicht erkannt. Aber die Konsumfreiheit wollen ausnahmslos alle. Insofern wird die Nachahmung nicht aufhören, solange sich Wunsch und Wirklichkeit gleichen.

    Wir sollten uns daran erinnern, dass das westliche Lebensmodell universelle Anziehungskraft besitzt

    Es hat sich kein Alternativangebot, kein neuer Zivilisationstypus herausgebildet. Wie Iwan schon sagte, gab es zwei globale Ideologien, von denen die eine gestorben ist und die zweite gesiegt hat, das ist nach wie vor wahr. Aber es gibt auch eine zunehmende Diskrepanz zwischen dem gewollten Lebensstil und dem politischen Überbau. Genau darin liegt die Gefahr oder die Attraktivität des chinesischen Beispiels. China scheint der ganzen Welt sagen zu wollen: Man kann auch ohne den politischen Überbau des Westens Dutzende Millionen von Menschen aus der Armut führen und Riesenstädte errichten, ohne die Risiken, die die Demokratie in sich birgt. Das ist ein neues autoritäres Angebot, das nicht ideologisch ist. Es macht keinen Versuch, das Märchen von Orthodoxie, Selbstherrschaft, Volkstümlichkeit nachzuerzählen; Versuche dem Wahlvolk zu gefallen – das ist keine Ideologie. Auf dem Markt der Ideen hat der Westen insofern immer noch das absolute Monopol.

    China scheint der ganzen Welt sagen zu wollen: Man kann auch ohne den politischen Überbau des Westens Dutzende Millionen von Menschen aus der Armut führen

    Als der Sprecher der russischen Staatsduma vor einiger Zeit sagte, Russland sei die letzte Insel der Demokratie und der Freiheit, konnte man schwer nachvollziehen, was in diesem Moment in seinem komplexen Hirn vor sich ging. Klar ist jedoch, dass Demokratie und Freiheit als etwas Gutes wahrgenommen werden. Nur dass diese Dinge im Westen faul geworden und verdorben sind, wohingegen es sie bei uns nun einfach gibt. 

    In Russland spricht man oft davon, dass wir mehr Europa sein werden als Europa selbst, das die wahre Freiheit gegen Toleranz eingetauscht habe. Nach dem Motto: Ihr beschwert euch über die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor? Ihr habt ja keine Ahnung von der grausamen Hetze gegen Menschen und der Selbstzensur, die in den sozialen Netzwerken im Westen florieren.

    In Russland spricht man oft davon, dass wir mehr Europa sein werden als Europa selbst

    Das Buch, mit dem wir das Gespräch begonnen haben, wurde vom russischsprachigen Publikum nicht ohne Schadenfreude aufgenommen: Die im Westen haben ihre historische Niederlage eingestanden! Aber Niederlage im Vergleich zu wem? Zu diesen ewig imitierenden Autokratien, die zu 80 Prozent aus Propaganda und 20 Prozent aus Gewalt bestehen? Sollen die das neue historische Angebot sein?

    Niederlage im Vergleich zu wem? Zu diesen ewig imitierenden Autokratien, die zu 80 Prozent aus Propaganda und 20 Prozent aus Gewalt bestehen?

    Sie können ja nicht einmal formulieren, wer sie selbst sind. Heute sind sie eine souveräne Demokratie, morgen verteidigen sie sich gegen geheimnisvolle Feinde und machen sich nicht einmal mehr die Mühe zu erklären, was sie überhaupt zu verteidigen versuchen. Das einzige erklärte Ziel ist es, den Tag irgendwie durchzustehen und die Nacht zu überleben. Die Macht geben wir nicht ab, weil es ohne uns nur noch schlimmer wird – das ist das Einzige, was sie ideologisch anzubieten haben.

    Artyom Shraibman: Betreten wir wirklich eine neue Ära? Und ist sie überhaupt neu, haben wir nicht im 20. Jahrhundert und noch früher ähnliche Umbrüche, eine ähnliche Abkehr von Formen eines nationalen Selbstverständnis gesehen?

    Ekaterina Schulmann: 30 Jahre postsowjetischer Transit gehen zu Ende. Während dieser Zeit haben sich im postsowjetischen Raum drei politische Ordnungen herausgebildet: primitive mittelasiatische Despotien (Usbekistan u. a.); schwache Demokratien mit einem instabilen Staatsapparat, einem nicht erreichten Gewaltmonopol und einer ziemlich starken Rolle von Zivilgesellschaft, aber auch oligarchischen Gruppen (Ukraine, Kirgistan, Republik Moldau, Georgien, Armenien); und der dritte Typus – personalisierte Autokratien, die zwar Wahlen durchführen, aber durch die Wahlen keinen Wechsel riskieren wollen; die die Vorteile des Konkurrenzkapitalismus für sich nutzen, aber gleichzeitig eine extrem hohe Staatspräsenz in der Wirtschaft erschaffen (Russland, Belarus, Kasachstan). Das sind unsere drei Karten: eine Drei, eine Sieben, ein Ass. Oder, wenn Sie so wollen, die drei Wege, die die postsowjetische Entwicklung einschlagen konnte.

    Jetzt können wir beobachten, wie unterschiedlich die Autokratien in die für sie kritische Übergangsperiode eintreten. Bisher scheint Kasachstan von den dreien am besten abzuschneiden – sein politisches System hat den Mut gefunden, einzugestehen, dass ein Übergang notwendig ist und stattfinden wird.

    Die zwei slawischen Autokratien haben sich entschieden, den Lauf der Zeit zu leugnen, sie krallen sich am Status quo fest, den sie Stabilität und Souveränität nennen, und laufen jetzt doppelt so schnell, um auf der Stelle zu bleiben.

    Denn es hat sich herausgestellt, dass man den Status quo nicht aufrechterhalten kann, ohne eine unglaubliche Menge an Ressourcen reinzustecken. Ich glaube nicht, dass dieses Stadium – der Versuch, die Notwendigkeit eines Übergangs zu leugnen – die Endstation ist.

    Die zwei slawischen Autokratien haben sich entschieden, den Lauf der Zeit zu leugnen, sie krallen sich am Status quo fest

    Das russische Modell, das vielfältiger und flexibler als das belarussische ist, ist noch dabei, diese komplexe Gleichung für sich zu lösen: Was müssen wir ändern, damit alles gleich bleibt? Das politische System in Belarus verhält sich dabei sekundär und komplementär zum russischen. Wenn bzw. falls sich das russische Modell transformiert, wird das belarussische folgen.
    Die Todesstarre, der Krampf, der unsere beiden Systeme befallen und zahlreiche Prozesse auf Zwangspause gestellt hat, verdient Beobachtung, aber keine Verabsolutierung. Man sollte es nicht als finale Etappe einer dreißigjährigen Entwicklung sehen, als Ende der Geschichte. Lassen Sie uns nicht Fukuyama spielen.

    Artyom Shraibman: Wenn Belarus, Kasachstan und Russland denselben institutionellen Weg gehen, den die Länder Zentral- und Osteuropas gegangen sind, wird sich nicht irgendwann herausstellen, dass es eine Sackgasse ist? Was sollen die jungen, noch ungewissen Regime nach Lukaschenko, Putin und Nasarbajew aufbauen, wenn selbst ein wesentlicher Teil der Bevölkerung in den jungen Demokratien Osteuropas von der Imitation enttäuscht ist?

    Ekaterina Schulmann: Wie sollen wir uns modernisieren, wenn der Westen nicht mehr das Vorbild ist? Wissen Sie, einer der Faktoren für die Erosion des Ideals ist die Annäherung daran. Das heutige Belarus und sogar Russland sind dem Westen viel ähnlicher als der Sowjetunion. Unsere Autokratien haben sich den Vorbildern angenähert, die sie sich vorgestellt hatten. Wir haben uns den Kapitalismus angeschafft, Wahlen, sogar ein bisschen freie Presse, breite Uferpromenaden und Elektroroller, aber in die Erste Welt dürfen wir immer noch nicht.

    Der Sowjetmensch hat sich den legendären Westen als Schlaraffenland vorgestellt. Aber als das westliche Leben immer vertrauter wurde, entdeckte man darin immer mehr Flecken und Risse. Zumal man über den kollektiven Westen heutzutage nur nachsinnen darf, wenn man Nikolai Platonowitsch Patruschew ist.

    Einer der Faktoren für die Erosion des Ideals ist die Annäherung daran

    Was können wir über den nächsten Entwicklungssprung der postsowjetischen Autokratien sagen? Sie werden offenkundig urbanisierte Staaten mit einer gebildeten Bevölkerung bleiben und sich weiter in diese Richtung entwickeln; sie sind nicht so sehr Industriemächte als vielmehr Länder, in denen der Dienstleistungssektor eine immer größere Rolle spielt. Das ist nicht unbedingt der geeignetste Nährboden für eine primitive Diktatur. 

    Obwohl die neuen Möglichkeiten, jede einzelne Geldtransaktion, jede Bewegung nachzuverfolgen, einschließlich der Bewegung von Informationseinheiten, neue Möglichkeiten für Planung und Umverteilung bieten. Der Staat gibt seinen Bürgern Geld, unterstützt die Wirtschaft, und will im Gegenzug dafür deine Daten – wissen, was du schreibst, sagst, wo du dein Geld aufbewahrst, wohin du geschaut hast – und im nächsten Schritt auch deine Loyalität.

    Was die nächste Zukunft bringt

    Artyom Shraibman: Ekaterina, Sie haben das, was in Belarus und in Russland passiert, als „Krampf“ bezeichnet. Worin wird das münden? Der eine wie der andere Leader scheint sich ganz wohl zu fühlen, sie haben keine Angst, den Einsatz zu erhöhen, den Griff noch fester zuzudrücken. Wo ist die Wand, gegen die dieser Krampf prallt?

    Ekaterina Schulmann: Dass der Druck erhöht wird, ist kein Anzeichen für die Abwesenheit von Angst. Jemand, der sich nicht bedroht fühlt, führt keine Eskalation herbei. Ich will nicht darüber urteilen, wer sich wohl fühlt und wer nicht. Bedenken wir einfach, dass die ganze Arbeit dieser politischen Systeme darin besteht, einen Eindruck zu erwecken, und zwar zum großen Teil einen falschen. Dafür werden gigantische Ressourcen aufgewendet.
    Ich habe die Situation nicht als Krampf bezeichnet, weil ich sie für ein kurzfristiges Phänomen halte. Ineffektive politische Modelle können sehr langlebig sein.

    Bedenken wir einfach, dass die ganze Arbeit dieser politischen Systeme darin besteht, einen Eindruck zu erwecken, und zwar zum großen Teil einen falschen. Dafür werden gigantische Ressourcen aufgewendet

    Was ist diese Wand, diese Schwelle, hinter der sich etwas qualitativ transformiert? Die Wahlen 2024 sind der nächste Punkt. Wenn die Beliebtheit des amtierenden russischen Präsidenten nach 2021 weiter sinkt, könnte er auf den Gedanken kommen: Sollte ich es nicht lieber machen wie Jelzin? Sollte ich nicht meinen Nachfolger mit den Überresten meiner eigenen Popularität ausstatten und ihm das Verlangen nach Erneuerung, das in der Gesellschaft so groß ist, als Geschenk hinterlassen?
    Jelzin war extrem unpopulär, und sein Nachfolger wurde quasi über Nacht ein gefragter Mann. Warum? Weil die Menschen einen neuen Leader wollten, aber keine Revolution. Ein Nachfolger muss gleichzeitig Erbe und Antagonist sein. Ich denke, je näher 2024 rückt, desto mehr könnte diese politische Parallele eine Rolle spielen.

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