oder: Ode an die Übersetzerinnen und Übersetzer über das, was in ihnen steckt, am Beispiel Belarus
Was nicht sehr bekannt ist: Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja ist Übersetzerin. Sie hat Englisch und Deutsch studiert und anschließend unter anderem für die in Irland ansässige Organisation Chernobyl Life Line übersetzt.
Ihr Interview mit RBC, das dekoder übersetzt hat, atmet den Geist, der im Übersetzen steckt: Sie steht im Dienst der belarussischen Menschen, wie eine Übersetzerin im Dienst eines Textes steht. Vielleicht sind diese Sätze ein bisschen zu groß. Das darf ruhig sein, denn das kommt in Bezug auf Übersetzerinnen selten vor. Und heute ist der Internationale ÜbersetzerInnentag, an dem wir das Übersetzen und die, die es tun, feiern.
Dieses Im-Dienst-der-Menschen-Stehen und der Wille, die Menschen zu fragen und das Erfragte zu beherzigen, die bei Tichanowskaja durchklingen (etwa, wenn sie sagt, dass sie diese und jene Frage nicht beantworten kann, denn bei solchen Fragen müsse das belarussische Volk mitentscheiden) – das ist kein Sich-Herauswinden oder arrogantes Drüberstehen. Es ist die Einsicht, das Bewusstsein: dass man fragen muss, dass man kommunizieren muss, bevor man Ziele festlegt, wenn man stellvertretend für jemand anderen spricht. Und es ist die demütige Einsicht, dass man nicht alles wissen kann, was man für seine Tätigkeit oder für die Übersetzung eines Textes braucht. („Wir begrüßen alle Vorschläge, die auf die Entwicklung unseres Landes abzielen. Die … Formen der Unterstützung sollen Experten vereinbaren, und ich weiß, dass sie schon in die Richtung arbeiten.“) Man weiß, wo man findet, was man sucht oder wen man fragt, mit wem man sich berät. Diese Haltung ist keine Entscheidungsschwäche: Denn jeder übersetzte Text steckt voller Entscheidungen, von manchmal schmerzlichen Kompromissen bis hin zu brillanten Würfen. Sonst gäbe es am Ende keinen Text.1
Diese Fähigkeiten, die ich von vielen Kolleginnen kenne und die ich an ihnen schätze, bringt die derzeit im Zentrum der Weltaufmerksamkeit stehende Swetlana Tichanowskaja mit, zumindest lese ich es aus dem Interview mit ihr heraus.
Und da fange ich an, mich ein wenig zu ärgern, dass immer, auch von ihr selbst, die Rede ist von „Hausfrau“ oder der „Stay-at-Home Mom“, die nun zum „Revolution Leader“ wird … Natürlich ist das marketingtechnisch, beziehungsweise genderklischeemäßig ein echter Reißer.2 Viele Übersetzerinnen mit Kindern haben ein paar Jahre lang weniger oder nicht gearbeitet. Die Gründe dafür sind divers, manche schön, manche ärgerlich. In Belarus funktioniert das dann alles noch mal ganz anders, doch das wäre ein Editorial in einem anderen Ressort, und der Feiertag wäre nicht der 30. September, sondern der 8. März.
S prasdnikom dorogije kollegy i soratniki! Herzlichen Glückwunsch zu unserem Tag, liebe KollegInnen und allen, die schätzen, was wir tun!
eure Rike Übersetzungsredakteurin bei dekoder
1.Nie steht in einer Fußnote: Die Übersetzerin konnte sich nicht entscheiden und hat deswegen einfach selbst etwas gedichtet. Obwohl sie in anderen Situationen vielleicht gerne dichtet. Doch da gilt es zu unterscheiden: Wo stehe ich im Dienst eines Textes, eines Volkes und wo kann ich machen, was ich will. ↑
2.Als Stay at home Mom ist man übrigens ständig Revolution- oder Counter-Revolution-Leader und Entscheidungsträgerin, oder sehe ich das falsch? ↑
Seit dem 9. August dauern die Proteste in Belarus an – am Wochenende gingen wieder zehntausende in Minsk auf die Straße, auch am Mittwoch hat es massive Proteste gegeben: Nach der im Geheimen durchgeführten Vereidigung Lukaschenkos ist die Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas gegen Demonstranten vorgegangen. Von Anfang an waren die Demonstrationen weder antirussisch noch pro-westlich, sondern richteten sich gegen die Fälschungen bei der Präsidentschaftswahl und gegen Lukaschenko. So fordern die Demonstranten, Swetlana Tichanowskaja als eigentliche Wahlsiegerin anzuerkennen.
Unterdessen ergibt sich in einem gewissen Sinne dennoch eine Lagerbildung: Lukaschenko bat Russland um Hilfe, während Swetlana Tichanowskaja im EU-Ausland Exil suchen musste. Vergangene Woche hat Alexander Lukaschenko sich in Sotschi mit Putin getroffen, der Belarus einen Kredit in Höhe von 1,5 Milliarden US-Dollar gewährte. Eine Woche später trafen die EU-Außenminister Swetlana Tichanowskaja in Brüssel – allein, dass sie sich mit ihr an einen Tisch setzen, hat hohen Symbolwert. Geplante und von Tichanowskaja geforderte Sanktionen gegen das belarussische Regime scheitern jedoch bislang am Veto Zyperns. Moskau verurteilte das Treffen als Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Belarus.
Das russische Wirtschaftsmagazin RBC, das seinen einstigen Ruf als Vorreiter des unabhängigen Journalismus nach einem Eigentümerwechsel inzwischen eingebüßt hat, hat Tichanowskaja vor dem Brüsseler Treffen online interviewt. Tichanowskaja spricht dabei über ihre eigene Rolle – sie sei mit dem Versprechen für Neuwahlen angetreten, nicht als künftige Präsidentin. Gleichzeitig kann man an einzelnen Äußerungen Tichanowskajas in dem russischen Medium durchaus ablesen, dass sie das „Einmaleins der Diplomatie“ inzwischen beherrscht – wie sie selbst ganz offen sagt.
Alexander Atassunzew: Sie hatten bislang noch keinen Kontakt zu offiziellen Vertretern aus Moskau. Warum?
Swetlana Tichanowskaja: Diese Frage kann ich nicht beantworten. Das entscheidet ja jedes Land selbst. Die einen unterstützen uns, andere nicht. Aber natürlich ist Russland ein befreundetes Land, und ich weiß, dass die Russen, das heißt die Menschen dort, die Belarussen unterstützen. Wir bedauern es natürlich sehr, dass Herr Putin Lukaschenko unterstützt hat und nicht das belarussische Volk. Doch wir sind immer offen, unser Koordinationsrat ist immer offen für einen Dialog. Auch ich bin offen für einen Dialog mit Vertretern der Russischen Föderation.
Ich bitte Sie, in mir nicht die zukünftige Präsidentin von Belarus zu sehen, denn als die bin ich nicht angetreten
Warum sieht Moskau in der Politik von Swetlana Tichanowskaja nicht das, worauf man bauen will? Worin besteht Ihrer Meinung nach das Problem?
Ich bitte Sie, in mir nicht die zukünftige Präsidentin von Belarus zu sehen, denn als die bin ich nicht angetreten. Mein Wahlprogramm bestand aus drei Punkten, von denen der wichtigste die Durchführung neuer, ehrlicher und transparenter Wahlen war. Und erst bei diesen Wahlen wird der Präsident gewählt. Ich bin mir sicher, dies wird eine äußerst starke Führungspersönlichkeit sein, mit der Herr Putin gemeinsame Verhandlungs- und Gesprächsthemen auf Augenhöhe finden wird, falls er mich nicht als Menschen sieht, mit dem er sprechen kann.
Worin besteht der Sinn der regelmäßigen und recht häufigen Treffen mit Vertretern der Europäischen Union? Als Reaktion intensiviert Lukaschenko doch nur die Bindung an Russland, schließt die Grenzen zur EU und kontrolliert die Grenzen zur Ukraine stärker. Meinen Sie nicht, dass Ihre ständigen Kontakte zur EU Moskau verschrecken und Anlass geben zu sagen, dass Ihnen da jemand den Rücken stärkt.
Ich würde nicht sagen, dass es häufige Treffen sind. Sie finden je nach Notwendigkeit und Bedarf statt. Treffen mit Staatsoberhäuptern gibt es nicht täglich, nicht mal wöchentlich. Ich glaube nicht, dass Russland da etwas befürchtet.
Unser sogenannter Präsident hat noch nie adäquat auf Europa reagiert
Ich sehe auch keine Verbindung zwischen diesen Treffen und Lukaschenkos Verschärfung der repressiven Maßnahmen, denn unser sogenannter Präsident hat noch nie adäquat auf Europa reagiert. Doch wir sind gezwungen, adäquat zu reagieren, denn uns geht es vor allem um die Unterdrückung der Menschenrechte in Belarus. Die Repressionen gehen weiter und werden stärker, denn die Belarussen sind aufgewacht und haben beschlossen, für ihre Rechte zu kämpfen. Denn genau aus diesem Grund können sie nicht länger so leben und nicht aus dem Grund, weil wir uns mit Vertretern der Europäischen Union treffen.
Ich möchte Sie daran erinnern, dass Herr Lukaschenko uns noch vor ein paar Monaten [während des Wahlkampfs – dek] beschuldigt hat, wir würden aus Russland gelenkt werden und dass der Kreml uns in der Hand habe. Und jetzt hat dieser Mensch seine Meinung um 180 Grad geändert. Plötzlich finanzieren uns angeblich die USA und diverse andere Strippenzieher, Lettland, Polen, und jetzt ist auch schon die Ukraine mit von der Partie.
Wissen Sie, Wladimir Putin ist trotz allem eine kluge Führungsperson. Ihm ist klar, dass alles, was da geredet wird, die Fantasien eines einzelnen Mannes sind. Und er weiß genau, dass wir immer gesagt haben: Wir sind offen für einen Dialog. Und dass wir, ich meine das belarussische Volk, niemals Russland den Rücken zukehren würden. Wir sind befreundete Länder, und das wollen wir auch bleiben.
Wissen Sie, Wladimir Putin ist trotz allem eine kluge Führungsperson. Ihm ist klar, dass alles, was da geredet wird, die Fantasien eines einzelnen Mannes sind
Wir hätten gern von allen Ländern Unterstützung in unserem Kampf dafür, dass das Volk über die Zukunft des Landes entscheidet. Denn wir kämpfen für das Recht zu wählen, mit wem wir unser Land aufbauen wollen. Das ist kein prowestlicher oder prorussischer Kampf, das ist das Aufstehen gegen einen Mann, zu dem unsere Leute das Vertrauen und vor dem sie die Achtung verloren haben und mit dem wir weder weiter leben noch weiter arbeiten wollen. Das hat weder etwas mit Herrn Putin noch mit der Ukraine noch mit irgendwelchen anderen Ländern zu tun.
Sprechen Sie denn auf den Treffen mit den EU-Vertretern über mögliche Wirtschaftshilfen für Belarus, etwa durch einen Stabilisierungskredit für den Fall, dass die Opposition siegen sollte? Und wenn ja, wie und zu welchen Bedingungen soll das geschehen?
Ja. Belarus wird für die Stabilisierung und die wirtschaftliche Entwicklung Hilfe brauchen. Wir haben darüber mit vielen Staatsoberhäuptern und internationalen Organisationen gesprochen, auch mit potentiellen Investoren. Es gibt Interesse und den Wunsch zu helfen. Der Ministerpräsident von Polen machte den Vorschlag eines Marschallplans für Belarus. Wir begrüßen alle Vorschläge, die auf die Entwicklung unseres Landes abzielen. Die Bedingungen und Formen der Unterstützung sollen Experten vereinbaren, und ich weiß, dass sie schon in die Richtung arbeiten.
Warum sind auf Ihrer Website Links aufgetaucht zu einem Reanimationsmaßnahmen-Paket, das unter anderem den Austritt von Belarus aus der OVKS vorsieht, aus der Russisch-Belarussischen Union, der Eurasischen Wirtschaftsunion und so weiter?
Da verblüffen Sie mich jetzt aber, denn es kann nicht sein, dass von unserer Website, die für Swetlana Tichanowskaja und ihren Wahlkampf erstellt wurde, auf so etwas verlinkt wurde – das hätte ich nicht zugelassen, und ich habe auch nichts davon gehört. Von solchen Ideen habe ich erstmals von Staatsbeamten gehört, die diesen Unsinn verbreitet haben. Das kann jedenfalls nicht stimmen. Mein Programm besteht aus drei Punkten. Wenn irgendwann irgendwo irgendwas aufgetaucht ist, dann hat das mit mir überhaupt nichts zu tun.
Finden Sie die Ideen des Reanimationsmaßnahmen-Pakets gut? Entrussifizierung, Austritt des Landes aus Bündnissen mit Russland und so weiter?
Diese Frage kann ich nicht beantworten, denn bei solchen Fragen muss das belarussische Volk mitentscheiden. Es gibt viele Fragen, in die die Meinung der Menschen einfließt, und wenn der neue Präsident der Republik Belarus einmal solche Entscheidungen treffen muss, dann werden die Menschen darüber abstimmen, sie werden ihre Meinung äußern, und Entscheidungen werden nur unter Berücksichtigung dieser Meinung getroffen werden.
Wir haben absolut nichts gegen Russland. Das ist nur die künstlich aufgeblasene Meinung eines Einzelnen
Vor dem Treffen von Putin und Lukaschenko [in Sotschi am 13. September 2020 – dek] haben Sie angekündigt, dass alle Verträge, die Moskau und Minsk jetzt schließen, ihre Gültigkeit verlieren, falls Sie an die Macht kommen.
Ich habe gesagt, dass ich sie überprüfen werde. Weil das belarussische Volk jetzt kein Vertrauen zu Herrn Lukaschenko hat. Sie betrachten ihn nicht als ihren Präsidenten. Sobald ein neuer, gesetzlich gewählter Präsident sein Amt antritt, werden diese Abkommen, wenn sie Belarus, der belarussischen Wirtschaft oder dem belarussischen Volk irgendwie schaden, natürlich abgeändert. Der zukünftige, gesetzlich gewählte Präsident wird natürlich das Recht haben, Abkommen mit allen Ländern neu zu verhandeln. Wir wollen jetzt nicht ins Detail gehen, ob Russland, die Ukraine oder sonst ein Land – das gilt für alle Länder. Sie müssen verstehen, wir haben absolut nichts gegen Russland. Das ist nur die künstlich aufgeblasene Meinung eines Einzelnen.
Es geht um die Verträge, die nach dem 9. August 2020 [dem Tag der belarussischen Präsidentschaftswahl – dek] abgeschlossen wurden. Ist das der Zeitpunkt, ab dem sich, wie Sie sagen, das Volk von Alexander Lukaschenko abgewandt hat?
Ganz genau.
Sie haben außerdem erklärt, die zukünftigen belarussischen Machthaber hätten das Recht, den jetzt von Russland gewährten Kredit über 1,5 Milliarden Dollar nicht zurückzuzahlen. Finden Sie das wirklich?
In den Augen der Menschen hat Lukaschenko keine Legitimität, sie haben ihn nicht gewählt. Wenn dieser Mensch einen Kredit aufnimmt und die Belarussen sollen ihn zurückzahlen, obwohl sie diese Person gar nicht anerkannt haben und nicht anerkennen werden, wovon reden wir dann? Natürlich ist das ein emotionales Statement, kann sein, aber ich habe es gemacht, weil wir in Wirklichkeit alle wissen, wofür dieses Geld verwendet wird. Für die Vernichtung der eigenen Leute. Sie kaufen damit kugelsichere Westen. Gegen wen müsst ihr euch verteidigen? Gegen unbewaffnete Menschen?
Dieses emotionale Statement habe ich gemacht, weil wir wissen, dass dieses Geld für die Vernichtung der eigenen Leute ausgegeben wird
„Den Kredit zahlen wir nicht ab, die Abkommen erkennen wir nicht an“ und so weiter – glauben Sie nicht, dass Ihre Aussagen Moskau erst recht anspornen, Lukaschenko vorbehaltlos zu unterstützen?
Das weise Moskau denkt nicht so. Denen ist klar, dass man heutzutage alles im Dialog lösen kann, zu dem wir die derzeitige sogenannte Staatsmacht von Belarus gerade einladen. Und genauso werden alle anderen Fragen im Dialog gelöst werden. Zwischenstaatliche Fragen und Fragen bezüglich der Abkommen, die in diesem Zeitraum geschlossen wurden. Das heißt nicht, dass wir alle Verpflichtungen ignorieren, keineswegs. Aber der Punkt ist, dass nur der Dialog aus dieser Situation herausführen kann. Und für uns, die Mehrheit, ist es natürlich schwer zu sagen, dass Wladimir Putin die Meinung der belarussischen Mehrheit nicht berücksichtigt hat. Weil ihm klar sein muss, dass Lukaschenko die Situation nicht mehr im Griff hat. Und als weiser Anführer sieht Herr Putin das alles. Das Entscheidende ist, dass dieser Konflikt ein innerer ist, und wir bitten die Länder, sich nicht in unsere inneren Angelegenheiten einzumischen. Weil dieses Problem ohne äußere Einmischung viel schneller zu lösen wäre.
Warum sprechen Sie von der Weisheit Moskaus und schließen aus, dass Wladimir Putin annimmt, dass Sie in der Minderheit sind oder dass Sie NATO-Stützpunkte in Belarus wollen?
Ich könnte auch etwas anderes sagen, aber ich habe mir das Einmaleins der Diplomatie schon ein wenig angeeignet – das musste ich –, daher sage ich es genau so.
In einem Interview sagten Sie, Lukaschenko bekäme im Fall seines friedlichen Rücktritts eine Garantie auf Immunität. In einem anderen Interview sagten Sie dagegen, er hätte sich für die Verbrechen der Silowiki zu verantworten. Welche Zukunft sehen Sie denn nun für Lukaschenko?
Bei dieser Frage gerate ich immer ein wenig ins Schlingern, weil ich auch nur ein Mensch bin und meine eigene Haltung dazu habe. Aber ich verstehe, dass es Leute gibt, die von den Ereignissen seit dem 9. August besonders betroffen sind, deren Angehörige getötet wurden, die diesem Menschen niemals verzeihen werden, und sie wären absolut dagegen, dass er diese Garantie bekommt. Und daher schlagen bei dieser Frage immer zwei Herzen in meiner Brust. Was kann ich da antworten als Vertreterin aller und für mich persönlich?
Das Entscheidende ist, dass dieser Konflikt ein innerer ist, und wir bitten die Länder, sich nicht in unsere inneren Angelegenheiten einzumischen
Wahrscheinlich ist die richtige Antwort: Wenn es keine weiteren Opfer gibt, dann kann und wird diese Frage zum Gegenstand von Verhandlungen werden. Wenn wir uns an einen Tisch setzen, können wir das alles diskutieren.
Sie werden das letzte Wort haben, wenn Sie Präsidentin werden.
Nein, das letzte Wort wird ein faires Gericht haben.
Wie kann es ein Gericht geben, wenn eine Garantie auf Immunität gewährt wird?
Da sehen Sie es, es ist klar, dass solche Verbrechen unverzeihlich sind. Wir wollen nicht, dass auch nur ein Tropfen Blut fließt. Daher sind unsere Demonstrationen prinzipiell friedlich. Daher kann die Frage der Immunität unter der Bedingung, dass es keine weiteren Opfer gibt, Gegenstand von Verhandlungen werden.
Warum kehren Sie nicht nach Belarus zurück?
Ich fühle mich dort nicht sicher. Sogar wenn man sich in keiner Weise schuldig macht, denken sie sich irgendeinen Paragrafen für dich aus, dazu braucht es nicht viel. Ich bin ja nicht aus freien Stücken im Ausland. Wenn man bei uns offen reden und seine Position zum Ausdruck bringen könnte, glauben Sie, dann würde irgendjemand auswandern? Es würden natürlich alle in ihrer Heimat bleiben und von dort aus predigen und ihre Meinung kundtun. Wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, glauben Sie mir, ich wäre geblieben, ich hätte keine Minute überlegt.
Finden Sie nicht, dass Sie sich seit dem Wahltag stark verändert haben? Am 9. August haben die Menschen für eine Swetlana Tichanowskaja gestimmt, die ihnen eine Volksabstimmung versprochen hat. Jetzt sind Sie zur Politikerin geworden mit eigener Meinung zu vielen internationalen Fragen. Obwohl die Belarussen damals eigentlich keine Politikerin gewählt haben.
Natürlich war ich gezwungen, in sehr kurzer Zeit einiges zu lernen, und ich lerne weiter, das Leben verlangt mir das gerade ab. Aber meine Position in Bezug auf Belarus hat sich überhaupt nicht verändert. Dass wir beginnen müssen, gemeinsam mit den Menschen ein neues, demokratisches Land aufzubauen, das sehe ich nach wie vor so. Und ich weiß, dass mich die Leute als Symbol für den Wandel gewählt haben, auch wenn das pathetisch klingt. Weil alle wussten, dass ich mein Versprechen halten würde, dass, wenn sie Tichanowskaja wählen, was die Mehrheit auch gemacht hat, es Neuwahlen geben wird, in denen sie einen richtig starken Ökonomen, einen Politiker wählen. Das wird dann ein Wettkampf unterschiedlicher Programme sein, aber er wird fair und transparent sein.
Das Treffen zwischen Putin und Lukaschenko in Sotschi am vergangenen Montag, 14. September, verlief leise. Nach rund vier Stunden Gespräch gab es keine offizielle Abschlusserklärung, fest stand nur, was man schon vorher wusste: Der Kreml gibt eine Geldspritze von 1,5 Milliarden Dollar. In Sozialen Medien machten dagegen Fotos vom Treffen die Runde, auf denen Putin sich die Augen reibt und Lukaschenko in seinem Stuhl immer weiter Richtung Putin rutscht. In den Kommentaren lachten User über die Bildsprache.
Tatsächlich steht Lukaschenko mit dem Rücken zur Wand, sein einziger Verbündeter ist Russland. Doch auch der Kreml steht vor einem Dilemma, denn er hat viel zu verlieren: Kippt die prorussische Stimmung in Belarus, droht weitere Destabilisierung. Artyom Shraibman kommentiert auf Carnegie.ru.
Von der Wahl in Belarus hatte man erwartet, dass nur einer als unanfechtbarer Sieger daraus hervorgehen würde: Russland. Alexander Lukaschenko hatte – als Reaktion auf die rasante Politisierung der Gesellschaft – im Laufe des Sommers die Repressionen gegen die belarussische Bevölkerung verschärft. Der Höhepunkt war das gewaltsame Vorgehen gegen Demonstranten unmittelbar nach der Wahl, was die Beziehungen zum Westen um viele Jahre zurückgeworfen hat.
Eine solche Entwicklung hätte Minsk allen Prognosen zufolge in die Arme des Kreml treiben müssen, der auf diese Weise einen Freibrief für Belarus erhält. Auf den ersten Blick ist auch genau das geschehen.
Doch tatsächlich erweist sich die politische Krise in Belarus als noch viel tiefer, als die kühnsten Prognosen vermuten ließen. Die internationale wie die innere Legitimität Lukaschenkos hat stärker gelitten, als es irgendeinem seiner verbliebenen Partner im Ausland lieb sein kann.
Lukaschenkos Legitimität hat stärker gelitten, als es Moskau lieb sein kann
Lukaschenko hat sich wochenlang auf das Treffen mit Putin [am Montag, 14. September 2020 – dek] vorbereitet. Der Westen ist wieder zum Hauptfeind avanciert; um das deutlich zu machen, wurden sogar belarussische Fallschirmjäger an die polnische Grenze verlegt. Lukaschenko beschuldigte die Opposition wieder, russophob zu sein und im Auftrag der USA zu handeln – obwohl noch Anfang August laut Lukaschenko russische Strippenzieher am Werk gewesen waren.
Die Regierung versucht die Proteste zu ersticken, indem sie den Grad der Repressionen Woche um Woche erhöht. Wieder hunderte Festnahmen, Wasserwerfer und Leuchtraketen. Die Gewalt macht auch nicht vor demonstrierenden Frauen halt. Lukaschenko wollte in Sotschi als Leader auftreten, der den Aufstand bei sich zu Hause bereits besiegt hat.
Doch das hat nicht funktioniert. Das Ausmaß der regionalen Proteste ist zwar nicht mehr dasselbe wie noch vor einem Monat – in etwa zehn Städten demonstrieren die Leute, nicht mehr in hundert. Aber zu den sonntäglichen Kundgebungen in Minsk, dem Hauptbarometer der Protestbewegung, kommen immer noch 100.000 bis 150.000 Menschen. Hochgerechnet auf die Bevölkerung Moskaus, wären das bis zu einer Million Menschen, die dort Woche für Woche auf die Straße gehen.
Lukaschenko wollte als Leader auftreten
Das Treffen in Sotschi fand ohne Delegationen statt, die Präsidenten sprachen mehr als vier Stunden unter vier Augen. Eine gemeinsame Abschlusserklärung gab es nicht. Das einzige konkrete Ergebnis blieb der Kredit von 1,5 Milliarden Dollar, den Putin Lukaschenko schon vor dem Gespräch zugesichert hatte.
Das ist eine erhebliche, wenn auch nicht überwältigende Unterstützung. Ungefähr die gleiche Summe hat die belarussische Nationalbank im August ausgegeben, um der Panik auf dem Währungsmarkt entgegenzuwirken.
Gleich zu Beginn sagte Putin, dass er die von Lukaschenko geplante Verfassungsreform unterstützt. Allen ist klar, dass sie den Auftakt zu einem Machttransfer bildet.
Wie schon bei früheren Treffen in Sotschi sprach Lukaschenko viel davon, dass man wahre Freunde in der Not erkennt und man in Wirtschaftsfragen „mit dem großen Bruder enger zusammenrücken“ müsse. Jetzt sind das allerdings mehr als höfliche Floskeln – die freundschaftlichen Brücken zum Westen hat die Regierung in Minsk niedergebrannt und damit den einstigen Balanceakt beendet. Aus ersichtlichen Gründen sind sich der belarussische und der russische Präsident nie als gleichberechtigte politische Figuren begegnet. Jetzt wird die Ungleichheit noch dadurch verstärkt, dass beide wissen, wer die lahme Ente im Raum ist und wer das Futter in der Hand hält. Doch sollte man nicht voreilig den Schluss ziehen, Putin hätte einen einfachen Partner bekommen, der alles tun wird, was Moskau von ihm verlangt.
Beide wissen, wer die lahme Ente im Raum ist und wer das Futter in der Hand hält
Noch dazu macht es jetzt bei vielen Dingen gar keinen Sinn mehr, von Lukaschenko bestimmte Zugeständnisse einzufordern: Es wäre ein genauso riskantes Unterfangen, einen schwachen Lukaschenko zu einer engeren Integration zu zwingen wie einen starken Lukaschenko dazu zu überreden. So ist nach dem Vertrauen nun auch die Planungssicherheit in den Beziehungen zwischen Minsk und Moskau verschwunden. Beide Parteien können nicht mehr auf die Ewigkeit zählen, an die sie sich als lebenslange Autokraten gewöhnt hatten. Wenn Putin Lukaschenko zum Beispiel jetzt dazu nötigt, einen gemeinsamen Fahrplan zu unterzeichnen, würde er sich damit mehr Probleme als garantierte Vorteile verschaffen.
Wenn die Protestierenden sehen, dass Lukaschenko das Land verrät, bekommt die bislang prodemokratische Massenbewegung den Beigeschmack eines nationalen Befreiungskampfes. Die stabile prorussische Mehrheit unter den Belarussen wird man in dem Fall vergessen können. Denn wenn der durchschnittliche Belarusse zwischen Sympathien für Russland und der Abneigung gegen Lukaschenko wählen muss, wird er sich für die zweite, stärkere Emotion entscheiden. Und wenn sich Moskau hinter einen Herrscher stellt, den der überwiegende Teil der Bevölkerung offenbar satt hat, poliert er in Augen der Belarussen damit nicht dessen Image auf, sondern er ruiniert das eigene.
Vermutlich ist das der Grund, warum Dimitri Peskow den Effekt der Unterstützung für Lukaschenko abzumildern versuchte. Nach dem Treffen in Sotschi sagte er, Moskau liebe und schätze alle Belarussen – sowohl die, die mit dem Wahlergebnis einverstanden sind als auch alle anderen.
Wenn der Belarusse zwischen Sympathien für Russland und der Abneigung gegen Lukaschenko wählen muss, wird er sich für die zweite, stärkere Emotion entscheiden
Noch entscheidender ist die Tatsache, dass Lukaschenkos Unterschrift im Wert gesunken ist. Denn sollte Lukaschenko seine Position im Land festigen können, wird er von einer Vertiefung der Integration wieder Abstand nehmen, und zwar genauso schnell, wie er bei diesen Wahlen den äußeren Feind gewechselt hat: vom Westen zu Russland und wieder zurück. Sollte Lukaschenkos Position im Land dagegen weiter geschwächt werden, wird er schlicht keine Zeit haben, solch ambitionierte Pläne umzusetzen.
Auch mit der internationalen Legitimität würde es Probleme geben. Vermutlich wird kein Deal, der die belarussische Souveränität spürbar einschränkt, im Westen akzeptiert werden. Deswegen besteht das Risiko, dass das belarussische Protektorat zu einer großen Krim wird: von Investitionen und vom Weltmarkt durch Sanktionen abgeschnitten, wäre es ein noch viel größeres Gewicht am Hals des russischen Budgets als in den Jahren der Spitzensubventionen.
Will Moskau also eine ordentliche Gegenleistung für die Unterstützung Lukaschenkos, dann müssen das handfeste Zugeständnisse sein, die nicht zerredet werden und die der belarussische Präsident auch tatsächlich schafft umzusetzen. Das können zum Beispiel Privatisierungen attraktiver belarussischer Vermögen sein, wie erdölverarbeitende und Rüstungsbetriebe oder das riesige Kali-Kombinat Belaruskali.
Es besteht das Risiko, dass das belarussische Protektorat zu einer großen Krim wird
Bedenkt man, dass es in all diesen Firmen Streikversuche gab und Lukaschenko in einer davon – der Minsker Fabrik für Radschlepper – von den Arbeitern ein lautes „Hau ab!“ hörte, fühlt er sich diesen Aktiva möglicherweise sowieso nicht mehr so verbunden. Man kann wieder von Lukaschenko fordern, dass er einem russischen Militärstützpunkt im Land zustimmt, nachdem Minsk das Bild des neutralen Stabilitätsgaranten in der Region ja ohnehin begraben hat. Aber dieses Thema kann in solch emotionalen Momenten ähnliche innenpolitische Auswirkungen haben wie die Forcierung einer Integration: Der Verdacht, Lukaschenko könnte Grüne Männchen ins Land lassen, mobilisiert die Demonstranten.
Dass deren Befinden dem Kreml ein großes Anliegen wäre, kann man zwar nicht behaupten: Die russische Staatsmacht neigt genauso wie die belarussische dazu, demonstrierenden Menschenmengen jede Selbstbestimmtheit abzusprechen und stattdessen die wahren und fast immer ausländischen Drahtzieher und Ideengeber ausfindig machen zu wollen.
Aber selbst in diesem Weltbild widerspricht eine noch stärkere Destabilisierung als bisher sowohl den Interessen Lukaschenkos als auch Putins. Sie wäre aber unausweichlich, wenn Moskau der Verführung erliegt, den Gesprächspartner bei den Hörnern zu packen. Das hat man im Kreml verstanden, auch wenn man ihm sonst mitunter Realitätsverlust zuschreiben kann.
Der Verdacht, Lukaschenko könnte Grüne Männchen ins Land lassen, mobilisiert die Demonstranten
Das ideale Szenario für Moskau, an dem man dort sicher arbeitet, wäre eine unblutige Stabilisierung der Situation durch Lukaschenko selbst und anschließend ein fließender, mit dem Kreml abgestimmter Machttransfer hin zu einem horizontaleren Modell. So könnte Moskau, ohne sich auf Lukaschenko oder seinen potentiellen Nachfolge-Kandidaten einzuschießen, auf bekannte Art Einfluss auf die belarussische Politik nehmen: über loyale Parteien, einzelne Silowiki, Beamte und Politiker, indem es Bereiche der belarussischen Wirtschaft und Geldströme kontrolliert – ohne Vetorecht eines allmächtigen Präsidenten.
Aber der Teufel steckt im Detail. Niemand weiß, was Lukaschenko von diesem Plan hält. Will er sich im Grunde schnell aus dem Staub machen? Oder sind die Gespräche über eine neue Verfassung und Neuwahlen ein Versuch, Zeit zu gewinnen und die Gegnerschaft zu spalten? Inwiefern werden sich seine Pläne ändern, wenn die Proteste aufhören? Ist er wirklich bereit, mit dem Kreml, dem er immer noch nicht vertraut, über die heikle Frage eines Machttransfers zu sprechen?
Moskaus ideales Szenario: ein unblutiger Machttransfer
Diese Dinge werden die beiden Parteien allem Anschein nach wie immer wirtschaftlich klären. Die westlichen Sanktionen und das Misstrauen der Belarussen in staatliche Institutionen verschlechtern das Investitionsklima der belarussischen Ökonomie empfindlich. Ohne flächendeckende und regelmäßige Finanzspritzen aus dem Ausland kann man Wirtschaftswachstum unter Lukaschenko vergessen. So wie früher ist das Land auf ein jährliches Zubrot in Höhe von drei bis fünf Milliarden Dollar angewiesen. Doch für Lukaschenko ist der Zugang zu den globalen Anleihemärkten gesperrt. Die einzige Hoffnung ist Russland.
Aber Lukaschenko wird verhandeln, auch wenn er im Moment mit dem Rücken zur Wand steht. Anstatt dem Kreml Zugeständnisse zu versprechen, wird er beteuern, dass er das Land vor einem antirussischen Aufstand und den NATO-Panzern vor Smolensk rettet. Und allein diese Dienste seien eines Entgelts würdig. Als Antwort wird er weitere kränkende Anspielungen hören, dass er mal langsam abtreten soll.
Moskau muss diesen Dialog mit Bedacht führen. Wenn die belarussische Nomenklatura oder die Gesellschaft spüren, dass Lukaschenko den Rückhalt Russlands verliert, dann kann das sein Regime ganz schnell zu Fall bringen. Das kann der Kreml nicht zulassen, solange er keine anderen verlässlichen Partner in der belarussischen Regierungselite oder Opposition hat.
Vom überreifen Apfel zum toxischen Wertpapier
Lukaschenko versteht, wie wichtig dieses Kontaktmonopol ist und blockiert weiterhin separate Gespräche der Nomenklatura mit Moskau, zerschlägt Strukturen und verhaftet Oppositionsführer, damit Russland nur ja keinen anderen Gesprächspartner findet.
Von einem überreifen Apfel, der Moskau ganz von selbst hätte in die Hände fallen müssen, wird das belarussische Regime mehr und mehr zu einem toxischen Wertpapier: Man kann mit ihm weder Geschäfte machen, noch kann man es loswerden. Wenn es Lukaschenko gelingt, die Akutphase der Proteste in seinem Sessel zu überstehen, dann muss Moskau Zuckerbrot und Peitsche sorgfältig dosieren, um den belarussischen Präsidenten dorthin zu bekommen, wo es ihn haben will, ohne ihn aus Versehen zu schwach oder zu stark werden zu lassen. Von der Regierung in Moskau erfordert das permanente Aufmerksamkeit und ein tiefes Verständnis der Situation in Belarus.
Nun ist die Kreml-Politik im postsowjetischen Raum allerdings nicht gerade reich an Beispielen für ein solches Fingerspitzengefühl. Konflikte anzetteln und einfrieren ist eine Sache. Eine ganz andere ist es, einen geordneten Transfer mitzugestalten – in einem Land, in dem Moskau trotz gemeinsamer Sprache über keine verlässlichen Stützpfeiler verfügt.
„In einigen Jahren wird man Exkursionen hierher machen“, schreibt ein Rezensent bei Google-Maps und vergibt fünf Sterne für einen unscheinbaren Hinterhof inmitten riesiger Plattenbauten in einem gewöhnlichen Minsker Wohnviertel. Die Geschichte des Hofes in der Orschanskaja-Straße im Minsker Norden zeigt einmal mehr, dass sich der Protest in Belarus nicht nur bei den großen Demonstrationsmärschen und Streiks abspielt – und dass er viele kreative Gesichter hat.
Ulad Schwjadowitsch schildert in der belarussischen Traditionszeitung Nasha Niva seine Eindrücke aus dem legendären Hinterhof.
Die Geschichte vom Platz des Wandels beginnt am 18. August 2020: Ein unbekannter Künstler bemalte an diesem Tag das Trafohäuschen mit den Porträts von Ulad Sakalouski und Kiryl Halanau: Die DJs hatten [die Protesthymne von Viktor Zoi – dek] Peremen (dt. Wandel) bei einer regierungsfreundlichen Veranstaltung aufgelegt und dafür jeweils 10 Tage Arrest bekommen.
Graffitis haben gewöhnlich eine kurze Lebensdauer, erst recht, wenn es sich dabei um Malereien mit einer eindeutig politischen Aussage handelt. Es schien als würde ein solches Schicksal auch dieses Wandgemälde ereilen: Bereits am nächsten Tag wurde es in einem operativen Einsatz übermalt. Aber das war, wie sich herausstellte, erst der Anfang …
Der gewöhnliche Minsker Innenhof – umringt von Hochhäusern – ist innerhalb weniger Wochen zu einer echten Kultstätte avanciert: Die Anwohner sprühten das Konterfei der DJs Sakalouski und Halanou auf eine Wand, hängten eine gigantische weiß-rot-weiße Fahne zwischen den Häusern auf, schmückten den Zaun mit hunderten von bunten Bändchen und brachten am Trafohäuschen ein Schild an: Platz des Wandels.
Zum Platz des Wandels kommen jeden Tag Silowiki und Stadtmitarbeiter, sie entfernen die Fahnen, reißen die Bändchen ab und überstreichen das Wandgemälde. Doch die Anwohner lassen nicht locker: Sie waschen die Farbe von den Porträts der DJs, knüpfen neue Bändchen und hängen wieder Fahnen auf. Abends versammeln sich die Leute auf dem Platz, knüpfen Kontakte, tanzen, singen und treffen Freunde. Musiker und Schauspieler des Kupalauski-Theaters traten hier bereits auf, der Hof bekam seinen eigenen Instagram-Account und den Platz des Wandels kann man sogar bei Google-Maps und Yandex-Taxi finden.
***
Am Abend des 9. Septembers ist es auf dem Platz des Wandels wie gewohnt belebt: Einige Dutzend Menschen haben sich im Hof versammelt. Tagsüber hatten Stadtmitarbeiter versucht, das Konterfei der DJs zu übermalen, doch die Anwohner haben es fast unverzüglich wiederhergestellt.
Nun prangen die DJs an der Wand, oben drüber die weiß-rot-weiße Flagge mit der Flagge von Minsk, Kinder laufen umher und Hunde ebenso. Die Erwachsenen warten auf das Konzert: Heute soll Smizer Waizjuschkewitsch in dem Kult-Innenhof auftreten.
„Das passiert hier quasi jeden Tag. Es begann um den 12. August herum. Die Menschen fingen an sich im Hof zu treffen, lernten sich kennen. Später tauchte das Wandgemälde auf, die Leute richteten eine gemeinsame Chatgruppe ein, nicht nur für Anwohner, sondern auch für Leute aus der Nachbarschaft“, erzählt eine Anwohnerin. „Mit der Zeit haben sich alle kennengelernt. Die Menschen fingen an, gemeinsam zu den Demonstrationen zu gehen, sich gegenseitig zu unterstützen, ganz nachbarschaftlich. Einige Anwohner haben sich über den Lärm beschwert. Wir haben darauf Rücksicht genommen und treffen uns seitdem nur noch bis 22 Uhr. Nun, es gab auch eine Babuschka, die die Bändchen abgeschnitten hat. Wir haben mit ihr gesprochen und diskutiert, dass sie ihre Meinung hat und wir eben eine andere, das ist ja nichts schlimmes. Sie hat versprochen, keine weiteren Sabotagen mehr durchzuführen. Das war’s, mehr Probleme gab es nicht.“
Die Bändchen sind am Zaun um den Spielplatz angebracht. Bis vor Kurzem hing noch eine gigantische weiß-rot-weiße Fahne zwischen den Häusern, doch die Silowiki haben sie bereits entfernt – und mussten dafür die Tür zum Dach aufsägen.
Statt der Fahne gibt es nun den Zaun, der komplett mit Bändern verziert ist: teils mit weiß-rot-weißen, teils mit roten und grünen Bändern. Auch die versucht man regelmäßig zu entfernen.
„Heute haben sie drei Arbeiter geschickt, dahinter noch vier mit Masken. Haben einen Teil der Bänder entfernt und sind dann einfach wieder gegangen. Vielleicht hat es was gebracht, dass die Anwohner kamen, ihnen ins Gewissen redeten, sodass es ihnen unangenehm wurde“, erzählen die Menschen.
Nun hängen die Anwohner die Bänder wieder auf. Gemeinsam mit ihren Kindern.
Sie sagen, dass das alles ohne jegliche Organisation abläuft. Für den Stoff der Bänder wird kein Geld gesammelt – die Leute bringen es von selbst, wie sie es für nötig halten. Um die Wiederherstellung der Wandbemalung kümmert sich wer gerade Zeit und Lust hat.
„Die große Fahne haben die Frauen genäht. Aber wir entschieden, sie vorerst nicht aufzuhängen, weil sie angefangen haben, unsere Hausgemeinschaften mit Strafen zu bedrängen. Insgesamt 18.000 Rubel [etwa 5.800 Euro – dek] für drei Häuser“, berichten die Anwohner.
Das Schild mit der Aufschrift Platz des Wandels haben die städtischen Bediensteten zwar ebenfalls entfernt, aber es besteht kein Zweifel, dass schon bald ein neues auftauchen wird.
Währenddessen kommen immer mehr Menschen auf den Platz. Kiryl und Darja warten mit ihren zwei Kindern auf das Konzert.
„Die Kinder fragen, was passiert, aber wir erzählen ihnen natürlich nicht alle Einzelheiten. Einmal kam mein Sohn, ein Zweitklässler, aus der Schule und sagte: ,Ein Mädchen aus unserer Klasse ist für Lukaschenko, krass oder?‘ Für ihn ist es komisch, dass es Menschen gibt, die für Lukaschenko sind. Wir sagen, dass er darüber nicht in der Schule sprechen soll, aber die Kinder kriegen ja eh alles mit. Vor allem, weil wir keine Omis und Opis hier haben, deswegen nehm ich den Kleinen mit zu den Demos. Dann bleiben wir nur bis 18 Uhr und stehen auch nur am Rand. Aber er hört ja da die Losungen wie ,Lukaschenko, ab in den awtosak‘, wobei ich ihm verbiete das nachzusagen. Ich erkläre, dass darüber nur Erwachsene diskutieren, die schon wählen dürfen“, sagt Darja. „Aber ich kann nicht nicht rausgehen. Ich finde, jeder muss seine Meinung kundtun.“
Einige Eltern sehen das anders.
„Ich sage meinem Sohn offen: Die weiß-rot-weiße Flagge ist unsere historische Flagge. Unsere jetzige Staatsflagge ist eine andere, die weiß-rot-weiße hat man uns 1994 genommen. Wir erklären, dass die Leute aufgebracht sind, weil sie bei der Wahl einfach betrogen wurden. Warum sollten wir nicht ehrlich mit ihm sein?“, sagt Wadsim, dessen Sohn noch in die Kita geht.
Es sind auch viele Menschen fortgeschrittenen Alters da.
„Mich stören diese Partys gar nicht, im Gegenteil. Ich höre diese Musik selbst seit 34 Jahren und gehe zu den Demos“, sagt einer der Anwohner stolz. Der Mann ist 56 Jahre alt und Ingenieur in einem Staatsbetrieb. Er sagt, dass er neulich für eine Nacht festgenommen wurde und man ihm auf der Arbeit mit Kündigung gedroht hat: „Dann haben sie es sich nochmal anders überlegt, unter der Bedingung, dass ich nicht nochmal geschnappt werde. Ich sagte: ,Ich versuche es, aber garantieren kann ich das nicht.’ Den Job würde ich ungern verlieren, aber wie soll man zuhause bleiben, wenn man sieht, wie sie 17-jährige Mädchen verhaften?“, fragt der Mann.
Jetzt beginnt der Auftritt von Waizjuschkewitsch, gleich mit [der Protesthymne – dek] Mury. Die Leute singen mit.
Noch ist es im Hof ruhig. Vor zwei Tagen, am 7. September, kamen OMON-Einheiten hierher, allerdings erst, als alles schon vorbei war. Dennoch haben sie zwei Menschen festgenommen.
„Ich wollte den Müll vom Spielplatz einsammeln, da kamen mehrere Fahrzeuge der Silowki angefahren und haben mich umzingelt, so dass ich nicht entkommen konnte. Sie haben mich mitgenommen und auch einen Nachbarn, der einfach nur auf dem Heimweg war“, berichtet Wasil, der auch Anwohner ist.
Er kam verhältnismäßig glimpflich davon: Sie brachten ihn und den Nachbarn zur Wache, am nächsten Tag hat man sie freigelassen.
„Ein Protokoll wegen Rowdytums wurde aufgesetzt, aber sie sagten, wenn die Miliz nicht innerhalb von 10 Tagen anruft, dann ist alles gut“, erinnert sich Wasil.
Wasil ist IT-Spezialist und arbeitet mit deutschen Geschäftspartnern. Er sagt, als diese von den Internet-Blockaden und den Festnahmen erfahren haben, hätten sie ihm zunächst eine Dienstreise nach Deutschland für ein bis zwei Monate angeboten, später dann einen kompletten Umzug.
„Noch will ich das nicht. Ich liebe dieses Land, ich möchte gerne hier leben. Hier ist es wunderbar, die Menschen sind wunderbar“, sagt Wasil: „Aber wenn sich nichts ändert, dann werde ich im schlimmsten Fall ausreisen. Ich habe einen kleinen Sohn und ich möchte, dass er in einem Land aufwächst, wo Menschen wertgeschätzt werden.“
Eine halbe Stunde nach dem Konzert fahren zwei Kleinbusse mit OMON-Einheiten in den Hof. Ein großer Linienbus steht außerdem etwas weiter entfernt. Die Leute verfallen in Panik, aber sie bleiben. Waizjuschkewitsch singt weiter, die Kinder rennen umher. Die Silowiki sitzen noch in ihren Fahrzeugen.
„Die OMON-Leute sind gekommen!“, warnt ein Zehnjähriger auf seinem Fahrrad die Anwesenden.
Lange warten die Silowiki nicht. Zum Lied Kupalinka, das die Menschen im Chor singen, besetzen die Figuren in Schwarz den Spielplatz. Der Gesang bricht mittendrin ab, die Leute rufen Waizjuschkewitsch „Danke!” zu. Einige verlassen den Spielplatz, andere werden dort blockiert.
Die Silowiki warnen über ihr Megafon über die „nicht genehmigte Veranstaltung“, worüber sich die Leute empören und entgegnen, dass sie hier wohnen.
„Ihr verängstigt unsere Kinder, haut ab!“, rufen die Frauen.
Die OMON-Leute lassen diejenigen passieren, die weggehen wollen. Zu Festnahmen kommt es nicht, aber die Menschen gehen noch nicht endgültig auseinander. Einige bleiben vor den Hauseingängen, andere kehren in ihre Wohnung zurück und schauen aus dem Fenster.
Währenddessen tauchen außer den Menschen in Schwarz noch weitere Silowiki in grüner Uniform auf. Sie umzingeln das Trafohäuschen, jemand übermalt das Konterfei der DJs schnell mit schwarzer Farbe.
„Schande!“, brüllen ihnen die Menschen entgegen. Darauf empören sich die OMON-Leute demonstrativ untereinander, nach dem Motto: Die schleppen ihre Kinder um diese Uhrzeit nach draußen und beschweren sich dann auch noch – was wollen die eigentlich?
Die Anwohner rufen immer wieder: „Das ist unser Hof!“ und „Es lebe Belarus!“, doch die Silowiki bewegen sich nicht vom Fleck, solange, bis das Wandgemälde endlich zerstört ist. Danach gehen die Menschen in Schwarz, es bleibt noch ein Dutzend Silowiki in Miliz-Uniformen ohne Erkennungszeichen und in grünen Uniformen. Die Anwohner bitten sie, sich vorzustellen oder auszuweisen, aber die Uniformierten reagieren nicht.
Nach und nach kehren einige Dutzend Anwohner auf den Platz zurück. Einige versuchen, mit den Silowiki ins Gespräch zu kommen. Die antworten: Unterhaltet euch untereinander. Einer der Männer holt eine Bibel hervor und fängt an, den Silowiki aus der Offenbarung des Johannes vorzulesen. Ein Silowik mit GoPro-Kamera auf dem Kopf filmt den Vorleser mit seinem Handy.
„Und ich sah: Als es das sechste Siegel auftat, da geschah ein großes Erdbeben, und die Sonne wurde schwarz wie ein härener Sack, und der ganze Mond wurde wie Blut“, liest der Mann vor.
Nebenan schaukeln die Kinder, die Anwohner bieten sich gegenseitig Tee und Kaffee an. Die Hunde beschnuppern sich. Vor ihnen stehen die Silowiki auf dem Spielplatz. Die Luft riecht nach der Farbe, mit der das Wandgemälde überstrichen wurde.
Wenn das Ausmaß des Protests abnimmt in diesen Tagen, dann nimmt das Ausmaß der Absurdität offensichtlich zu.
Anschließend bringen die Silowiki ein paar Kerle, deren Gesichter müde vom Alkohol wirken, angebliche Arbeiter in Zivil. Die Arbeiter bringen eine Leiter, ein Tichar klettert auf das Dach des Trafohäuschens und werkelt lange, um die weiß-rot-weiße Fahne zu entfernen. Schließlich ist die Mission erfüllt: Sie haben die Nationalflagge entfernt und sogar die Flagge von Minsk.
Der Platz leert sich. Die Anwohner gehen nach Hause und sagen einander: „Bis morgen!“ und „Danke, Nachbarn! Schlaft gut!“.
Auch die Silowiki gehen. Wo eben noch die Kinder spielten, ist nun nun Leere, wo die Menschen sangen, ist nun Stille. Und anstelle der DJs sind da zwei Silowiki mit Maske, die dort abgestellt sind, bis die stinkende Farbe getrocknet ist.
Am 8. September haben in Minsk erneut zehntausende Menschen friedlich für die Freilassung von politischen Gefangenen demonstriert. Diesmal protestierten vor allem Frauen, einige von ihnen kamen mit Kindern.
Der von dem Minsker Fotografen Yauhen Yerchak festgehaltene Moment wurde zur Ikone, tausendfach im Netz geteilt: Eine umzingelte Gruppe von Frauen, die sich aneinander an den Händen halten, eine Abwehrkette bilden und unerschrocken auf die Männer blicken. Meduza hat mit dem Fotografen Yauhen Yerchak gesprochen und ihn gefragt, unter welchen Umständen er dieses Foto aufgenommen hat.
Foto: Yauhen Yerchak / Shutterstock
Am 8. September gab es in Minsk eine Kundgebung zur Unterstützung all derer, die während der Proteste verhaftet wurden, insbesondere für Maria Kolesnikowa. Diese sollte über die Grenze in die Ukraine gebracht werden, was jedoch nicht gelang – weil sie ihren Pass zerriss, wie der Koordinationsrat sagt.
Die Menschen hatten sich zunächst auf dem Platz beim Komarowski Markt versammelt – genau dort hatte am 12. August die erste Frauendemonstration stattgefunden. Gleich zu Beginn wurden ungefähr zehn Menschen verhaftet. Dann lief die Menge ins Stadtzentrum, zum Prospekt Nesawisimosti. Sie lief durch enge Straßen, weswegen sich die rund tausend Menschen starke Kolonne zu einer 500 Meter langen, schmalen Kette zog. Plötzlich kamen Busse ohne Nummernschilder mit Silowiki, die anfingen Menschen festzunehmen. Ein paar versuchten wegzurennen, den Rest drängte man am Zaun der ehemaligen Fabrik Horizont zu engstehenden Gruppen zusammen. Eine dieser Gruppen habe ich fotografiert.
Die meisten Verhaftungen gab es im Zentrum der Kolonne, dort standen überall Soldaten. Besser gesagt, weiß ich nicht, wer das war: Menschen in Militäruniform mit Sturmhauben ohne Erkennungsmarken. Die haben versucht, einzelne Frauen aus der Kette zu reißen. Ich habe diese Aufnahme gemacht und bin dann weitergegangen.
In den letzten paar Tagen haben sie angefangen, Frauen festzunehmen. Vorher hatten sie sich nur Männer vorgenommen, Frauen mussten sich schon viel Mühe geben, um verhaftet zu werden. Soweit ich weiß, gab es eine Anweisung, Frauen nicht anzurühren. Doch seit gut anderthalb Wochen wächst die Polizeigewalt. Gestern wurde wahllos festgenommen, weil auf diesem Frauenmarsch nur wenige Männer dabei waren.
„Warum schweigt ihr, wenn ihr seht, wie ein kleines, stolzes Volk zertrampelt wird?“ Mit diesen Worten hat sich Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch am gestrigen Mittwoch an die russische Intelligenzija gewandt. In einem offenen Brief, veröffentlicht auf der Seite des belarussischen PEN-Zentrums, hatte Alexijewitsch darauf hingewiesen, dass sie das letzte Mitglied des von Tichanowskaja einberufenen Koordinationsrats ist, das nicht im Gefängnis sitzt oder zur Ausreise gedrängt wurde. Maria Kolesnikowa, die an der belarussisch-ukrainischen Grenze ihren Pass zerrissen hatte, um nicht unfreiwillig des Landes verwiesen zu werden, sitzt inzwischen in einem Minsker Untersuchungsgefängnis: Die Ermittler werfen ihr „versuchte Machtübernahme“ vor.
Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, deren Werk ebenfalls in mehrere Sprachen übersetzt ist, antwortet Alexijewitsch in The New Times:
Liebe Swetlana!
Belarus erlebt heute das, was aller Wahrscheinlichkeit nach auch Russland in einiger Zeit wird erleben müssen. Für uns alle sind die Ereignisse der letzten Wochen in Belarus ein Modell unserer nahen Zukunft. Und zwar ein gutes Modell. Es hat sich gezeigt, dass ein ruhiges und, wie uns immer schien, recht träges Volk auf den unheilvollen Appetit des Regimes, verkörpert von einem völlig unfähigen Diktator, sehr wachsam reagiert. Es hat auf eine äußerst würdige Art und Weise seine Meinung kundgetan bei Demonstrationen von zigtausend Menschen auf dem Platz vor der Präsidentenresidenz. Friedlichen Demonstrationen, ohne zerschlagene Scheiben und brennende Autos.
Diesem Protest liegt, wie mir scheint, ein Gefühl der eigenen Würde zugrunde, von Menschen, die sich nicht mehr abfinden wollen mit dem Regime eines vor unbegrenzter Macht Durchgedrehten – eines beschränkten und ungebildeten Mannes.
Keine einzige Minute meines Lebens mochte ich Macht. Nicht die von Stalin, nicht die nach Stalin, nicht den Reigen der nachfolgenden Führer, nicht die postsowjetischen Regierungen, nicht die putinsche.
Doch die Erfahrung als sowjetischer Mensch, der den Großteil seines Lebens unter den Paukenschlägen schamloser Propaganda gelebt hat, machte mich umfassend immun. Schon oft habe ich gesagt: Ja, wir leben heute in goldenen Zeiten, wenn man unser Leben mit dem Leben unserer Eltern und Großeltern vergleicht. Der Eiserne Vorhang ist kollabiert, die Grenzen sind offen, Informationen aus aller Welt, die in sowjetischer Zeit immer unter Verschluss blieben, strömen nur so zu uns, und jeder, der sie bekommen will, schaltet einfach seinen Computer an. Verhaftungen sind akkurat und punktuell, ohne stalinsche Wucht.
Die Ereignisse in Belarus haben mein idyllisches Bild vom Leben zerstört: Es ist klar geworden, wie das Regime die Zähne zeigt, wenn es sich in seiner unbegrenzten und unrechtmäßigen Existenz bedroht fühlt.
So erstaunlich es auch sein mag: Die belarussischen Bürger reagieren sensibler auf die Unmoral und die Schamlosigkeit des Regimes. Die eigene Würde überwiegt nun Trägheit, Angst und eben jenes soziale Faulenzen, das das Leben in weiten Teilen des gesamten postsowjetischen Raums prägt.
Wir alle – ich spreche von meinen Freunden und Gleichgesinnten, von denen es nicht wenige gibt – verfolgen höchst gespannt alle Nachrichten, die derzeit aus Belarus kommen. Wir wissen von den Verhaftungen und von den neuen, wunderbaren Führungsfiguren. Und uns ist klar, dass in eurem Land ein Ereignis stattgefunden hat, das morgen auch in Russland stattfinden kann.
Ich sende dir herzliche Grüße, wünsche Gesundheit und Kraft, wünsche dir, dass du in einem Land lebst, das frei ist von einem dummen und ekelerregenden Regime. Und mir, meine Liebe, wünsche ich dasselbe.
„Kak oschtschuschtschenija?“ (dt. „Wie ist die Stimmung?“) rufen die Demonstranten in Richtung des belarussischen Präsidentenpalastes und tanzen zu den Beats von DJ Papa Bo – inmitten eines riesigen Protestmarsches. Diese Frage greift auch die Band Rasbitaje serza pazana (dt. Das gebrochene Herz eines Homies) in ihrem neuen Kultclip auf. Dort singt sie in Anspielung auf die bizarren Bilder von Lukaschenko mit Sturmgewehr: „Hubschrauber gelandet, wollte alle abknallen; Kolja in Kampfmontur; Stimmung: geht so!“
Auch an diesem Sonntag, dem 13. September, marschierten wieder über hunderttausend Menschen nicht nur in der Hauptstadt von Belarus – und das trotz massiven Gewalteinsatzes seitens der Silowiki und zahlreicher Festnahmen bereits vor dem eigentlichen Beginn. Am Vortag des geplanten Treffens zwischen Lukaschenko und Putin in Sotschi zeigten die Demonstranten, dass von einem Abflauen der Proteste nicht die Rede sein kann.
Mit dabei waren zahlreiche Musiker mit Trommeln und anderen Instrumenten. Musik spielte in der belarussischen Protestkultur schon immer eine zentrale Rolle. Meduza hat einen aktuellen Soundtrack der Revolte zusammengestellt.
Der musikalische Protest-Slogan in Belarus ist und bleibt – wie übrigens die letzten dreißig Jahre im gesamten postsowjetischen Raum – Viktor Zois Song Peremen (dt. Veränderung). Doch auch die belarussische Musikszene, die sich über all die Jahre unter ein und demselben autoritären Regime entwickelt hat, hat etliche Helden und Hymnen hervorgebracht, die das Volk zusammenschweißen. Wir haben hingehört, worüber Belarus derzeit singt, und können nur bestätigen: Veränderung ist gefragt wie noch nie.
Max Korzh: Wremena (Zeiten), Teplo (Wärme)
Als in Minsk massenhafte und unverhältnismäßig brutale Festnahmen in vollem Gange waren, appellierte der berühmteste Rapper von Belarus Max Korzh etwas ungeschickt auf Instagram, die Protestierenden sollten bitte aufhören. Später erklärte er: nur für einen Tag, um Blutvergießen zu verhindern. Er wurde zu wörtlich genommen und kritisiert. Parallel dazu veröffentlichte Korzh gleich zwei neue Lieder. Ohne direkte Aussagen, aber die Anspielungen sind klar. In Wremena singt er, dass „die Freiheit jetzt teurer als Gold“ sei, und in Teplo von einem alten Weisen, der den Menschen die Sonne wegnimmt, damit „gar niemand erst ein Problem sieht und alles seine Ordnung hat“. Am 15. August kam der Musiker zum Gefängnis Okrestina, wo Demonstranten, die auf Protestaktionen verhaftet wurden, festgehalten (und grausam misshandelt) werden, und er nahm am Abschied von Alexander Tarajkowski teil, der bei der Auflösung der Demonstration an der U-Bahnstation Puschkinskaja umgekommen war.
Petlja Pristrastija (Schlinge der Leidenschaft): Norma (Norm)
Eine der großartigsten belarussischen Rockbands der Gegenwart zeichnet klarer als viele andere die stillen Grässlichkeiten des postsowjetischen Alltags und hat sich noch nie durch einen besonders optimistischen Blick auf die Welt hervorgetan („Ich glaube an Gomorrha, ich glaube an Sodom, an ein besseres Morgen glaub ich aber kaum“). Erst im Frühling haben sie die erschreckende Antiutopie der heranrollenden totalitären Gesellschaft in einen Song verpackt. Damals wurde das Lied eher in Verbindung mit der Coronavirus-Pandemie gebracht, jetzt wird es zur Unterstützung der Protestbewegung verwendet.
Naka featuring Dzieciuki, Petlja Pristrastija, Rasbitaje Serza Pazana (Das gebrochene Herz eines Homies) und Rostany: Wam (Für euch)
Der Leader von Petlja, Ilja Tscherepko-Samochwalow, machte auch bei einem Projekt der Minsker Gruppe Naka mit: bei einem Lied zum Gedicht des dissidentischen Lyrikers Wladimir Nekljajew, in dem dieser zornig alle anprangert, die dem Regime dienen. Diese Zeilen wurden schon 2010 verfasst, als Nekljajew eine Kandidatur als Präsident von Belarus riskierte (allerdings wurden sie erst zehn Jahre später unters Volk gebracht). Sofort nach der Abstimmung wurde Nekljajew verprügelt, der Organisation von Massenunruhen beschuldigt und verhaftet. Für seine Befreiung setzten sich die EU und die USA ein. In der Folge wurde die Anklage gegen Nekljajew abgemildert, er wurde zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.
Dai darohu! (Aus dem Weg!): Baju-bai (in etwa: Heia popeia)
Die Punkband aus Brest singt dieses Lied, eine Reaktion auf die Festnahme der oppositionellen Präsidentschaftskandidaten, aus der Sicht eines Bullen, dessen Ziel es ist, den Gefängnistransporter vollzukriegen – sein schlimmster Albtraum ist ein Machtwechsel. Der Clip sieht aus wie die Zombie-Apokalypse: Der Bulle jagt im Mähdrescher friedliche Bürger übers Feld, OMON-Männer verprügeln eine Rentnerin und führen teuflische Tänze auf, und am Ende ergeben die gemähten Streifen im Feld ein infernales Porträt des Batka. In der Nacht auf den 16. August wurde der Leader von Dai dorogu!, Juri Stylski, in Brest verhaftet – er hatte tags zuvor eine Kolonne von mehreren tausend Menschen angeführt, die durch die ganze Stadt marschierte, und das live auf Instagram gesendet.
Sirop (Sirup): Rodina (Heimat), Spasibo, Sascha (Danke, Sascha)
Der Rapper Alexej Sagorin, ehemaliger Wiederholungstäter und Gründungsmitglied der Band Ljapis Trubezkoi, macht kein Hehl aus seiner oppositionellen Haltung zur Staatsmacht. Vor den Präsidentschaftswahlen nahm er einen Track auf mit Motiven aus Juri Schewtschuks Rodina. Im Videoclip zieht Sirop als Tod verkleidet durch Minsk, in dem das Volk demonstriert, und bleibt vor dem Präsidentenpalast stehen. Danach folgte der Song Spasibo, Sascha, in dem der Musiker von seinem schweren Leben in Belarus erzählt.
Tor Band: My ne narodez (Wir sind kein Völkchen)
Die junge Rockband aus Rogatschew schreibt geradlinige und simple, aber ins Schwarze treffende Agitationslieder mit den klassischen Losungen Uchodi (Geh weg) und Shiwe (Es lebe). Mit diesem Lied reagieren die Musiker auf eine der kränkendsten Beleidigungen seitens des Präsidenten, der die Belarussen als Völkchen bezeichnete, als sie wegen Gerüchten über einen möglichen Wertverlust massenhaft Devisen aufkauften.
Naviband: Inschymi (Als andere)
Ein Eurovision-Teilnehmer aus Belarus: 2017 war Naviband die erste Gruppe in der Geschichte des Wettbewerbs, die ein Lied in belarussischer Sprache sang. Xenija Shuk und Artjom Lukjanenko betonen immer, dass sie mit Politik nichts am Hut haben. Aber jetzt sind auch sie „als andere aufgewacht“. „Wir können diese Brutalität und Gewalt gegen ganz normale Menschen nicht fassen. Wir kriegen Angst. Dazu kann man nicht mehr schweigen!“, kommentierten die Musiker ihre neue Single.
Steny ruchnut (Mauern stürzen ein)
Der Song, mit dem jede Veranstaltung von Swetlana Tichanowskaja endet, hat eine lange Protestgeschichte. Er wurde 1968 vom katalanischen Sänger Lluís Llach als Reaktion auf die Franco-Diktatur geschrieben. Zehn Jahre später übersetzte ihn der polnische Liedermacher Jacek Kaczmarski, und unter dem Namen Mury wurde er zur Hymne der Solidarność. Die belarussische Version stammt vom Musiker Dimitri Woitjuschkewitsch und dem Dichter Andrej Chadanowitsch und wurde erstmals bei den Dezemberprotesten nach der Präsidentschaftswahl 2010 auf dem Unabhängigkeitsplatz präsentiert. Es gibt auch eine russische Version, 2012 von der Moskauer Band Arkadi Koz geschrieben. Auf Tichanowskajas Kundgebungen hört man sowohl die russische, als auch die belarussische Version. Wobei es von zweiterer eine Aufnahme mit der Stimme von Tichanowskajas Mann Sergej gibt, der bei den Wahlen kandidieren wollte und während des Wahlkampfes festgenommen wurde. Um die Hymne zu modernisieren, gab die Postpunk-Band Akute aus Mahiljou kürzlich ein Cover von Mury mit neuer Musik heraus.
Sergej Michalok: Woiny sweta (Krieger des Lichts), Grai (Spiel)
Paraphrasiert man einen alten sowjetischen Witz, dann ist Alexander Lukaschenko ein unbedeutender Politiker in der Ära Sergej Michalok. In der Regierungszeit des belarussischen Präsidenten hatte Michalok schon drei verschiedene Bands (Ljapis Trubezkoi, Brutto, Drezden) und wechselte mehrmals gründlich sein Image, doch blieb er immer ideeller Gegenspieler von Lukaschenko. Schon vor zehn Jahren nannte er nach den Wahlen den Präsidenten unverblümt einen Lügner, Dieb und Hinterwäldler, wofür er von der Staatsanwaltschaft vorgeladen wurde und emigrieren musste. Belarus Freedom, Woiny sweta, Grai, Soratschki (Sternchen), Ne byz skotam! (Kein Vieh sein!) – die Lieder Michaloks sind längst fest im kulturellen Code der belarussischen Nation verankert.
N.R.M.: Try tscharapachi (Drei Schildkröten)
N.R.M. ist eine weitere, für die belarussische Kultur extrem wichtige Rockband aus Minsk, die nicht nur einmal auf den schwarzen Listen der Behörden landete. Ihr Name ist die Abkürzung für Nesaleshnaja Respublika Mroja – unabhängige Traumrepublik. Der bekannteste Hit der Band handelt von drei Schildkröten und erklingt regelmäßig bei Protestaktionen. Vor Kurzem trafen sich die Bandmitglieder, die zehn Jahre nicht miteinander gesprochen hatten, wieder in ihrer klassischen Besetzung im Studio und spielten dieses Lied. „Wir haben die Solidarität des belarussischen Volkes gesehen, den inspirierenden Zusammenhalt der Menschen als Antwort auf Ungerechtigkeit. Wir haben Leute gesehen, die auf den Straßen Try tscharapachi sangen und beschlossen, auf unsere Art Einheit zu demonstrieren“, erzählte der ehemalige Frontman von N.R.M., Lavon Volski.
N.R.M.-Gitarrist Pit Paulau „stürmt“ den Präsidentenpalast in Minsk
Peremen
Noch mal zurück zu Zoi. Peremen ist im belarussischen Radio seit vielen Jahren verboten. Umso häufiger wird der Song von Autofahrern aufgedreht und von Straßenmusikern gesungen. Am wirkungsvollsten war seine Verwendung für den Wahlkampf 2020 bei einer regierungsfreundlichen Veranstaltung am 6. August auf dem Kiew-Platz in Minsk, die anberaumt wurde, um eine geplante Kundgebung von Tichanowskaja zu vereiteln. Als Zeichen des Protests drehten die Tonmeister Kirill Galanow und Wladislaw Sokolowski plötzlich eine Aufnahme der Band Kino auf und hielten weiße Bänder hoch. Das Publikum reagierte auf ihre Zivilcourage mit Beifall. Nach ungefähr einer Minute machte der Vorsteher des Minsker Stadtbezirks Zentralny Dimitri Petruscha den Ton aus. Am nächsten Tag bekamen die jungen Männer je zehn Tage Haft für minderschweres Rowdytum und Ungehorsam gegen Amtspersonen.
Von den sieben Präsidiumsmitgliedern des Koordinationsrates ist nur noch die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch auf freiem Fuß und in Belarus, alle anderen wurden festgenommen oder zur Ausreise gedrängt. Doch in den Sozialen Medien wird berichtet, dass auch Alexijewitsch anonyme Anrufe erhält und Unbekannte vor ihrer Tür stehen. Auf der Seite des belarussischen PEN-Zentrums hat Alexijewitsch eine Erklärung veröffentlicht, in der sie sich auch an die russische Intelligenzija wendet. dekoder bringt die ebenfalls auf tut.by abgedruckte Stellungnahme im Wortlaut in deutscher Übersetzung.
Von meinen Freunden und Gesinnungsgenossinnen und -genossen im Präsidium des Koordinationsrates ist keiner mehr da. Alle sind entweder im Gefängnis oder wurden rausgeschmissen und unfreiwillig außer Landes gebracht. Heute war der letzte dran: Maxim Snak.
Wir haben keinen Umsturz geplant. Wir wollten keine Spaltung in unserem Land.
Erst wurde unser Land erbeutet, dann die besten von uns gekidnappt. Doch an die Stelle der aus unserer Mitte Gerissenen treten Hunderte andere. Nicht der Koordinationsrat revoltiert. Das ganze Land revoltiert.
Ich möchte wiederholen, was ich immer sage: Wir haben keinen Umsturz geplant. Wir wollten keine Spaltung in unserem Land zulassen. Wir wollten, dass in der Gesellschaft ein Dialog beginnt. Lukaschenko sagt, dass er nicht mit der Straße redet. Aber die Straße, das sind hunderttausende Menschen, die jeden Sonntag und jeden Tag auf die Straße gehen. Das ist nicht die Straße. Das ist das Volk. Die Menschen gehen mit ihren kleinen Kindern auf die Straße, weil sie glauben, dass sie gewinnen.
Warum schweigt ihr, wenn ein kleines, stolzes Volk zertrampelt wird? Wir sind doch immer noch eure Brüder und Schwestern.
Wenden möchte ich mich auch an die russische Intelligenzija – nennen wir sie doch aus alter Gewohnheit einfach so. Warum schweigt ihr? Nur einzelne Stimmen von Unterstützern hören wir. Warum schweigt ihr, wenn ihr seht, wie ein kleines, stolzes Volk zertrampelt wird? Wir sind doch immer noch eure Brüder und Schwestern. Und meinem Volk möchte ich sagen, dass ich es liebe. Dass ich stolz bin.
Da, es klingelt schon wieder jemand an der Tür, den ich nicht kenne …
Sorge um Maria Kolesnikowa: Eine Augenzeugin hatte am Montagmorgen im Zentrum von Minsk beobachtet, wie die letzte im Land verbliebene Mitstreiterin aus dem Frauentrio um Swetlana Tichanowskaja von maskierten Männern in Zivil in einen dunklen Kleinbus gezerrt wurde. Im Lauf des Tages waren auch zwei weitere Mitglieder des Koordinationsrates – Anton Rodnenkow und Iwan Krawzow – nicht mehr erreichbar und galten als vermisst. Von letzteren beiden gibt es nun ein Lebenszeichen aus der Ukraine – sie wurden aller Wahrscheinlichkeit nach gegen ihren Willen außer Landes gebracht. Der Staatssender Belarus 1 hatte berichtet, die beiden Männer seien ins Ausland geflohen. Kolesnikowa sei verhaftet worden – beim illegalen Versuch, die Grenze zu überqueren. Dem widersprechen nicht nur frühere Aussagen Kolesnikowas, sondern auch eine Meldung von Interfax-Ukraine: Demnach hat Kolesnikowa an der Grenze ihren Pass zerrissen, um nicht gegen eigenen Willen außer Landes gebracht zu werden. Über ihren Verbleib herrscht derzeit Unklarheit. Das unabhängige belarussische Medium tut.by veröffentlichte ein Interview mit einem belarussischen Grenzbeamten, der darin aussagt, Kolesnikowa sei an der belarussisch-ukrainischen Grenze festgenommen worden. Alexander Lukaschenko hatte in den 1990er Jahren mehrfach politische Gegner gewaltsam verschwinden und höchstwahrscheinlich ermorden lassen. Der freie Osteuropa-Korrespondent Stefan Schocher weist auf seinem Facebook-Account darauf hin, dass die Taten damals „wenn es denn Zeugen gab, von Personen in Zivil“ ausgeführt wurden. Es waren häufig auch Männer in Zivilkleidung und mit Masken, die in den vergangenen Tagen gewaltsam gegen Demonstrierende vorgegangen sind.
Die Gewalt der letzten Tage und Wochen, aber auch die Hoffnung der Demonstrierenden – all das hat Eingang in die belarussische Sprache gefunden. Mikita Ilintschik hat ein Wörterbuch zu Belarus im Wandel auf Republic zusammengestellt.
„Lukaschenko, ab in den Awtosak!“ (russ. Lukaschenko w awtosak!) In Belarus, genau wie in Russland, ist der Awtosak (der Gefangenentransporter) eines der Symbole staatlicher Gewalt. Er dient als Angstmacher und ist häufig anzutreffen: Oft stehen mehrere davon im Stadtzentrum oder fahren durch die Straßen von Minsk. Andererseits finden sie auch Anwendung im Marketing, auf Magneten und T-Shirts, und in der modernen Kunst. Die obige Losung des Sommers 2020 fordert unmissverständlich, dass das Objekt seinem Zweck gemäß zum Einsatz kommt: Verbrecher gehören in den Awtosak, nicht Bürger, die friedlich ihre Meinung kundtun oder einfach zufällig vorbeikommen.
Chapun (böser Geist der slawischen Mythologie, der vornehmlich Juden und Kinder entführt): bezeichnet eine Taktik der belarussischen Slabowiki (siehe unten), die sich durch einen überraschenden und aggressiven Verhaftungsstil auszeichnet. Chapun ist eine Massenerscheinung und geschieht unerwartet. Das Prinzip ist folgendes: Ein Awtosak (siehe oben) kommt aus dem Nichts, aus dem Nichts stürmen die OMON-Kräfte auf die Straße und nehmen die Menschen mit ins Nirgendwo. Die Sicherheitskräfte nennen keinen Grund für die Verhaftung und tragen keine Erkennungsmarken. Die Bürger werden in Autos ohne Nummernschilder oder in den Awtosak gesteckt.
„Es lebe Belarus!“ (belaruss. Shiwe Belarus!) ist die mittlerweile weltweit bekannte Losung der belarussischen Opposition von 2020. Genau so hieß übrigens auch die offizielle Hymne des unabhängigen Belarus bis 1995. 1995 hielt Lukaschenko ein Referendum zur Wiedereinführung sowjetischer Staatssymbole ab. Flagge, Wappen und Hymne wurden mit geringen Änderungen wiedereingeführt. Auch deswegen ruft Shiwe Belarus! Assoziationen an ein Belarus ohne Lukaschenko wach, an die Geburt eines belarussischen Staates – sowohl 1918 als auch 1991.
Lustig ist, dass die Losung zwei gegensätzliche Bedeutungen gleichzeitig hat: Einerseits gibt es sie im offiziellen Sprachgebrauch (zum Beispiel erscheint das Organ des Belarussischen Parlaments, die Narodnaja Gazeta, mit dem Slogan Shiwe Belarus! im Logotyp). Andererseits wurde sie zur Losung der Opposition. Die Situation geriet zur Farce, als der Slogan de facto verboten wurde: Es kam zu Verhaftungen, Verurteilungen und Gefängnisstrafen, in den Protokollen hieß es: „Die Person hat die staatsfeindliche Losung Shiwe Belarus! gerufen.“
Genügsamkeit (belaruss. pamjarkoŭnasz). Psychophysischer Massenzustand der Bürgerinnen und Bürger der Republik Belarus von 1994 bis 2020. Umfasst Gedanken über Demokratie und Freiheit genauso wie chronische Depressionen, Lustlosigkeit oder Unfähigkeit zu entschiedenen Handlungen, Angst vor Veränderungen, Wandel ist unmöglich, mein Name ist Hase, ich weiß von nichts. Kurz, das Wort beschreibt den Geisteszustand der Nation, der durch die Politik Lukaschenkos die letzten 26 Jahre geschaffen wurde.
„Glauben! Können! Siegen!“ (belaruss. Werym! Mosham! Peramosham!) ist eine der wichtigsten Losungen des belаrussischen Protests im Jahr 2020. Woher sie stammt, ist unbekannt. Es gibt auch schon eine neue Version: „Glauben! Lieben! Siegen!“ [sic. Geläufiger ist allerdings Ljubim! Mosham! Peramosham!, „Lieben! Können! Siegen!“ – dek]. Hier steht der friedliche Charakter der Proteste im Mittelpunkt.
Henkersknechte (russ. karateli) sind Angehörige bewaffneter Einheiten (gewöhnlich von Besatzern), die für die Repressionen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen des besetzten oder unterworfenen Gebiets zuständig sind. In der Nacht vom 9. auf den 10. August 2020, gleich nach dem Ende der Wahl, haben die belarussischen OMON-Kräfte Grausamkeit walten lassen, nicht nur bei Festnahmen, sondern auch bei Verhören. Ungeheuerlich waren auch die Haftbedingungen der Festgenommenen. Für viele kam diese Grausamkeit völlig unerwartet. So hielt karateli, ein seit dem Großen Vaterländischen Krieg vergessener Begriff, wieder Einzug in das belarussische Wörterbuch. Und sollte das Wort „Faschisten“ es geschafft haben, in der ehemaligen Sowjetunion zu einem Sprachklischee zu werden, das sowohl Demonstranten nutzen als auch die offizielle Propaganda, so klingt das Wort „Henkersknecht“ im Jahr 2020 einfach nur hart und grausam. Ganz zu schweigen von all dem, was bewiesen ist: Das Internet ist voll von Dokumenten und Belegen der Gräueltaten des Lukaschenko-Regimes. Festgenommenen Männern wurden die Hoden abgequetscht, Rippen gebrochen, Frauen Haare ausgerissen. Sowohl Männer als auch Frauen waren sexueller Gewalt und brutalen Schlägen ausgesetzt. Gegen friedliche Demonstranten kamen Gummigeschosse und Wasserwerfer zum Einsatz. Verhaftete bekamen Elektroschocks, wurden entkleidet, mit Wasser übergossen, 50 Leute wurden in eine kleine Zelle gepfercht, mit Spraydosen farblich markiert: Die unterschiedlichen Farben standen für die unterschiedlichen Grausamkeitsstufen, denen die Festgenommenen ausgesetzt wurden. Die Assoziation zu den faschistischen Besatzern kam ganz von selbst auf, und damit auch das Wort. Ich möchte daran erinnern, dass Karateli (dt.: Henkersknechte) ein Werk des berühmten belarussischen Schriftstellers Ales Adamowitsch ist.
Okrestina. Dorthin werden die Aufständischen im Awtosak (siehe oben) kutschiert. Okrestina ist das Zentrum zur Isolierung von Gesetzesbrechern (ZIP), eine Einrichtung der Hauptverwaltung des Inneren von Minsk. Adresse: Perwy Pereulok Okrestina 36. Während der Massenverhaftungen, in der Nacht auf den 10. August, wurden die Menschen im Awtosak ins ZIP gebracht. In Sechser-Zellen fanden sich mehrere Dutzend zusammengeschlagener Leute – bis zu 60 Festgenommene saßen in einer Zelle. Entsprechend wurde die Okrestina ein Synonym für „Folterkammer“. Schrecklich ist auch das Schicksal des Namensgebers: Boris Okrestin, nach dem die Straße, in der sich das Gefängnis befindet, benannt ist, war ein sowjetischer Pilot, der in der Nähe von Minsk umkam, als er sein brennendes Flugzeug in Flieger der Faschisten hineinsteuerte.
Sascha 3 %. Im Mai 2020 wurden auf vielen Internetplattformen Wahlumfragen durchgeführt, bei denen die Nutzer für unterschiedliche belarussische Präsidentschaftskandidaten abstimmen konnten. Alexander Lukaschenko bekam in der Regel um die 3 Prozent. Daraufhin verbot der Staat derartige Internet-Umfragen. Nachwahlbefragungen an Wahllokalen im Ausland kamen zu denselben Ergebnissen, um die 3 Prozent. An keinem Wahlbüro in Ländern, in denen Nachwahlbefragungen erlaubt sind, erzielte Lukaschenko mehr als 10 Prozent. Insofern etablierte sich das Meme Sascha 3 % als wichtigster Indikator der tatsächlichen Popularität von Lukaschenko.
Schmarotzer (belaruss. darmajed abgeleitet von darma, einfach so, und jest, essen). Im sowjetischen Gesetz war „Parasitentum“ von 1961 bis 1991 ein Verbrechen, das darin bestand, dass „eine volljährige, arbeitsfähige Person langfristig keine gesellschaftlich sinnvolle Arbeit erfüllt und von anderweitig erworbenen Einkünften lebt“. Lukaschenko hat als Fan des sowjetischen Systems 2015 eine Steuer auf Parasitentum eingeführt: Sie muss von Bürgerinnen und Bürgern der Republik Belarus gezahlt werden, die offiziell nicht in der belarussischen Wirtschaft beschäftigt sind. Außerdem wurden für diese Menschen höhere Tarife für kommunale Dienstleistungen eingeführt. Einerseits hat man so die Arbeitslosigkeit bekämpft, andererseits bedeutete es eine erzwungene Anwerbung von Bürgern zur Arbeit in den unprofitablen Staatsbetrieben – und außerdem ein weiteres Steuermanöver, von dem der Staat profitierte. Auch aktuell geht die Welle von Unruhen laut Lukaschenko von „Junkies, Prostituierten und Schmarotzern“ aus. Deswegen hört man von den Protestierenden regelmäßig ironische Verdrehungen: „Schmarotzer?“ „Hier.“ „Junkies?“ „Hier.“ „Prostituierte?“ „Hier.“
Slabowiki (von russ. slabo, schwach) ist ein von dem sehr beliebten Telegram-Kanal Nexta eingeführter und auch sonst schon seit langem immer häufiger verwendeter Terminus. Die bis an die Zähne bewaffneten und ausgerüsteten Diener des Regimes, die friedliche Bürger schlagen, kann man nicht als Silo-wiki bezeichnen (von russ. sila Kraft, Gewalt), das wäre zu ehrenvoll. Der neue Terminus zeigt den Lakaien ihren Platz.
Strafgerichtshof/Tribunal (von lat. tribunal, Richterstuhl, Gerichtshof) ist ein außerordentliches Gericht, häufig (aber nicht unbedingt) ein Kriegsgericht und auf jeden Fall abgesetzt vom ordentlichen Gericht der allgemeinen Jurisprudenz. Nach dem Muster des Internationalen Kriegstribunals in Nürnberg, das über die Verbrechen des Hitlerregimes urteilte, wurden auch der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda so genannt. Belarus ist heute wahrscheinlich weltweit führend, was die Menge an Gesetzesbrüchen in den unterschiedlichsten Bereichen betrifft: Von Wahlfälschungen über unbegründete barbarische Gesetze bis hin zur Gewaltanwendung gegenüber Menschen. Wenn die Zentrale Wahlkommission ZIK ganz offensichtlich lügt, die Gerichte lügen, der Präsident lügt (und unterstützt das Lügen gewaltsam), dann bleibt den Bürgern nur, eine höhere Instanz der Gerechtigkeit zu fordern: Einen Strafgerichtshof.
Tichari (von russ. ticho, still, leise) sind Miliz-Angehörige in Zivil (ja, in Belarus gibt es immer noch die Miliz). Es gibt eine ganze Armee von Tichari, ihre genaue Funktion ist jedoch nicht bekannt. Am häufigsten beobachten sie Demonstranten. Einen Tichar zeichnet sein unauffälliges Erscheinungsbild aus. Unerlässlich ist die Herrenhandtasche, die über der Schulter hängt, klassisches Schuhwerk und Trainingshose. Die stillen Genossen schleichen nicht nur im Zentrum herum, sondern auch in Wohngebieten. Manche Tichari haben Kameras, mit denen sie die Proteste aufzeichnen. Tichari können Menschen verhaften und sie in Awtosaks stecken. Sie sind wortkarg. Außerdem kann man sie an ihrer Maske erkennen: Obwohl es in Belarus keine Corona-Maßnahmen gab, halten sich dieTichari an die Hygienestandards.
Im Interview mit dem russischen Staatssender Rossija 24 am Donnerstag, 27. August 2020, hat Russlands Präsident Wladimir Putin erwähnt, dass Russland „eine Reservetruppe an Sicherheitskräften” für Belarus eingerichtet habe. Dies sei auf Bitten des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenkos geschehen. Seit den Massendemonstrationen gegen die Fälschungen bei der belarussischen Präsidentschaftswahl am 9. August diskutieren Beobachter immer wieder die Frage, wie stark der Kreml in Belarus eingreifen wird – oder nicht. Der russische Blogger und Oppositionelle Maxim Katz interpretiert die aktuelle Äußerung Putins als reine Drohgebärde gegenüber den Tichanowskaja-Anhängern und Gegnern Lukaschenkos: „Dieses Manöver soll einfach dazu dienen, die Demonstranten zu demotivieren. Sie sollen zu dem Entschluss kommen, dass sie eh keine Chance haben – und aufgeben.”
Ich habe [Lukaschenko] gesagt: Russland wird alle seine Verpflichtungen erfüllen.
Alexander Grigorjewitsch hat mich gebeten eine Reservetruppe der Sicherheitskräfte einzurichten.
Und das habe ich getan.
Doch wir haben auch vereinbart, dass sie nur zum Einsatz kommt, falls die Situation außer Kontrolle gerät und wenn extremistische, ich möchte das unterstreichen, Elemente, die sich hinter politischen Losungen verstecken, bestimmte Grenzen überschreiten, anfangen zu plündern, Autos, Häuser und Banken anzünden, Verwaltungsgebäude stürmen und so weiter.
Aber Alexander Grigorjewitsch und ich sind zu dem Schluss gekommen, dass derzeit keine derartige Notwendigkeit besteht, und ich hoffe, auch in Zukunft nicht, so dass wir deswegen die Reservetruppe nicht zum Einsatz bringen.
Ich wiederhole noch einmal: Wir gehen davon aus, dass alle aktuellen Probleme in Belarus mit friedlichen Mitteln gelöst werden. Doch wenn es zu Gesetzesverstößen kommt, seitens der staatlichen Organe oder derer, die an den Protestaktionen teilnehmen, wenn diese den Rahmen des geltenden Rechts sprengen, so wird das Gesetz entsprechend darauf reagieren.
Das Gesetz gilt für alle gleichermaßen. Objektiv gesehen, denke ich, dass die Sicherheitsorgane von Belarus trotz allem ziemlich zurückhaltend sind. Schauen Sie mal, was da in manchen Ländern alles abläuft, […] ~~~
Я сказал, что Россия исполнит все свои обязательства.
Александр Григорьевич попросил меня сформировать определённый резерв из сотрудников правоохранительных органов, и я это сделал. Но мы договорились также, что он не будет использован до тех пор, пока ситуация не будет выходить из-под контроля, и когда экстремистские, я хочу это подчеркнуть, элементы, прикрываясь политическими лозунгами не перейдут определённых границ и не приступят просто к разбою: не начнут поджигать машины, дома, банки, пытаться захватывать административные здания и так далее.
Мы в разговоре с Александром Григорьевичем пришли к выводу о том, что такой необходимости сейчас нет, и надеюсь, её не будет, и поэтому этот резерв мы и не используем.
Повторяю ещё раз, мы исходим из того, что все сложившиеся проблемы, которые имеют место сегодня в Белоруссии, будут решаться мирным путём, а если где-то есть нарушения со стороны кого бы то ни было: либо со стороны государственных органов власти, правоохранительных органов, либо со стороны тех, кто участвует в акциях протеста, – если они выходят за рамки действующего закона, то и закон будет соответствующим образом на это реагировать. Ко всем закон должен относиться одинаково. Но если быть объективным, то я думаю, что правоохранительные органы Белоруссии ведут себя достаточно сдержанно, несмотря ни на что. Посмотрите, что в некоторых странах происходит.