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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Streikkrepierer

    Streikkrepierer

    Für den Machtapparat von Alexander Lukaschenko sind die Staatsunternehmen, die über 60 Prozent des jährlichen Gesamtumsatzes und fast 50 Prozent der Beschäftigten des Landes auf sich vereinen, von essentieller Bedeutung. Denn, so urteilt der Politologe Waleri Karbalewitsch: „Der Staat ist der größte Arbeitgeber. Das ermöglicht der Regierung eine staatliche Kontrolle der Gesellschaft.” Entsprechend hat die Oppositionsbewegung seit dem Ausbruch der Proteste mit dem 9. August 2020 immer wieder versucht, Streiks zu initiieren, die sich allerdings zu keinem Zeitpunkt zum erhofften Generalstreik im ganzen Land ausweiteten. Ein neuerlicher Streik sollte am 1. November beginnen. Warum dieser mehr oder weniger versandete und damit weit davon entfernt war, die Wirkung zu entfalten, die sich die Organisatoren erhofft hatten, analysiert der Journalist Alexander Klaskowski für das belarussische Online-Medium Naviny.by.

    „Siehst du das Erdhörnchen?“. „Nö.“ „Ich auch nicht. Es ist aber da!“

    Ungefähr so, im Stil alter Filmkomödien mit schwarzem Humor, streitet derzeit ein engagiertes Publikum über die Symptome des am 1. November in Belarus ausgerufenen Streiks. Betrachtet man die Tatsachen, ist das Regime nicht in seinen Grundfesten erschüttert. Analytiker meinen (und haben das bereits vor dem 1. November deutlich erklärt), dass die Lage jetzt nicht dazu geeignet sei, Menschen massenweise zu Aktionen zu bewegen, die das Regime zu Zugeständnissen nötigen könnten.

    Kopf der Initiative ist der Chef der Belarussischen Arbeitervereinigung (BOR), Sergej Dylewski, der aus politischen Gründen emigriert ist. Zu seinen Unterstützern gehören Waleri Zepkalo, ein prominenter Gegner von Lukaschenko, Dimitri Bolkunez, der Russland aus Angst verlassen hat, dass er in die Fänge des belarussischen Regimes gerät, Andrej Sannikow, der fast schon in Vergessenheit geratene Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen 2010 mit seiner Kampagne Europäisches Belarus und dem Medienportal Chartija 97. Sie kritisieren heftig diejenigen, die die Idee nicht aufgegriffen haben. Und das sind wohl die meisten Anführer und Strukturen der Opposition.

    Dylewski erklärte, am ersten Streiktag hätten zwischen 10 und 30 Prozent der Arbeiter in Belarus aus unterschiedlichen Gründen bei der Arbeit gefehlt. Wobei die Initiatoren einräumen, dass diese Zahlen schwer zu prüfen sind. Ebenso schwer ist zu unterscheiden, wer einfach krank war oder aus ernsthaften medizinischen Gründen in Quarantäne saß, und wer dem Aufruf gefolgt ist und damit dem Regime den Kampf angesagt hat (oder ihm wohl eher insgeheim den Stinkefinger zeigte).

    Mit anderen Worten: Wir können nur rätseln, wie viele von diesen angeblichen 10 bis 30 Prozent siechende Jabatkas waren, und wie viele ideelle Gegner Lukaschenkos.

    Die Idee wird auf einen Flashmob reduziert

    Die unbequemste Frage ist hier allerdings die nach den Zielen der Aktion und nach dem tatsächlichen Effekt. Es sieht so aus, als hätte man gewaltig Anlauf genommen und dann nur ganz schwach geschossen.

    Dylewski verkündete bereits am 30. August eine Streikwarnung und formulierte dabei zehn Forderungen an die Regierung. Unter anderem das Ende der Repressionen und die Freilassung aller politischen Gefangenen und rechtswidrig Verhafteten. Außerdem sollten die Gehälter, Stipendien und Renten „an die tatsächliche wirtschaftliche Lage im Land angepasst“ werden (eine unglückliche Formulierung – man könnte sarkastisch einwenden: Ihr kläglicher Zustand entspricht eben genau der miesen wirtschaftlichen Lage). Schließlich war eine der Forderungen „die Aufnahme direkter Verhandlungen zwischen dem Regime und den demokratischen Kräften unter unbedingter Beteiligung der Arbeiterführer über Neuwahlen des Präsidenten und des Parlaments zur Überwindung der politischen und wirtschaftlichen Krise“.

    Oho! Da wird sich Lukaschenko aber sowas von in Bewegung setzen! Über diese Forderungen verlieren jetzt selbst die Initiatoren kein Sterbenswörtchen mehr. Und die ursprüngliche Idee von einem Streik und einem Ultimatum an das Regime versucht man nun auf eine Art Volksquarantäne zu reduzieren, eine Aktion „Bleib zuhause“, auf einen Flashmob. So nach dem Motto: Wenn wir die Zahl der Corona-Toten reduzieren, kann das schon als Erfolg gelten.

    Klingt edel, ist aber eine klare Profanisierung der ursprünglichen Idee. Ein Versuch, trotzdem gute Miene zu machen. Pawel Ussow, Leiter des Zentrums für politische Analysen und Prognosen in Warschau, meint hierzu ironisch: Man hätte das ganze Vorhaben nicht Generalstreik, sondern Anti-Corona-Aktion nennen sollen. „Einen Streik in dem Sinne, wie er angekündigt wurde, hat es nicht gegeben“, erklärte Ussow gegenüber Naviny.by.

    „Proteste geschehen nicht auf Anweisung von Komitees“

    Ganz ähnlich bewertete der Politologe Waleri Karbalewitsch in einem Kommentar für Naviny.by die Lage: „Offensichtlich hat es keinen landesweiten Streik gegeben.”

    Er erinnerte daran, dass Swetlana Tichanowskaja im Oktober vergangenen Jahres versuchte, der Regierung ein Ultimatum zu stellen, und dazu einen Streik organisierte. Damals habe es zumindest einige Anzeichen gegeben, dass man dem Aufruf mit Aktionen folgte. Unter anderem hatten Dutzende privater Handels- und Dienstleistungsunternehmen geschlossen. Jetzt kam es nicht einmal dazu.

    Zu ergänzen wäre, dass der Streikaufruf auch damals eine klare Fehlkalkulation der Regimegegner war. Er erfolgte nämlich, als die politische Aktivität bereits abnahm, und er lieferte der Regierung einen Vorwand, die Repressionen zu verstärken und nichtloyale Unternehmen „niederzumetzeln”, wie Lukaschenko sich ausdrückte.

    „Revolutionen, landesweite Streiks und Ausbrüche von Protest geschehen nicht auf Anweisung von Komitees. Da müssen eine Reihe von Umständen zusammenkommen“, meint Karbalewitsch. Im August 2020 waren diese Umstände zusammengekommen. Aber auch damals seien nicht Proletarier die wichtigste Triebkraft der Proteste gewesen, sondern Angehörige der Mittelschicht, IT-Spezialisten, Unternehmer oder Mitarbeiter im nichtstaatlichen Sektor, betont er. „Die Epoche der proletarischen Revolutionen ist vorbei, weltweit schwindet das Gewicht der industriellen Produktion.“ Die Situation in Belarus ist zudem auch deshalb eine besondere, weil viele Arbeiter in Staatsunternehmen angestellt sind, die nicht effizient sind und Subventionen erhalten, also von der Gnade der Regierung abhängig sind. Das sei „ebenfalls ein Hemmfaktor“ für aktive Proteste, meint Karbalewitsch. Insgesamt gebe es jetzt in Belarus  derzeit „eine Phase der Entpolitisierung“ der Bevölkerung, so der Experte.

    Der Misserfolg hat „negative Folgen für die gesamte Opposition“ 

    Die Initiative der Belarussischen Arbeitervereinigung war eindeutig nicht durchdacht. Dylewskis Gruppe sei es nicht gelungen, ihre Agenda durchzusetzen, erklärt Ussow. Mehr noch, es sei das Regime, das hier in gewissem Maße die Initiative ergriffen hat.

    „Das Regime hat das unabhängige Kommunikationsnetzwerk in Belarus zerstört und macht das auch weiterhin“, sagt der Politologe. Heute haben viele Figuren und Gruppierungen, die im Kampf gegen das Regime eine Führungsrolle beanspruchen, eindeutig Probleme, den Zustand der Gesellschaft richtig einzuschätzen.

    Gleichzeitig setze „die neue Opposition teilweise völlig unnötigerweise auf Populismus“. Im Vordergrund stehe die Bewegung, unabhängig von den Ergebnissen. Obwohl „die historische Erfahrung zeigt, dass unüberlegtes Handeln großen Schaden anrichten kann“, erklärt Ussow. Manche aus der neuen Opposition in Belarus würden gerade Fehler der alten Opposition wiederholen und ihr Ansehen stark gefährden. 

    Allerdings haben längst nicht alle Akteure und Strukturen der Opposition die Idee von Dylewski und seinen Mitstreitern (oder Ideengebern) unterstützt. Mitarbeiter von Tichanowskajas Team und auch sie selbst haben sich zurückhaltend zu der Idee geäußert (weswegen sie umgehend heftige Kritik der Befürworter einstecken mussten). Auch Pawel Latuschko, Leiter des Nationalen Anti-Krisen-Managements, ging zum Streikaufruf auf Distanz.

    Der Misserfolg des Streiks habe aber „negative Folgen für die gesamte Opposition“, erklärt Ussow. Die erbitterte Debatte (um nicht zu sagen: das heftige Gezänk) um dieses Unterfangen bedeute eine „innere Entkonsolidierung der Opposition“, die de facto schon erheblich früher eingesetzt habe. Dabei „wird auch Tichanowskajas Autorität offen in Frage gestellt“, betont Ussow.

    Hat Lukaschenko das Referendum schon gewonnen?

    Über die Motive der Initiatoren des Streiks können wir nur rätseln. Leiden sie derart unter Realitätsverlust? Haben sie aus Ehrgeiz und mit Blick auf Konkurrenten beschlossen, Tichanowskajas Monopol zu erschüttern? Böse Zungen verweisen auf Fristen für Fördermittel. Dylewski und seine Mitstreiter sagen, sie würden sich um das schwere Los der Belarussen sorgen, die unter dem Joch des Regimes ächzen, und sie würden lieber handeln als ewig palavern.

    Gleichzeitig betont Dylewski immer wieder, dass er kein Politiker sei, sondern ein echter Malocher. Dabei ist eine solche Initiative Politik, sogar große Politik. Naiv-Tun bringt einen hier nicht weiter. Politik ist bekanntlich die Kunst des Möglichen. Unbedachte Schritte können da schlimmer sein als durchdachte Pausen (allerdings wäre da noch die Frage, worum es sich bei den anderen handelt – um eine wohlüberlegte Pause oder elementare Ohnmacht?).

    Jedenfalls ist offensichtlich, dass das Scheitern des Streiks unter Führung der Belarussischen Arbeitervereinigung dem Regime propagandistische Trümpfe an die Hand gibt und der gesamten Bewegung für Veränderungen im Land schadet.

    Die Regimegegner klären jetzt also anhand des Streiks ihre Konflikte, auch wenn das letztendlich eher ein Zersägen von Sägespänen ist. Mit dieser Geschichte ist alles klar.

    Unterdessen rückt das Referendum näher. Und dazu ist bei denen, die im Kampf gegen das Regime Führung beanspruchen, nicht nur keine überzeugende Strategie, sondern nicht einmal eine ernsthafte Diskussion zu erkennen.

    Ussow schätzt, dass derweil allein das Regime mit seinem unvorhersehbaren Vorgehen – erinnert sei nur an die erzwungene Landung der Ryanair-Maschine – dafür sorgen könnte, dass es zu kritischen Situationen rund um das Referendum kommt. Sollten Erschütterungen aber ausbleiben, dann „wird das System nach dem Referendum noch härter und noch verschlossener“, betonte Ussow gegenüber Naviny.by.

    Von all dem mal ganz abgesehen könnte es ein Referendum auf ein Tor werden ohne aktive Spielbeteiligung der gegnerischen Mannschaft. Und dann kann Lukaschenko damit trumpfen, um Wladimir Putin endgültig zu überzeugen: Alles Okay, nicht nur beim Eishockey, die Mauer steht, niemand und nichts in Belarus muss ausgewechselt werden.

  • Blick in das Innere von Belarus

    Blick in das Innere von Belarus

    Bunt bestickte Kissen und Tücher, Teppiche an den Wänden, grelle Fototapeten und Plüschtiere, Gardinen mit traditionellen Mustern und Ornamenten – dazwischen ältere Frauen mit Kopftüchern oder Männer mit Schirmmütze. Ein belarussische Fotograf reist seit Jahren durch seine Heimat und fotografiert die traditionellen Inneneinrichtungen und Wohnräume von Dorfbewohnern, die sich durch eine Mischung aus Folklore, Tradition und Modernität auszeichnen und viel über das ländliche Belarus erzählen. Es ist eine Kultur, die zusehends verschwindet. 

    Der Fotograf, der mehrfach für seine Arbeit mit internationalen Preisen ausgezeichnet wurde, hat sich vorgenommen, diese Kultur fotografisch zu bewahren. In seiner Fotografie und Kunst beschäftigt er sich häufig mit Fragen von Identität, Brauchtum und archaischen Ritualen in seiner Heimat. 

    Mohnblumen auf Tassen und Tischdecken: Bei Wjaljanzіna Wassiljeuna Tscharnuschewitsch, zuhause im Dorf Chwajensk im Süden von Belarus / Foto © Anonym

    dekoder: Wie ist Ihr Fotoprojekt  Traditioneller Wohnraum entstanden?

    Fotograf: Vor etwas mehr als zehn Jahren konnte ich bei der Arbeit an anderen Fotoprojekten wie beispielsweise Pahanstwa (dt. Heidentum) beobachten, wie das belarussische Dorf sozusagen visuell verschwindet: die Farben der Häuser und Einrichtungen, die alte Art, Wohnraum gemütlich zu gestalten, die Wände mit den Familienfotos. Damit verschwindet auch die Bedeutung der Familie, in der die Traditionen und ein bestimmtes Wertesystem wichtig waren. In jedem Haus gab es eine Bilderwand mit Ikonen und Fotos aller Verwandten; gestickte oder handgenähte Ruschniki und Bilder, handgewebte oder handgeknüpfte Wandteppiche. Diese Kultur verschwindet zusehends, zusammen mit der ältesten Generation. Wenn die Großmutter stirbt, werfen die Kinder und Enkel praktisch alles weg und renovieren das Haus nach ihrem Geschmack, bis die alte Ästhetik vollständig zerstört ist. 
    Und mir als Fotograf ist klar: Wenn dieses Thema in Belarus niemand aufgreift, wenn das niemand dokumentiert und systematisiert, dann wird eine riesige Inselwelt der visuellen Kultur verlorengehen. Im Moment liegt das Projekt wegen Corona natürlich brach: Wenn ich, Gott behüte, infiziert in ein Dorf kommen würde, dann würde im schlimmsten Fall das ganze Dorf sterben.

    Wie finden Sie die Häuser mit solch außergewöhnlichen Einrichtungen?

    In jedem meiner Projekte gibt es eine Art Lotsen. In diesem Fall begann alles mit der alten Kazjaryna Pantschenja aus dem Dorf Pahost, das im Südosten von Belarus liegt. Mit ihr verbindet mich eine herzliche Freundschaft. Ihr stehen im Umkreis von 50 Kilometern alle Türen offen! Als Respektsperson kommt sie wirklich überall rein, alle kennen sie. Sie sagt dann einfach mal: „Ein Fotograf ist da, wir machen jetzt ein Foto!“
    Für mich ist das ein großes Glück, weil ich nicht stundenlang alles erklären und Vertrauen aufbauen muss. Das verkürzt die Aufwärmphase auf fünf Minuten, und das ist viel wert: So kann ich pro Tag sieben bis zehn Fotos machen. Wenn ich einfach die Dörfer abklappern würde, würde ich eine, höchstens zwei Sessions pro Tag schaffen. 
    Außerdem ist es wichtig, überraschend bei den Leuten aufzutauchen, dann sieht das Inventar natürlich aus. Manchmal verwandelt sich ein Haus vor deinen Augen in ein mustergültiges Vorzeigearrangement, alles wird aufgeräumt und geputzt – aber solche Fotos passen nicht in mein Projekt, die mache ich nur so und schenke sie den Hausbewohnern. Die Traditionellen Wohnräume sind etwas anderes. 
    Bei meinem Projekt geht es nicht um die makellose Idealfotografie. Ich möchte vielmehr zu den Wurzeln der Fotografie zurückkehren, den Dreck und die Details einfangen, die man normalerweise nicht sieht. Ganz zu Beginn war das der wichtigste Unterschied der Fotografie zur erhabenen Kunst der Malerei – das Festhalten und die Produktion von Realität in ihrer authentischen Form. 

    Wie ist diese spezielle Form der Inneneinrichtung in Belarus entstanden?

    Man kann sagen, es ist eine Kombination aus den materiellen und kreativen Möglichkeiten der Hausleute und den jeweiligen regionalen Traditionen. Aber es gibt definitiv immer Elemente, die in ganz Belarus gleich sind: sehr viele Familienfotos in einem gemeinsamen Rahmen, die praktisch alle Generationen zeigen, gestickte traditionelle Ornamente oder Alltagsszenen. Die Farben der Wände sind dagegen überall anders. Während man im östlichen Belarus immer bunte Tapeten hat und viele bunte, handgewebte Wandteppiche und Ruschniki aufhängt, sind die Wände im Westen einfarbig, meistens grün oder blau. Und weil zwei Kriege nicht nur die Menschen getötet, sondern auch ihre Holzhäuser zerstört haben, sind die Möbel und Einrichtungsgegenstände ärmlich und spärlich und wiederholen sich oft von Haus zu Haus.

    Belarus ist ein sehr ländlich geprägtes Land – findet man diese Form der Einrichtung nur in Dörfern oder auch in Städten?

    Wie in anderen Ländern ist auch in Belarus der Prozess der Urbanisierung, der vor allem am Ende des Zweiten Weltkrieges von der sowjetischen Führung vorangetrieben wurde, noch nicht abgeschlossen. Derzeit leben nur 25 Prozent der Menschen in Dörfern, drei Viertel der Bevölkerung sind Städter. 
    Spricht man über die Dynamik, so war das in den letzten 60 Jahren eine Revolution: 1959 haben noch 5,5 Millionen Menschen im Dorf gelebt und 2,5 Millionen in der Stadt. Das heißt, heute ist das Verhältnis genau umgekehrt. Es kommt deswegen vor, dass die Kinder der Dorfbewohner die visuelle Kultur der älteren Generation auch in die Stadt mitgebracht haben. 

    Wie reagieren die Leute, wenn Sie sie in ihrem Wohnzimmer fotografieren wollen?

    Na ja, für sie bin ich irgendein Herr Wichtig aus Minsk, der mit einem fertigen Foto im Kopf ankommt und nur ins Haus reingehen muss, den Bewohner hinsetzen, die Fenster schließen, damit das Licht stimmt – und fertig. Die Aufnahmen selbst sind schnell gemacht, fünf bis zehn, maximal 15 Minuten. Es gibt daher auch nicht wirklich ein Gespräch: Drehen Sie den Kopf, setzen Sie sich aufs Bett, danke für die Aufnahmen. Und wohin soll ich die Fotos schicken – denn praktisch alle Teilnehmer bekommen entwickelte Fotos geschenkt. In vielen Fällen waren die Leute schon gestorben, wenn ich ihnen ein paar Monate später die Fotos bringen wollte … 

    Findet man auch bei der jüngeren Generation solche Inneneinrichtungen?

    Ich glaube, es gibt bei uns kein Traditionsbewusstsein, und angesichts des rasenden Tempos der Urbanisierung fehlte das vielleicht schon von Anfang an. Jede Generation der letzten 100 Jahre hat gelernt, an einem neuen Ort zu leben, unter neuen Bedingungen und mit einem anderen Lebensstandard, und vor allem: immer in einem neuen Haus. Die Großeltern lebten in einem Holzhaus im Dorf, ihre Kinder zogen in ein Zimmer im Wohnheim oder in eine Chruschtschowka, deren Kinder wiederum wohnten erst mal in einer Mietwohnung und erwarben oft erst später Eigentum. Aber bevor sie einzogen, machten sie auf jeden Fall Euroremont, kauften Möbel von IKEA und brachten Hängedecken aus Plastik an. So ganz pauschal gesagt. Niemand wollte das alte Zeug erben, wo man sich doch in Belarus für eine ländliche Herkunft immer geniert hat, was ein zusätzlicher Grund dafür war, die visuelle Kultur des Dorfes hinter sich zu lassen. 
     

    Zwischen bestickten Kissen auf dem Sofa: Wolha Nikalauena Mahnawez und ihr Ehemann, der das Dorfoberhaupt ist, in Kudrytschy / Foto © Anonym

     

    In Chwajensk: Tamara Lukjanauna Tscharnuschewitsch in ihrem Wohnzimmer / Foto © Anonym

     

    Matrona Filipauna Kaschkewitsch vor einer Panorama-Fototapete, in Pahost, mehr als 100 Kilometer östlich von Minsk / Foto © Anonym

     

    Ruschniki, Kissen, Plüschtiere – Kazjaryna Pantschenja in Pahost. Wie der Fotograf im Interview erzählt, öffnete sie ihm viele Türen in den Dörfern im Umkreis: „Ein Fotograf ist da, wir machen jetzt ein Foto!“ / Foto © Anonym

     

    In Pahost Iwan Zimafejewitsch Shochna an einem Holztisch, hinter ihm ein Wandbild mit Fransen / Foto © Anonym

     

    Im Süden von Belarus, im Dorf Chlupin: Hanna Akimauna Totschka. Unter dem Rahmen mit Familienbildern hängt ein Zettel mit groß gedruckten Notrufnummern / Foto © Anonym

     

    Hanna Ryhorauna Shuk vor einer modern tapezierten Wand. Auf den Sesseln liegen traditionelle Häkeldeckchen, Saruddse / Foto © Anonym

     

    Im Dorf Láchauka: Hanna Kirylauna Tschapjalewitsch auf ihrem Sofa / Foto © Anonym

     

    Schwerer Wandteppich, leichte Kissen: Maryja Michailauna Sankewitsch in Pahost / Foto © Anonym

     

    Mit Zierkissen und Stickdecken lieber zurückhaltend: Iwan Iwanawitsch Lewanjuk in seinem Haus / Foto © Anonym
    Vor Kissenburgen: Wolha Dsmitryjeuna Jakuschewitsch im Dorf Tschernіtschy / Foto © Anonym

     

    Rotes Telefon, geblümte Gardinen: Maryja Paulauna Holad in Chwajensk  / Foto © Anonym

     

    „Im Westen sind die Wände einfarbig“, sagt der Fotograf. Bei Maryja Filipauna Mamai im Dorf Saruddse sind sie in Brauntönen gehalten / Foto © Anonym

     

    Iryna Franzauna Simnizkaja in ihrem Haus im Nordwesten des Landes an der Grenze zu Litauen vor holzvertäfelter Wand in Grün / Foto © Anonym

     

    „Bei meinem Projekt geht es nicht um die makellose Idealfotografie“, sagt der Fotograf. Krywitschy: Dorfbürgermeister Mikalai Serafimawitsch Lewadouski in seinem Haus / Foto © Anonym

     

    Kanstanzinauka im Nordwestenvon Belarus: Nadseja Iwanauna Katowitsch auf ihrem Sofa, das mit Häkeldeckchen dekoriert ist / Foto © Anonym

     

    Maryja Michailauna Kusmitsch mit ihrer Katze in ihrem Haus in Pahost / Foto © Anonym

     

    Ikonenbilder umhüllt von einem Ruschnik: Natalja Dsmitryjeuna Kusmitsch vor ihrer Küchenwand in Pahost / Foto © Anonym

     

    Zwischen geblümten Vorhängen: Michail Sacharawitsch Tschetschko in Pahost / Foto © Anonym

    Fotos: Anonym
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: Ruth Altenhofer
    Text: dekoder-Team (das Interview wurde schriftlich geführt)
    Veröffentlicht am 18.11.2021

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  • Eskalationsspiele

    Eskalationsspiele

    2000 bis 4000 Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien sitzen im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus bei Temperaturen um den Gefrierpunkt fest. Immer wieder versuchen Gruppen, die Zäune und Grenzvorrichtungen in Richtung EU zu durchbrechen. Mittlerweile stehen rund 15.000 polnische Soldaten an der Grenze, die ein Durchkommen der Flüchtlinge zu verhindern versuchen, sie immer wieder in Richtung Belarus zurückdrängen. Belarussische Grenzer treiben die Flüchtlinge dagegen immer wieder in Richtung Polen. In Minsk protestierte eine große Gruppe von Migranten am Sportpalast im Zentrum der Hauptstadt.

    EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wirft den belarussischen Machthabern vor, mit der Flüchtlingskrise „einen hybriden Angriff” auf die EU gestartet zu haben. Polen wertet Alexander Lukaschenkos Rolle in der Krise als „Staatsterrorismus”, der deutsche Außenminister Heiko Maas nennt ihn einen „Schleuser”. Der belarussische Außenminister Wladimir Makej dagegen hält die Krise an der Grenze für eine Provokation durch die NATO und droht mit Vergeltung. Kreml-Sprecher Dimitri Peskow sagte: „Die Lage ist definitiv angespannt, alarmierend – sie erfordert ein verantwortungsvolles Handeln aller Beteiligten.” Unterdessen telefonierte Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Wladimir Putin und bat ihn, auf Lukaschenko einzuwirken. Die Lage an der östlichen EU-Grenze spitzt sich weiter zu. Weitere EU-Sanktionen sollen den belarussischen Machthaber zusätzlich unter Druck setzen. Lukaschenko droht im Gegenzug, den Warenverkehr durch sein Land und den Transit von Öl und Gas in Richtung EU zu blockieren.

    In Politik und Medien wird derweil auch in Belarus debattiert, wie der Konflikt zu lösen und zu bewerten sei. In der staatlichen Zeitung SB.Belarus segodnja meint der Politikanalyst Juri Schewzow ganz im Sinne der offiziellen Rhetorik des Machtapparats, dass Polen die Schuld an dem Konflikt trage: „Dieses Land lebt mit monströsen Vorstellungen von sich selbst und der Realität. Und deshalb haben die Polen kein Recht, sich als Europäer zu bezeichnen. Indem sie an der Grenze Gräueltaten begehen, verletzen sie europäische und christliche Werte.” Die belarussische Führung inszeniert sich in einer Krise, die sie selbst geschaffen hat, als „Beschützerin von humanitären Werten”. Darauf spielte die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja mit ihrer Aussage auf Twitter an: „Erinnern wir uns: Die Migrantenkrise an der Grenze zwischen Belarus und der EU hat nicht erst gestern oder vor einem Monat begonnen. Sie begann mit der politischen Krise in Belarus im letzten Jahr.” Im eigenen Land geht Lukaschenkos Machtapparat seitdem brutal gegen die eigene Bevölkerung vor. Die polnische Regierung hat sich schon früh auf die Seite der Protestbewegung in Belarus gestellt. Polen war einer der EU-Staaten, die die Sanktionen gegen Lukaschenko vorangetrieben haben. Durch den Flüchtlingsstrom, der von den belarussischen Machthabern seit Anfang Juli lanciert und flankiert wird, soll also nicht nur die EU, sondern auch Polen abgestraft werden. Polen erwägt nun, seine Grenzen zu Belarus vollständig zu schließen. Auch die Ukraine, die auf 1000 Kilometern an Belarus grenzt, überlegt, ihre Grenzvorrichtungen zu verstärken. 

    In seinem Text für das Medium Naviny.by rückt der Journalist Alexander Klaskowski vor allem die belarussische Sichtweise auf den Konflikt in den Vordergrund. Dabei fragt er, ob es Lukaschenko gelingen kann, die EU mit seiner Taktik zu schwächen, welche Rolle Putin in Lukaschenkos Eskalationsplan spielt und ob der Kreml überhaupt Interessen an einer weiteren Eskalation der Krise hat.

    Schadenfreude ist bekanntlich die schönste Freude. Aber hat Minsk auch rationale Gründe, diese Krise zu eskalieren? Wird es Lukaschenko gelingen, Europa „zu beugen“, wie er es ausdrückt? Und wie wird sich Russland angesichts dieser Eskalation verhalten – das Land, das zweifellos weit mehr Einfluss auf die belarussische Führung hat als die anderen Beteiligten?

    „Und ihr Halunken, ihr Verrückten, wollt, dass ich euch beschütze?“

    Die belarussische Führung gibt sich unschuldig: Die Menschen aus den Problemländern seien legal eingereist, sie begingen keine Verstöße und so weiter und so fort. Das ist natürlich pure Heuchelei.

    Lassen wir die Frage, wie diese Leute nach Belarus gebracht wurden einmal beiseite. Zumindest gibt es strenge Regeln für das Betreten von belarussischen Grenzgebieten durch Ausländer. Doch während Hunderte von Belarussen, die in geschlossenen Kolonnen durch die Straßen liefen, das mit Gefängnis bezahlen mussten, wird es dahergelaufenen Gestalten aus irgendeinem Grund nicht verwehrt. Die belarussischen Sicherheitskräfte präsentieren sich bei solchen unerlaubten Aktionen als reinste Knuddelbären.

    Lukaschenko hat am 9. November ein Interview mit Igor Korotschenko, dem Chefredakteur der russischen Zeitschrift Nazionalnaja oborona (Nationale Verteidigung) genutzt, um ziemlich durchsichtige Botschaften an Europa zu übermitteln: „Ihr habt Sanktionen gegen mich verhängt, gegen die Belarussen. Ihr habt einen hybriden Krieg gegen Belarus angezettelt – Medien, Wirtschaft, Politik, jetzt seid ihr schon beim Militärischen und der Sicherheit angelangt. Und ihr Halunken, ihr Verrückten, wollt, dass ich euch beschütze, und das auch vor Migranten?“

    Die Hoffnungen anderer Gegner Lukaschenkos, Putin könne ihn zähmen oder gar ganz absetzen, sind derweil naiv.“ / © Viktor Tolochko / Sputnik Images

     

    Nach Lukaschenkos Meinung ist es von der EU ein wenig töricht, „von mir zu verlangen, dass ich, wie bislang, das aus eigener Tasche bezahlen und stoppen soll“. Kurz und gut: Ändert eure Politik gegenüber dem Regime, setzt euch an den Verhandlungstisch und zahlt, wenn ihr dieses Problem loswerden wollt. Die Propagandisten des Regimes erklären klipp und klar, Lukaschenko könne diesen Albtraum „mit einem Fingerschnippen“ beenden.

    Bislang scheint Europa jedoch nicht geneigt, vor Minsk in die Knie zu gehen. Polen und Litauen verhalten sich trotz Kritik von der UN und Menschenrechtlern hart gegenüber den ungebetenen Gästen und schlagen ihnen die Tür vor der Nase zu.

    Zudem arbeitet Brüssel an einem fünften Sanktionspaket, um Minsk für diese Politik zu maßregeln. Das Image des Regimes auf der internationalen Bühne wird immer abstoßender; es wird vom Westen immer deutlicher als Bedrohung der Sicherheit in der Region wahrgenommen, als Quelle der Instabilität für die Gemeinschaft der demokratischen Länder.

    Das Regime setzt auf die Schwäche der europäischen Politiker

    Kann man also sagen, dass Lukaschenkos Spiel zum Scheitern verurteilt ist? Wie lässt sich die Hartnäckigkeit des Regimes bei der Eskalation der Migrationskrise erklären?

    Die belarussische Regierung, die darauf abzielt, Europa zu verärgern, wendet hier „dieselbe Logik an wie bei ihren inländischen Gegnern“, so der Politikexperte Waleri Karbalewitsch in einer Stellungnahme gegenüber Naviny.by. Seiner Meinung nach ist die Regimeführung vor allem von einem Bedürfnis nach „elementarer Rache“ getrieben.

    Es gebe aber auch ein rein rationales Kalkül – nämlich, Europa zu den Bedingungen des Regimes an den Verhandlungstisch zu zwingen. „Lukaschenko hält europäische Politiker für Schwächlinge“, so Karbalewitsch. Und wenn etwa der österreichische Bundeskanzler Alexander Schallenberg im Vorfeld einer Konferenz zu Belarus in Wien erklärt, man könne mit Minsk nicht nur in der Sprache der Sanktionen sprechen, gibt er der belarussischen Führung Grund zu der Annahme, dass es sinnvoll sei, den Druck auf Europa zu verstärken. Zwar sei es Lukaschenko bisher nicht gelungen, die EU „zu beugen“, aber es gebe auch keine starke Reaktion aus Europa. „Die Europäische Union ist ratlos“, so Karbalewitschs Fazit.

    Auch Pawel Ussow, Leiter des Zentrums für politische Analyse und Prognose in Warschau, äußerte gegenüber Naviny.by die Meinung, dass „es zurzeit in Europa keine politischen Führer gibt, die die volle Verantwortung übernehmen und die willensstarke Entscheidung treffen könnten, das Lukaschenko-Regime ohne Rücksicht auf die Folgen zunehmender Spannungen zu bezwingen“.

    Lukaschenko, so der Politologe, „handelt nach dem Prinzip der maximalen Spannungseskalation“. Er setze auf die Erfahrung, dass europäische Politiker bei steigendem Leidensdruck dazu neigen, „den Weg des Kompromisses zu gehen, eine Möglichkeit zum Dialog zu suchen“. Zudem habe der belarussische Regent „nichts mehr zu verlieren“, was das Image eines zivilisierten Politikers angeht.

    Putin spielt sein eigenes Spiel

    Im Kontext dieser Eskalation wird klar, dass Moskau Minsk die Bälle zuspielt. Am 10. November versuchte die weiterhin amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Migrationskrise mit Wladimir Putin zu besprechen. Dieser jedoch, so teilt der Pressedienst des Kreml mit, „schlug vor, eine Erörterung der entstandenen Probleme im direkten Kontakt der offiziellen staatlichen Vertreter – der EU-Mitglieder und Minsk – in die Wege zu leiten“. Kurz gesagt, er hat Europa gepflegt zu Lukaschenko geschickt.

    Tatsächlich wäre es eine starke Vereinfachung anzunehmen, dass Putin nur daran denkt, wie er in seinem Konflikt mit dem Westen am besten Lukaschenkos Interessen vertreten kann. Moskau spielt sein eigenes Spiel. Ussow weist unter anderem darauf hin, dass mittlerweile Kampfflugzeuge vom Typ Tu-22M3 der russischen Luftstreitkräfte im belarussischen Luftraum patrouillieren.

    „Ist die Migrationskrise vielleicht nur ein Deckmantel, um russisches Militär nach Belarus zu schicken?“, fragt der Leiter des Zentrums für politische Analyse und Prognose Pawel Ussow. Ihm zufolge könnte Putin höchstpersönlich der Europäischen Union die Vermittlerrolle in der Lösung der Krise aufnötigen und daran die Aufhebung der westlichen Sanktionen gegen Russland knüpfen, indem er eine Art Normandie-Format einfordert, in dem Moskau als vollwertiger Partner für Europa agiert.

    Mit anderen Worten, der Kreml wäre auf diese Art in der Lage, sein Problem der politischen Kontrolle über Belarus zu lösen und gleichzeitig „Lukaschenko zur Realisierung der eigenen Außenpolitik im Hinblick auf die EU zu instrumentalisieren“, erklärt Ussow zusammenfassend.

    Die Führungselite ist es nicht gewöhnt, Schritte vorauszuberechnen

    Generell ist die Behauptung, in dieser Situation würde der Schwanz mit dem Hund wedeln, zumindest bestreitbar. Ja, Lukaschenko trumpft mit dem russischen Atomschild auf und muss sich tatsächlich, trotz all seiner Kunststücke, nicht vor einer Intervention des Westens fürchten (obwohl man immer wieder – auch im Gespräch mit Korotschenko – an die Schicksale von Saddam Hussein und Muammar Gaddafi denkt, die die westlichen „Halunken“ „einfach getötet“ haben).

    Die Hoffnungen anderer Gegner Lukaschenkos, Putin könne ihn zähmen oder gar ganz absetzen, sind derweil naiv. Die beiden autoritären Regime sind artgleich und geistesverwandt, zudem hat der Kreml bislang weder einen wirklichen Ersatz für den belarussischen Führer noch ein zuverlässiges Instrumentarium für einen solchen Machtwechsel. 

    Auf einem anderen Blatt steht, dass der Kremlchef seine Mission keinesfalls in der Schaffung möglichst bequemer Bedingungen für den belarussischen Problempartner sieht, und auch nicht in seiner Rettung um jeden Preis. Im Gegenteil, Moskau nutzt dessen wachsende Konfrontation mit dem Westen aus und verstärkt seine militärische Präsenz in Belarus (was nicht in Lukaschenkos Interesse und noch weniger im Interesse der belarussischen Souveränität liegt). Erweitert man den Blick, wird klar, dass die russische Führung Belarus in ein Netz von Abhängigkeiten verstrickt hat, aus dem es auch eine neue Führung nicht herauslösen kann.

    Gleichzeitig ist der Kreml bereit, den skandalträchtigen Verbündeten beim Wort zu nehmen: Ah, du sagst, die Polen und andere Aggressoren werden gleich mit ihren „Leoparden“ in den Unionsstaat einfallen? Dann lass uns doch mit ein paar Militärbasen und einigen „Iskander“-Raketensystemen an den Grenzen zum heimtückischen NATO-Monster aushelfen. Und du könntest dann eigentlich, nachdem du bezüglich der Krim-Anerkennung schon A gesagt hast, endlich mal B sagen (was die Beziehungen zur Ukraine automatisch erheblich verschlechtern und Minsk weiter isolieren würde).

    Hinzu kommt noch, dass die fortgesetzte strikte Abweisung der illegalen Migranten durch Polen und Litauen zu einer Ansammlung dieser Menschen in Belarus führen kann, die zum innenpolitischen Problem für das Regime würde. Dadurch wäre die belarussische Regierung, so Karbalewitsch, notgedrungen zu einer „Drosselung dieser Operation“ gezwungen.

    Doch aktuell beobachten wir noch immer eine Erhöhung der Einsätze. Die belarussische Führungselite ist es nicht gewöhnt, viele Schritte vorauszuberechnen und hofft scheinbar nach wie vor darauf, Europa „beugen” zu können.
    Im Endeffekt riskiert Minsk, sich in jeder Hinsicht zu verrechnen. Die Beziehungen zum Westen werden endgültig begraben und Belarus rutscht noch tiefer in Moskaus imperiale Falle.

  • Belarus bin ich!

    Belarus bin ich!

    Am heutigen 4. November findet in Minsk die lang erwartete Sitzung des Obersten Staatsrates statt, des höchsten Gremiums des Unionsstaates zwischen Russland und Belarus. Dort sollen die 28 Programme unterschrieben werden, die die beiden Länder auf dem Weg zur Integration vereinbart haben. Dabei geht es um bis dato nicht im Detail bekannte „Harmonisierungspläne“ in den Bereichen Währung, Steuern, Finanzmarkt und makroöknomische Rahmenbedingungen. Zudem soll der gemeinsame Kampf gegen Terrorismus gestärkt werden. 

    Aufgrund der drastischen Corona-Situation in beiden Ländern findet die Sitzung im Online-Format statt, sodass auch kein persönliches Treffen von Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin vorgesehen ist. Zwischen den beiden Autokraten scheint es seit einer langen Zeit der demonstrativen Harmonie wieder einmal zu kriseln, man provoziert sich gegenseitig mit Sticheleien – wie schon häufig in den vergangenen 15 Jahren. So nahm Putin, obwohl dies angekündigt war, nicht an der Sitzung der Eurasischen Wirtschaftsunion Mitte Oktober in Minsk teil. Im Gegenzug gewährte Lukaschenko dem angereisten russischen Außenminister Sergej Lawrow keine persönliche Audienz. Der aber ließ durchblicken, wie schon häufiger im vergangenen Jahr, wie wichtig Russland das Verfassungsreferendum anscheinend ist, das für das Jahr 2022 in Belarus angekündigt ist. 

    Am 22. Oktober tauchten in russischen Medien die Ergebnisse einer scheinbar geheimen Umfrage auf, die das russische, im Staatsbesitz befindliche Meinungsforschungsinstitut WZIOM in Belarus durchgeführt hat, obwohl es über keine offizielle Lizenz für solche Umfragen im Nachbarland verfügt. Die Ergebnisse sind für Lukaschenko, gelinde gesagt, wenig schmeichelhaft. Denn 55 Prozent der Befragten geben an, Lukaschenko überhaupt nicht zu vertrauen, während 50 bzw. 48 Prozent der Befragten die inhaftierten Oppositionellen Maria Kolesnikowa und Viktor Babariko als beliebteste Politiker des Landes nennen. Zudem sprechen sich 66 Prozent der Befragten gegen eine stärkere Integration mit Russland aus. Unbekannt ist, wie die brisanten Ergebnisse den Weg an die Öffentlichkeit finden konnten und ob die Umfrage möglicherweise ein Fake ist. In jedem Fall sorgte sie in den sozialen Medien für genügend Gesprächsstoff und Spekulationen um die Stoßrichtung eines solchen Manövers. Dabei wurde vielerorts um solcherlei Fragen debattiert: Inwieweit meinen es die beiden Staaten ernst mit der Integration? Inwieweit ist Lukaschenko dem Kreml nützlich, die Integration voranzutreiben? Oder ist die Integration – wie auch andere Schritte, so beispielsweise die Verfassungsreform – eine Strategie, um Lukaschenko von mehreren Seiten unter Druck zu setzen und ihn letzten Endes strukturell soweit einzukreisen, dass er seine Macht aufgeben muss? Dies könnte Russland den Einfluss in Belarus ermöglichen, den es abseits des mitunter launischen und schwer zu kontrollierenden Lukaschenko schon lange sucht. Jedenfalls ermöglichte der Radiosender Echo Moskwy, der sich überwiegend im Besitz der Gazprom-Media Holding befindet, am 26. Oktober auch noch ein Interview mit Swetlana Tichanowskaja. Darin sagte sie, dass der Kreml ihrer Meinung nach als Mittler bei der Machtübergabe in Belarus infrage käme. 

    Die Anspannung vor dem heutigen 4. November ist also groß. Der politische Beobachter Paulyk Bykowski hält es für möglich, dass die Papiere letztlich unterzeichnet werden, aber dass sich Lukaschenko bei der Umsetzung der Vereinbarungen nicht drängen lässt. Denn sein größter Trumpf sei das Versprechen einer Integration, um den Kreml immer wieder zu Krediten und billigem Öl und Gas zu drängen. Eine tatsächliche Integration, mit Strukturen außerhalb seiner Kontrolle, würde Lukaschenko in Gefahr bringen, seine Macht einzubüßen. Wieder andere wie Alexander Klaskowski meinen, dass es durchaus möglich sei, dass es erst gar nicht zu einer Unterzeichnung kommt – wie schon am 8. Dezember 2019, als ebenfalls eine neue Vereinbarung in Sachen Unionsstaat anstand, die Entscheidung aber vertagt wurde. 

    Währenddessen verstärkt Lukaschenko in Belarus weiter seine Kontrolle auf unterschiedlichen Ebenen, was der Politologe Waleri Karbalewitsch in einem Stück für das Medium SN Plus vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse analysiert. Dabei hinterfragt er auch die Intensivierung der militärischen Zusammenarbeit zwischen Russland und Belarus, die immer deutlichere Formen annimmt. 

    Der Staat wird militarisiert

    Da staatliche Politik mittlerweile vor allem aus politischen Repressionen besteht, wächst natürlich das relative Gewicht der Sicherheitsbehörden, der Silowiki. Die staatlichen Institutionen entwickeln sich in Richtung Militarisierung, Militärregime und Polizeistaat. Die Silowiki sind in Lukaschenkos Staat zum systembildenden Element geworden.

    Die Personalentscheidungen vom 18. Oktober illustrieren diese Entwicklung auf drastische Weise. Justizminister ist nun nicht mehr ein Jurist, sondern ein Generalmajor der Miliz, nämlich der ehemalige stellvertretende Innenminister Sergej Chomenko. Bei seiner Ernennung erläuterte Lukaschenko den Grund für diesen Wechsel. Die Erklärungen lassen sich wie folgt interpretieren: Vom Justizminister werden Tempo und Entschlossenheit bei repressiven Maßnahmen verlangt, also besteht keine Notwendigkeit eines peniblen juristischen Prozedere.

    Ein noch markanteres Beispiel dafür, wo das Land hinsteuert, ist die Ernennung von Oleg Tschernyschow zum stellvertretenden Präsidiumsvorsitzenden der Nationalen Akademie der Wissenschaften. Der ist ehemaliger Kommandeur der Spezialeinheit Alfa beim Komitee für Staatsicherheit (KGB) und ehemaliger stellvertretender Vorsitzender des KGB, In den unabhängigen Medien wurde jüngst viel darüber geschrieben, dass die Schulen in Kasernen umgewandelt würden und die Miliz dort die Kontrolle übernimmt. Es scheint, als sei nun die Akademie der Wissenschaften an der Reihe. Eine verstärkte Kontrolle des KGB über die Akademie der Wissenschaften bedeutet, dass dem Regime jetzt die politische Loyalität der Mitarbeiter dort wichtiger ist als wissenschaftliche Erkenntnisse.

    Am 11. März 2021 wurde Wadim Sinjawski, General der Miliz, zum Minister für Katastrophenschutz ernannt. Er erklärte in einer Mitteilung an die Mitarbeiter des Ministeriums, dass das Ministerium im Falle eines Ausnahmezustands die Aufgabe hat, mit der Waffe in der Hand Unruhen im Land zu unterbinden. Schließlich sei ein Offizier des Katastrophenschutzministeriums ein „Vermittler der Ideologie des Staates“. Aus dieser Erklärung geht hervor, dass die Bekämpfung von Bränden und Überschwemmungen nur zweitrangig ist.

    Die staatlichen Institutionen ändern sich also in ihrer Funktion. Anstatt ihren eigentlichen Pflichten nachzugehen, beschäftigen sie sich immer stärker mit der Bekämpfung von Regimegegnern und der Sicherstellung politischer Loyalität.

    Unterstützung für das Regime wird jetzt zur Einstellungsvoraussetzung für eine Arbeit in einer staatlichen Einrichtung. Das soll auch im Arbeitszeugnis vermerkt werden. Berufliche Qualitäten der Mitarbeiter sind da zweitrangig.

    Als Initiator für Gesetzesänderungen tritt in letzter Zeit vor allem das Innenministerium auf. Mal will das Ministerium Abonnenten „extremistischer“ Telegram-Kanäle zu Mitgliedern extremistischer Organisationen erklären. Mal will es Belarussen, die ins Ausland gegangen sind und es wagen, die Zustände im Land zu kritisieren, die Staatsbürgerschaft entziehen.

    In einem normalen Land liegt das Recht für Gesetzesinitiativen vor allem beim Parlament. In Belarus wird dies bislang von der Präsidialadministration und der Regierung übernommen. Jetzt tritt die Miliz in den Vordergrund. Symbolisch verdeutlicht es wieder einmal, welche Zeiten in Belarus angebrochen sind.

    Dissidententum in Sachen Corona

    Am 19. Oktober hielt Lukaschenko eine Sitzung zur epidemiologischen Lage im Land ab. Der Schwerpunkt seiner Rede bestand darin, dass zur Eindämmung von Corona-Infektionen keine außerordentlichen Einschränkungen vonnöten sind. Er verbat der Miliz, die Maskenpflicht zu kontrollieren und diejenigen zu bestrafen, die im öffentlichen Raum keine Maske tragen.

    Lukaschenko ließ eine sehr eigenartige Einstellung zum Impfen erkennen:

    „Ich kann nicht verbieten, dass Menschen geimpft werden, aber Sie werden bitteschön keinen Druck auf die Menschen ausüben.“

    Und der wichtigste Hinweis an die Adresse der höheren Beamtenschaft: „Wem spielt ihr denn damit in die Hände?“ Ein kleiner Wink, dass es eben Feinde sind, die strenge Einschränkungen vorschlagen.

    Daraufhin hob das Gesundheitsministerium am 22. Oktober die Maskenpflicht im Land auf. Sie hatte nur 13 Tage bestanden. Und das vor dem Hintergrund steigender Corona-Zahlen.

    Dieses eigenartige Dissidententum ist eine Fortsetzung der Politik, die die belarussische Regierung 2020 verfolgt hatte. Also ein Kleinreden der Gefahr und die Weigerung, wie in anderen Ländern Einschränkungen zu erlassen.

    Der Starrsinn Lukaschenkos hat den gleichen Ursprung wie seine Anstrengungen, in der Konfrontation mit der protestierenden Bevölkerung zu beweisen, dass er Recht hat. Nach dem Motto: Ich habe die Präsidentschaftswahl wirklich mit 80 Prozent gewonnen, und alle, die anderer Meinung sind, sind vom Westen gekaufte Banditen, Extremisten und Terroristen.

    Ganz ähnlich ist Lukaschenkos Covid-Dissidententum gelagert. Er gibt selbst zu, dass seine Haltung zu Covid-19 einer der Gründe für den massenhaften Unmut in der Gesellschaft war. Umso schlimmer für die Menschen: Der Führer des Volkes, kann nicht irren. Niemals und nirgendwo. Selbst wenn man sich dafür der ganzen Welt entgegenstellen und einen sehr hohen Preis bezahlen muss.

    Lukaschenkos Argument, die ganze Welt habe erkannt, dass der belarussische Ansatz zur Bekämpfung des Virus richtig sei, und er werde deshalb keinen weiteren Lockdown einführen, hält keiner Kritik stand. Schließlich ist in den europäischen Ländern die Bevölkerungsmehrheit bereits geimpft oder ist auf dem Weg dorthin.

    Doch es gibt hier noch eine weitere Erklärung. In anderen Staaten, selbst in denen mit einer liberalen Ideologie, übernahmen die Regierungen während der Zuspitzung der Coronakrise die Aufgabe, das Leben und die Gesundheit der Bürger zu schützen. Und das war der Grund für die strengen Maßnahmen, die die Kontakte zwischen den Menschen auf ein Minimum reduzieren sollten.

    In Belarus hingegen enthebt Lukaschenko den Staat eines Teils seiner Aufgabe, die ja darin besteht, das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Er bürdet diese Verantwortung den Bürgern auf: „Jeder soll über seine Geschicke so bestimmen, wie er es für nötig hält … Keinerlei Druck auf die Leute … Alles freiwillig … Masken, Schutzmaßnahmen und Impfungen sind ganz allein eine freiwillige Angelegenheit eines jeden einzelnen“.

    Das heißt, der Staat befreit sich teilweise von Pflichten, wie auch in anderen Bereichen, entledigt sich einer weiteren Aufgabe. Als ob die Aufgabe der Behörden lediglich sei, die Menschen im Krankheitsfall zu behandeln. Vorsorgemaßnahmen zur Reduzierung der Kontakte? Das ist nicht unsere Aufgabe.

    Militärische Zusammenarbeit mit Russland

    Im Rahmen der Sitzung von Vertretern der Verteidigungsministerien von Belarus und Russland am 20. Oktober gab es hochtrabende Erklärungen.

    Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu verkündete, dass Belarus und Russland als Antwort auf die Bedrohung durch den Westen eine neue Militärdoktrin des Unionsstaates verabschieden würden. Das Dokument solle demnächst auf einer Sitzung des Hohen Rates des Unionsstaates beschlossen werden, die um den 4. November herum angesetzt wird.

    Diese Neuigkeit ist allerdings drei Jahre alt. In Wirklichkeit ist die Militärdoktrin keineswegs neu: Das Dokument lag schon vor drei Jahren vor und sollte am 13. Dezember 2018 auf einer Sitzung des Ministerrates des Unionsstaats verabschiedet werden. Minsk hatte jedoch die Unterzeichnung der Doktrin blockiert, als Zeichen des Protests gegen ein „Ultimatum“ des russischen Premierministers Dimitri Medwedew, der eine Politik des „Zwangs zur Integration“ verkündet hatte. Am 19. Dezember 2018 hat Wladimir Putin die Doktrin dann einseitig verabschiedet. Minsk sabotiert den Vorgang bis heute.

    Desweiteren, so Schoigu, hätten die Verteidigungsminister von Russland und Belarus Dokumente unterzeichnet, die den Betrieb zweier russischer Militärobjekte in Belarus verlängern. Es handelt sich um die Radarstation des Raketenfrühwarnsystems bei Baranowitschi und das Fernmeldezentrum der Kriegsmarine in Wileika.

    Doch es fehlen jegliche Einzelheiten zu diesen Papieren: Unter welchen Bedingungen werden diese Objekte weiterbetrieben? Um welchen Zeitraum wurde verlängert?

    Interessant ist auch, dass Informationen über die Unterzeichnung allein von russischer Seite verbreitet wurden. Auf der Internetseite des belarussischen Verkehrsministeriums heißt es, die Minister hätten eine Verlängerung des Abkommens lediglich „erörtert“, was die Einrichtung der Radarstation bei Baranowitschi und des Fernmeldezentrums Wileika „zu den bestehenden Bedingungen angeht“(!).

    Und das bedeutet, dass die Frage noch nicht endgültig geklärt ist. Die Unterzeichnung ist für die Sitzung des Hohen Rates am 4. November vorgesehen.

    Wie dem auch sei, die militärische Zusammenarbeit von Belarus und Russland ist jedenfalls intensiver als die Integrationsprozesse in anderen Bereichen des Unionsstaates. Die militärische Präsenz Russlands auf belarussischem Territorium wird stärker. Mit allen negativen Folgen für die Souveränität von Belarus. 

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  • Bystro #29: Wurde der Protestwille der Belarussen gebrochen?

    Bystro #29: Wurde der Protestwille der Belarussen gebrochen?

    Der Straßenprotest in Belarus ist in diesem Jahr fast vollständig zum Erliegen gekommen. Die Machthaber um Alexander Lukaschenko gehen dennoch weiterhin mit scharfen Repressionen gegen jeglichen vermeintlichen Widerstand vor. Nach wie vor werden Journalisten, Aktivisten oder einfache Bürger festgenommen, Medienunternehmen oder NGOs liquidiert, Telegram-Kanäle als extremistische Vereinigungen eingestuft. Zudem laufen zahlreiche Strafverfahren. 

    Zusammen mit anderen Wissenschaftlern des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) hat Félix Krawatzek untersucht, inwieweit der Protestwille der Belarussen weiterlebt, wer nach dem Jahr der Demonstrationen die aktuellen Machthaber unterstützt und wie sich die Belarussen eine Lösung für die tiefgreifende Krise in ihrem Land vorstellen. Die Studie baut auf einer Umfrage aus dem vergangenen Jahr auf. Ein dekoder-Bystro* in sechs Fragen und Antworten.

    1. Ist der Protestwille der Belarussen in diesem Jahr durch die massiven Repressionen vollends gebrochen worden?

    Gebrochen ist der Protestwille in der belarussischen Bevölkerung weiterhin nicht. In unserer Umfrage vom Juni 2021 geben knapp 13 Prozent an, dass sie bereit sind, weiterhin an Protesten teilzunehmen, beziehungsweise in Zukunft zu protestieren. Dass momentan im Land fast keine Proteste mehr zu sehen sind, liegt zum einen an den massiven und anhaltenden Repressionen und Festnahmen, aber auch daran, dass politischer Wandel durch die Proteste ausgeblieben ist. Es ist natürlich schwer abzuschätzen, ob diese Protestbereitschaft tatsächlich nochmal zu einer massenhaften Mobilisierung führen wird, aber der Wert ist ein weiteres Indiz für die angespannte Situation im Land. Und er deckt sich ziemlich genau mit dem Anteil derer, die an den Protesten im Nachgang zur Wahl teilgenommen haben. Wir sehen also einen harten Kern der Bevölkerung, der sich durch die massiven Repressionen nicht hat einschüchtern lassen und stattdessen weiterhin das persönliche Risiko in Kauf nimmt, welches mit öffentlichem Widerstand gegen das Regime verbunden ist. In den Umfragen wird aber deutlich, dass sich den Protesten gegenwärtig keine neuen Personen anschließen. Die meisten Protestteilnehmer geben an, dass sie unmittelbar im August aktiv geworden sind, ein großer Teil auch schon im Vorfeld der Wahlen. Jenseits der aktiven Protestteilnahme ist aber auch noch zu betonen, dass knapp die Hälfte der von uns Befragten die Proteste im Nachgang zur Präsidentschaftswahl als wichtig erachtet. 

    2. Schon 2020 ließ sich ein starker Vertrauensverlust gegenüber staatlichen Akteuren und Institutionen feststellen. Wie sieht es damit heute aus?

    Einen deutlichen Vertrauensverlust in Lukaschenko und das gesamte staatliche Gefüge hat es bereits vor der Wahl gegeben, insbesondere unter jungen Menschen, die in einer Umfrage im Juni 2020 beispielsweise zu drei Vierteln angaben, dass sie dem Präsidenten oder den Sicherheitskräften nicht trauen. Für diesen Vertrauensverlust war die Entscheidung des Präsidenten, dem Coronavirus mit Spott und nicht mit Einschränkungen des öffentlichen Lebens zu begegnen, ein treibender Faktor. 
    Das Vertrauen bleibt bis zum gegenwärtigen Stand gering, wobei es sich aber auf diesem geringen Niveau vorerst stabilisiert hat. Im Dezember 2019 gaben 45 Prozent an, dass sie dem Präsidenten überhaupt nicht vertrauen, im Juni 2021 ist dieser Wert auf 41 Prozent gesunken. Dieser leicht gesunkene Wert zeigt jedoch nicht automatisch an, dass Menschen dem Präsidenten nun mehr vertrauen, stattdessen steigt der Anteil derer, die keine Antwort auf diese Frage geben. Solche Nicht-Antworten sind schwer zu interpretieren, da sie zum einen ein tatsächliches Gefühl der Orientierungslosigkeit ausdrücken können, aber auch andere Aspekte: beispielsweise eine Sorge darüber, dass eine ehrliche Antwort zu Problemen mit dem Staat führen könnte. Darüber hinaus ist der Effekt der kontinuierlichen Propaganda nicht auszuschließen – in staatstreuen Medien wird Lukaschenko als Garant von Stabilität und Ordnung gefeiert, die Opposition hingegen diffamiert.

    3.  Wie groß ist die Zahl derer, die Lukaschenko nach wie vor unterstützen und was sind das für Leute?

    Dieses Gesamtstimmungsbild einzufangen ist tatsächlich nicht leicht, da man die Unterstützung für das Regime nicht allein auf die Frage des Vertrauens in den Machtinhaber reduzieren sollte. Es ist insofern notwendig, eine Reihe an Antworten auf soziale und politische Fragen zu kombinieren und zu gewichten. Eine derartige Analyse hat gezeigt, dass knapp ein Drittel der Bevölkerung als starke oder moderate Unterstützer des Regimes einzustufen sind. Besonders relevant ist hierbei der Unterschied zwischen Männern und Frauen. Letztere drücken ihre Unterstützung für das Regime deutlich eher aus in Belarus. Darüber hinaus zeigt sich in der Umfrage, dass ältere Menschen eindeutig stärker polarisierte Meinungen haben. Ein Teil der älteren Bevölkerungsgruppen zeigt eine stärkere Zustimmung, während ein anderer Teil deutliche Ablehnung zeigt. Jüngere Menschen sind hingegen überwiegend als moderat kritisch einzustufen. Darüber hinaus bleiben Faktoren wie Religiosität, ein geringerer Bildungsstand sowie höheres Einkommen relevante Indikatoren um zu verstehen, wer das aktuelle System unterstützt.

    4. Wer unterstützt nach wie vor die Proteste? Und wie beurteilen die Menschen die Oppositionsbewegung, die ja mittlerweile fast vollständig vom Ausland aus agieren muss?

    In der von uns befragten Bevölkerung hat sich die Einstellung zu den Protesten im Vergleich zum Dezember 2020 nicht grundlegend verschoben. 28 Prozent stimmen den Protesten vollständig zu, 18 eher und 20 wissen nicht, wie sie auf die Frage antworten sollen.
    Getragen – und unterstützt – werden die Proteste im Nachgang der Wahl von einer recht diversen Gruppe, wenn man nach dem Alter der Befragten geht. In unserer Stichprobe der 16- bis 64-Jährigen gibt es in jeder Altersgruppe Teilnehmer an den Protesten, wobei sich eine minimal höhere Beteiligung der 16- bis 24-Jährigen feststellen lässt. 
    Deutlicher ist das Bild, wenn es um den Bildungsstand geht: Ein höherer Bildungsstand ist ein starker Indikator für eine Protestteilnahme. Auffallend ist noch die Rolle von Wohlstand in Verbindung mit dem Wirtschaftszweig, in dem die Befragten tätig sind. Personen, die im privaten Sektor über eine höhere Kaufkraft verfügen, haben seltener an Protesten teilgenommen als ceteris paribus Personen mit geringerer Kaufkraft. Mit Blick auf die Proteste ähneln die Ansichten von wohlhabenderen Personen in der Privatwirtschaft den Ansichten von Menschen, die im Staatssektor beschäftigt sind.
    Für die gesamte Bandbreite der oppositionellen Strukturen lässt sich kein eindeutiges Stimmungsbild ermitteln. Bei den Vertrauenswerten gegenüber dem Koordinierungsrat oder dem Team um Swetlana Tichanowskaja geben mehr als ein Fünftel an, dass sie hier nicht antworten können. Die Werte sind noch höher, wenn wir nach der Partei Razam fragen (60 Prozent). Unter denjenigen, die überhaupt eine Antwort abgeben, überwiegt das Misstrauen gegenüber den Strukturen der Opposition. 

    5. Was kann man zu den gesellschaftlichen Knackpunkten oder Brüchen sagen, die im Zuge der Proteste offenbar geworden sind? 

    Die Proteste haben die Fronten innerhalb der Gesellschaft verhärtet. Wir sehen dies auf eindrückliche Art in den offenen Antworten. Dort wird besonders deutlich, wie sehr die Sichtweisen auf die jüngsten Ereignisse auseinandergehen. Knapp 50 Prozent schreiben hier, dass die Proteste ihrer Meinung nach zu nichts geführt und stattdessen die Beziehungen zum Staatssystem und die wirtschaftliche Situation verschlechtert sowie die Staatsgewalt entfesselt hätten. Auf der anderen Seite haben wir Umfrageteilnehmer, die positiv hervorheben, dass die Proteste die belarussische Nation zum Erwecken gebracht, soziale Kohäsion befördert oder internationale Aufmerksamkeit generiert hätten. 

    6. Wie soll die Krise in Belarus gelöst werden? Hat die Umfrage dazu neue Erkenntnisse geliefert?

    Mittlerweile wünschen sich etwas mehr als die Hälfte der Menschen Neuwahlen, wobei diese Sicht von Dezember 2020 bis Juni 2021 sogar zugenommen hat. Stark kontrollierte Neuwahlen könnten somit eine Möglichkeit für die Machthaber sein, den gegenwärtigen Frust über die Missstände anzugehen, auch wenn sie natürlich immer ein unkalkulierbares Risiko beinhalten. Zudem besteht der Wunsch nach einer Verfassungsreform weiterhin fort. Diese Reform wurde mittlerweile vom Staat initiiert, selbstredend mit dem Ziel, die gegenwärtigen Zustände abzusichern und nicht etwa zu liberalisieren.
    Mit Blick nach vorne lässt sich feststellen, dass sich die Menschen in Belarus durchaus mehr politische Beteiligung oder sich beispielsweise auch eine unabhängig agierende Justiz wünschen. Die wirtschaftlichen Sorgen bleiben jedoch ein überragender Aspekt, was sich auch in den Erwartungen an das Regierungshandeln für die unmittelbare Zukunft widerspiegelt. Die allgemeine Verbesserung des Lebensstandards sowie eine Verbesserung des Gesundheitssystems werden hier am häufigsten genannt. Denn auch wenn die belarussische Wirtschaft aktuell nicht am Boden liegt: Die langfristige Stabilität ist bei ausbleibenden strukturellen Reformen bestimmt nicht sichergestellt.

     

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Félix Krawatzek
    Veröffentlicht am: 01. November 2021

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    In Belarus wütet weiter die vierte Corona-Welle. Während der Staat in den vergangenen Wochen proaktiver auf die Herausforderungen der Pandemie zu reagieren schien und beispielsweise erstmals eine Maskenpflicht verfügte, forderte Alexander Lukaschenko bei einer Tagung zur aktuellen Covid-Lage, keinen Druck auf die Menschen auszuüben, Schutzmasken tragen zu müssen oder sich impfen zu lassen. Prompt wurde die Maskenpflicht wieder abgeschafft

    In einem Text für das Online-Medium Naviny.by analysiert der Journalist Alexander Klaskowski die widersprüchlichen Aussagen und Entscheidungen von staatlicher Seite und hinterfragt generell den Schlingerkurs der Autoritäten in Bezug auf die Pandemie im Land. Zudem geht er der Frage nach, in welchem Zusammenhang das Misstrauen der Bevölkerung bei der Impfbereitschaft mit dem Protestwillen und der Kritik der Belarussen an den Machthabern stehen könnte. Schließlich kam es kürzlich wieder mal zu einer Rochade in den Strukturen der Silowiki, als Lukaschenko zwölf Posten neu besetzte. Für Klaskowski möglicherweise ein Zeichen dafür, dass sich die Machthaber doch nicht so siegesgewiss fühlen, wie es das harte Vorgehen gegen Proteste, Widerstand, Medien und NGOs glauben machen könnte.

    Obwohl die vierte Welle noch heftiger ist als die zuvor, kam Lukaschenko nicht einmal auf der Corona-Konferenz am 19. Oktober ohne Seitenhiebe auf die Feinde aus, die niemals schlafen. Um so mehr, da er schon am Vortag ihre Bedeutung betont hatte, als er, wie sein Pressesprecher bekanntgab, „Personalentscheidungen im System der staatlichen Sicherheit“ getroffen hatte (es spricht Bände, dass die ernannten Personen anonym bleiben).

    Als am 19. Oktober die Rede auf den Westen kam, verkündete Lukaschenko: „Unsere Protestler werden von denen permanent mit Geld und sonstwas angetrieben, von wegen: Kommt, macht Belarus nieder, stürzen wir die Machthaber bei diesen Anti-Corona-Veranstaltungen.“

    Am 18. Oktober, dem Tag der Personalentscheidungen, rief der Führer des politischen Regimes allen ins Gedächtnis, dass „die Situation immer noch angespannt ist und wir uns nicht zurücklehnen dürfen.“

    „Sie wissen besser als alle anderen“, sagte Lukaschenko zu den Leuten mit Schulterklappen, deren Gesichter im TV-Bericht verpixelt wurden, „dass sich an den Plänen des Gegners durch den missglückten Umsturzversuch nichts geändert hat. Der kollektive Westen mischt sich auch weiterhin in die inneren Angelegenheiten unseres Landes ein und zielt auf einen Machtwechsel.“

    Lukaschenko enthüllte zudem die konkreten Pläne der Feinde: „Als ein mögliches Datum für den nächsten Revolutionsversuch (Tag X, wie es heißt) ziehen sie die Zeit des Verfassungsreferendums in Betracht.“

    Versuch mal, vom Tiger abzusteigen

    Der Führer des politischen Regimes schlug zwar bezeichnenderweise mehr als einmal selber vor, ein neues Kapitel aufzuschlagen, und versicherte, die Proteste seien zuverlässig niedergeschlagen. Dennoch mahnte er seine Untergebenen immer wieder, nicht nachzulassen, denn der Feind schlafe nicht und spinne neue Intrigen. 

    Die Regierungsspitze glaubt also selbst nicht an den zweifellosen und endgültigen Sieg über die „Protestheinis“. Dabei scheint doch alles unterdrückt: Von den Regierungsgegnern werden die einen eingesperrt, die anderen aus dem Land gedrängt, und die, die noch da sind, sitzen mucksmäuschenstill und bauen darauf, dass man sie vergisst. 

    Und trotzdem ist da diese innere Unruhe. Man kann mit Schlagstöcken auf Leute einprügeln (wovon die Sicherheitskräfte im vergangenen Jahr auch reichlich Gebrauch machten), man kann sie einschüchtern, aber die kritischen Gedanken kann man aus ihnen nicht rausprügeln. Menschen, die den Sturz der Regierung und faire Wahlen wollen, beißen die Zähne zusammen und warten auf die nächste Stunde, in der es die Chance gibt, dass sich die Situation grundlegend verändert.

    Kein Wunder, dass die unabhängige Meinungsforschung im Land mundtot gemacht wurde. Denn sie könnte womöglich zeigen, dass die vermeintlich einstimmige Unterstützung des Volkes für den Machthaber (und die angeblich mickrige Minderheit der Weißrotweißen, die eigentlich gar keine Menschen sind, wenn man es genau nimmt) nichts als ein Mythos der Propaganda darstellen.

    Deswegen traute sich die Regierung auch nach den niedergeknüppelten Protesten nicht, die Lokalwahlen und das Verfassungsreferendum gleichzeitig durchzuführen, wie es eigentlich geplant war. Als scheinheilige Begründung für einen Aufschub der Wahlen um fast zwei Jahre, auf den Herbst 2023, musste ein Gesetz zum einen Wahltag herhalten. Zu diesem Zweck haben die Parlamentarier sogar extra (ohne viel Aufsehen) eine Verfassungsänderung vorgenommen, und natürlich stellte das Verfassungsgericht in der Vertagung der Wahlen keine Verletzung der Wählerrechte fest. 

    Und doch ist die Führungsriege offenbar beunruhigt. Dabei halten unabhängige Experten Massenproteste während des Referendums, das für Ende Februar angesetzt ist, für unwahrscheinlich. Das derzeitige Regime, das jegliche Moral längst über Bord geworfen hat, hätte keinerlei Hemmungen, jeden zu zerschmettern, der es wagt, nur einen Fuß auf die Straße zu setzen. An Brutalität und Hass würde es ihnen in den kommenden Monaten sicher nicht mangeln.

    Dabei scheint es unter den Regierungsgegnern gar keinen Plan zu geben, wie man beim Referendum vorgehen soll. Eine alternative „Volksverfassung“ würde die Regierung gar nicht erst zur Wahl stellen. An einem Boykott sind die Leute schon einmal gescheitert, und Boykotts haben in den belarussischen Verhältnissen sowieso noch nie funktioniert.

    Soll man die Stimmzettel beschädigen, fotografieren und auf einer online-Plattform sammeln, um eine parallele Auszählung zu machen? Die Regierung scheut vor nichts zurück, sie könnte sogar so weit gehen, Wahlkabinen ohne Vorhänge einzuführen.  („Ich fotografier dich hier gleich“, sagt dann ein Polizist mit Nachdruck.) Die alternative Plattform würde sicherlich gesperrt und die parallele Auszählung sowieso als Lüge diffamiert.

    Kurz gesagt, Lukaschenko scheint über den Tag X mehr zu wissen als die Leute, die ihn loswerden wollen. Und obwohl das alles nur Phobien sind, werden sie dazu führen, dass die Daumenschrauben nochmal angezogen und der letzte Rest an Kritik bis hin zum Referendum ausgemerzt werden. 

    Anschließend wird die Regierungsspitze eventuell darüber nachdenken, wie sie mit dem Westen umgehen soll. Aber dieselben Phobien werden sie auch hier daran hindern, auch nur die geringsten Zugeständnisse zu machen. 

    Es ist ein Teufelskreis: Die Regierung hat sich in permanente Repressionen manövriert, und je brutaler die Repressionen werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass selbst homöopathische Lockerungen Prozesse in Gang setzen, die für die Regierung verheerend wären. Ganz wie in dem chinesischen Sprichwort: Wer auf dem Tiger reitet, kann schlecht absteigen.

    Der Versuch, das Image eines Corona-Leugners loszuwerden

    Bei der Corona-Konferenz räumte Lukaschenko ein, die Pandemie hätte bei der letzten Präsidentschaftswahl das politische Verhalten der Belarussen beeinflusst: „Der wichtigste Trigger war Covid. Hat dazu noch jemand Fragen?“ Aber „bei der aktuellen Welle beginnt grad politische Erpressung und eine Instrumentalisierung [der Pandemie gegen die Regierung]“.

    Man muss hinzufügen, dass die Regierung im vergangenen Jahr selbst für die Unzufriedenheit der Menschen sorgte, auch derer, die eigentlich unpolitisch waren. Alle wissen noch, wer den Leuten geraten hatte, das Virus mit Banja, Wodka, Traktorfahren und Streicheln weißer Zicklein zu bekämpfen, und wer behauptet hat, die Verstorbenen seien selbst schuld: Der eine war zu dick, der andere hat sich auf der Straße rumgetrieben (wobei die Menschen zur Arbeit gehen mussten, weil es keinen Lockdown gab). 

    Bei der Konferenz am 19. Oktober versuchte Lukaschenko nun, das Image des Corona-Leugners, das sich als unvorteilhaft erwiesen hat, loszuwerden. Er wies den Gesundheitsminister und weitere Beamte an, strenge Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und insbesondere alter Menschen zu ergreifen, versprach etwas Geld aus dem Fonds des Präsidenten beizusteuern, „um unsere Ärzte zu unterstützen und reichlich Medikamente und sonstiges Material einzukaufen“. 

    Gleichzeitig trugen die meisten Konferenzteilnehmer keine Masken („Maulkörbe“, wie der Machthaber sie mal bezeichnet hat). Obendrein rügte Lukaschenko seine Untergebenen, die vorgehabt hatten, Maskenverweigerer zu verfolgen: „Wer gibt euch denn das Recht, Geldstrafen zu verhängen? Wo, in welchem Gesetz steht, dass ihr Menschen zu Geldstrafen verdonnern dürft?“

    Er empörte sich darüber, dass Menschen „schon mit Gewalt, mit dem Knie auf der Brust, zur Impfung gezwungen werden“. Eine maßlose Übertreibung. Zudem war das Knie auf der Brust wohl eher ein typisches Bild von den Protesten, die niedergeknüppelt wurden.

    Die Menschen glauben der Regierung einfach nicht

    Kurzum, der strenge Machthaber demonstrierte plötzlich einen untypischen Hauch von Menschlichkeit und Liberalismus (die ihm auch in anderen politischen Kernfragen nicht schaden würden): „Keinerlei Druck auf die Menschen. Wenn ich mitbekomme, dass Menschen aus Einkaufszentren, U-Bahnen oder Bussen rausgeschmissen werden, gibt’s Ärger. Dann wird es ein politisches Problem.“

    Der Innenminister Iwan Kurbakow musste rhetorische Fragen über sich ergehen lassen: „Haben Sie nichts Besseres zu tun? Warum verstoßen Sie gegen Gesetze? So ein Gesetz haben wir nicht. Wem spielen Sie da in die Hände?“

    Wobei Lukaschenko im Herbst letzten Jahres selbst noch den Staatsanwälten erklärt hatte: Wenn es Proteste zu unterdrücken gilt, „sind Gesetze zweitrangig“. Diesen Freifahrtschein haben die Spezialeinheiten dann auch kräftig ausgenutzt. Man will sich gar nicht vorstellen, welch heilloses Chaos nun in den Köpfen unter den Polizeimützen tobt (und den Hüten der Beamten in zivil). Denn eigentlich schien die Linie ja klar zu sein: Je härter, desto besser. Und plötzlich verkündet der Chef, man solle nicht übertreiben und behutsam mit den Menschen umgehen. 

    Aber Lukaschenko hat natürlich immer die potenzielle Bedrohung seiner Macht im Auge. Er betonte, dass Feinde aus dem Ausland versuchten, das Land zu destabilisieren, indem sie Fakes und Gerüchte über die Situation in Belarus verbreiten.

    Aber das Problem ist nicht, dass die Feinde sich so ins Zeug legen, sondern dass die Bürger ihrer Regierung nicht glauben: Zu oft haben sie diese bei, milde gesagt, Schwindeleien ertappt. Glaubt man den sozialen Netzwerken und Alltagsdebatten, halten viele die offiziellen Corona-Zahlen für stark untertrieben.

    Im Grunde genommen brachte auch das Misstrauen an offiziellen Zahlen, den Wahlergebnissen, die Menschen im August letzten Jahres auf die Straße. Und wie hat die Regierung das Vertrauen wieder „gestärkt“? Mit Schlagstöcken und Gefängnis.

    Darum wird jetzt auch keine Konferenz – mit noch so besorgten Gesichtern ohne Masken – einen plötzlichen Vertrauenszuwachs und ein positives Verhältnis zur Obrigkeit bewirken. 
     

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  • „Als wäre es ein Horrorfilm“

    „Als wäre es ein Horrorfilm“

    Belarus hat bis heute zu keinem Zeitpunkt seit Beginn der Corona-Pandemie Quarantänemaßnahmen für die eigene Bevölkerung verordnet. Im vergangenen Jahr, als während der ersten Corona-Welle die Regierungen weltweit Massenveranstaltungen untersagten und auch Schulen, Restaurants oder Kneipen schließen mussten, ging das Leben in Belarus seinen vermeintlich normalen Gang, auch in die Fußballstadien durften die Fans, was dem sonst kaum beachteten belarussischen Fußball internationale Aufmerksamkeit einbrachte. Staatsführer Alexander Lukaschenko verkündete lauthals, dass Wodka, Traktorfahren oder ein Gang in die Banja helfen würden, das Virus zu bekämpfen. Das allerdings  habe er damals im Scherz gesagt, entgegnete Lukaschenko dem Interviewer von CNN Anfang Oktober dieses Jahres und fügte an: „Aber Sie wollen sagen, dass dieser Diktator in Belarus ein Wahnsinniger ist, der die Menschen nicht heilt. Ich bin sogar noch tiefer in die Materie eingetaucht als Sie alle im Westen, als alle Führungskräfte zusammen.“  

    Dass der Staat seinen selbstbeschworenen Fürsorgepflichten nicht nachkam und auf die Pandemie lasch reagierte, war auch ein Grund – so sehen es Experten – für die angeheizte Proteststimmung in der Bevölkerung im Jahr 2020. Mittlerweile ist die Situation in Belarus, das ebenfalls mit der vierten Welle zu kämpfen hat, dramatisch. An vier aufeinanderfolgenden Tagen seit dem 12. Oktober übersprangen die Neuinfektionen bei einer Bevölkerungszahl von 9,4 Millionen die 2000er-Marke. Auch die Regionen vermelden überfüllte Krankenhäuser und neue Rekordzahlen. Aufgrund der Überlastung wurde die medizinische Versorgung in ambulanten Gesundheitseinrichtungen teilweise ausgesetzt, wie beispielsweise für ambulante Vorsorgeuntersuchungen, Früherkennungsmaßnahmen oder physiotherapeutische Behandlungen. Seit dem 9. Oktober gilt nun erstmals landesweit eine Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und an öffentlichen Plätzen. Nach offiziellen Angaben des Gesundheitsministeriums sind seit dem Ausbruch von Corona 4402 Personen mit oder an dem Virus in Belarus verstorben. Kritiker gehen aber davon aus, dass die Dunkelziffern wesentlich höher liegen.

    Bei den Impfungen nimmt Belarus einen der hintersten Plätze in Europa ein. 18,6 Prozent der Bevölkerung sind nach offiziellen Angaben durchgeimpft, 1,75 Millionen Personen. Als Impfstoffe sind in Belarus die russischen Fabrikate Sputnik V und Sputnik light zugelassen, die teilweise auch im Land selbst produziert werden, sowie das chinesische Vero Cells. Seit Monaten lässt die Staatsführung verlautbaren, dass man auch an einem eigenen Impfstoff arbeite. Als Grund für die mangelnde Impfbereitschaft der Belarussen nennt beispielsweise der Arzt Igor Tabolitsch, der bereits im vergangenen Jahr offen das staatliche Fehlverhalten gegenüber den Corona-Maßnahmen kritisierte, an den Protesten teilnahm und schließlich nach Moskau ging, das zerrüttete Verhältnis zwischen Gesellschaft und Regierung:  „Propaganda ist ein Spiel gegen den Staat. Alles, was die Behörden jetzt einführen wollen, wird mit Skepsis betrachtet.“  

    Das belarussische Online-Medium Reformation widmet sich der aktuellen Corona-Lage in Belarus, indem es Ärzte und anderes medizinisches Personal zu Wort kommen lässt

    Die vierte Covid-19-Welle hat Belarus fest im Griff. Sogar das Gesundheitsministerium vermeldete jetzt erstmals über 2000 Neuinfektionen innerhalb eines Tages. Die Stationen sind überfüllt, Betten stehen auf den Fluren, in jedem Minsker Krankenhaus sterben zehn bis 15 Patienten pro Tag an Corona. Fast keiner der Krankenhauspatienten ist geimpft, und die Epidemie nimmt gerade erst an Fahrt auf. Darüber hat Reform.by mit Medizinern gesprochen, die beim Kampf gegen Covid an vorderster Front stehen. Wir haben mehrere Mitarbeiter verschiedener Minsker Krankenhäuser und zwei Rettungssanitäter aus Minsk und Umgebung interviewt. Um unsere Quellen nicht zu gefährden, nennen wir keine konkreten Krankenhäuser und Bezirke. Die Ärzte betonen jedoch, dass die Situation überall ungefähr gleich schlecht ist.  

    „Die Menschen entwickeln begleitende Psychosen“
    Alexandra (Name geändert), Rettungssanitäterin in der Oblast Minsk:

    „Viele sind infiziert. In der Stadt gibt es abgesehen von einem reinen Infektionskrankenhaus, das sowieso schon für Covid-Patienten reserviert war, noch zwei weitere: Eines wurde für alles andere als Corona bereits komplett geschlossen, das zweite teilweise. Oft reicht der Platz nicht aus. Sehr häufig kommt es vor, dass Leute aus anderen, aus Nicht-Covid-Stationen entlassen werden, und nach ein paar Tagen werden sie positiv auf das Virus getestet.
    Das Personal ist erschöpft, wir hatten ja im Grunde keine Pause. Aber sie strengen sich an, übernehmen Zusatzfunktionen, machen Überstunden. Wie groß der Personalmangel ist, kann ich nicht genau sagen, aber dass alle mehr als Vollzeit arbeiten, weiß ich ganz bestimmt. Die Krankenschwestern und -pfleger infizieren sich selbst, ihre Kinder auch …
    Im Vergleich fühlt sich diese Welle stärker an. Die Komplikationen treten sehr schnell ein. Man bekommt Fieber, und nach ein paar Tagen hat man schon Lungenentzündung, 45 Prozent erleiden Lungenschäden. Noch dazu haben viele Leute begleitende Psychosen. Oft wirst du zu einem Covid-Patienten gerufen und siehst, dass er auch psychisch leidet. Todesangst, Panik, Bluthochdruck, Schlafstörungen, Depressionen – die Ausformungen sind unterschiedlich. 

    Ein paar Mal wurden wir nach Sputnik-Impfungen gerufen: Die Leute klagten über Schwäche, Fieber, Husten. Unter den Covid-Infizierten gibt es zwar auch Geimpfte, aber wir haben es dann höchstens mit mittelschweren Fällen zu tun, von schweren Verläufen ist mir nichts bekannt. Was die Zahl der Toten betrifft, kann ich nichts sagen. Es heißt immer, in unserem Bezirk sterben viele, aber dazu wird nicht viel berichtet.“

    „Statt drei Ärzten ist oft nur einer auf der Station“
    Nikolaj (Name geändert), Notarzt, Minsk:

    „Die Situation in den Krankenhäusern selbst kenne ich nicht gut. Aber ich weiß, dass vor den Notaufnahmen, wo wir die Patienten hinbringen, lange Schlangen sind. Ich weiß, dass Leute auch schon fünf Stunden gewartet haben und ohne Untersuchung wieder gegangen sind. Also ja, wahrscheinlich gibt es ein Platzproblem.
    Das Personal bei uns in den Rettungswagen kommt mit der Situation ganz gut zurecht. Ja, im letzten Monat gab es mehr Notrufe, mehr Patienten mit Fieber. Aber im Herbst und Winter sind es immer mehr als sonst.  
    Natürlich ist auch das Personal krank, nicht alle Brigaden sind voll besetzt, manchmal ist auf einer Dienststelle nur ein Arzt statt drei. Das war auch vor einem Jahr so, während der zweiten Welle.
    Ich hatte selbst vor Kurzem Covid, zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres, und wieder fast symptomlos, nur ein paar Tage Halsschmerzen und um die 37 Grad, diesmal war nicht einmal mein Geruchssinn beeinträchtigt. Im Frühling habe ich mich mit dem chinesischen Impfstoff impfen lassen.“

    „Bei uns auf der Intensivstation gab es überhaupt keine geimpften Patienten“
    Jekaterina (Name geändert), Anästhesistin in einem Minsker Krankenhaus, das teilweise zum Covid-Krankenhaus umgerüstet wurde:

    „Die Infektionszahlen steigen, das sieht man nicht nur an den Intensivstationen, sondern auch an den Inneren Abteilungen. Vor ein paar Tagen waren die Zimmer überfüllt und die Patienten lagen ohne Sauerstoffgeräte auf dem Flur. Wir haben versucht, das irgendwie zu lösen, und entließen die stabileren Patienten. Der Platz ist sehr knapp, wir haben höchstens ein oder zwei freie Betten pro Tag.   

    Auf der Intensivstation haben wir heute fast zweieinhalbmal so viele Patienten wie Betten (es geht hier um ein paar Dutzend Menschen, die genauen Zahlen wurden zur Sicherheit der Auskunftsperson entfernt – Anm. Reform.by). Sie liegen in Zusatzbetten. In Dreibettzimmern liegen zum Beispiel vier Personen, in Einzelzimmern zwei. Außerdem wird derzeit in den OPs nicht operiert, sondern sie sind zur Behandlung von Intensivpatienten umfunktioniert.“

    Gelingt es unter solchen Bedingungen, die nötige Hilfe zu leisten?

    „Natürlich nicht. Wir bemühen uns aus Leibeskräften, aber es ist körperlich sehr schwer. Sie haben gefragt, ob das medizinische Personal ausreicht. Im Prinzip arbeiten wir vorschriftsmäßig nach Protokoll. Ein Facharzt für Intensivmedizin ist zum Beispiel für sechs Patienten zuständig, eine Krankenschwester auf der Intensivstation muss drei Patienten versorgen – und so ist es auch ungefähr. Aber wenn man bedenkt, wie schwer die Fälle sind … Manchmal sind es auch acht Patienten, manchmal noch mehr, aber auch wenn es sechs sind, ist es für einen allein körperlich sehr anstrengend, sich um sie zu kümmern. Weil sich ihr Zustand alle fünf Minuten ändern kann. Auch für die Krankenschwestern ist es schwer. Während der Arzt noch gewisse Pausen hat, in denen er die Zone verlassen kann, sind die Krankenschwestern rund um die Uhr auf der Intensivstation.    
    Es kommt auch vor, dass nicht genügend Medikamente da sind oder Einwegprodukte für Geräte fehlen. Elementare Dinge wie Infusionsschläuche, Katheter … Nichts von höchster Priorität, aber wenn zum Beispiel ein Patient bessere Antibiotika braucht, und man muss sie erst bestellen – das kostet Zeit, dabei bräuchten wir sie hier und jetzt. So etwas passiert jetzt leider manchmal. Auch die Beatmungsgeräte, die seit eineinhalb Jahren im Dauereinsatz sind, gehen manchmal kaputt, noch dazu in den unpassendsten Momenten. 
    Im Vergleich zu den vorherigen Wellen sind die Symptome der Krankheit im Grunde dieselben. Nur die Patienten werden merklich jünger. Während es in der ersten Welle 70- bis 80-Jährige waren und in der zweiten 60+, sind es jetzt viele Junge, 40- bis 50-Jährige. Die schweren Fälle, wohlgemerkt. Generell erkranken alle Altersgruppen, aber wie ich auf der Intensivstation sehe, trifft es jetzt gerade die Jungen besonders hart. 

    Wie viele Leute sterben, ist jeden Tag anders. Manchmal an einem Tag keiner, manchmal fünf oder sechs Personen. Im Durchschnitt sterben bei uns im Krankenhaus zwei bis drei Menschen pro Tag.     
    Was Geimpfte betrifft, die werden auch krank, aber sehr selten. Ich habe Bekannte und Verwandte, die geimpft sind, manche von ihnen wurden krank, aber nur leicht. Dass so jemand ins Krankenhaus oder auf die Intensivstation kommt – nein, Geimpfte trifft man dort äußerst selten an.“

    Hatten Sie auf der Intensivstation geimpfte Patienten?

    „Nein, bei uns gar nicht.“

    Und was sagen Ihre Patienten zur Impfung, bereuen sie es, nicht geimpft zu sein?

    „Verschieden, die meisten verstehen nicht, dass sie das hätte retten können. Sie glauben, nachdem man auch mit Impfung krank werden kann, ist sie unwirksam. Ein Mann war bei uns, der sagte: Uns hat auf der Arbeit ein Kollege angesteckt, obwohl er geimpft war. Aber Fakt ist, dass dieser geimpfte Kollege jetzt gesund und munter ist, während der Mann künstlich beatmet werden muss.“

    „In einer Schicht habe ich sechs Leichen abtransportiert“
    Wladimir (Name geändert), technischer Arbeiter an einem anderen Minsker Krankenhaus: 

    „Vor ein paar Wochen wurden wir wieder auf Covid umgestellt. Kürzlich habe ich in einer Schicht fünf Leichen abtransportiert, in einer anderen sechs. Zum Vergleich, in der vorigen Welle, im Winter, sind in unserer Abteilung ein bis zwei Menschen pro Tag gestorben und im ganzen Krankenhaus fünf bis sechs. Jetzt sind es insgesamt 15 bis 16 Menschen pro Tag. Im Leichenhaus wird der Platz knapp, manchmal bahren wir die Toten vorübergehend draußen auf, bis ein Platz frei wird.  
    Die Patienten sind jünger als früher. Derzeit liegt auf der Intensivstation eine 24-Jährige mit schlechten Chancen, außerdem ein kräftiger, brutaler Kerl, 34 Jahre alt. Auf dieser Intensivstation rechnet man nicht mit Entlassung, man geht davon aus, dass diese Leute sterben. Mit manchen ist es schon nach ein oder zwei Tagen vorbei.

    Das Personal ist derzeit überwiegend gesund, alle, die ich kenne, arbeiten. Alle sind geimpft, das wurde von den Mitarbeitern auch verlangt. Kann sein, dass auch jemand verweigert hat, aber davon wüsste ich nichts. Voriges Jahr, als es noch keine Impfung gab, sind circa 80 Prozent des Personals erkrankt.“

    „Noch gibt es keine Anzeichen, dass wir ein Plateau erreichen würden. Die Sache nimmt grad erst an Fahrt auf“
    Tatjana (Name geändert), Internistin an einem Minsker Krankenhaus:

    „Unser Krankenhaus ist jetzt fast zur Gänze ein Covid-Krankenhaus, kürzlich wurden noch ein paar Abteilungen umfunktioniert, andere gibt es fast gar keine mehr. Die Aufnahmen werden seit ein paar Wochen immer mehr. Pro Tag kommen mindestens 130 bis 150 Menschen in die Aufnahme, insgesamt haben wir über 800 Covid-Patienten. Der Platz reicht nicht für alle. Es ist schon vorgekommen, dass Betten auf den Flur gestellt wurden, dementsprechend gab es für diese Patienten keinen Sauerstoff. Dann schieben wir sie die nächsten Stunden durch die Station, tauschen Plätze – je nachdem, wer den Sauerstoff gerade dringender braucht. Wer ohne Sauerstoff auskommt, wird – wenn er nicht sonstwie in einer lebensbedrohlichen Lage ist – nach Hause geschickt. 
    Die Intensivstation ist sowieso immer voll … Viele Patienten, die laut Anordnung des Gesundheitsministeriums und aufgrund der Ernsthaftigkeit ihres Zustands auf der Intensivstation liegen sollten, werden in normalen Abteilungen behandelt. Und du rennst hin und drehst sie auf den Bauch und überlegst, wie sie mehr Sauerstoff kriegen können.       
    Der Unterschied zu den vorherigen Wellen: viele Patienten, schwere Verläufe, kurze Krankheitsdauer, viele junge Menschen. An einem Tag sterben im Krankenhaus im Schnitt zehn bis 15 Patienten. Regelmäßig wird in den Abteilungen für Begräbnisse gesammelt, weil Eltern und Partner von Mitarbeitern sterben. 
    Der Anteil der geimpften Patienten ist schwer auszumachen, von allen stationär aufgenommenen vielleicht maximal zehn bis 20 Prozent. Aber sie sind viel weniger schwer krank, kommen nur vereinzelt auf die Intensivstation. Normalerweise sind das jene, die nur die erste Teilimpfung haben und dann das Virus noch irgendwo aufschnappen. 
    Ärzte und Krankenschwestern gibt es an sich noch genug, doch bei uns arbeitet niemand mehr nur die vertraglich festgelegten Stunden. Aber wir kommen zurecht. Manchmal gibt es Ausfälle bei Medikamenten, aber nach ein, zwei Wochen ist die Apotheke wieder aufgefüllt. Derzeit gibt es vorübergehend nicht genug Schutzanzüge, wir flicken ständig an unseren herum.  
    Alle Ärzte sind im Dauerstress, weil wir nicht wissen, wann das vorbei ist … Noch gibt es keine Anzeichen, dass wir ein Plateau erreicht hätten, die Zahlen sind grad erst im Aufschwung. Die Kollegen aus den Polikliniken sind auch recht gut darin, uns Steine in den Weg zu legen: Sie raten den Leuten vom Impfen ab, mit dem Argument, dass sie zu viele chronische Krankheiten hätten. Dabei kommt eben das heraus, was wir jetzt haben.
    Es ist ein Krieg. Wenn einem beim Einkaufen jemand mit der Maske am Kinn zu nahe kommt, zuckt man zurück. Möchte ihm am liebsten eine reinhauen und ihn anschreien: ‚Setz deine Maske ordentlich auf!‘ Dann fährt man mit dem Auto, alles ist ruhig, man geht spazieren, alles wie immer … Aber kaum kommst du zur Arbeit, ist Krieg. Als ob das alles nicht bei uns wäre, als wäre es ein Horrorfilm.“     

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  • Auf Kaperfahrt?

    Auf Kaperfahrt?

    Als die Nachricht die Runde machte, dass die belarussische Ausgabe der russischen Boulevard-Zeitung Komsomalskaja Prawda geschlossen wird, überraschte dies viele Beobachter und Experten. Denn es kommt nicht alle Tage vor, dass sich die belarussischen Machthaber um Alexander Lukaschenko gegenüber dem Kreml mit einer solch weitreichenden Entscheidung durchsetzen. Schließlich ist das russische Stammblatt ein einflussreiches Sprachrohr für die restaurative Politik des Kremls. Dessen Sprecher Dimitri Peskow hatte mit Bezug auf die Pressefreiheit die belarussischen Machthaber noch dazu aufgefordert, die Blockierung der Webseite wieder aufzuheben, als diese nach der Schießerei in Minsk und der entsprechenden Berichterstattung blockiert worden war.

    Die Schließung war kurz darauf verkündet worden, nachdem die Zeitung über eine Wohnungsdurchsuchung in Minsk durch den KGB berichtet hatte, bei der zwei Menschen ums Leben gekommen waren, und kritische Fragen aufgeworfen hatte. Zudem wurde der Journalist Gennadi Mosheiko festgenommen, der den Artikel recherchiert und verfasst hatte. Er befindet sich zurzeit im Gefängnis von Shodino. Von der Staatsanwaltschaft wurde er aufgrund eines Paragraphen angeklagt, der rassistische, ethnische, religiöse oder andere soziale Anfeindungen unter Strafe stellt. Zudem wird ihm vorgeworfen, Repräsentanten der Silowiki beleidigt zu haben.

    Wie kommt es, dass sich das System Lukaschenko mit seiner Taktik gegenüber der russischen Führung durchsetzen konnte? In seiner Analyse für die russische Online-Plattform Carnegie geht der belarussische politische Beobachter Artyom Shraibman dieser Frage auf den Grund. Dabei erklärt er auch, welche besondere Stellung die belarussische Ausgabe der Komsomolskaja Prawda in Belarus selbst hatte.

    Der Kreis der Verbündeten Lukaschenkos in Moskau schwindet schon seit Jahren / Foto © Press Service of the President of the Ukraine unter CC BY 4.0

    Wie schon zu früheren Zeiten hat eine neuerliche Episode in der Eskalation der belarussischen Krise russische Interessen tangiert. Nach dem tragischen Vorfall, bei dem in einer Minsker Wohnung der KGB-Offizier Dimitri Fedossjuk und der auf Seiten der Proteste stehende IT-Fachmann Andrei Selzer bei einem Schusswechsel starben, begannen die belarussischen Behörden einen aktiven Kampf gegen alle, die öffentlich ihr Mitgefühl mit der falschen Seite ausdrückten.

    Neben 200 festgenommenen Social-Media-Nutzern traf es auch die Komsomolskaja Prawda w Belarusi. Auf der Webseite der Zeitung war für wenige Minuten ein Artikel online zu lesen, in dem sich eine Klassenkameradin Selzers positiv über ihn äußerte. 

    Wenige Stunden später war die Seite blockiert, und die Printausgabe wurde umgehend aus den letzten Geschäften, in denen sie noch erhältlich war, entfernt, nachdem bereits im vergangenen Jahr der Vertrieb per Post und über die staatlichen Kioske verboten worden war. Einige Tage später wurde dann der Autor des Artikels, der belarussische Staatsbürger Gennadi Mosheiko, festgenommen. Laut Angaben des Chefredakteurs der Komsomolka, Wladimir Sungorkin, geschah das in Russland, laut belarussischen Strafverfolgungsbehörden im eigenen Land.

    Sungorkin bezeichnete die Geschehnisse als Willkür, andere kremlnahe Medienmanager forderten die Freilassung Mosheikos, der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dimitri Peskow, kritisierte die Sperrung des Internetauftritts der Zeitung. Darüber hinaus kam es jedoch zu keinem ernsthaften Konflikt zwischen den beiden Staaten.

    Die russische Komsomolka entschied sich schlicht für eine Schließung des belarussischen Ablegers. In den folgenden Stellungnahmen sagte Peskow, dass der Kreml die Schließung der Zeitung bedaure, man sich aber nicht in die Minsker Angelegenheiten mit belarussischen Massenmedien und einem belarussischen Staatsbürger einmischen könne. 

    Im Affekt

    Die Schließung der belarussischen Komsomolka und die Festnahme des Journalisten beschloss Minsk im Affekt in den ersten Tagen, wenn nicht Stunden nach der Schießerei. Die belarussischen Machthaber waren schockiert, dass es nach monatelanger Unterdrückung der Proteste jemand erstmalig gewagt hatte, den Sicherheitskräften bewaffnet entgegenzutreten, wofür er von vielen zum Helden erhoben wurde.

    Den am Tatort erschossenen Selzer konnte man nicht mehr bestrafen, aber es stellte sich ein offensichtliches Bedürfnis nach Vergeltung ein. Also begannen Massenfestnahmen, weil viele Kritik an dem getöteten Sicherheitsoffizier äußerten und der Familie des IT-Fachmanns ihre Anteilnahme bekundeten – 200 Menschen wurden festgenommen und angeklagt, viele wurden gezwungen, sich vor laufender Kamera öffentlich zu entschuldigen. 

    Fernsehmoderatoren und regierungsnahe Personen, darunter Parlamentsabgeordnete, riefen zu Vergeltungsmaßnahmen auf: Man solle die Führer der Oppositionsbewegung aus dem Ausland zurückholen, sie nach Mossad-Methoden liquidieren oder „für jeden [Silowik – dek] 20 oder 100 in die Scheiße tunken, damit sich das nicht wiederholt“.

    In solch einer Atmosphäre ist die Veröffentlichung jeder noch so kleinen positiven Information über Selzer in Lukaschenkos Augen eine Todsünde für jedes Medium; und deshalb wurde die Komsomolka umgehend geschlossen, ohne Bedenken und Rücksprache mit Moskau. 

    An dieser Stelle ist wichtig zu erwähnen, dass die belarussische KP mit dem russischen Mutterblatt nicht vergleichbar war – weder agitierte sie gegen den Westen, noch unterstützte sie offen die belarussische oder die russische Führung. Sie war ein neutrales Medium mit einer recht liberal eingestellten Redaktion. 

    Die Zeitung hatte offen und ehrlich über die Proteste berichtet und wurde dafür mit einem Druck- und Verbreitungsverbot belegt. Sie überstand den erzwungenen Austausch des Chefredakteurs und zog sich dann von politischen Themen zurück, um sich vor dem Hintergrund der Zerstörung der letzten unabhängigen Medien im Land das eigene Überleben sichern zu können. 

    Daher war die belarussische Komsomolka für Minsk eine Art Hybrid – einerseits verfügte sie über eine schützende Verbindung nach Moskau, und damit, wie einige meinen, zu Putins Lieblingszeitung, andererseits aber bestand ihre Redaktion aus Belarussen, die offensichtlich nicht mit der eigenen Regierung sympathisierten. Eine Schließung hatte schon länger in den Fingern gejuckt. Nun hatten die Finger ihren Vorwand gefunden, der stärker war als die Besorgnis, damit jemanden in Moskau zu verärgern. 

    Autoritäre Souveränität

    Viele waren überrascht, dass Moskau nur so verhalten auf die Schließung eines bedeutenden Medienbetriebs in einem verbündeten Staat und die Festnahme seines Journalisten reagierte. Hätte einer der prowestlichen Nachbarn – die baltischen Staaten, Georgien oder die Ukraine – eine vergleichbare Ohrfeige geliefert, wäre Russlands Reaktion vollkommen anders ausgefallen. Doch Verbündeten, besonders den autoritären, verzeiht man weitaus mehr als den Gegnern. 

    Der Kreml versteht unter Souveränität das Recht, auf dem eigenen Territorium mit den von der Regierung als notwendig erachteten Mitteln für Ordnung zu sorgen, und respektiert dieses Recht auch bei verbündeten Autokraten. Daher rührt die größere Toleranz gegenüber deren Handlungen, selbst wenn sie russischen Interessen schaden könnten. Vorausgesetzt natürlich, es handelt sich nicht um vorrangige Interessen wie beispielsweise Sicherheitsfragen.

    Lukaschenko hat sich diese Herangehensweise des Kreml zunutze gemacht, ohne irgendwelche Folgen. Als 2013 der Generaldirektor von Uralkali, Wladislaw Baumgertner, zu Gesprächen nach Minsk eingeladen war, wurde er beim Verlassen des Regierungsgebäudes festgenommen und war einen Monat im Untersuchungsgefängnis des KGB sowie im Anschluss noch mehrere Monate in Hausarrest. 2015 lehnte Lukaschenko die Errichtung eines russischen Luftwaffenstützpunktes [in Belarus – dek] ab, 2019 die Vollendung des belarussisch-russischen Unionsstaates. 2017 wurden mehrere allzu prorussische Publizisten inhaftiert. 2020 ließ die Staatsführung drei Dutzend Kämpfer einer privaten russischen Militäreinheit festnehmen, und es wurde ihre Auslieferung an die Ukraine in Erwägung gezogen. Zur selben Zeit wurde die Belgazprombank durchsucht, die von russischer Seite eingesetzte Führung abgesetzt und einige Funktionäre inhaftiert.

    Doch nicht nur Belarus pflegt dieses Know-how, auch Kasachstan verhaftete problemlos prorussische Autoren für den Aufruf zum Separatismus und setzte die Latinisierung der Schriftsprache durch – natürlich zur Unzufriedenheit Moskaus, aber doch unter stillschweigender Hinnahme des Kremls.
    Moskau kann unliebsame Handlungen seiner Verbündeten auf dem Verhandlungsweg abmildern, jedoch geschah dies selten zeitnah und im offenen Konflikt. Lukaschenko wurde häufig verziehen oder es wurde ihm gestattet, sich langsam aus der Situation herauszuwinden, um einen Skandal zu vermeiden. 

    Letztlich zeigt sich hier aber, wie wesensfremd Menschenrechtsrhetorik wirkt, wenn sie von der russischen Regierung kommt. Peskows Erklärung, die belarussische Regierung schränke die Meinungsfreiheit ein, klingt angesichts dessen, was der Kreml in den letzten Monaten bezüglich der Meinungsfreiheit in Russland angestellt hat, wie Selbst-Trolling. 

    Der schwindende Freundeskreis

    Setzt sich die Geschichte mit der Komsomolskaja Prawda nach dem gleichen Muster fort, wie es bei ähnlichen Fällen in der Vergangenheit vorherrschte, dann wird die belarussische Regierung in ihrer Haltung bestärkt, dass man sich durchaus nicht zurückhalten muss, auch wenn es gegen russische Interessen geht. Zum Schutz der Union ist Moskau bereit, vieles zu schlucken. 

    Wichtig ist, die richtigen Schmerzpunkte zu drücken, den Kampf gegen gemeinsame Feinde zu erklären, schnell und rücksichtslos zu handeln und damit das russische Gegenüber vor die Wahl zu stellen: zwischen einem lauten Skandal und einem stillen, wenn auch leicht demütigendem Kompromiss. 

    Die Folgen sind zwar weniger offensichtlich, aber in der langfristigen Perspektive durchaus bedeutsam. Lukaschenko ist schon länger sehr unbeliebt bei einigen Gruppen innerhalb der russischen Führungskader und den ihr nahestehenden Kräften. 

    Die radikalen Nationalpatrioten können Lukaschenko seine multivektorale Außenpolitik nicht verzeihen, etwa die Nichtanerkennung der Krim und die seichte Belarusifizierung innerhalb seines Landes. Im Rohstoffsektor hat man genug von den ständigen Energiekriegen mit Minsk, die jedes Mal mit politischen Vergünstigungen enden, welche dann wiederum mit Komplimenten wie der Zerschlagung der Belgazprombank beantwortet werden. 

    Unter Systemliberalen und Regierungstechnokraten gibt es eine Art ästhetische Ablehnung Lukaschenkos und seines Stils, aber auch eine Verdrossenheit ob ständig neuer Kredite im Austausch gegen wohl portionierte Integrationsversprechen. Einzelne Oligarchen und Wirtschaftsgruppen, wie etwa Uralkali oder die Agrarlobby, hegen eine völlig eigennützige Abneigung gegen Minsk, das auf den gemeinsamen Märkten als direkter Konkurrent Russlands oft die Preise kaputt macht. 

    Und nun demoliert Lukaschenko auch noch sein Verhältnis zum schützenswerten Teil des russischen Mediensektors und dadurch auch zu den Förderern dieser Medien im Kreml. Das russische Machtsystem ist zwar vertikal aufgestellt, besteht aber doch aus einem Konglomerat unterschiedlicher Gruppen. Niemand kann voraussagen, wann die Zahl der minskkritischen Kräfte in Putins Umgebung in Qualität umschlagen wird, doch der Trend ist eindeutig. Der Kreis der Verbündeten Lukaschenkos in Moskau schwindet schon seit Jahren, während die Zahl derer wächst, die von ihm genervt sind

    Für Minsk wird es daher immer schwieriger, in Moskau Geld zu erpressen. Die reale Unterstützung wächst nicht, ungeachtet der völligen Isolation Lukaschenkos im Westen, ungeachtet seiner rhetorischen Kehrtwende in eine prorussische Richtung, der Annäherung im militärischen Bereich und der Unterzeichnung des Unionsprogramms.   

    Selbst wenn Putins Konservatismus, seine sowjetische Nostalgie und sein Unwillen zum Konflikt mit Verbündeten genügen, um die Forderung der russischen herrschenden Elite nach einem härteren Kurs gegen Minsk zu besänftigen, sollte Lukaschenko doch die Daumen drücken und hoffen, dass Putin 2024 auf seiner Position bleibt.

    Jede, selbst die kasachische, Version eines Machtwechsels in Russland wird dazu führen, dass Lukaschenko, egal welchen Posten er dann in Minsk bekleidet, mit denen zurückbleibt, die er all die Jahre nicht zu verärgern fürchtete. Diejenigen, die ihm frühere Vergehen vielleicht verzeihen würden, könnten weit weniger Schlange stehen, als diejenigen, wie aktuell die Führung der Komsomolskaja Prawda, die noch eine Rechnung mit Lukaschenko offen haben.

     

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  • Zukunftsnostalgie

    Zukunftsnostalgie

    Alexey Bratochkin, geboren 1974, gehört zu den bekanntesten Intellektuellen in Belarus. In seinen messerscharfen Analysen geht er den kulturhistorischen Verwerfungen und gesellschaftspolitischen Umbrüchen auf den Grund, die seine Heimat seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 durchlaufen hat. Dies tut er auch in diesem Essay, der sich mit der Frage beschäftigt, welche Vorstellungen von Zukunft für Belarus in seiner Geschichte seit der Sowjetunion bestimmend waren und wie diese möglicherweise helfen können, eine Zukunft zu schaffen, die ohne den bis heute prägenden Autoritarismus auskommt.

    Russisches Original auf Colta.ru

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Der Protestsommer 2020 brachte die Idee der Zukunft nach Belarus zurück. Menschenmassen in Minsk und anderen Städten demonstrierten die Absicht, ihre Zukunft selbst zu bestimmen – ein Recht, das das autoritäre Regime ihnen abgesprochen hatte.

    Der französische Historiker François Hartog erforscht die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Gemeinschaften und der Kategorie Zeit. Er verwendet den Begriff „Geschichtlichkeitsmodus“ (régime d’historicité), um zu zeigen, wie in unterschiedlichen Gemeinschaften Vorstellungen zur eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft generiert werden: von dem Versuch, die Grundlagen fürs Leben im Goldenen Zeitalter zu finden, also in einer idealisierten Vergangenheit, über Bestrebungen, die Zukunft nahe heranzuholen und mit dieser „futuristischen“ Aufgabe zu leben, bis hin zu einer Dominanz der Gegenwart, die Vergangenheit und Zukunft bestimmt. 

    Wenn man über die belarussische Wirklichkeit der letzten dreißig Jahre spricht, so kann man sie anhand wechselnder Zukunftskonzepte beschreiben, von denen es in meiner Generation schon mehrere gegeben hat.

    Wir haben verschiedene Versionen einer kollektiven Zukunft erlebt, überlebt, aufgegeben und uns enttäuscht von ihnen losgesagt. Eine dieser Zukünfte prägte uns in der UdSSR, doch diese Zukunft Nr. 1 war 1991 zu Ende. Die Zukunft Nr. 2 stellte sich dann in den 1990er Jahren ein, sie war optimistisch und utopisch, wenn auch der sowjetischen diametral entgegengesetzt. Diese Zukunft wiederum fand einen autoritären Ersatz in der Zukunft Nr. 3, die jedoch 2020 endgültig in sich zusammenstürzte. Und so stehen wir vor einer neuen Version der Zukunft, der Zukunft Nr. 4. Was erwartet uns?

    Zukunft Nr. 1

    Bis heute ist die übliche Sichtweise, dass die UdSSR in einem besonderen, futuristischen Geschichtlichkeitsmodus beziehungsweise Zeitbezug existierte – eine Gesellschaft, deren Entwicklung von der Zukunft, vom Aufbau des Kommunismus, bestimmt war. Natürlich gab es auch hier Nuancen – doch eigentlich war das Bild der offiziellen Zukunft alternativlos.

    Für mich, wie für viele andere meiner Generation – die formal der vom Kulturanthropologen Alexei Yurchak beschriebenen letzten sowjetischen Generation der Mitte der Siebziger Geborenen angehörte – war eine spezielle Wahrnehmung der Zukunft ein enorm wichtiger Aspekt des Erwachsenwerdens. 

    Was hatten wir damals für eine Vorstellung von unserer, der persönlichen und der kollektiven, Zukunft? Technokratische Phantasien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mischten sich mit ideologischen Postulaten des sowjetischen Marxismus und (in unserem Fall) einer kindlichen, etwas infantilen Einschätzung der eigenen Möglichkeiten. Gleichzeitig war diese Zukunft unmittelbar bedroht: Jeden Moment konnte ein Atomkrieg mit dem kapitalistischen Westen ausbrechen.

    Der Glaube an regelmäßige Raumflüge in naher Zukunft existierte in meiner sowjetischen Kindheit in den frühen 1980er Jahren Seite an Seite mit der Propaganda für das ultimative soziale Bestreben der Sowjetbürger – den Aufbau des Kommunismus (und das war die richtige Zukunft).

    Das in der Sowjetunion beliebte Genre der Science Fiction enthielt nicht nur utopische Beschreibungen einer positiven Zukunft – es war ein Ergebnis der Zensur. In der UdSSR durften keine Dystopien veröffentlicht werden (der Roman 1984 von George Orwell kursierte im Samisdat), sodass dieses Genre zum Teil durch Science Fiction ersetzt wurde. Auch in den offiziell veröffentlichten Büchern fand sich immer Platz für Anspielungen auf soziale Probleme, und eine Reihe sowjetischer Phantasten, etwa die Brüder Strugatzki, trieben diese besondere Sprache zur Perfektion. Die sowjetischen Dissidenten der 1960er Jahre sahen die Zukunft kritisch, und Andrej Amalrik schrieb einen fast prophetischen Text: „Überlebt die UdSSR bis 1984?“ 

    1988 erschien im noch sowjetischen Belarus, in der Zeit von Gorbatschows Reformen, Andrej Mrys satirischer Roman Notizen von Samson Samossui aus dem Jahr 1929. Der Autor dieses Romans wurde in den 1930er Jahren politisch verfolgt und sah sich vor seinem Tod gezwungen, Briefe an Stalin mit der Bitte um Begnadigung zu schreiben. In seinem Roman beschrieb er einen „neuen Sowjetmenschen“, der auf groteske Weise alle Anweisungen der Staatsmacht erfüllte und darauf seine Karriere aufbaute. Diese Satire kann man auch als Beschreibung einer gescheiterten Utopie lesen – des Misserfolgs der Bolschewiki bei der Erschaffung einer sozialistischen Zukunft. In gewisser Hinsicht war das eine Dystopie, wenn auch als Satire verkleidet. Seitdem sind dystopische Motive in der belarussischen Literatur äußerst selten.  

    Jelena Swetschnikowa, die dystopische Texte in der belarussischen Literatur erforscht, schreibt in ihrer Dissertation, dass das Genre der Dystopie in Belarus erst in den 1980er, 1990er Jahren zu finden ist. Sie konstatiert einen spezifischen Charakter der dystopischen Zukunftsvisionen in Belarus: „Kulturelle, politische und soziale Veränderungen werden in der belarussischen Dystopie negativ bewertet.“ Die Propaganda sprach vom Kommunismus, die Schriftsteller hingegen schrieben konservative, patriarchale Bücher, die Modernität und Urbanität kritisierten und zur Rückkehr in eine vorindustrielle Harmonie aufriefen.

    Konservativismus kann man hier als Reaktion auf die radikalen sozialen Veränderungen und die rasend schnelle Modernisierung interpretieren, die in der Stalinzeit und in den 1960er bis 1970er Jahren ihren Höhepunkt erreichten. Die Transformation ging schnell vonstatten und hinterließ eine schwer beschädigte Vergangenheit, die in der sozialen Imagination der Intellektuellen keinesfalls zu einer wahrhaft optimistischen Zukunft werden konnte. 

    Einer der erfolgreichsten Filme der spätsowjetischen Populärkultur war die fünfteilige Fernsehserie Gast aus der Zukunft aus dem Jahr 1985, in dem auch Michail Gorbatschows Perestroika begann. In diesem für Schüler gemachten Film kommt Moskau im Jahr 2084 vor: Die Menschen bewegen sich in individuellen Flugzeugen fort, zwischen Planeten verkehren regelmäßig Raumschiffe, es gibt einen Apparat zum Gedankenlesen et cetera.   

    Die Handlung jedoch spielt fast ausschließlich in der Vergangenheit, im Moskau des Jahres 1984: Kolja Gerassimow, ein einfacher Pionier, seine Freunde und Alissa, ein mit Superkräften ausgestattetes Mädchen aus der Zukunft, versuchen, einen Gedankenleseapparat zurückzuholen, den Weltraumpiraten entführt haben. Das Leben 1984 ist leicht ironisch dargestellt – seltsame Erwachsene, das ewige Problem mit der Mangelware und ein ziemlich alltägliches Leben der Sowjetmenschen, das wenig von der Präsenz von Weltraumtechnik spüren lässt. Durch die Gegenüberstellung von Moskau 1984 und der strahlenden Zukunft 2084 konnte das Publikum sich fragen: Wie kann eine solche Zukunft das Ergebnis jener Gegenwart sein, die wir jetzt um uns haben?

    Der für Kinder gedrehte Film erzählt recht blumig eher von Erwachsenen und der Unmöglichkeit einer Zukunft, von Zynismus, Zweifel und Kritik und von den Hoffnungen der älteren Generation, die im Leerlauf zwischen dem irgendwann verblichenen Optimismus und dem Realsozialismus der 1970er und 1980er Jahre aufgewacht sind. Die Zukunft bringt durch ironische Gegenüberstellung die Probleme der Gegenwart zur Geltung, deren Lösung jedoch utopisch, unmöglich bleibt.

    Am Ende des Films erklingt das Lied Prekrasnoje daljoko (dt. Das Schöne ist weit weg), in dessen Text die Zukunft gebeten wird, „nicht grausam zu sein“ – und fast alle Heldinnen und Helden bleiben im Jahr 1984. Das Lied wurde unfassbar populär und ikonisch für mehrere Generationen; es transportiert eine besondere Stimmung – fast ein Gebet, dass unsere Kinder besser leben mögen als wir. Es trägt auch eine besondere Nostalgie in sich – eine Zukunftsnostalgie über etwas, das nie eingetroffen ist, aber so wahrscheinlich erschien, fast schon greifbar, fast real.   

    Der Super-GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl 1986 setzte den technokratischen Zukunftsphantasien ganz plötzlich ein Ende und rückte die Probleme der Gegenwart wieder in den Mittelpunkt. Der Zerfall der UdSSR 1991 war nicht nur das Ende des sowjetischen Projekts mit seinen utopischen Zukunftsvisionen, sondern bot für viele auch eine neue kollektive Idee – die Rückkehr zur Normalität in Form von Verwestlichung, Markt und Demokratie.  

    Zukunft Nummer 2

    Der belarussische Alltag veränderte sich nach 1991 schnell und radikal. Das Bild der kollektiven kommunistischen Zukunft war verschwunden: An seine Stelle trat ein Gefühl von Freiheit, Chancen, aber auch Besorgnis, sowie von individuellen Perspektiven (zumindest für jene, die Ressourcen für Veränderungen hatten oder wenigstens die Hauptressource – ihre Jugend). Das gemeinsame Wertesystem kollabierte, die gewohnten sozialen Strukturen begannen sich aufzulösen, und eines der wichtigsten Kriterien für sozialen Erfolg wurde Geld. 

    Ganz plötzlich verlieh das Geld der Zukunft eine Materialität – sie war nun objektiviert, individualisiert und drückte sich darin aus, wie und was man konsumieren kann. Gleichzeitig war die Zukunft nicht mehr ganz Zukunft, also etwas, das man sich nur schwer bis ins Letzte vorstellen kann. Sie hat sich maximal der Gegenwart angenähert, in der man so leben muss, dass man jetzt Geld verdienen kann und am sozialen Erfolg beteiligt ist.  
    Eines der Symbole dieser Gegenwarts-Zukunft sind die Kleider-, Haushalts- und Technikmärkte in den belarussischen Städten, die in den 1990er Jahren fast spontan entstanden – in Sportstadien, auf Plätzen, auf denen früher sozialistische Kundgebungen abgehalten wurden, und überall, wo auch nur die kleinste Möglichkeit dazu bestand. Auf diesen Märkten arbeiteten Menschen, die von ruinierten staatlichen Betrieben, wissenschaftlichen Instituten und Schulen entlassen worden waren.  

    Die Märkte waren gerammelt voll mit neuen Waren aus dem Ausland. Die Nachfrage war stabil und mit Versuchen verbunden, durch Konsum neue soziale Zugehörigkeiten zu markieren. Dieser übersteigerte Konsum war bestimmt auch eine unbeabsichtigte Folge des sowjetischen Traums vom Aufbau des Kommunismus – die Zukunft muss man endlich nicht mehr aufschieben, endlich kann man leben.

    Und während auf Alltagsebene die Zukunftsträume sehr pragmatische Formen annahmen, entwickelten sich auf Ebene des intellektuellen und politischen Lebens eigene Vorstellungen davon, wie man schneller zu einem Belarus der Zukunft kommt, zu einem demokratischen, europäischen Land, das sich einfügt ins politische Weltsystem, das seine Bipolarität und Zweigeteiltheit während des Kalten Krieges endlich abgelegt hat. Auch der gefeierte Besuch von US-Präsident Bill Clinton 1994 in Belarus war eine symbolträchtige Episode im Verschwinden des gewohnten Feindbilds, das in der Sowjetzeit geprägt wurde und als dessen Finale eine „nukleare Apokalypse“ im Fall eines Krieges mit dem Westen erwartet wurde. 

    Die Ideen der ersten Jahre der Unabhängigkeit von 1991 bis 1994 transformierten sich zu einer Idee der „Nationsbildung“, zu Versuchen, endlich ein Land und eine Gesellschaft zu entwickeln, die alle Kriterien eines Nationalstaats erfüllen, der die Idee des Imperiums besiegt und überlebt hat. Identität wurde zur Politik (wie immer), die Geschichte wurde nun „aus einer nationalen Perspektive“ diskutiert, und es entstanden neue staatliche Strukturen und Institutionen. 

    Wenn wir uns jetzt an diese Zeit erinnern, sprechen wir von der Naivität dieser Gesellschaft, die überzeugt war, man könne alle Institutionen reformieren und die alten Probleme innerhalb kurzer Zeit loswerden. Aus dieser Naivität entstand jedoch allmählich die Erfahrung des zivilgesellschaftlichen und politischen Lebens. 

    Die Jahre 1991 bis 1994 waren turbulent; es gab keinen Zweifel, dass die Dynamik unumkehrbar war – es schien kein Zurück mehr zu geben. Und auch hier drängt sich wieder der Gedanke der Naivität auf – viele dachten damals, die Freiheit würde sich von selbst einstellen, man müsse sich darum nicht sonderlich kümmern. Die Gesellschaft dachte nicht mehr so intensiv an die Zukunft wie früher, die Zukunft war da, und das genügte. Weniger Utopien, mehr Pragmatik, und die Überzeugung, alles laufe bestens. Wir waren endlich unabhängig, das war das Wichtigste. Doch paradoxerweise wandelte sich die Zukunft, als wir aufhörten aktiv darüber nachzudenken, in eine Diktatur. 

    Zukunft Nr. 3

    Lukaschenkos Regime, das 1994 begann, erschien vielen wie eine Diktatur aus der Vergangenheit, alle sahen darin das Sowjetische. Was auch Lukaschenko selbst unterstützte: Solange nostalgische Bilder aus der Sowjetzeit dafür eingesetzt werden konnten, wurde das auch doppelt und dreifach getan, mindestens bis Anfang – Mitte der 2000er Jahre.

    Später nutzte die Staatsführung die sowjetische Vergangenheit nur noch selektiv. Als wichtige symbolische Ressource wurde nur noch die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg maximal genutzt, angepasst an die Bedürfnisse der neuen (alten) politischen Klasse. 

    Und was wurde aus der Idee der Zukunft? Im Unterschied zur sowjetischen Idee einer kommunistischen Zukunft mit ihrem Utopismus und ihrem Globalismus sowie im Unterschied zur Atmosphäre des Übergangs und der Erlangung der Unabhängigkeit in der ersten Hälfte der 1990er Jahre beschränkte sich die Idee der Zukunft unter der Herrschaft Lukaschenkos auf eine einfache propagandistische Formel: Ohne Lukaschenko hat das Land keine Zukunft.

    Die 2000er Jahre begannen mit der Gründung des Museums der modernen belarussischen Staatlichkeit, das so gut wie nichts vom Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre erzählte, nichts über die Zeit vor Lukaschenkos Amtsantritt. Seitdem dominiert die Auslöschung der Vergangenheit, das Schweigen über die politischen Querelen in den 1990er Jahren und darüber, dass es damals eine Alternative zu Lukaschenko hätte geben können. Zu Lukaschenko gab und gibt es nun keine Alternative mehr, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. So, wie es auch die Zukunft selbst nicht gibt. Die Vergangenheit wurde zensiert, die Zukunft auf die Frage reduziert, wie lange Lukaschenko leben wird, und übrig blieb eine Gegenwart, in der politischer Populismus die Hauptrolle spielte. 

    Zur wichtigsten Losung in Belarus wurde das Wort „Stabilität“. Stabilität bedeutete die Unveränderlichkeit des politischen Regimes und jener zwiespältigen Atmosphäre, die sich im Land entwickelte, als viele ihrer Bürger zwar verstanden, was Autoritarismus bedeutet, ihn aber trotzdem nicht als Katastrophe empfanden und bereit waren sich anzupassen. Alle verzettelten sich im autoritären Alltag, im Konsum und auf der Suche nach Nischen zum Überleben. 2013 berichteten die Medien, dass Werbeflächen im Zentrum von Minsk von jemandem mit Plakaten „Diese Stabilität ist wie der Tod!“ überklebt wurden. Diese Kunstaktion brachte das Geschehen auf den Punkt. 

    In den 2010er Jahren entstand ein neuer Mythos, der eine Illusion der Zukunft erzeugen sollte – der Mythos vom „IT-Land“. Die IT-Sphäre hatte sich abseits der staatlichen Planung entwickelt, doch die Regierung schaffte es trotzdem, sich diesen Trend auf die Fahnen zu schreiben, nicht zuletzt dank der Lobbyarbeit von Vertretern der Branche. Der neue High-Tech-Park in Minsk sollte als Argument dafür dienen, dass Autoritarismus fähig zur Modernisierung ist und Belarus einer digitalen Zukunft entgegensieht. Die Proteste im August 2020, die vor dem Hintergrund eines fast vollständigen Internet-Shutdowns passierten, zogen auch unter diese Geschichte von der digitalen Zukunft einen Schlussstrich.    

    Zukunft Nr. 4

    Die Proteste des Jahres 2020 machten die Legitimität des autoritären Regimes zunichte, das als Antwort Gewalt zum zentralen politischen Werkzeug und zur Grundlage des Systems machte. Die Atmosphäre in Belarus schwankt heute zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Das bestehende System kann sich noch halten, aber eine Zukunft hat es nicht (nur die Vergangenheit wird ausgenutzt und Gewalt angewendet).

    Wie können wir uns heute in Belarus die Zukunft vorstellen? Welche Fragen stehen an? Einige von ihnen betreffen die politische Praxis: Welcher Weg führt aus dem Autoritarismus heraus, was wird mit unseren Institutionen und Vorgehensweisen, welchen Preis werden wir zahlen müssen? Wird es uns gelingen, das Erbe der Diktatur zu verdauen und ein System zu erschaffen, in dem Diktatur nicht mehr möglich sein wird? Wird dieses System auch demokratisch, sozial gerecht, inklusiv sein, werden wir in der Lage sein, horizontale Strukturen und Verbindungen aufzubauen? Wird es uns außerdem gelingen, über den politischen Pragmatismus hinauszugehen und allen unseren Bemühungen mehr Gewicht und mehr Sinn zu verleihen?

    Diese Fragen stellen sich wohl viele im Land schon jahrelang mit unterschiedlicher Intensität. Und all diese Jahre hindurch sehen wir Versuche, auf die Bilder einzuwirken, wie Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft aussehen – mit unterschiedlichem Erfolg. Das Verschwinden der sowjetischen Utopie der kommunistischen Zukunft und des nationalen Projekts der Unabhängigkeit der späten 1980er und frühen 1990er Jahre schufen eigene Zukunftsnostalgien unterschiedlicher Zukünfte (und Vergangenheiten). 

    Die Proteste von 2020, Repressionen, Gewalt und der 2021 fortgesetzte Widerstand haben die Diskussion über die Zukunft wieder aufgebracht und vermitteln das Gefühl ihrer Wiederkehr. Gelingt es uns, diese Chance zu nutzen, oder bleibt es bei einer weiteren Nostalgie, einem weiteren nicht realisierten Projekt kollektiver Zukunft?   

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  • Das Echo nach dem Schuss

    Das Echo nach dem Schuss

    Bei einer Wohnungsdurchsuchung in Minsk durch eine Einheit des belarussischen KGB wurden am 28. September zwei Menschen getötet. Andrej Selzer, Mitarbeiter eines IT-Unternehmens, erschoss mit einem Gewehr einen der Geheimdienstler. Beim darauf folgenden Schusswechsel wurde auch Selzer selbst getötet. Die obskure Durchsuchung, die offizielle Stellen damit begründeten, dass Selzer angeblich zu einer terroristischen Vereinigung gehört haben soll, löste in den sozialen Medien Wut und Trauer aus und wirft viele Fragen auf. 

    Nach der Schießerei wurden bis zum heutigen Tag über 100 Personen festgenommen, viele angeblich, weil sie in den sozialen Medien kritische Kommentare in Bezug auf den KGB und die Wohnungsdurchsuchung hinterlassen hatten. Auch wurde die Webseite des belarussischen Ablegers der russischen Zeitung Komsomolskaja Prawda (KP) geblockt, die Einschätzungen zur Schießerei von einer ehemaligen Mitschülerin Selzers in einem Artikel veröffentlicht hatte. Dann wurde der Autor und KP-Journalist Gennadi Mosheiko festgenommen. Am 5. Oktober gab die Zentrale des Blattes in Moskau bekannt, die Redaktion für die belarussische Ausgabe in Minsk zu schließen. Zur selben Zeit setzten die belarussischen Behörden die Schließung von weiteren Organisationen fort, so wurde auch die letzte im Land verbliebene Menschenrechtsorganisation Zvyano aufgelöst. Insgesamt beläuft sich die Zahl der liquidierten NGOs damit auf 275. Ales Bjaljazki, Träger des Alternativen Nobelpreises und Gründer der ebenfalls liquidierten Menschenrechtsorganisation Wjasna, der sich bereits seit Juli in Untersuchungshaft befindet, soll der Steuerhinterziehung im großen Stil angeklagt werden. Ihm drohen bis zu sieben Jahre Haft. 

    Der Journalist Alexander Klaskowski analysiert in einem Text für das belarussische Medium Naviny.by die neuerlichen Vorgänge in Belarus und fragt sich, welche Strategie die Machthaber in Bezug auf die fortwährende Krise im Land verfolgen.

    Manche hatten schon die Ausrufung des Ausnahmezustandes und die Aussetzung des Verfassungsreferendums prophezeit, andere vertraten die Meinung, dass der Mord an dem KGB-Mitarbeiter flächendeckende Säuberungen nach sich ziehen sollte – dazu äußerte sich Lukaschenko folgendermaßen: „Hört mal zu, wir sind doch nicht so dumm, unter den gegenwärtigen Umständen flächendeckend vorzugehen. Wenn wir flächendeckend vorgehen (und das können wir), könnten unschuldige Menschen zu Schaden kommen.“
    Dann fügte er noch hinzu, sie würden „gezielt und präzise mithilfe der Geheimdienste und anderer Abteilungen des Innenministeriums und so weiter gegen diverse Leute, diverse Organisationen und verschiedene Varianten vorgehen“.

    Plötzlich ist da ein Schatten des IS

    Derweil wirft das Video von dem Vorfall in der Uliza Jakubowskaja immer mehr Fragen auf. Insbesondere, warum die Beamten keine bei solchen Einsätzen üblichen kugelsicheren Westen und sonstige Ausrüstung trugen. Laut Lukaschenko sollten die Menschen nicht beunruhigt werden, weil sie auf Beamte in voller Montur nicht gut reagieren.

    Übrigens tragen mit lautem Gebrüll eingetretene Türen auch nicht gerade zur Beruhigung der Bevölkerung bei (sind aber, o weh, im heutigen Belarus leider fast Alltag). Viele fragen sich bloß noch, wann und unter welchem Vorwand man bei ihnen gewaltsam eindringen wird. Solch massive Repressionen wie in den letzten anderthalb Jahren hat es in Belarus wohl seit der Stalinzeit nicht gegeben. Wobei man es damals vorzog, die Leute im Stillen zu verhaften.

    Bislang haben im Zusammenhang mit dem tragischen Vorfall in der Uliza Jakubowskaja vor allem die Menschen etwas abbekommen, die gewagt hatten, für die Regierung unzulässige Kommentare zu den Ereignissen zu posten. Der stellvertretende Innenminister Nikolaj Karpenkow, der auch die Inneren Polizeieinheiten befehligt, erklärte sogar, die Verfasser von negativen Kommentaren über den Tod des Beamten „gehören physisch vernichtet und sonst nichts“.

    Menschenrechtler sprechen von 83 Personen, die am 29. und 30. September festgenommen wurden. Lukaschenko erklärte gar, dass „schon mehrere Hundert einsitzen“. Vielleicht übertreibt er, vielleicht wissen die Menschenrechtler aber auch noch nicht alles. 

    Von den prominenten Regierungsgegnern wurde der sich derzeit im Ausland aufhaltende Waleri Zepkalo, mit Aufmerksamkeit bedacht. Gegen ihn wurde wegen seines Kommentars zur Schießerei in Minsk ein weiteres Verfahren eingeleitet – nach Paragraph 361 Strafgesetzbuch Absatz 3 (Anstiftung zu Handlungen, die die nationale Sicherheit von Belarus gefährden). Lukaschenko, der es sonst vermeidet, die Namen seiner Gegner auszusprechen, erklärte diesmal, „wenn diese Mistkerle wie Zepkalo und Konsorten glauben, wir könnten ihnen im Ausland nichts anhaben, dann haben sie sich geirrt“.

    Zudem behauptet Lukaschenko, es gäbe Verbindungen zwischen dem Schützen und dem Netzwerk Rabotschy ruch, dessen Arbeit mittlerweile unterbunden ist, wie der KGB kürzlich berichtete. Lukaschenko zufolge sei es nämlich „eine einfache IS-Zelle nach europäischer Provenienz auf dem Gebiet von Belarus“.

    Das Stichwort hier lautet „IS“, wobei die Festgenommenen sicher keine radikalen Islamisten sind. Man benutzt es als psychologisches Schreckgespenst für den Westen, wo der IS und Terrorismus als das absolut Böse gelten. 
    Für das Inland setzt man eher auf das Narrativ, die Opposition hätte sich radikalisiert und der Westen führe einen hybriden Krieg gegen Belarus. Außerdem sollen alle eingeschüchtert werden, die sich angewöhnt haben, die Regierung online, in den sozialen Netzwerken zu kritisieren.

    Bleibt die Frage, ob die breite Masse die offizielle Version glaubt. Das Vertrauen zur Regierung ist ja grundsätzlich nicht groß. Zumal Lukaschenko obendrein erklärte, Rabotschy ruch hätte mit den amerikanischen Geheimdiensten in Verbindung gestanden, „allem voran mit dem FBI“ – das sich bekanntermaßen mit Ermittlungen im Inland befasst.

    Zivilgesellschaft ohne Nicht-Regierungsorganisiationen

    Alles in allem versucht die Regierung offenbar, die Situation in der Gesellschaft mit den üblichen polizeilichen und bürokratischen Mitteln (nach ihren Maßstäben) zu normalisieren. Was die bürokratischen Mittel angeht, spricht Lukaschenkos Vorschlag Bände, gesetzlich festzulegen, wer künftig im Land zur Zivilgesellschaft gehört.

    „Es ist an der Zeit, ein Gesetz zu verabschieden und festzuschreiben, dass zu unserer Zivilgesellschaft keine NGOs, NPOs und sonstiger Scheiß gehören. Sondern dass wir gemeinnützige Organisationen haben. Und gleich festschreiben, welche. Dass wir Gewerkschaften haben und die BRJU [Belarussische Republikanische Junge Union]. Dass wir Veteranen- und Frauenvereine haben.“

    Eigentlich sind NPO und NGO ja völlig neutrale Abkürzungen. Aber für die belarussische Führung sind es offenbar mittlerweile Schimpfwörter geworden. 

    Die Idee einer Zivilgesellschaft, die aus regierungsfreundlichen Organisationen besteht, äußert Lukaschenko nicht zum ersten Mal. Aber plötzlich gibt es ein pikantes Detail: Bei derselben Sitzung gibt er in einem Anflug von Ehrlichkeit zu: „Die Zusammenarbeit mit den gemeinnützigen Organisationen ist komplett gescheitert. Vor allem mit solchen wie der Jungen Union und der Belaja Rus.“

    Und diese gescheiterten ideologischen Projekte sollen jetzt also per Gesetz zu den Grundpfeilern der Zivilgesellschaft erklärt werden. Gleichzeitig wurden funktionierende, eigenständige Organisationen fast vollständig zerschlagen. So zum Beispiel hat der Oberste Gerichtshof am 30. September das belarussische Helsinki-Komitee (BHK) aufgelöst. 

    Doch der Leiter des Komitees, Oleg Gulak, gab bekannt, dass das BHK seine Arbeit auch ohne staatliche Zulassung fortsetzen wird: „Immer vorwärts.“ So oder so ähnlich äußerten sich auch die Leiter der anderen Organisationen, die von den Säuberungen betroffen sind.

    Offenbar versucht die Regierung, durch solchen juristischen Schnickschnack die Autorität der BRJU, der Belaja Rus und so weiter zu stärken. Das sind allesamt Organisationen, die auf administrativem Wege erschaffen wurden und deren Hauptaufgabe darin besteht, Sprachrohr der Regierung zu sein und die Loyalität der Massen zu gewährleisten. Als könnte ein normativer Akt den kritisch denkenden Bürger dazu bringen, die Augen vor der Regierungsnähe dieser Organisationen zu verschließen. 

    Der Regierung scheint nicht klar zu sein, dass sich eine echte Zivilgesellschaft von unten herausbildet und von der Reife ihrer Bürger abhängt. Die Ereignisse des letzten Jahres haben gezeigt, dass ein Großteil der Belarussen diese Reife hat, horizontale Verbindungen zu knüpfen und sich zu organisieren. Die offizielle Auflösung bestimmter Organisationen wird diese Fähigkeiten und Bestrebungen nicht vernichten. 

    Wahrscheinlich ist das der Regierung durchaus klar; sie tut es einfach, um ihre Gegner leichter verfolgen zu können.

    Die große Frage: Wer verleiht dem Oberst seine Schulterklappen?

    Insgesamt ist klar, dass die Regierung es immer noch darauf anlegt; gesellschaftliche Probleme durch rohe Gewalt und Einschüchterung zu lösen. Doch zufällig zeigte Lukaschenko jetzt Interesse an der ideologischen Ausrichtung der Kader. Man scheint sich also zusätzlich auch über eine subtile Beeinflussung der Menschen Gedanken zu machen.

    Davon zeugen auch die Äußerungen von regierungsfreundlichen Experten, die vorschlagen, den weniger radikalen Teil der Opposition in „konstruktive“ Projekte wie den runden Tisch von Juri Woskressenski zu integrieren. Lukaschenko regte seine Untergebenen dazu an, Diskussionsplattformen für Studenten zu gründen. 

    Wie geeignet jedoch ist dieses, nach spezifischen Kriterien – allem voran regimetreue – ausgesuchte Personal zur subtilen Arbeit mit dem Geist der Bürger? Dadurch, dass man den Gewerkschaftsbund FBP und die BRJU zur Basis der Zivilgesellschaft erklärt, wird ihre Arbeit noch nicht weniger staatsnah.
    Das politische System ernsthaft zu modernisieren und das Gesellschaftsmodell zu transformieren, hat Lukaschenko definitiv nicht vor. Heute ist ihm rausgerutscht: „Hätte man die Machtbefugnisse zur rechten Zeit neu verteilt, bräuchte man heute über die Verfassung vielleicht gar nicht reden.“

    Diese Bemerkung bestätigt die Meinung vieler Beobachter, dass Lukaschenko die Verfassungsreform nicht gerade unter den Nägeln brennt und er es vorzöge, nur ein paar kosmetische Änderungen vorzunehmen. Und was die Verteilung der Macht betrifft, ist Lukaschenkos Aussage vom 28. September bei der Versammlung der Verfassungskommission bezeichnend: „Heute stellt sich dann die Frage, ob ich als Staatsoberhaupt den Rang des Oberst verleihen oder mich auf die Generäle beschränken soll.“

    Das sind die kolossalen Änderungen, die uns erwarten: das Recht, einem Oberst die Schulterklappen zu verleihen, könnte an den Verteidigungsminister übergehen. Die Neuerungen in den anderen Bereichen werden wahrscheinlich ähnlich radikal.

    Wir brauchen also nicht darauf zu hoffen, dass solch eine Systemtransformation die Spannungen in der Gesellschaft auflöst.

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