Bereits Ende Januar 2024 feierte die russische Neuverfilmung des Romans Der Meister und Margarita von Michail Bulgakow Premiere in Russlands Kinos. Dort kam der Film beim Publikum gut an, manche Moskauer Kinos zeigten ihn quasi in Dauerschleife. Michail Lockschin – ein in den USA geborener und auch in Russland aufgewachsener Regisseur – hatte den Film 2021 in Moskau gedreht, gefördert unter anderem mit staatlichen russischen Geldern. Doch im Februar 2022 startete Russland den vollumfänglichen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Bulgakows vielschichtiger Roman spießt mit den Mitteln der Satire Stalins Zensur- und Denunziationssystem auf, der Autor wurde selbst Opfer der Repressionen, das Buch konnte vollständig erst 1973 in der Sowjetunion erscheinen. Genug Stoff also, um in der Neuverfilmung auch potenzielle Kritik am System Putin unterzubringen. Und entsprechend traten nationalistische Autoren und sogenannte Z-Blogger eine Denunziationskampagne gegen Lockschin los, weil der den Krieg gegen die Ukraine öffentlich verurteilt hatte.
Seit Anfang Mai 2025 läuft der Film in deutscher Fassung in hiesigen Kinos. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir diesen Text von Sabina Brilo vom Februar 2024 für das Online-Portal Media_IQ. Vor dem Hintergrund der monströsen Repressionen in ihrer Heimat und der drohenden Kriegsgefahr fragt sich die belarussische Autorin, ob diese Neuverfilmung ihr kritisches Potenzial tatsächlich ausgeschöpft hat.
Als die russische Neuverfilmung von Der Meister und Margarita (ru: Master i Margarita) auf Social Media große Wellen schlug, fischte ich gerade in anderen Gewässern.
Schon seit Monaten lese ich die Erinnerungen von Menschen, die die Mitte des 20. Jahrhunderts überlebt haben: die Aufzeichnungen eines Lagerarztes, dann Erinnerungen einer deutschen Jüdin, der es gelang, im nationalsozialistischen Berlin zu überleben, und jetzt gerade die detaillierte Lagerbiografie einer Französin, die der Teufel geritten haben muss, im Paris der 1920er Jahre einen russischen Botschaftsmitarbeiter zu heiraten: Andrée Sentaurens kam 1930 zusammen mit ihrem Mann und dem kleinen Sohn nach Moskau – und geriet dort für ein Vierteljahrhundert in die Fänge staatlicher Tyrannei. Am Anfang Hunger, Angst, Unverständnis und die Unmöglichkeit, dem von allen Seiten nahenden Alptraum zu entgehen, dann schließlich siebzehn Jahre in Stalins Lagern, dem wohlbekannten Sewerodwinsk (damals Molotowsk) und seiner schrecklichen Umgebung.
Liest man die Memoiren von Überlebenden, dann kann man sich nicht losreißen, denn all das ist die Wahrheit. So war es. Parallel dazu lese und höre ich natürlich auch Nachrichten – aus der Heimat und nicht nur die. Es sind immer abstrusere, irrsinnigere, menschenfeindlichere Nachrichten, die man lieber nicht sehen und hören möchte, und doch muss man es, weil es die Wahrheit ist. So ist es. Menschen werden unschuldig festgenommen und in Lager und Gefängnisse gesteckt, Kinder bleiben ohne Eltern zurück, alte Menschen ohne ihre Söhne und Töchter. Die Staatsideologie ist zum höchsten Gut erklärt, das Leben und die Menschenwürde sind ihr vollkommen untergeordnet. In den Gefängnissen werden die Menschen isoliert, sogar der Kontakt zur Familie wird abgeschnitten. In den Gefängnissen wird getötet. Es ist heute so wie damals – weil zwar Zeit vergangen ist, aber wir, die Menschen, nichts geändert haben.
Mir ist nicht nach Premieren. Erstmal überleben.
Aus diesem Grund also – dem Nachempfinden und dem Mitempfinden mit der Gegenwart – war die Diskussion um den neuen Film Meister und Margarita an mir vorbeigezogen. Und als ich gefragt wurde: „Was denkst du darüber?“, winkte ich erst einmal ab. Mir ist nicht nach Premieren. Erstmal überleben. Eine Realität aushalten, in der meine Leute im Gefängnis sitzen, in der Emigration ausharren, ihr Leben riskieren und es verlieren. Eine Realität, in der Gefängnis und Krieg immer „normaler“ werden und bisher anscheinend niemand die Kraft hat, das zu ändern.
Doch dann überlegte ich: Wenn zum jetzigen Zeitpunkt in Russland Der Meister und Margarita verfilmt und gezeigt wird, muss das etwas zu bedeuten haben. Schon das künstlerische Statement der Neuverfilmung muss eine Bedeutung haben, denn Bulgakows Buch ist das eines Menschen, der, im Unterschied zu den Autoren und Autorinnen, die ich gerade gelesen habe, die Fänge der Staatstyrannei NICHT überlebt hat. Da beschloss ich, den Film anzuschauen und zu sagen, was ich über den neuen russischen Meister-und-Margarita denke.
Tatsächlich gehöre ich nicht zu denen, die Der Meister und Margarita als Erwachsene noch einmal gelesen haben. Für mich ist es ein Buch aus der frühen Jugend geblieben, und wenn ich mir vorstelle, in meinem Kopf gäbe es ein thematisch geordnetes Bücherregal, dann stünde Der Meister und Margarita irgendwo zwischen Die Kinder vom Arbat und den zwei Bänden von Ilf und Petrow [Zwölf Stühle undDas Goldene Kalb]. Ich kann mich nicht erinnern, dass mich damals, vor mehr als dreißig Jahren, die Liebesgeschichte stark berührt hätte. Aber ich habe mir gemerkt, dass Pontius Pilatus (der anscheinend den Tod Jeschuas nicht herbeisehnte, ihn aber auch nicht begnadigte) ständig Kopfschmerzen hatte. Und ja, dieses Buch war es, in dem ich, als Kind der Sowjetunion, zum ersten Mal die Geschichte des Evangeliums las.
Ich will hervorheben: Ich las Der Meister und Margarita. ganz am Anfang der 1990er. Das waren, wenn auch hungrige, so doch Jahre der Freiheit. Ich empfand real meine Freiheit als Individuum, machte von ihr Gebrauch und nahm sie für mich an. Später erzog ich im Bewusstsein dieser Freiheit meinen Sohn. Jetzt ist alles anders, und das Buch habe ich nicht noch einmal gelesen. Dafür bin ich gerade fertig mit den schrecklichen, wahrhaftigen Memoiren der Französin Andrée Sentaurens. Und als ich beschloss, mir den neuen Der Meister und Margarita-Film anzuschauen, war ich aus irgendeinem Grund absolut überzeugt, dass in ihm ein lautes SOS ertönen müsse, aus dem jetzt im Wiederaufbau befindlichen, riesigen Konzentrationslager, gerichtet an jeden denkenden Menschen auf der Welt.
Ein lautes SOS müsste ertönen, gerichtet an jeden denkenden Menschen auf der Welt.
Leider sah und hörte ich in dem neuen Meisterwerk der russischen Filmkunst kein solches Signal. Ich sah einen glamourösen Film ohne Gefühl, ohne Schmerz, ohne Liebe. „Vor Kummer und Nöten bin ich eine Hexe geworden“, sagt Margarita, aber ich verstehe (sehe!) nicht, worin der Kummer dieser schönen Frau besteht. Ich dachte: Wie würde wohl Maryna Adamowitsch diese Worte wahrnehmen, die schon über ein Jahr nichts mehr von ihrem Ehemann Mikalaj Statkewitsch gehört hat und selbst in einer Falle lebt, die jeden Moment zuzuschnappen droht?
Natürlich, der Film bietet schon zarte Signale „für unsere Leute“. Zurechnungsfähige russische und belarussische Zuschauer registrieren sie:
„…indem, was noch kurz zuvor erlaubt war, heute schon verboten ist.“
„Es dreht sich um das Jetzt.“
„Bei uns im Studio verschwinden fast jeden Tag Leute, und keiner sagt etwas – jeder hat Angst.“
„Ich habe mich umgehört: Jeder steht unter Schock und du hast sehr viele Sympathisanten!“
Es ist ein russischer Film, gedreht noch vor dem Ausbruch des Terrors im Land, auf der Schwelle sozusagen. In Belarus war der Staatsterror derweil schon in vollem Gange. So wird – im Zeichen des Terrors – von den Tyrannen die „gemeinsame Geschichte“ wiedererrichtet. Und diejenigen, denen Lager droht, drehen (für die, denen Lager droht) einen Film, den sie auch fünf oder zehn Jahre früher hätten drehen können – hat ihnen die Kraft nicht gereicht, um SOS zu schreien, oder war es noch nicht schmerzhaft und schrecklich genug? Mal angenommen, es gäbe ihn dort, diesen Schrei – hätte die Welt ihn denn gesehen, hätte sie ihn gehört? Und wenn sie ihn gehört hätte, was hätte sie dann tun können? Die Welt, die noch mehr oder weniger in Wohlstand lebt, meint aus irgendeinem Grund, dass der Schrecken, den wir durchleben, sie nie treffen wird. Aber leider gibt es auf der Welt kein zivilisiertes Mittel gegen den Drachen, der erst die Menschen im eigenen Land frisst und dann die Grenzen überschreitet.
Ich habe den neuen Film also angeschaut. Ich zitiere noch einmal Margarita: „Wenn man den Autor nicht kränken will, heißt es gewöhnlich: Er hat große Arbeit geleistet.“ So denn, solange wir leben, arbeiten wir (besonders wenn völlig unklar ist, was wir tun sollen). Jetzt muss ich also Der Meister und Margarita noch einmal lesen – ein Buch, geschrieben von einem Menschen, dem es nicht gelang, die Jahre des sowjetischen Terrors zu überleben.
Die Kartoffel ist eines der wichtigsten Nahrungsmittel in Belarus. Viele belarussische Speisen wie draniki (Reibekuchen) basieren auf der Erdknolle, die so auch zum kulturhistorischen Symbol wurde. Die Belarussen bezeichnen sich selbstironisch mitunter auch als bulbaschy (Kartoffelmenschen). Seit Monaten aber ist die Kartoffel Mangelware auf dem belarussischen Markt. Obwohl Belarus bei einer Produktion von bis zu 4.000.000 Tonnen Kartoffeln jährlich und einem Kartoffelverbrauch von durchschnittlich 162,5 Kilogramm pro Kopf und Jahr einen deutlichen Überschuss produziert. Was steckt dahinter?
Das Online-Medium Mediazona Belarus hat Gründe für das Verschwinden der Kartoffel in Belarus recherchiert. Das Projekt Belarus. Expertise zeigt anhand des Draniki-Index, wie sich die dadurch verursachten Preissteigerungen auf die Zubereitung des dranik auswirkt.
Anfang April haben Journalisten von Zerkalo festgestellt, dass sich die Behörden schon seit Mitte Februar Sorgen um Kartoffeln machten. Das MART (Ministerium für Handel und Wettbewerbsregulierung) hatte ein Treffen mit dem Landwirtschaftsministerium, den Verwaltungen von Minsk-Stadt und Minsk-Oblast einberufen sowie mit Vertretern großer Handelsketten.
Auf der Versammlung ging es um Gemüse-Engpässe: Unter anderem ging es darum, dass die Stabilisierungsspeicher, in denen bis zur nächsten Ernte Obst und Gemüse gelagert werden, ihren Abnehmern – den Handelsketten – „minderwertige Waren” liefern. Außerdem sei es wegen der Preisregulierung für Produzenten, die ihre Ernte in diese Stabilisierungsspeicher liefern, lukrativer, ihr Gemüse nicht auf dem Binnenmarkt zu verkaufen, sondern zum Beispiel nach Russland zu exportieren.
Bereits im Februar war das Kartoffelthema bis zu Lukaschenko durchgedrungen. „Na sowas, wir haben also keine Kartoffeln. Um wieviel sind Kartoffeln bei uns teurer geworden? Und um wieviel steigen die Preise zwischen den Ernten? Sind wir etwa unfähig, ausreichende Mengen Kartoffeln anzubauen, sie in Kellern zu lagern und sie dann der Bevölkerung zu verkaufen?“, empörte er sich.
Der Staat hat auf mehrere Arten versucht, das Kartoffeldefizit zu beheben. Ende März verlängerte die Regierung die Lizenzierung des Kartoffelexports um drei Monate, um „sich die Kontrolle über Vorräte und Exporte aufgrund der steigenden Nachfrage und der hohen Kartoffelpreise jenseits der belarussischen Grenzen zu sichern“.
Im Anschluss wurden im Dekret Nr. 713 zur Preisregulierung zum siebten Mal Änderungen vorgenommen: Ab dem 17. April 2025 wurden für die gängigsten Gemüsesorten die Obergrenzen der Preise für den Großhandel und die Endkunden angehoben: für Kohl (außer Frühkraut), (ungewaschene) Karotten, Speisezwiebeln, frische Gurken und gewaschene Speisekartoffeln.
Während noch im März das Kilogramm Kartoffeln für den Endkunden höchstens 76 Kopeken (ca. 0,22 Euro) kosten durfte, darf der Preis jetzt mindestens bis zum 15. Mai bis zu 1 Rubel (ca. 0,28 Euro) betragen. Am 17. April reagierte das MART auf die Kartoffelfrage und verkündete, in Belarus würden Maßnahmen ergriffen, um ausreichende Mengen Kartoffeln sowie anderes Obst und Gemüse in den Läden sicherzustellen. In den darauffolgenden zwei Tagen kontrollierte das Ministerium 20 Gemüselager und fand keinerlei Verstöße.
„Kartoffeln gibt es genauso auf dem Markt wie alles andere, was in den Borschtsch gehört. Die Regierung hat effektive Maßnahmen ergriffen, um die Situation zu verbessern die durch Preisdifferenzen entstanden waren, aufgrund derer unsere Produzenten auf den ausländischen Märkten größere Gewinne erzielten”, berichtete Darja Poloskowa, Repräsentantin des Ministeriums.
„Das ist von heute auf morgen [eine Preissteigerung um] 30 Prozent. Inflation haben wir ja keine? Wir halten sie unten, solang es geht, und auf einmal, hopp – 30 Prozent“, kommentierte Wirtschaftsanalyst Sergej Tschaly Poloskowas Aussage. Zerkalo berichtete, wie in der Oblast Witebsk über tausend Tonnen Kartoffeln „verlorengegangen“ seien. Über BelPol hatte das Medium Zugang zu Chats und E-Mails von Beamten bekommen.
Außerdem erzählten Journalisten von Zerkalo von einem Brief des MART an das Landwirtschaftsministerium, in dem es vor einem womöglich bevorstehenden „Defizit an frischen Gurken aus den Gewächshausanlagen der Republik auf dem Verbrauchermarkt“ warnte; ebenso erreichten das Ministerium Bitten verschiedener Handelsketten, im April die Versorgung des Marktes mit Gurken zu fördern.
„Die Kartoffeln im Laden sind jetzt sehr klein – und so grün wie Hulk.”
Eine Woche nach den Kontrollen des MART spricht man in den Gemüsespeichern von Belarus noch immer von Mangel, den Preisen und der schlechten Qualität nicht nur von Kartoffeln, sondern auch zum Beispiel von Zwiebeln und Kohl.
„In letzter Zeit ist es plötzlich schwierig geworden, bei Euroopt oder Hit ordentliche Kartoffeln zu finden. Es gibt nur winzige, angeditschte“, erzählte Mediazona eine Befragte aus dem Gebietszentrum. Ein Bewohner einer anderen belarussischen Stadt erzählte, wie er vor ein paar Tagen das ganze Viertel nach Kartoffeln abgesucht hätte.
Vor drei Tagen postete eine Belarussin ein Video zu dem Thema auf TikTok: „Das Volk beschwert sich, dass die Kartoffeln im Laden jetzt sehr klein sind – und so grün wie Hulk. Die Bauern kontern: Ihr müsst schon entschuldigen, wie sollen wir was verdienen, wenn wir die Preise nicht erhöhen dürfen. Wenn auch ihr beim Einkaufen schlechte Kartoffeln gesehen habt – schreibt in die Kommentare, was denkt ihr, wer ist daran schuld?“
In einem anderen TikTok erzählt ein Belarusse, er habe in der Vorwoche mit seiner Mutter in Iwanowo vergeblich nach Kohl gesucht. In vier Geschäften seien sie gewesen, doch weder im Dorf noch in der Stadt habe es Kohl gegeben. Auf Instagram ist ein Belarusse der Meinung, das mit den Kartoffeln sei ein Desaster: „Auf den Märkten gibt’s ja noch halbwegs irgendwas, aber im Supermarkt – kannst du vergessen.“ Eine andere Belarussin schreibt: „Kartoffeln sind wieder da, aber wo sind nun die Zwiebeln?“ Die Frage, „wieso die Kartoffeln so sauteuer sind“, stellt sich ein Instagram-User bis heute.
Das Projekt Belarus. Expertise analysiert die ökonomischen Entwicklungen in Belarus, dazu veröffentlicht das Online-Portal regelmäßig den Draniki-Index. Draniki (dt. Reibekuchen/Kartoffelpuffer) sind ein wesentlicher Bestandteil der belarussischen Küche. Der Index wird auf Grundlage von Preisentwicklungen für Produkte berechnet, die zur Zubereitung von Draniki für eine Familie mit drei bis vier Personen nötig sind (siehe Schaubild). „Die Kosten für einen Dranik mit einer teuren Beilage weisen eine hohe Teuerungsrate von 34,9 Prozent auf“, erklären die Wirtschaftsexperten in ihrer Analyse. „Die Kosten für einen Dranik mit einer preiswerten Beilage stiegen im Laufe des Jahres um 9,8 Prozent. Bei den Zutaten verzeichneten Kartoffeln eine Rekordpreissteigerung von 35,21 Prozent im Laufe eines Jahres. Die Gründe dafür waren die Dürre, die geringere Produktion und die massiven Ausfuhren nach Russland.“
Vor fünf Jahren, im Mai 2020, begann in Belarus eine Geschichte, die das Leben von Swetlana Tichanowskaja für immer veränderte – genauso wie das Leben von zigtausenden Belarussen. Ihr Mann Sergej Tichanowski, der damals einen populären, regimekritischen YouTube-Kanal betrieb, war bei einer Kundgebung am 7. Mai zum ersten Mal festgenommen worden. Er hatte beschlossen, bei den Präsidentschaftswahlen als Kandidat anzutreten. Dazu kam es allerdings nicht mehr: Tichanowski wurde erneut verhaftet und durfte nicht kandidieren. Stattdessen übernahm seine Frau, in der Folge entwickelte sich eine historische Massenbewegung.
Das belarussische Online-Portal GazetaBY startet aus Anlass jener Ereignisse das Projekt Transit. Der Beginn. Im ersten Teil der Publikationsreihe spricht Swetlana Tichanowskaja in einem Interview über ihre Wandlung von einer Hausfrau zur Politikerin und Anführerin einer Protestbewegung.
GazetaBY: Wann haben Sie gespürt, dass sich Ihr friedliches, geregeltes Leben verändert?
Swetlana Tichanowskaja: Als Sergej zum ersten Mal verhaftet wurde. Das war wie eine kalte Dusche. Ich habe sofort die Gefahr gespürt. Es war das erste Mal in unserem Eheleben, dass wir Neujahr nicht zusammen verbrachten. Ein eigenartiges Gefühl: Sergej ist im Gefängnis, die Kinder und ich unterstützen seine Mutter in Homel.
Und was haben Sie zu Ihrem Mann gesagt, als er nach der Nacht im Gefängnis wieder rauskam?
Ob ich ihm gesagt habe: „Hör auf damit?“ Nein. Dafür kenne ich meinen Mann zu gut. Eheleute sollten einander unterstützen, nicht einander etwas ausreden. Wie so viele andere verfolgte ich Sergejs Livestreams und sah, dass er sehr populär wird. Charismatisch, auffällig – für die Menschen ist das anziehend. Sie kamen in Strömen, wenn Sergej in diese oder jene Stadt reiste, um „Tauben zu füttern“.
Ich half meinem Mann, wo ich konnte. Bestellte Sticker und so weiter. Aber ich war nicht besonders stark involviert. In jenem Frühling hatte ich gerade wieder angefangen zu arbeiten: Nachdem ich mich zehn Jahre um unseren Sohn gekümmert hatte, unterrichtete ich an einer Online-Schule.
Und da kommt Sergej eines Tages nach Hause und sagt: „Die Leute wollen, dass ich als Präsident kandidiere.“ – „Du weißt aber schon, welche Konsequenzen das haben kann?“ – „Ja, ich weiß.“ Aber sein Entschluss stand bereits fest.
Diese Frage müsste ich natürlich eigentlich Sergej stellen, aber diese Möglichkeit gibt es leider gerade nicht. Vielleicht können Sie etwas Licht ins Dunkel bringen: Warum engagiert sich jemand, der so lange erfolgreicher Unternehmer war, plötzlich für gesellschaftliche Anliegen und geht dann auch noch in die Politik?
Ich glaube nicht, dass Sergej von Anfang an vorhatte, in die Politik zu gehen. Er hatte ein verlassenes Anwesen gekauft und wollte es zu einer Herberge für Pilger ausbauen. Da fingen die Scherereien an. Um Strom zu verlegen, das Dach neu zu decken – für alles brauchte man einen Haufen Genehmigungen. Nach und nach fragt man sich dann, warum einem so viele Steine in den Weg gelegt werden, anstatt dass die Menschen einfach Geld verdienen zu lassen? Warum wirft der Staat ihnen immer Knüppel zwischen die Beine?
So kam Sergej allmählich zu dem Schluss, dass es in unserem Land vieles gibt, was sich ändern muss. Seine Anhängerschaft wuchs rasant, wobei sich viele einfache Menschen anschlossen, die sich früher überhaupt nicht gesellschaftlich engagiert hatten. Sergej schaffte es, ihre Herzen zu berühren.
Da beschlossen die Behörden, Tichanowski von der Registrierung abzuhalten, indem sie ihn genau an dem Tag, als die Frist für die Einreichung der Unterlagen bei der Zentralen Wahlkommission verstrich, einsperrten. Aber dann folgte eine Überraschung …
Selbst da hat meine Transformation noch nicht eingesetzt. Ich bin nicht in die Politik gegangen – ich bin für meinen Mann hingegangen, um ihn zu unterstützen. In einer Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden habe ich die Unterlagen mit seiner Vollmacht eingereicht. Doch sie haben Sergejs Registrierung als Präsidentschaftskandidat abgelehnt. Ich hatte nicht viel Zeit zum Überlegen. Und da habe ich, ohne mit jemandem darüber zu sprechen, beschlossen, den Antrag auf meinen Namen zu stellen. In dem Moment war die Entscheidung für mich absolut klar. Ich habe nicht in die Zukunft gedacht, nicht die Folgen einkalkuliert. Ich dachte, man würde mich abweisen, so wie meinen Mann. Aber ich musste es für ihn tun.
Später gab es Gerüchte, wir hätten uns abgesprochen. Aber in Wahrheit war es ein Schock für Sergej. Er ruft mich an: „Sweta, ich bin draußen!“ Und ich antworte: „Das freut mich, aber ich kann nicht sprechen – ich fahre gerade zum Wahlamt.“ Sergej war sicher, dass es um seine Registrierung geht. Als wir später wieder telefonierten, wusste er gar nicht, was los ist: „Wie, du? Wie kann das sein? Warum haben sie mich nicht registriert?“
Er kommt also aus dem Gefängnis nach Hause, und seine Frau ist Präsidentschaftskandidatin. (lächelt) Wir hatten nicht einmal Zeit, alles zu besprechen. Sergej hat sich gleich in die Arbeit gestürzt. In einem Interview sagte er mal, er sei mir sehr dankbar und stolz auf mich.
In Wahrheit war ich ein sehr vorsichtiger Mensch und habe öffentliche Auftritte gehasst.
Als mein Mann neun Tage später eine längere Haftstrafe bekam, war ich wie gelähmt. Ich habe mich kaum an der Unterschriftensammlung beteiligt. Aber Sergejs Mitstreiter haben sich organisiert und alles selbst in die Hand genommen. Ich bin an diesem Punkt nur nach Komarowka gefahren, um für Viktor Babariko und Valeri Zepkalo zu unterschreiben, und zu meiner eigenen Kundgebung, um Unterschriften zu sammeln.
Auf wen hätten Sie bei den Wahlen gesetzt, wenn man Sie nicht registriert hätte?
Wahrscheinlich hätte ich mich einfach zurückgezogen. Hätte versucht, Geld für Sergejs Anwälte aufzutreiben. Vielleicht auch nicht. Weil die Bewegung bereits sehr groß war. Später hörte ich, wie Leute auf einen Witz reagierten, den ich bei der Wahlkommission gemacht hatte: „Mein Gott! Sie hat gesagt, dass sie ihr ganzes Leben lang davon geträumt hat, Präsidentin zu werden! Eine von uns!“ Das heißt, manche nahmen mich als glühende Oppositionelle wahr.
In Wahrheit war ich ein sehr vorsichtiger Mensch und habe öffentliche Auftritte gehasst. Du kommst aus dem Wahlamtsgebäude, und auf der Straße wartet schon eine Traube von Leuten mit Kameras. Du denkst: „Meine Güte, was mache ich mit denen? Worüber soll ich mit ihnen reden? Ich bin nicht hergekommen, um eine Revolution zu machen oder die Wahlen zu gewinnen. Ich bin wegen meinem Mann hier.“
Dann siehst du die riesigen Schlangen von Menschen, die unterschreiben wollen. Massenhaft Menschen, die dich unterstützen – weil du eine von ihnen bist und nicht irgendein Beamter. Ich fühlte Freude, Schock, Euphorie, Angst – alles auf einmal.
Und dann klingelt das Telefon …
Ich hatte Pech, dass damals niemand mit politischer Erfahrung auf mich zugekommen ist und mir erklärt hat, wie man sich bei Drohungen und in kritischen Situationen im Allgemeinen verhält. Ich war überhaupt nicht vorbereitet.
Ein Anrufer sagte: „Hören Sie auf damit. Sonst wandern Sie ins Gefängnis, und Ihre Tochter und Ihr Sohn kommen ins Waisenhaus.“ Ich bin nach Hause und habe eine Videobotschaft aufgenommen, dass ich die Kampagne abbreche. Aber dann … dann dachte ich daran, wie viele Menschen sich eingebracht hatten. Und ich beschloss weiterzumachen, trotz meiner Angst. Vor allem um die Kinder …
Zum Glück schlossen sich unserem Team nach und nach erfahrene Politiker an: Alexander Dobrowolski, Anna Krassulina … Das war Mascha Moros zu verdanken, unserer Stabsleiterin, die Kontakt zur Vereinigten Bürgerpartei (OGP) aufgenommen hatte, damit sie uns ihr Programm schickten, das ich gar nicht hatte. [Diese Leute] nahmen eine Riesenlast von mir. Es gab ja eine Menge Fragen. Wir mussten eine Stiftung gründen, damit uns die Menschen Geld für die Vorwahlkampagne überweisen konnten. Reisen organisieren, Kundgebungen.
Haben Sie damals zu Hause übernachtet?
Ich habe versucht, nicht alleine zu sein. Deshalb war ich viel bei der Familie Moros. Und wenn ich in meiner Wohnung schlief, war Mascha bei mir. Ich habe damals eine Kamera installiert, damit man mir nichts Verbotenes unterjubelt. Wie die 900.000 Dollar, die erst bei der dritten Durchsuchung unter Sergejs Couch „gefunden“ wurden.
Unsere Kampagne war von den Möglichkeiten her die bescheidenste. Babariko hatte ein cooles Team und genügend Ressourcen, um seine Ideen in die Tat umzusetzen. Bei uns arbeiteten einfache Menschen, getrieben von nacktem Enthusiasmus. Ich bezweifle sogar sehr, dass die Leute sich von Anfang an bewusst waren, welche Veränderungen wir wollten. Das kam erst später. Zunächst gingen alle gegen Ungerechtigkeit und Willkür auf die Straßen. Danach machte jeder seine eigene Entwicklung durch. Auch ich.
Ich erinnere mich an meine allererste Fahrt zu einer Kundgebung – in Dserschinsk. Ich weiß noch: Du musst dahin und auf diese Bühne. Aber meine Güte, wo bin ich, wo ist die Bühne? (lächelt) In der ersten Zeit bekam ich meine Reden geschrieben. Aber dann wurde mir klar: Etwas stimmt nicht, das ist nicht meine Art. Und ich fing an, einfach mit den Menschen zu reden.
Welche Städte sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Gomel – das ist meine Stadt. Und Mogiljow – dort machten wir uns Sorgen, ob überhaupt jemand kommen würde, weil das traditionell Lukaschenkos Domäne ist. Aber überall kamen die Menschen in Massen. Ich erinnere mich noch daran, wie man mich begrüßt und verabschiedet, und dass ich, ohne vollends zu verstehen, was da überhaupt passiert, einfach den Vibe der Menschen spüre und mit ihnen auf einer Welle schwimme.
Nach eigener Aussage stammt sie von Valeri Zepkalo, aber wie es in Wirklichkeit war, kann ich nicht genau sagen. Wir drei (Veronika, Maria, Swetlana – Anm. d. Red.) haben uns getroffen und über ein ganz simples Konzept gesprochen: den Weg von jetzt an nicht mehr jede für sich zu gehen, sondern gemeinsam, und zwar unter dem Motto: „Für faire und ehrliche Wahlen“. Ich war sofort dafür. Sieben Minuten – und der Plan stand. Ich glaube, wenn ich aus irgendwelchen Gründen abgelehnt hätte, wären sie bereit gewesen, sich mit Sergej Tscheretschen zu verbünden.
Sind Sie jemals mit einer Achterbahn gefahren?
Natürlich.
Erinnert Sie dieser Abschnitt Ihres Lebens nicht an eine Achterbahnfahrt?
Nein, weil es dort unterschiedliche Abschnitte gibt: Du kriechst langsam nach oben, und dann rast du in die Tiefe. Aber 2020 hatte ich keine Möglichkeit, Luft zu holen. Alles passierte in rasender Geschwindigkeit.
Und dann kam der 9. August. Was hatten Sie erwartet?
Je näher der Wahltag kam, desto angespannter wurde die Atmosphäre im Stab. Nicht wenige unserer Anhänger waren bereits hinter Gittern. Ich hatte den Eindruck, dass das Team von Babariko keine sichtbaren Formen des Protests wollte. Sie versuchten, alles „im Rahmen des Gesetzes“ zu machen. Aber man kann die Leute ja nicht aufhalten.
Ich weiß noch, wie die Auszählung der Stimmen begann, und plötzlich ruft jemand im Stab, dass die erste echte Hochrechnung veröffentlicht wurde. Dann die zweite, dritte … Alle: „Wow! Unglaublich!“ Auf der einen Seite bricht Euphorie aus, und auf der anderen hörst du Schüsse.
Was dachten Sie persönlich, wie schätzten Sie Ihre Chancen ein?
In dem Moment existierte ich nicht als Person, wir waren alle wie ein Organismus. Wir gewinnen! Wir Belarussen! Als eine Nation!
Das Lukaschenko-Regime konnte sich im Jahr 2020 gegenüber den Massenprotesten im eigenen Land nur durchsetzen und den westlichen Sanktionen standhalten, weil es von Russland unterstützt wurde. Der Kreml nutzte diese rasant an Fahrt gewinnende Abhängigkeit, um das Nachbarland noch enger an sich zu binden. Dies passiert nicht nur auf wirtschaftlicher, politischer oder ideologischer Ebene. Auch in Bezug auf die Propagandaarbeit beider Regime ist eine Integration zu beobachten, vor allem wenn es darum geht, die Ukraine als Feind darzustellen.
Katerina Truchan vom belarussischen Online-Portal Pozirk hat diese Integration der Propaganda-Narrative analysiert.
Seit Beginn der vollumfänglichen militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine kopiert die belarussische Propaganda bereitwillig die Manipulationsmethoden der russischen „Journalisten“. Seit nun gut drei Jahren berichtet die Staatspropaganda über den Krieg in der Ukraine durch die russische Brille, reproduziert die Narrative des Kreml und diskreditiert die Ukraine sowie den Westen. Auch der demokratisch eingestellte Teil der belarussischen Bevölkerung wird zur Zielscheibe.
So verwenden die Propagandisten den Kreml-Euphemismus „militärische Spezialoperation“ anstelle von „Krieg“, bestehen darauf, dass Russland sich „gegen die Nato verteidigen“ müsse und wiederholen das Mantra von den „Neonazis“. Die Ukraine wird meist als „Marionette des Westens“ dargestellt und ihre Handlungen als „Provokation gegen Russland und Belarus“.
Die Propaganda spielt mit den Emotionen, indem sie die Ukrainer grundlos, aber lautstark beschuldigt, der Nazi-Ideologie ergeben zu sein und die grausamsten Verbrechen zu begehen, oder indem sie Angst vor einem drohenden Krieg schürt („Entweder wir sie oder sie uns“). Die Diffamierungen finden Gehör, brennen sich über kurz oder lang ins Unterbewusstsein der Belarussen ein und zeichnen, ungeachtet aller logischen Anfechtungen, ein negatives Bild von den Nachbarn.
Die belarussischen Behörden berichten mit unverhohlener Freude über die Einführung neuer Waffentypen in der Armee und befeuern das Thema der Stationierung russischer Atomwaffen im Land.
Die Ukraine wird dämonisiert, indem man ihr den „Beschuss der friedlichen Bevölkerung im Donbass“ und den „Genozid der russischsprachigen Bevölkerung“ vorwirft. Die legitim gewählte ukrainische Regierung wird hartnäckig als „Kiewer Regime“ bezeichnet und Präsident Wolodymyr Selensky als illegitim bezeichnet, weil die ukrainischen Behörden keine Wahlen durchführen wollen, solange der Krieg andauert. Die russischen Machthaber, und in der Folge auch die Medien, nahmen dies zum Anlass zu behaupten, Selensky könne nicht länger die Befugnisse eines Staatoberhauptes haben. Dieses Narrativ wurde auch von den belarussischen Propagandisten aufgegriffen. Dass das derzeitige Verschieben der Wahlen im Einklang mit der ukrainischen Verfassung steht, verschweigen sie dabei.
Vermeintliche Gefahr und echte Einschüchterung
Gleichzeitig bedient sich die belarussische Propaganda eines eigenen Narrativs von der Gefahr eines Angriffs von ukrainischem Staatsgebiet aus, wofür sie das Kalinouski-Regiment verantwortlich zeichnen will. Die Propaganda brandmarkt nicht nur die, die in seinen Reihen die Ukraine verteidigen, sondern suggeriert auch, sie würden einen Angriff auf Belarus vorbereiten. Der Einmarsch des ukrainischen Militärs in die russische Oblast Kursk, um die Truppen des Aggressors zu binden, spielte dieser These in die Hände. In dem PropagandafilmBessy: kak chotjat sachwatit Belarus (dt. Dämonen: Wie Belarus besetzt werden soll), der 2024 an den Start ging, verbreiten die Propagandisten das Narrativ, die „Söldner“ hätten angeblich vor, Belarus vom Staatsgebiet der Ukraine sowie der europäischen Nachbarländer anzugreifen.
Der Streifen besteht aus einer Aneinanderreihung von bedrohlichen blutigen Landkarten, auf denen okkupierte belarussische Territorien dargestellt werden, und aus Bildern vom friedlichen belarussischen Leben, sauberen Städten, ordentlichen Straßen und Auftritten von Alexander Lukaschenko, dem es, wenn man den Propagandisten glauben darf, allein zu verdanken ist, dass im Land noch Frieden herrscht. Die Tatsache, dass derselbe Lukaschenko 2022 Russland sein Territorium für den Angriff auf die Ukraine zur Verfügung gestellt hat und die militärische Aggression des „großen Bruders“ gegen einen souveränen Staat bis heute unterstützt, wird natürlich gekonnt umschifft.
Um die Kämpfer des Kalinouski-Regiments zu dämonisieren, benutzt die Propaganda sowohl Kämpfer der Einheit als auch ukrainische Militärangehörige. So zum Beispiel den ehemaligen Soldaten des Regiments Wassil Werameitschik, der aus Vietnam ausgeliefert wurde, oder Maksim Ralko, der bei seiner Rückkehr nach Belarus an der polnischen Grenze festgenommen wurde. Letzterer wurde von den Propagandisten mehrfach vor laufender Kamera gezwungen, die angeblichen Pläne des Kalinouski-Regiments „offenzulegen“, dass sie vorhaben ins belarussische Hoheitsgebiet einzudringen (TV-Sender ONT, 20. November 2024); ein anderes Mal musste er sagen, die Belarussen, die aufseiten der Ukraine kämpfen, seien allesamt Drogenabhängige und Kriminelle (ONT-Sendung vom 6. April 2025).
Werameitschik, der auf Ersuchen des belarussischen KGB ausgeliefert wurde, wiederholt in einem Beitrag (25. Januar 2025, Belarus 1) die Thesen der Propaganda über die „Strategie zur Befreiung von Belarus‘“, die angeblich mit Unterstützung der Geheimdienste Litauens, Polens und der Ukraine entwickelt wurde: Dabei soll nach einem Einmarsch vom Gebiet der Ukraine aus die bewaffnete Okkupation eines Teils von Belarus bei Brest und Malorita (Oblast Brest) stattfinden.
Derartige Aussagen, die vor den laufenden Kameras der Propagandisten gemacht werden, dürfen weder ernst genommen noch als Tatsachenberichte angesehen werden. Sie werden erzwungen; die Gefangenen befinden sich in einer ausweglosen Lage und sind in der Gefangenschaft nicht nur Druck, sondern auch Folter ausgesetzt.
Beispiele von Manipulation und offenkundigen Fakes
Bei der Auswahl der Themen für die Manipulation fällt eine gewisse Wahllosigkeit der belarussischen Propaganda auf. Wenn sie die Beiträge ihrer russischen Kollegen reproduziert, gibt sie oft nicht nur zweifelhafte Daten, sondern regelrechte Lügen wieder.
Pozirk hat zahlreiche Fakten gesammelt, wie das Ukraine-Thema eingesetzt wird, bei der die belarussische Propaganda zum Sprachrohr für die Verbreitung unverhohlener Lügen der russischen Medien wurde. Oft dienen die Themen dazu, die Ukraine lächerlich zu machen oder in einem schlechten Licht dastehen zu lassen.
Im November 2024 berichtete die lokale Propaganda, dass Donald Trump aus der ukrainischen Datenbank Myrotworez (dt. Friedensstifter) entfernt worden sei. Die Nachricht, die zunächst von der offiziellen Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa verbreitet wurde, gelangte schließlich auch in die belarussischen Staatsmedien.
„Trump hatte versprochen, das Ukraine-Problem innerhalb von 24 Stunden zu lösen: ‚Ich werde anrufen und einen Deal aushandeln.‘ Etwas zu versprechen ist natürlich das Eine. Man kann es Kyjiw befehlen, zumal sie dort Trump bereits eilig von der Liste der Friedensstifter gestrichen haben, auf der die Feinde der Ukraine geführt werden“, sagte Anatoli Sankowitsch von ONT in der Sendung Kontury. Allerdings wurde die Nachricht über Trumps Aufnahme in die Datenbank bereits 2018 von denselben russischen Propagandamedien verbreitet. Das Projekt Myrotworez selbst dementierte das damals, und es konnten keine Spuren eines Eintrags zum amerikanischen Politiker gefunden werden.
Die Propaganda versucht, aus der Ukraine einen aggressiven und prinzipienlosen Feind zu machen.
Im Dezember letzten Jahres erklärte die belarussische Propaganda, die Ukraine plane eine Ausweitung der Mobilmachung. Zuvor hatten die russischen Propagandamedien darüber berichtet. „Es ist bereits bekannt, dass die Ukraine einen neuen, ausgeweiteten Mobilisierungsplan für 2025 verabschiedet hat. Offenbar will Selensky den Krieg unter Trump fortsetzen, solange genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, um die Wahlen möglichst lange hinauszuzögern. Oder er will Trump dazu bringen, ihn in die NATO aufzunehmen, um den Krieg schnell zu beenden und als ‚Sieger über Russland‘ in die Wahlen zu gehen“, sagte die Moderatorin der Sendung Nedelja (dt. Woche) Olga Korschun auf CTV.
Dabei wurde die Mobilmachung und das Kriegsrecht in der Ukraine bereits am 10. November 2024 routinemäßig um weitere 90 Tage bis zum 7. Februar 2025 verlängert. Gleichzeitig wurde im Land über die Möglichkeit einer Herabsetzung des Wehrpflichtalters diskutiert.
Die Verunglimpfung der Ukraine, aus der die Propaganda einen aggressiven und prinzipienlosen Feind zu machen versucht, äußerte sich auch darin, dass die belarussischen Staatsmedien, den russischen auf dem Fuße folgend, eine ukrainische Spur beim Absturz des aserbaidschanischen Flugzeugs am 25. Dezember 2024 in der Nähe der kasachischen Stadt Aktau ausmachten (an Bord der Passagiermaschine Embraer-190 der Azerbaijan Airlines, die von Baku nach Grosny unterwegs war, befanden sich 67 Menschen, 38 von ihnen starben).
„Der Rumpf der Embraer-190-Maschine von Azerbaijan Airlines weist Einschlagspuren auf. Diese Tatsache macht die Version eines Angriffs durch ukrainische Drohnen wahrscheinlich. Laut Medienberichten war Grosny am selben Morgen von mehreren Drohnen angegriffen worden“, sagte Igor Posnjak, Moderator der Sendung Nowosti. 24 Tschasa (dt. Nachrichten. 24 Stunden) auf CTV.
Wladimir Putin entschuldigte sich zwar bei der aserbaidschanischen Seite, ohne allerdings einzuräumen, dass das Flugzeug von der russischen Luftabwehr getroffen wurde. Unabhängige Experten, deren Stellungnahmen von liberalen russischen Medien veröffentlicht werden, sind sich einig, dass das Flugzeug wahrscheinlich von einer Flugabwehrrakete getroffen wurde und eine Schuld der Ukraine somit praktisch ausgeschlossen ist.
Im Januar sagte die belarussische Propaganda ernste Probleme für Europa voraus, wenn der russische Gastransit durch die Ukraine gestoppt würde. Diese Botschaft wird häufig auch von den russischen Medien verbreitet, die davon überzeugt sind, dass ganz Europa ohne russisches Gas einfrieren wird. „Bald wird sich nicht nur das nicht anerkannte Transnistrien, sondern auch die hochentwickelten europäischen Wirtschaften entscheiden müssen, ob sie zu viel bezahlen, mit Holz heizen oder frieren wollen“, behauptete Swetlana Karulskaja, eine russische Mitarbeiterin von ONT.
Es sei angemerkt, dass die Gaspreise wirklich über denen der Vorkriegszeiten liegen, was Europas Wirtschaft belastet, während die Einnahmen der Ukraine geschrumpft sind. Kein einziges Land in Europa ist jedoch ohne Gas geblieben, nachdem der Transit eingestellt worden ist. Die EU hat sich faktisch vom russischen Gas verabschiedet: Während der Anteil 2021 noch bei 40 Prozent gelegen hatte, betrug er 2023 nur noch acht Prozent und 2025 noch fünf. Das russische Unternehmen Gazprom leidet unter dem Verlust des hochprofitablen europäischen Marktes; 2024 schrieb es rote Zahlen, es sind Entlassungen im Gange.
Am 19. Februar verbreitete die Staatspropaganda Falschnachrichten über den Ausverkauf von ukrainischen Ländereien weiter. „Rund 30 Prozent des ukrainischen Territoriums gehört nicht mehr Kiew. Es wurde verkauft“, erklärte Olga Dawydowitsch von Perwy informazionny (dt. Erster Informationskanal). Damit reproduzierte sie ein Fake, das 2024 in Russland erfunden wurde: Demnach würden Ausländer massenweise Land in der Ukraine aufkaufen. In Wirklichkeit ist in der Ukraine der Verkauf von Landwirtschaftsflächen an ausländische Investoren per Gesetz verboten. Zu den zehn größten Eigentümern gehören ausschließlich ukrainische Unternehmen. Später im selben Monat beschloss die belarussische Propaganda, über etwaige „kommerzielle Interessen“ der EU in der Ukraine zu berichten und nannte als Quelle für diese Erkenntnisse „ukrainische Telegram-Kanäle“. Doch auch das erwies sich als Fake.
Kreml-Drahtzieher hinter „ukrainischen“ Kanälen
„Europa, das gerade darüber diskutiert, ob es 30.000 Friedensstifter in die Ukraine schicken soll, verteidigt nicht die Ukraine, sondern seine eigenen kommerziellen Interessen. Als Bezahlung für seine Dienste wird es einen Anteil an ukrainischen Aktiva fordern, wie ukrainische Telegram-Kanäle berichten“, meldete Jekaterina Tichomirowa von Perwy informazionny.
Als Quelle führte sie einen Screenshot aus dem Telegram-Kanal Legitimny (dt. Legitim) an. Noch 2021 hatte der ukrainische Sicherheitsdienst SBU allerdings ein Netz von Kanälen aufgedeckt, hinter denen der russische Geheimdienst steckt. Darunter war auch der besagte Kanal Legitimny, dessen Administratoren zu diesem Zeitpunkt in der selbsternannten Republik Transnistrien saßen.
Ende Februar warf die Staatspropaganda Wolodymyr Selensky vor, die Verhandlungen zwischen den USA und Russland mithilfe der „belarussischen Bedrohung“ zu unterminieren. „Die dritte und bizarrste Möglichkeit, die Gespräche scheitern zu lassen, ist der Versuch, Trump davon zu überzeugen, dass Belarus eine potenzielle Bedrohung darstellt“, sagte CTV-Mitarbeiter Andrej Lasutkin. Er argumentierte unter anderem, dass die Ukrainer nach einem Drohnenangriff auf den Sarkophag von Tschernobyl Russland und Belarus beschuldigt, dann ein Fake-News-Video dreht und Selensky ausgerechnet mit dieser Nachricht seine Rede in München beginnen lässt.
Es stellte sich allerdings heraus, dass Lasutkin die Version der russischen Propaganda wiederholte, die gleich nach dem Angriff auf das Kernkraftwerk kursiert hatte. Mit einer Nuance: Nicht einmal in den russischen Quellen wird Belarus als verantwortliche oder irgendwie betroffene Partei genannt. Nach Angaben der Ukraine, die sie mit Bildmaterial bestätigt, wurde der Angriff von einer russischen Drohne ausgeführt. Die Löscharbeiten im Kernkraftwerk von Tschernobyl dauerten drei Wochen lang. So verbreiteten belarussische Propagandisten anschließend in wöchentlichen Nachrichtensendungen im ganzen Land glatte Lügen, die in Russland erfunden wurden, um die Wahrnehmung der Menschen von der Ukraine zu manipulieren.
Die Ukraine in Dauerschleife
In einem Ende 2024 veröffentlichten Bericht (Mapping Belarusian Propaganda, erstellt mit Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung) konnten die Autoren Marat Lesnov und Lesya Rudnik zeigen, dass fast die Hälfte des Contents staatsnaher Informationsquellen der Ukraine gewidmet ist.
Wie eine Analyse von Pozirk zeigt, wurde die Ukraine auf dem Telegram-Kanal des größten regierungsloyalen Mediums, der Zeitung SB. Belarus Today 10.300 Mal, das „brüderliche“ – so die offizielle Rhetorik in Minsk – Russland etwas mehr als 11.000 Mal, Lukaschenko nur knapp häufiger, nämlich 12.200 Mal, und Belarus 33.200 Mal erwähnt. Für ein Medium, das, wie man meinen würde, vor allem die Innenpolitik im Blick haben sollte, ist die „ukrainische Frage“ ziemlich beliebt. Allein zwischen dem 1. und dem 10. April kam das Thema Ukraine im besagten Telegram-Kanal mehr als 40 Mal auf.
Selbst bei Wirtschaftsthemen bleiben Verdrehungen und glatte Lügen nicht aus. So berichtete die SB am 9. April: „Die Ukraine stiehlt belarussisches Eigentum. Aber eines Tages wird sie dafür bezahlen müssen … An fremden Früchten kann man auch ersticken … Erst neulich hat die Ukraine wieder einmal ihr wahres Gesicht gezeigt: Eine Partie beschlagnahmter Düngemittel von Belaruskali wurde im Wert von etwa einer Million Dollar verkauft.“
Dabei war bereits am 6. Februar 2023 bekannt geworden, dass die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft 170 Eisenbahnwaggons mit Mineraldünger im Wert von rund 100 Millionen Hrywnja (zu diesem Zeitpunkt über 2,7 Millionen US-Dollar) beschlagnahmt hatte. Es wurde gesagt, dass die Ladung von Belaruskali und dem russischen Unternehmen Uralkali stammte. Weiterhin hieß es, dass die belarussischen und russischen Kalisalze „in Drittländer transportiert werden sollten, um mit dem Verkauf Millionengewinne zu erzielen“, wobei ein Teil des Erlöses „in Form von Steuern zur Finanzierung des russischen Kriegs gegen die Ukraine“ fließen sollte. Später wurde erklärt, dass die Düngemittel verkauft und das Geld zur Stärkung der ukrainischen Wirtschaft und Verteidigung verwendet werden würde.
Von ukrainischer Seite war wiederholt festgestellt worden, dass das belarussische Unternehmen mit seinen Aktivitäten „den Krieg gegen die Ukraine durch finanzielle und wirtschaftliche Beziehungen zu Rüstungsunternehmen der Russischen Föderation und den Besatzungsverwaltungen der selbsternannten DNR und LNR befördern“ würde. Diese Tatsachen verschweigt die belarussische Propaganda, wenn sie über das „wahre Gesicht“ der Ukraine schreibt.
Für Lukaschenkos Medien ist die Ukraine insgesamt zu einem der wichtigsten Nachrichtenanlässe geworden. Die Themen Krieg, Korruption, Waffenlieferungen, der Wahlsieg Trumps und seine Äußerungen zur Ukraine helfen der Propaganda, Content zu erzeugen, der Zwietracht, Feindseligkeit und Hass gegenüber dem Nachbarland und seiner Bevölkerung schürt. Das geschieht in Analogie zu den russischen Medien, die schon viel früher mit „Entmenschlichung“ der Ukrainer begonnen haben – noch vor der Krim-Annexion 2014.
Um das gewünschte Feindbild einer schwachen, vom Westen abhängigen Ukraine zu schaffen, bedient sich die Propaganda auch der Hilfe von „Experten“, die entweder die Thesen ihrer russischen „Kollegen“ wiederholen oder einfach schlicht russische „Analytiker“ sind. Ihre Arbeit besteht dabei darin, die Situation einseitig zu „analysieren“ und Fakes zu reproduzieren. Auf diese Weise wird das Thema Ukraine in Belarus, in dem es keine unabhängigen Medien mehr gibt und man für „unbequeme“ Themen ins Gefängnis wandern kann, extrem einseitig beleuchtet. Gleichzeitig ist es für Belarussen buchstäblich physisch gefährlich, die Ukraine zu unterstützen.
Laut einer Erhebung der Menschenrechtsorganisation Wjasna, die nicht als erschöpfend gelten kann, wurden in Belarus bis zum 24. Februar 2025, also in den drei Jahren der anhaltenden Aggression, insgesamt mindestens 209 Personen, darunter 38 Frauen, wegen Unterstützung der Ukraine verurteilt: 41 Personen aufgrund von Spenden, mindestens 30 – weil sie auf Seiten der Ukraine kämpfen wollten.
Media IQ über die Verschmelzung von belarussischer und russischer Propaganda
Pawljuk Bykowski, leitender Wissenschaftler des Projekts Media IQ, bezieht sich bei seinem Kommentar gegenüber Pozirk auf die Monitoring-Berichte von Media IQ und seinen Beitrag „A Loss of Media Sovereignty: Synchronisation of Belarusian and Russian Propaganda after 2020“ zur Monographie Russian Policy towards Belarus after 2020: At a Turning Point?
„Die Beobachtungen, die Pozirk in seiner Analyse macht, bestätigen weitgehend unsere eigenen“, sagt Bykowski. „2022 verzeichneten wir bei Media IQ eine stetige Synchronisierung der belarussischen und russischen Propagandamaschinen. Wir können aber nicht sagen, dass sich die eine der anderen direkt unterordnet. Es ist eher wie bei einem Trittbrettfahrer: Wenn die Interessen übereinstimmen oder zumindest nicht im Widerspruch zueinander stehen, springt das belarussische Regime bereitwillig auf die Narrative des Kreml auf und verbreitet sie weiter, vor allem im Hinblick auf die ideologische Rechtfertigung des Krieges gegen die Ukraine.“
„Nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen 2020 und den anschließenden Massenprotesten hat sich das offizielle Minsk von dem früher deklarierten Kurs auf Informationsneutralität verabschiedet und ist dazu übergegangen, sich verstärkt in das russische Informationsfeld zu integrieren. Besonders deutlich zeigte sich das in der Berichterstattung zu der vollumfänglichen russischen Invasion in der Ukraine im Jahr 2022. Die belarussischen Staatsmedien haben faktisch der Neutralität den Rücken gekehrt und angefangen, sich der Rhetorik und den Methoden der russischen Propaganda zu bedienen, was aus unserer Sicht eines der Kriterien für Informationssouveränität ist“, betont der Experte.
„Nichtsdestotrotz demonstrierte die belarussische Propaganda in einer Reihe von Fällen eine vorsichtige Distanz zum militärischen Bereich, indem sie die Akzente zum Beispiel auf humanitäre Themen setzte oder der Tatsache, dass sich die belarussische Armee nicht an den Kriegshandlungen beteiligt“, merkt er zugleich an. „Das zeigt, dass die belarussische Seite selbst im Rahmen der Synchronisation einzelne eigene Linien verfolgt, die ihren eigenen taktischen Interessen entsprechen.“
„Äußerst wichtig bleibt dabei, wer die Wahrnehmung des Krieges in der Öffentlichkeit prägt. Nach Angaben von Chatham House und iSANS lehnen 94 Prozent der Konsumenten unabhängiger Medien den Krieg ab, während 61 Prozent der Konsumenten staatlicher Medien die russische Aggression unterstützen. Dieser Kontrast zeigt, wie sehr die Informationsquellen zum entscheidenden Faktor für die Einstellung zu Fragen von Frieden und Sicherheit werden“, betont Bykowski.
Selbst wenn es zu einem dauerhaften Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine kommen sollte, werden die Spannungen zwischen dem Kreml und den Ländern der EU bleiben. Damit komme Belarus, schreibt Artyom Shraibman in seiner Analyse für Carnegie, eine besondere Rolle zu. Putin könnte das Lukaschenko-Regime für weitere Eskalationen jenseits der ukrainischen Front nutzen. Deswegen sei es für die EU wichtig, die Interessen des belarussischen Machthabers zu verstehen, um „Moskau zusätzliche Hindernisse in den Weg zu legen. Und je mehr es davon gibt, desto unwahrscheinlicher ist es, dass ein neuer großer Krieg beginnt.“ Shraibman zeigt auf, wie solche Hindernisse aussehen könnten.
Belarus ist mittlerweile aufgrund seiner geografischen Lage und seiner zunehmenden Abhängigkeit von Russland ein permanenter Risikofaktor für seine Nachbarländer. Daran wird sich wahrscheinlich nichts ändern, solange in Belarus ein Regime herrscht, das seine Macht der wirtschaftlichen und politischen Unterstützung aus Moskau zu verdanken hat. Das Problem ist nicht nur die alte Feindschaft zwischen Alexander Lukaschenko und Polen oder Litauen, sondern auch das Beziehungsmodell, wie es sich in den letzten fünf Jahren zwischen Minsk und Moskau entwickelt hat.
Bis 2020 hielt Lukaschenko immer die Balance zwischen dem Westen und Russland, in der Erwartung, von beiden Seiten dafür belohnt zu werden, dass er sich nicht auf die jeweils andere Seite schlägt. Die Bedingung für dieses Manövrieren war die Möglichkeit, sich wie ein Pendel mal an Russland anzunähern, mal sich zu entfernen. Der Bruch mit dem Westen nach den Protesten in Belarus 2020 stoppte dieses Pendel und fixierte es im Kontrollbereich Russlands.
In der Folge verlor der Westen das Interesse an den Signalen Lukaschenkos, der verbal weiterhin versuchte, seine Eigenständigkeit zu betonen. Gleich zu Beginn der vollumfassenden Invasion in der Ukraine rief er zu sofortigen Verhandlungen auf und bot sich als Mittelsmann zwischen Kyjiw und Moskau an. Doch diese Rhetorik überzeugte die Adressaten nicht mehr, der Spielraum für seine Manöver war verschwunden. Also warb Lukaschenko mit einer neuen Taktik um die Gunst und Ressourcen aus Russland: Er leistete militärische Dienste, wie Wladimir Putin sie im jeweiligen Moment am dringendsten brauchte.
Dem Kreml ging es darum, dem Westen seine Bereitschaft zur weiteren Eskalation zu signalisieren.
Lukaschenko versorgte die russische Armee und die Rüstungsindustrie nicht nur mit allem, was Belarus zu bieten hatte. Während der Mobilmachung im Herbst 2022 stellte er auch belarussisches Territorium für die Ausbildung russischer Soldaten zur Verfügung. Als Jewgeni Prigoshin im Juni 2023 den Aufstand probte, trat Lukaschenko als Vermittler zwischen den Konfliktparteien auf und gestattete den Mitgliedern der zerschlagenen Söldnertruppe Wagner den Aufenthalt in Belarus, bis sie der Kreml unter seine Kontrolle nahm. Und als im Sommer 2024 die ukrainische Militäroperation in der Oblast Kursk begann, verschob er die belarussischen Truppen demonstrativ an die südliche Grenze, um Moskau seine Bereitschaft zu bekunden, die ukrainischen Streitkräfte von der Hauptfront abzulenken.
Außerdem verkündeten Mitte 2023 Moskau und Minsk die Stationierung taktischer Kernwaffen in Belarus, ein Jahr darauf führten sie Übungen zu ihrer Anwendung durch. Im Dezember 2024 machten die beiden ihre Pläne bekannt, in Belarus die neuen russischen Oreschnik-Mittelstreckenraketen aufzustellen. Dem Kreml ging es darum, dem Westen seine Bereitschaft zur weiteren Eskalation zu signalisieren, und Minsk spielte willig als Partner mit.
Manche Aktionen waren eher symbolischer Natur. Etwa das bilaterale Abkommen über Sicherheitsgarantien, das im Dezember 2024 geschlossen wurde. Es berechtigt Russland, im Fall einer Bedrohung von außen Truppen und militärische Anlagen in Belarus zu stationieren, und spannt den Nuklearschirm der Russischen Föderation auch über das Nachbarland. Dieses Dokument brachte weder de jure noch de facto eine Veränderung, weil das alles auch vorher schon möglich war. Doch derartige symbolische Akte erzeugen das Bild einer erstarkenden Sicherheitszone rund um Russland und sind deshalb wichtig für Putin.
Indem er sich da, wo es dem Kreml jetzt am wichtigsten ist, nützlich und loyal gibt, sorgt Lukaschenko für die fortgesetzte wirtschaftliche und sonstige Unterstützung seines Regimes. Moskau hält die günstigen Bedingungen für die Lieferung von Energiereserven nach Belarus aufrecht, verlängert Zahlungsfristen alter Kredite, stellt seine Infrastruktur für den Export sanktionierter belarussischer Produkte wie etwa Kalidünger zur Verfügung. Hierbei verlangt Putin von Lukaschenko keine unbequemen Zugeständnisse wie etwa einen Einsatz der belarussischen Armee an der Front oder, wie Moskau 2020 noch vorschlug, die Schaffung supranationaler Behörden im Staatenbund.
Dieses Verhältnis zu Russland kommt dem belarussischen Regime gelegen. Zumal es in absehbarer Zeit alternativlos ist. Wenn es Moskau also das nächste Mal einfällt, für eine regionale Eskalation belarussisches Territorium zu nutzen, wird sich weder Lukaschenko noch sein Nachfolger schwer entziehen können. Wahrscheinlicher ist, dass die belarussische Führung sich ausrechnet: Durch demonstrative Loyalität in einem kritischen Moment können wir uns das Recht ausbedingen, eine aktive Teilnahme an einem neuen, von Moskau angezettelten Krieg abzulehnen.
(Un)glaubwürdige Leugnung
Im Fall einer neuerlichen Eskalation wird der Kreml bestimmt seine mehrmals erprobte Taktik anwenden und versuchen, sein aggressives Vorgehen als Reaktion auf die Bitte eines Bündnispartners oder seiner Schützlinge darzustellen.
Ob aufgrund seiner eisernen Gesetzestreue oder weil er vor seinen Anhängern nicht als Aggressor dastehen will, Putin sorgt nach Möglichkeit immer dafür, dass der Eskalation eine „Bitte von unten“ vorausgeht. Das war bei der Krim so und beim Beginn des Großangriffs auf die Ukraine sowie bei der Annexion von vier weiteren ukrainischen Regionen. Trotz der immer geringeren Überzeugungskraft solcher Gesten will der Kreml jedes Mal den Anschein erwecken, Einheimische oder regionale Eliten hätten ihn um Hilfe gebeten.
Derselben Logik folgt Moskau auch bei weniger schicksalsschweren Entscheidungen, die Russland und Belarus betreffen. Formal war es Anfang 2022 Lukaschenko gewesen, der russische Truppen zu den Militärmanövern eingeladen hatte, nach denen sie in die Ukraine einmarschierten. Im Herbst desselben Jahres bat er Putin darum, in Belarus eine „Regionaltruppe“ aufzubauen, de facto ein Deckmantel für die Ausbildung der frisch mobilisierten russischen Soldaten und ein Ablenkungsmanöver von der ukrainischen Offensive bei Charkiw und Cherson. Es war auch Lukaschenko selbst, der die übriggebliebenen Wagner-Söldner nach Belarus einlud und um die Aufstellung russischer Kernwaffen und des Raketensystems Oreschnik in seinem Land bat.
Moskau delegiert an Minsk die Rolle des Initiators, um seinen Partner nicht mit der willkürlichen Nutzung seines Territoriums zu demütigen. Damit glaubt Putins heimische Anhängerschaft und vielleicht auch so mancher Putinversteher im Ausland eine Weile lang, dass Moskau nur auf Bitten von Freunden reagiert und nicht selbst die Eskalation provoziert.
Der Status von Belarus als souveränem Staat liefert eine praktische Ausrede, ermöglicht es, die Mitwirkung am ersten Schuss zu leugnen (plausible deniability). Den Gegner überzeugt das natürlich keineswegs, aber die loyale Öffentlichkeit findet das durchaus glaubwürdig.
Verschärfungsszenarien
Überlegungen zu möglichen Szenarien einer neuerlichen militärischen Krise in Osteuropa sind spekulative Gedankenspiele. Einzeln betrachtet ist die Wahrscheinlichkeit, dass eines dieser Szenarien Realität wird, nicht so groß. Doch kann man anhand solcher Erwägungen gut sehen, wie Belarus in diesem Prozess benutzt wird, und es können Wege zur Risikosenkung eingeschätzt werden.
Die geografische Lage von Belarus eröffnet Russland zwei Richtungen für ein aggressives Vorgehen: südlich gegen die Ukraine und westlich gegen die Ostflanke der Nato (Polen, Litauen, Lettland). Jedes Szenario eines ernsthaften Konfliktes erfordert die Beteiligung der russischen Armee, denn den belarussischen Streitkräften mangelt es, vor allem ohne vorangehende Mobilmachung, an Personal, an Erfahrung und an Ausrüstung, um im Alleingang und auf Dauer die Wehrhaftigkeit seiner Nachbarn zu durchbrechen.
Seit 2021 schickt Minsk gezielt Migranten aus Asien und Afrika über die belarussische Grenze in die EU.
Das heißt jedoch nicht, dass Russland das Szenario von Anfang 2022 wiederholen wird – also wieder ein paar Wochen vor der Eskalation mit dem Vorwand von Militärübungen ein riesiges Truppenkontingent in Belarus stationieren wird. Hundertprozentig kann dieses Manöver zwar nicht ausgeschlossen werden, aber seit 2022 ist es so erwartbar, dass Moskau bei jedem Versuch, es zu wiederholen, den Überraschungseffekt verlieren würde.
Jede Überführung Tausender und erst recht Zigtausender russischer Soldaten nach Belarus würde sofort die Aufmerksamkeit der Geheimdienste der Nato-Länder erregen. Die Bündnispartner würden Reaktionen auf Provokationen vorbereiten. Und wenn eine solches Kontingent wie im Januar 2022, noch dazu mit Kriegs- und Pioniertechnik, nach Belarus ziehen würde, dann würde keines der Nachbarländer mehr darauf hoffen, dass der Kreml blufft oder nur mit den Säbeln rasselt.
Bei weniger geradlinigen Eskalationsszenarien geht es um die Einbeziehung russischer Soldaten in ein Geschehen, mit dem man auf angeblich bereits erfolgte Provokationen reagiert. Zum Beispiel auf eine akute Verschärfung der Migrationskrise, die die belarussischen Behörden bereits seit mehreren Jahren in unterschiedlicher Intensität als Druckmittel auf die Nachbarn einsetzen.
Seit 2021 schickt Minsk gezielt Migranten aus Asien und Afrika über die belarussische Grenze in die EU, als Retourkutsche für deren Sanktionen. Lukaschenko hat schon oft erklärt, dass die russischen Grenzbeamten die Migranten durchwinken werden, solange die Sanktionen aufrecht erhalten werden. Die Zahl der illegalen Grenzübertritte ändert sich je nach Jahreszeit und wird manchmal von Minsk direkt beeinflusst. Zu Spitzenzeiten wurden monatlich mehrere Tausend versuchte Übertritte gezählt, während es in den Wintermonaten jeweils nur ein paar Hundert sind.
Im Jahr 2022 strichen einige Fluglinien auf Druck der EU Flugverbindungen zwischen den Herkunftsländern der Migranten und Minsk. Danach versuchten viele Migranten, über Russland die belarussische Grenze zur EU zu erreichen. Das bedeutet, dass russische Geheimdienste wohl an der Koordinierung dieser mehrjährigen Operation beteiligt sind. Das ist wenig überraschend, bedenkt man das ähnliche Vorgehen Russlands in den letzten Jahren an den Grenzen zu Finnland und Norwegen.
Die Sicherheitsbehörden der Nachbarländer von Belarus, vor allem die in Polen, stellen seit den ersten Monaten der Krise fest, dass die Migranten auf jede erdenkliche Weise von belarussischen Sicherheitsbehörden unterstützt werden. Sie wurden zur Grenze gebracht und mit Leitern ausgestattet sowie mit Werkzeugen, um die Grenzbefestigung zu demontieren. Man gab ihnen auch Pflastersteine und Steinschleudern, um europäische Grenzbeamte anzugreifen. Im Mai 2024 kam bei derartigen Zusammenstößen ein polnischer Soldat ums Leben. Daraufhin sorgte Minsk umgehend einige Monate lang für eine Reduzierung des Migrantenstroms.
Russland könnte Belarus erneut an der ukrainischen Front einspannen, insbesondere, indem es versucht, Belarus vollends in den Krieg hineinzuziehen.
In einem Szenario, wenn ein bewaffneter Konflikt provoziert wird, könnten Migranten mit gefährlicheren Waffen ausgestattet werden als nur mit Steinschleudern. So könnten, als Migranten getarnt, Söldner oder Sicherheitskräfte versuchen, die Grenze zu überqueren. Ein daraufhin als Reaktion folgender Einsatz tödlicher Waffen durch das polnische, litauische oder lettische Militär könnte zu Zusammenstößen mit den belarussischen Grenztruppen führen. Eine solche Eskalation könnte wiederum formal als Vorwand dienen, die Nato-Staaten einer Aggression zu beschuldigen und russisches Militär hinzuzuziehen, um „die gemeinsame Grenze des Unionsstaates zu verteidigen“.
Dabei wäre es möglich, dass Minsk vorab nicht über die russischen Pläne informiert wird. In dem Wissen, dass die belarussische Führung sich nicht proaktiv in einen Krieg verwickelt werden will, könnte der Kreml eine Situation schaffen, in der es für Lukaschenko schwierig wäre, sich nicht für Hilfe an Moskau zu wenden. Ein solcher Einsatz von Migranten ist nicht das einzig denkbare Szenario. Zum Beispiel könnte man als ersten Schritt von Litauen fordern, einen breiteren, durch Belarus führenden Festlandskorridor zur Oblast Kaliningrad zu schaffen, falls der Schiffsverkehr über die Ostsee beschränkt würde. Darüber hinaus könnte Russland Belarus erneut an der ukrainischen Front einspannen, insbesondere, indem es versucht, Belarus vollends in den Krieg hineinzuziehen. Das wäre sehr viel einfacher, als einen Zusammenstoß mit der Nato zu provozieren.
Bei diesem Szenario könnte Russland zunächst seine Luftwaffe und seine Raketensysteme nach Belarus zurückverlegen, die 2023/24 abgezogen wurden. Dann könnte der Beschuss der Ukraine von belarussischen Stützpunkten und Fliegerhorsten wieder aufgenommen werden. Diese Angriffe waren im Herbst 2022 eingestellt worden. Kyjiw hat jedoch in letzter Zeit erhebliche Fortschritte bei der Produktion von Raketen und Drohnen mit großer Reichweite gemacht. Dadurch wären belarussische Militärobjekte als Ziel nicht nur rechtens, sondern auch recht einfach zu treffen, verglichen mit den weiter entfernten und besser von der Luftabwehr geschützten Objekten in Zentralrussland.
Im Falle eines systematischen Beschusses aus Belarus, könnte für die ukrainische Führung die Versuchung, diese Gefahr zu beseitigen größer sein als der Wunsch, Belarus nicht in den Krieg hineinzuziehen. Die als Reaktion folgenden ukrainischen Schläge gegen Belarus könnten wiederum Russland mehr Gründe liefern, von Lukaschenko einen Einsatz belarussischer Streitkräfte zu fordern. Das Ziel wäre, den Kriegsschauplatz auf das belarussisch-ukrainische Grenzgebiet auszuweiten und dadurch die Reserven der ukrainischen Streitkräfte auf eine weit längere Front zu verteilen.
Risikomanagement
Schon jetzt ergreifen europäische Länder, insbesondere geografisch Russland nahe gelegene, Maßnahmen, um eine Eskalation unwahrscheinlicher zu machen. Unter anderem erhöhen sie ihre Investitionen in die Rüstungsindustrie, stocken die Personalstärke ihrer Streitkräfte auf, führen wieder Elemente einer Wehrpflicht ein und treffen allgemeine Kriegsvorbereitungen. Sie stationieren in der Nähe der potenziellen Frontgebiete zusätzliche Truppen und befestigen und verminen ihre Grenzen zu Belarus und Russland.
All diese Schritte kommen oft zu spät, sind aber zweifellos notwendig. Sie zielen allerdings nur auf eine Einhegung Russlands ab und vernachlässigen den Faktor Belarus. Eine Wahrnehmung von Belarus, die das Land lediglich als ein Instrument des Kreml ohne eigenen Willen sieht, ist kurzsichtig. Selbstverständlich hat Lukaschenko einigen Anteil daran, dass sein Regime so wahrgenommen wird. Allerdings würde eine Vorstellung, in der sich die Handlungsfähigkeit von Belarus völlig im Willen des Kreml auflöst, das Bild zu sehr vereinfachen. Derzeit denkt kaum jemand über Methoden nach, wie Einfluss auf Minsk genommen werden könnte. Dabei könnte doch das Verhalten von Belarus in einem kritischen Moment eine Krise entweder verschärfen oder aber ein Hindernis für Moskaus Pläne darstellen.
Der Westen sollte auch überlegen, welche Anreize man für Minsk schaffen könnte.
Das Regime in Belarus wird zurecht als Satellit Russlands betrachtet. Es bewahrt sich aber gleichwohl einen eigenen Willen und weiß um seine Interessen. Ein Krieg mit der Nato oder eine Ausweitung des russisch-ukrainischen Krieges auf das Territorium von Belarus stehen diesen Interessen klar entgegen. Seit dem Kriegsbeginn 2022 zeigen alle Umfragen, dass die absolute Mehrheit der Bevölkerung gegen eine Beteiligung an den Kampfhandlungen ist. Eine Entsendung belarussischer Soldaten an die Front in der Ukraine wird von nur drei bis zehn Prozent der Befragten befürwortet. Lukaschenko muss das berücksichtigen, wenn er die innenpolitischen Risiken seiner Entscheidungen abwägt. Selbst für ein autoritäres Regime ist es schwierig, sich an einem Krieg zu beteiligen, wenn die Gesellschaft das kategorisch ablehnt.
Jedes Szenario einer Eskalation, an der Belarus beteiligt ist, würde bedeuten, dass je länger oder beharrlicher Minsk die russischen Anstrengungen sabotiert oder sich weigert, in den Krieg einzutreten, dies stärker den Interessen der regionalen Sicherheit dient. Daher sollte der Westen – ergänzend zu den Maßnahmen zur Einhegung Russlands – auch überlegen, welche Anreize man für Minsk schaffen könnte, damit Belarus in einem kritischen Augenblick sich dennoch als eigenständig handelndes Subjekt erweist.
Zum einen müssen dazu die Kommunikationskanäle nach Minsk erhalten und neue aufgebaut werden, auch zur militärischen Führung des Landes. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die belarussische Seite diese Kanäle aktiviert, um früh vor einer geplanten Provokation oder Eskalation zu warnen. Schließlich besteht der Staatsapparat in Minsk nicht ausschließlich nur aus prorussischen Falken, die ihr Land an einem neuen Kriegsabenteuer des Kreml beteiligen wollen.
Zweitens können die bestehenden diplomatischen Kommunikationskanäle genutzt werden, um Belarus die Konsequenzen klarzumachen, falls Minsk sich voll an einem Krieg gegen die Nato oder die Ukraine beteiligen sollte. Je deutlicher der belarussischen Führung das Risiko einer Zerstörung militärischer oder anderer Objekte – eben nicht nur russischer Truppen oder Anlagen auf belarussischem Territorium – bewusst wird, desto größer ist die Chance, dass Minsk sich einem solchen Szenario widersetzt.
Mit einer Verschärfung der Sanktionen zu drohen, wäre wenig sinnvoll. Das Potenzial des Westens für wirtschaftlichen Druck auf Belarus ist nahezu ausgeschöpft. Eine komplette Handelsblockade an der belarussischen Westgrenze, die auch den Transithandel unterbindet, würde Lukaschenko natürlich empfindlich treffen. Allerdings hat Minsk seine Exporte und Lieferketten in beträchtlichem Maße nach Russland umgeleitet, weswegen eine solche Drohung nicht allzu sehr ins Gewicht fallen dürfte. Insbesondere, wenn die militärischen Forderungen seines wichtigsten Verbündeten dem entgegenstehen.
Drittens ist es wichtig, Belarus nicht aus dem Blick zu verlieren, wenn die Verhandlungen über eine Beendigung des russisch-ukrainischen Krieges einen Punkt erreichen, an dem über Deeskalation und vertrauensbildende Maßnahmen jenseits der Front gesprochen wird. Hier geht es nicht darum, dass Lukaschenko einen Platz am Verhandlungstisch bekommt. Diese Frage ist sehr viel weniger wichtig als die Übereinkommen, die die beiden Seiten in Bezug auf das belarussische Territorium erzielen könnten.
Die unabhängigen belarussischen Medien halten die öffentliche Meinung von einer stärkeren Solidarisierung mit Russland ab.
Bedenkt man die strategisch wichtige Lage von Belarus und den Umstand, dass Russland sie seit 2022 genutzt hat, könnten bei den Verhandlungen Beschränkungen für die Stationierung von ausländischen Truppen, Atomwaffen, weitreichenden Waffensystemen und Militärstützpunkten erörtert werden. Dann sollte man auch die Frage des Umfangs und der Häufigkeit von Manövern ansprechen. Ebenso könnte man sich auf Kontrollmechanismen zur Einhaltung der Vereinbarungen einigen. Neben ihrer Hauptfunktion könnten diese Vereinbarungen für Minsk bedeuten, dass sich zukünftig sein Bewegungsspielraum erweitert. Sie würden Minsk Argumente liefern, um sich Versuchen des Kreml zu entziehen – soweit das möglich ist –, bei einer Verletzung eines zukünftigen Friedensabkommens belarussisches Territorium zu nutzen.
Viertens hat die Unterstützung durch unabhängige belarussische Medien eine militärpolitische Bedeutung. Sie befinden sich zwar im Exil, halten aber die öffentliche Meinung von einer stärkeren Solidarisierung mit Russland ab. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten wirken sie der Kriegspropaganda des Kreml entgegen. Sollten also die unabhängigen belarussischen Medien die Phase der globalen Einsparungen bei der internationalen Medienförderung nicht überleben, würde dies es dem Kreml erleichtern, Minsk in einen Krieg hineinzuziehen.
Die genannten Maßnahmen sind keine Garantie dafür, dass Russland es nicht dennoch gelingt, Belarus in eine erneute militärische Eskalation hineinzuziehen. Diplomatische Signale oder Gelder für eine Bekämpfung der russischen Propaganda in Belarus befreien die europäischen Länder nicht von der Notwendigkeit, in die eigene Verteidigung zu investieren, ihre Grenzen zu befestigen und sich auf die verschiedenen Konfliktszenarien einzustellen.
Allerdings sollte berücksichtigt werden, dass Minsk seine eigenen Interessen verfolgt, die sich von den russischen unterscheiden. Wenn der Westen das ignoriert, verpasst er die Chance, für Moskau zusätzliche Barrieren zu schaffen. Je mehr Barrieren es gibt, desto unwahrscheinlicher wird der Beginn eines neuen großen Krieges.
Bis zu 600.000 Belarussen haben ihre Heimat seit 2020 verlassen, aus Angst vor Verfolgung und Repression. Sie mussten Eltern und Großeltern, Verwandte und Freunde zurücklassen, genau wie ihre Wohnungen und ihr altes Leben. Wie leben die Belarussen in der Zwangsemigration, was denken sie, was bereitet ihnen Sorgen und worauf hoffen sie? Darüber schreibt der Autor Siarhiej Dubaviec in einem Brief an seinen Freund in Minsk, belarussisch ursprünglich Mensk, für das Online-Portal Svaboda.
Gerade noch habe ich vom Winter geschrieben, der uns doch nicht betrogen hat und zurückgekehrt ist – da ist nun Anfang März schon wahrhaftiger Frühling. In meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nicht erlebt. Die globale Erwärmung ist Wirklichkeit. Aber niemand spricht wirklich darüber, niemand schlägt Alarm, dass die Gletscher schmelzen, dass im Marianengraben, wo die Erdkruste am dünnsten ist, der Ozeanboden bebt und die Lava jeden Moment hervorbrechen könnte, was wiederum neue Erdbeben, Tsunamis und Hochwasser nicht nur an extremen Punkten der Erde hervorrufen würde, sondern überall, auch in unseren Breiten.
Unser Nachbar in dem Haus, in dem wir in Vilnius wohnen, hat berechnet, dass auch wir überschwemmt werden, wenn „alles losbricht“. Es sieht zwar auf den ersten Blick so aus, als stände das Haus auf einem Hügel, aber Vilnius selbst liegt in einer Senke. Unser Haus daheim in einem Vorort von Mensk, das wir verlassen mussten, liegt hingegen auf einer Anhöhe, es ist sicher. Doch wir können nicht dorthin zurück, weil wir „Extremisten“ sind. Das ist doch eine Metapher, die es mit Ray Bradbury und seinem Schmetterlingseffekt aufnehmen kann: Da beeinflusst ein „rebellischer” Kühlschrankmagnet das menschliche Schicksal plötzlich stärker als eine globale Katastrophe und das Leben insgesamt.
Im Internet tauschen sich die belarussischen Emigranten darüber aus, was sie machen würden, wenn es in Belarus plötzlich wieder normal und sicher wäre. Natürlich würden sie die Gräber ihrer Verwandten besuchen, an den einstigen Lieblingsorten spazieren gehen, eine Sauftour mit Freunden auf den alten Routen veranstalten – und dann wieder in ihr wahres Leben im Ausland zurückkehren. Ein normales und sicheres Belarus ist in keiner Form in Sicht. Es scheint Hunderte verschiedene Meinungen zu geben, doch niemand will sich wirklich eine Rückkehr nach Belarus vorstellen, und erst recht kaum jemand plant sie schon.
Buchstäblich vor ein paar Tagen erschien, von mir herausgegeben, eine Anthologie über Vilnius in der belarussischen Lyrik des 20. Jahrhunderts. Eine solide Auswahl von Kolas, Kupala, Bahdanowitsch, Shylka, Arsennewa, Tank, Pantschanka, Karatkewitsch, Rasanau, Minkin – die gesamte belarussische Literatur also, voller Liebe für Vilnius, für die Poesie, für das Leben.
Wenn wir das Buch vorstellen, taucht unweigerlich die Frage auf: Warum gibt es ein solches Buch nicht über Mensk? Ich sage dann, dass es unmöglich ist, eine so umfängliche Anthologie über Mensk zusammenzustellen. Weil mit unserem Mensk etwas nicht stimmt. Mensk ist, wie auch unsere Sprache, eine Verwundete. Im Jahr 1939 ersetzten die Bolschewiki den Namen Mensk in der belarussischen Sprache durch Minsk (die polnische Variante, die auch im Russischen so lautet.) Als 1967 zum 900-jährigen Stadtjubiläum ein Buch herausgegeben wurde (kein Lyrikband, aber es waren auch Gedichte enthalten), gab man ihm den Titel Horad i hódy (dt. Stadt und Jahre), mit einem Fehler im Belarussischen. Korrekt wäre Horad i hadý, aber dann würden Russen Horad i hády (dt. Stadt und Scheusale) lesen, was sehr hässlich wäre. Deshalb wurden die Regeln der belarussischen Sprache gebrochen und der Plural „hody“ gebildet. Kurz, sowohl die belarussische Sprache als auch die Stadt Minsk/Mensk wurden bis weit in die Zukunft erniedrigt – als hätte man ihr eine Invalidität diagnostiziert.
Diese Zukunft ist nun da. Ein Gedicht über Mensk, geschrieben in Mensk, gefunden im Internet, sieht heute so aus (den Buchstaben im Titel hat der Autor bewusst weggelassen, um den Gegensatz „Minsk-Mensk“ nicht zu betonen):
Das ist kein Liebesgedicht. Es geht um Angst, Krieg und Tod. Der Dichter spricht aufrichtig. Wahrscheinlich ist das die allgemeine Stimmung, bei denen, die gegangen sind, denen, die geblieben sind. Deshalb gibt es auch keine echte Rückkehr, selbst nicht einmal in Gedanken.
Eine Freundin, die in Vilnius lebt, aber ab und zu nach Mensk fährt, sagt, dass es unser Mensk nicht mehr gibt. Auch die letzten Reste dieses urbanen Geistes, dieser belarussischen Dimension der Stadt, die wir verließen, sind verflogen …
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Übrigens wird auch in Litauen nicht sonderlich viel über den Klimawandel gesprochen. Dafür spricht man über einen möglichen Angriff auf Litauen durch Russland und Belarus. Zum ersten Mal in der Geschichte hören wir diese Wortkombination: „Belarus – Aggressor“. Wir wissen, es ist ein Oxymoron wie „heißer Schnee“, unser Belarus kann einfach kein Aggressor sein. Aber nachdem sie sich 30 Jahre lang Lukaschenkas Drohungen anhören mussten, verstehen das die Litauer möglicherweise nicht.
Ich weiß sogar noch, wie alles begann. Irgendwann Mitte der 1990er Jahre drohte Lukaschenka, die Gülle aus den Hrodnaer Schweinemastanlagen über den Njoman nach Litauen zu leiten. Damals dachte ich: Woher dieser mangelnde Respekt vor den Nachbarn, mitten in Friedenszeiten? Die Schmähungen und Drohungen in Richtung Litauen rissen in den folgenden 30 Jahren nicht ab. Wir wussten, dass es nicht unsere belarussische Respektlosigkeit, sondern nur die des nominellen belarussischen Präsidenten war, tatsächlich eines Moskauer Protegés. Und vor allem war es auch Respektlosigkeit uns, den Belarussen, gegenüber, denn unser Leben war nun nicht mehr friedlich zu nennen. Doch wie sollte das jemand in Litauen verstehen – ob nun Politiker oder ganz normaler Mensch? Zwei Völker lebten über Jahrhunderte friedlich zusammen, und dann wird Belarus plötzlich Aggressor. Gleichzeitig ist das echte Belarus völlig erstarrt oder im Gefängnis …
Bitte entschuldige meine schweren Gedanken, aber so ist es nunmal. Wenn wir Gedanken schwer nennen, gestehen wir damit doch auch ein, dass es leichte Gedanken geben kann.
Ich freue mich auf deinen Brief, voller leichter Gedanken.
2014 versprach Wassil Werameitschyk seiner Familie, für die Verteidigung der Ukraine zu kämpfen, wenn einmal Panzer Richtung Kyjiw rollen sollten. Als 2022 tatsächlich Panzer Richtung Kyjiw rollten, löste er sein Versprechen ein. Als ausgebildeter Soldat schloss sich der Belarusse dem Widerstandskampf der Ukraine an. Dorthin war er geflohen, weil ihm in Belarus die Festnahme drohte. Während der Massenproteste 2020 war er bereits im Gefängnis gelandet.
Heute befindet sich Werameitschyk wieder in belarussischer Haft. Im November 2024 war er in Vietnam verhaftet und den belarussischen Behörden übergeben worden – es ist eine wilde Geschichte mit vielen Fragezeichen, die aber auch zeigt, wie belarussische Freiwillige aus jeglichem Raster herausfallen und zwischen die Fronten geraten können.
Seit der Festnahme setzen sich seine Frau und seine Mutter bei der ukrainischen Führung dafür ein, ihn auf die Listen zum Gefangenenaustausch zu setzen. Das belarussische Online-Portal Euroradio hat mit Werameitschyks Frau Jauhenija gesprochen und erzählt die tragische Geschichte ihres Mannes.
Mitte März wurde in der Ukraine der Tag des Freiwilligen begangen. Zu diesem Anlass wurde dem Kastus Kalinouski-Regiment, in dessen Reihen sich Wassil Werameitschyk an der Verteidigung der Ukraine beteiligte, die Auszeichnung Für eure und unsere Freiheit verliehen – die größte kollektive Auszeichnung der Ukraine.
Fast zeitgleich hielt der Abgeordnete Ihor Hrus eine Rede in der Werchowna Rada. Er wies auf die Notwendigkeit hin, belarussische Kriegsgefangene zu befreien: „Leider gibt es Jungs, die in den ukrainischen Streitkräften gekämpft haben und sich jetzt in Kriegsgefangenschaft befinden. Die müssen wir alle befreien“, sagte Hrus vor dem Parlament.
Abgesehen von Werameitschyk weiß man von zwei weiteren belarussischen Freiwilligen, die Kriegsgefangene sind – aber in Russland: Sergej Degtew (Kampfname Kleschtsch – dt. Zecke) und Jan Djurbejko (alias Trombli). Sie stehen zwar in den Austauschlisten, über ihr Schicksal ist jedoch seit mehr als zwei Jahren nichts bekannt. Seit Werameitschyk im November 2024 in Vietnam verhaftet wurde, klappert seine Frau Jauhenija die ukrainischen Instanzen ab, hat aber bisher auf alle ihre Schreiben nur maschinelle Antworten bekommen. Jetzt schöpft sie allerdings Hoffnung:
„Erstens signalisiert Lukaschenko seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten die Bereitschaft, Kontakt zu den USA aufzunehmen. So gab er dem US-amerikanischen Blogger Mario Naufal ein Interview. Offenbar sieht er in Trump ein würdigeres Gegenüber als in Joe Biden. Zweitens haben wir durch Trumps Zutun bereits die Befreiung von mehreren politischen Gefangenen in Belarus gesehen. Das bedeutet, dass Absprachen möglich sind. Natürlich sind politische Häftlinge etwas anderes als Kriegsgefangene, aber es zeigt doch, dass Lukaschenkos Regime gesprächsbereit ist.
Zudem tauchen in den Medien jetzt die Namen von Belarussen auf, die auf Seiten Russlands gekämpft haben und mittlerweile in ukrainischer Kriegsgefangenschaft sitzen. Manche von denen haben sich sogar schon an Lukaschenko gewandt. Und wir können nun den Austausch dieser Leute gegen jene anbieten, die die Ukraine verteidigt haben. Seit Wassilis Entführung im November haben wir verschiedene Strategien verfolgt. Wir hoffen, dass sich in der Ukraine Leute finden, die uns zuhören und gesprächsbereit sind.“
Werameitschyk hatte auch in der Armee von Belarus gedient
Wir sprachen mit Wassil Werameitschyks ehemaligem Kameraden, den er gleich in den ersten Kriegstagen kennenlernte. Wassili kam damals ins Quartier nach Kyjiw, wo die freiwilligen Kämpfer zwischen ihren Einsätzen untergebracht waren. Werameitschyk hatte früher einmal als Vertragssoldat in den belarussischen Streitkräften gedient, aber vor fast zehn Jahren gekündigt und dann in die IT-Branche gewechselt. Als ehemaliger Offizier konnte Werameitschyk professionell agieren. Er war gut im Organisieren von Abläufen und kannte viele nützliche Tipps – im Unterschied zu vielen anderen, die im Februar 2022 erstmals eine Armee von innen sahen.
„Ein tougher, selbstsicherer Mann mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn. Absolut verlässlich, ich hatte nie Zweifel an ihm. Er setzte sich für Disziplin ein, damit keine Machnowschtschina entsteht, sondern eine ordentliche Militärstruktur“, erzählt sein Kamerad. Ein anderer Kamerad von Werameitschyk, Bobr (dt. Biber) genannt, ließ sich von Wassilis Ausdauer inspirieren und erzählt folgende Erinnerung:
„Ein Bild ist mir geblieben: Wir saßen im Schützengraben in einem Dorf namens Losowa, es wurde geschossen. Wassili ging mal hierhin, mal dahin, kümmerte sich um die anderen, und wenn Geschosse flogen, zog er nur so ein bisschen den Kopf ein. Und dann war da noch ein ukrainischer Offizier, der gar nicht mehr reagierte. Ich war damals begeistert von ihrer Tapferkeit.“
„Leider betrachten viele Ukrainer heute Belarus als Aggressor-Land“
In der Ukraine weiß man, welche Rolle Freiwillige aus Belarus spielen, aber Werameitschyks Fall ist dadurch komplizierter, dass ihm die Rückkehr in die Ukraine verboten wurde. Um der ukrainischen Gesellschaft derart seltsame Umstände zu erklären, brauche es viele Worte und viel Zeit, sagt Jauhenija Werameitschyk.
Nach Wassils Auslieferung an Belarus kursierte im Internet das Gerücht, sein Einreiseverbot in der Ukraine gehe von jener Militäreinheit aus, in der er gedient hat. Doch der Kommandeur des Kalinouski-Regiments, Pawel Schurmei, dementiert diese Gerüchte. Werameitschyk hatte, nachdem er die Ukraine verlassen hatte, versucht, in Litauen Fuß zu fassen, doch dort hielt man ihn für eine „Bedrohung der nationalen Sicherheit“. Vielleicht wegen seiner Vergangenheit als Vertragssoldat der belarussischen Armee, die er bei seinem Antrag auf einen temporären Aufenthaltstitel nicht verheimlicht hatte.
Wassil Werameitschyk bei seiner Ankunft am Flughafen Minsk, nachdem er in Vietnam belarussischen Behörden übergeben worden war. / Screenshot Video ONT
Wegen seiner Probleme mit dem Aufenthaltsrecht in der Ukraine und Litauen reiste Werameitschyk nach Vietnam, wo er schließlich festgenommen und an Minsk ausgeliefert wurde. Seine Frau sagt dazu: „Wassili wurde entführt.“ Bis zum heutigen Tag wisse keiner, wie die Ukraine einen, der sie verteidigt hat, als unerwünscht betrachten könne. „Die Ukrainer verstehen nicht, wieso sie diese Person austauschen sollten, wo sich doch Tausende ihrer Landsleute in Kriegsgefangenschaft befinden. Wir dachten, die Kommandeure seines Regiments könnten bei der Klärung der Situation behilflich sein, wir konnten aber keinen von ihnen erreichen. Daher würden wir uns mit der Bitte um Wassilis Austausch gern an belarussische und ukrainische Menschenrechtsaktivisten und an die Führung der ukrainischen Streitkräfte wenden.“
Das sei wichtig, weil die Ukraine mit diesem Schritt für die gesamte belarussische Freiwilligenbewegung ein Zeichen des Respekts setzen würde.
„Das wäre nicht nur für die Belarussen eine wichtige Botschaft, sondern für die ganze ukrainische Gesellschaft. Leider betrachten viele Ukrainer heute Belarus als Aggressor-Land. Doch an den Freiwilligen sieht man, dass unsere Völker einander nicht fremd sind und die Ukrainer auch in so einer schwierigen Lage auf die Unterstützung der Belarussen zählen können“, sagt Jauhenija Werameitschyk.
Wir sehen, dass er sich nicht unterkriegen lässt
Wassils Briefe an seine Frau müssen durch die Zensur – dann ist etliches darin geschwärzt, aber sie kommen immerhin an. „Wir schreiben nicht oft, doch wir schreiben uns. Wir haben natürlich keine Möglichkeit, politische Themen zu besprechen, aber an diesen Briefen sehen wir, dass er sich nicht unterkriegen lässt“, erzählt Jewgenija.
Wassils Angehörige hoffen, dass er durchhält, bis die Ukraine sich endlich genauso für ihn einsetzt wie er sich für sie.
Taciana Niadbaj, 1982 in Polazk geboren, ist eine belarussische Lyrikerin und Übersetzerin. 2014 debütierte sie mit dem Gedichtband Sirenen singen Jazz (belarus. Sireny spjawajuz dshas), für den sie mit dem Maxim Bahdanowitsch-Preis ausgezeichnet wurde. Der Einsatz für Menschenrechte und die belarusische Kultur ist immanenter Teil ihres Lebens und Schaffens, genau wie die Auseinandersetzung mit den Folgen russischer imperialer Politik für ihre Heimat. Aktuell steht Taciana Niadbaj dem PEN Belarus als Präsidentin vor, der mit Verfolgung und Repressionen aus dem Land getrieben wurde. Auch sie selbst musste ihre Heimat verlassen und lebt nun in Polen.
In ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft geht sie der Frage nach, was die belarusische Identität für sie und ihr Leben bedeutet und was getan werden kann, um die belarusische Kultur für die Zukunft zu erhalten.
In diesem Text versuche ich zu verstehen, was mich zu der gemacht hat, die ich heute bin. Ich möchte nachvollziehen, woher dieses Gefühl des Belarusischseins kommt, wie es mich trägt und mich vorwärtskommen lässt. Nicht zuletzt möchte ich in meinen Erfahrungen Elemente ausmachen, die anderen bei der Suche und Entfaltung ihrer Identität helfen können. Es sind nicht nur Überlegungen, sondern der Versuch, etwas Größeres zu finden, das für den Aufbau der Kultur und Bildung der Zukunft inspiriert.
Anthropologische Grabungen im Gedächtnis: Der Ursprung
Wenn ich höre, unsere Gesellschaft sei durch und durch russifiziert und alles sei „verloren“, weise ich darauf hin, dass auch ich nicht zwangsläufig hätte Belarusin werden müssen. Ich wuchs nicht in einer belarusischsprachigen Familie auf, wusste unerhört wenig über die Geschichte des Landes, meine Familie pflegte keine explizit belarusischen Traditionen. Man hätte mich ohne Not eine Mankurtin und Renegatin nennen können – und einen Schlussstrich setzen. Was hat mich also zur Belarusin gemacht? Was nährte in meiner Kindheit und Jugend in mir ein Gefühl des Belarusischseins?
In der fünften Klasse wurden an meiner Schule zwei Klassen mit Belarusisch als Unterrichtssprache gebildet – die c und die d. Die Klassen a und b blieben russischsprachig. Ich erinnere mich kaum an die damaligen Diskussionen in der Familie, mit den Kindern wurde ohnehin nichts besprochen, aber aus den herumfliegenden Argumenten blieb bei mir hängen, dass man mit einem solchen Schulabschluss nicht an der Universität studieren könne, da es keine Universitäten mit Belarusisch als Unterrichtssprache gab.
Überhaupt kann ich mich nicht entsinnen, dass in unserer Familie über Nationalitäten gesprochen wurde. Wie fern mir dieses Konzept lag, zeigte sich gleich in mehreren Situationen.
In der Musikschule wurde ich einmal gefragt (es musste wohl in einem Formular eingetragen werden), welche Nationalität ich habe. Ich war verwirrt – ich wusste die Antwort nicht.
Die zweite Situation trug sich in der Sonntagsschule zu, die meine Klassenkameraden besuchten. Sie hatten mich eingeladen mitzukommen: Man lernte eine Sprache (Hebräisch, warum auch nicht), Tänze und Lieder. Manchmal wurde ich dort gefragt, ob es in meiner Familie Juden gäbe, und ich verneinte unsicher. Bei der Aufführung zum Purim-Fest gab man mir die Rolle des Haman: Im entscheidenden Moment musste ich betrunken wirken und mit dem Gesicht in den Salat fallen. Ich erfüllte den Auftrag gewissenhaft, obwohl ich die Bedeutung dieser Szene damals nicht verstand. Erst Jahre später wurde mir die Komik der Situation bewusst.
Nationalität war für mich lange Zeit keine Kategorie von Bedeutung.
Gleichzeitig drängte das Nationale aus den Lehrbüchern für belarusische Literatur ungestüm in den Raum. Und überzeugte nicht. Man hatte das Gefühl, es sei salonfähig und korrekt, Belarus zu lieben … Die 1990er waren voll mit der Rhetorik von „Wiedergeburt“ und „bewussten Belarusen“, aber das fand keine Resonanz. Das aus den Narrativen der Literaturlehrpläne hervorschwellende Pathos, „das harte Leid des Bauern“ und „die Arbeit auf der Scholle“, war mir fremd. Die erhabenen Worte von der Heimat flogen hoch oben vorbei, setzten sich kurz – wie Zugvögel auf Stromleitungen – auf die Zeilen der Schulaufsätze, nur um sofort wieder aus dem Blick zu verschwinden, sobald eine gute Note erteilt worden war. Dann kam die Zeit der Rebellion, in der wir unsere Lehrer fragten: Warum ist Belarusisch unsere Muttersprache, wo wir doch unsere ersten Worte auf Russisch gesagt haben? Die Schule bewirkte also eher eine Ablehnung des Belarusischen.
Wie bereits erwähnt, gab mir auch meine Familie keinen Rahmen für die Herausbildung einer nationalen Identität vor, obwohl in den Pässen meiner Eltern (und auch ihrer Eltern) formal eine Nationalität eingetragen war – Russen und Ukrainer. Weiter östlich als Brjansk und Smolensk sind meine Vorfahren meines Wissens aber nie gekommen. Die Situation mit den ukrainischen Verwandten ist klarer (sie waren auf ukrainischem Territorium verwurzelt), die „Russischen“ bleiben – für mich jedenfalls – ein Rätsel.
Ich bin indes in Polazk geboren. Diese Stadt lockt und leitet einen natürlich in ein spezielles Koordinatensystem, aber mein Lokalpatriotismus war nicht sonderlich mit der nationalen Identität verbunden. Wenn ich ehrlich mit mir bin, dann weiß ich: Weder der geografische Geburtsort meiner Vorfahren noch mein eigener haben große Bedeutung, solange ich sie ihnen nicht selbst gebe. Zudem gibt es genügend Beweise für das Gegenteil: Menschen, die „hier geboren“ sind, können sich als Subjekte anderer Ideen und Projekte betrachten.
Nichts schien also auf meine belarusische Vorbestimmung hinzudeuten – weder die Familie, noch die Schule, noch der Geist der ersten Hälfte der 1990er und die Belarusifizierung. Und doch wählte ich Ende der 1990er (als es schon gar nicht mehr im Trend lag) ganz bewusst das Belarusische.
Belarusischsein als bewusste Entscheidung
Irgendwann habe ich einmal gesagt, dass mich die Freundschaft zu Belarus gebracht hat. Das ist einerseits wahr, andererseits auch eine gewisse Vereinfachung: Menschen kommen und gehen, und die Ideen, die mit ihnen verbunden sind, müssen sich nicht festsetzen. Es braucht auch eine Umgebung, die dich mit ihrer Metaphysik verführt, mit der du dich identifizieren willst, sie ist fraglos der Nährboden, der – wie in Maxim Bahdanowitschs Sonett – die „Lebenskraft spendet, die Ähren üppig sprießen lässt“, bis es schließlich schon „kein Halten mehr gibt“. Es ist wie an Heiligabend, wenn die Weihnachtssänger an dein Fenster klopfen, du mit ihnen gehst und mit jeder einzelnen Pore die Magie spürst. Als würde man Mietwohnungen, Hostels und Hotelzimmer endlich gegen einen konkreten Ort eintauschen, an dem man sich nicht nur zu Hause fühlt, sondern auch verantwortlich für die Ordnung (oder eben Unordnung), zu der man als Subjekt und Eigentümerin mit den eigenen Händen beiträgt. Die belarusische Identität entbrennt in dir wie ein Stern, zusammen mit diesem Gefühl der Verantwortung – für das Getane und das Nicht-Getane.
Mit dieser Entscheidung zu leben ist dann gar nicht so einfach. Du kommst an einen Punkt, an dem du dieses Belarusischsein einfach als stabilen und wichtigen Teil deiner Identität haben willst – nicht als Flagge oder Transparent, und schon gar nicht als etwas, das verteidigt werden muss (für das Eigene einzustehen ist nicht schlimm – aber warum muss man dieses Recht denn erst erkämpfen, kann man nicht einfach sein, wer man will?). Du willst deine Sprache einfach als Kommunikationsmittel nutzen, ohne in der Kleinstadt zu einer Figur zu werden, der immer irgendjemand sagt, „wie schön du Belarusisch sprichst“, ein anderer wiederum sagt „sprich normal“, und noch ein anderer deine Fehler korrigiert und dir rät, erst einmal die Sprache richtig zu lernen, bevor du beginnst sie zu sprechen. Ich träume davon, dass eine Zeit kommt, in der Belarusisch auf unseren Straßen kein Aufsehen mehr erregt.
Weiter oben habe ich mir närrische Aussagen über das Pathos der belarusischen Literatur erlaubt – heute weiß ich natürlich, dass die Menschen für die Möglichkeit, Belarusen sein zu können, gestorben sind. Heute schätze und ehre ich die Erfahrung und die Errungenschaften der vorangegangenen Generationen, als deren Fortführung ich mich verstehe. Aber ich weiß auch, dass mich nicht der Lehrplan für belarusische Literatur (in dem genügend ehrenvolle Autoren und Werke vertreten sind) zu dieser Erkenntnis gebracht hat, sondern Freunde, Mitstreiter und Kollegen, die eine Matrix geschaffen haben. Schließt man sich ihr an, begreift man auch das unansehnliche schulische Literaturprogramm als etwas Eigenes, ebenso wie das, was nicht darin vorkommt. Man lernt dazu, begeistert sich und aktiviert in sich diese Möglichkeit – Belarusin zu sein. Du wirst Teil dessen, was vor dir da war, was es dir ermöglicht hat, heute so zu sein, wie du bist, und es das Eigene zu nennen. Du beginnst, in diesem Spiegel dein Abbild zu sehen, das du vorher nicht wahrgenommen hast.
Wir registrieren aktuell eine hohe Zahl an Verletzungen der kulturellen Rechte: die Vernichtung der belarusischen Kultur, die Einengung des Raumes, in dem die belarusische Sprache genutzt werden kann, sogar zusätzliche Repressionen und Folter für Belarusischsprechende. Dieser Zustand ist furchtbar und inakzeptabel. Aber ich blicke optimistisch in die Zukunft und bin sicher, dass wir auch unter den heutigen, ungünstigen Bedingungen überleben werden. Nicht nur deshalb, weil man uns bislang nicht erschießt (das könnte ein trauriger Witz sein, würden in den Gefängnissen nicht unsere Mitstreiter an den Repressionen sterben). Unsere Sache mag manchmal hoffnungslos erscheinen, aber tatsächlich sollten wir sie als Erfahrung der Unzerstörbarkeit und des unwahrscheinlichen Überlebens betrachten: Es scheint uns nicht zu geben, und doch – hier sind wir. Was uns nicht tötet, macht uns unsterblich.
Von Zeit zu Zeit beginnt ein neuer Zyklus, neue Anhänger kommen dazu. Diese Anfangszeit des Belarusischseins hat ohne Frage auch Nachteile: Wo man sich auf die Erfahrung der Vorgänger hätte stützen und das Wachstum schon auf einer bestimmten Höhe fortführen könnte, begreifen sich die Neulinge als Indexpatienten und beschreiten den Weg von Anfang an, holen sich Beulen, die mit dem Wissen der Vorgänger hätten vermieden werden können. Andererseits hat auch das Vorteile: Die Gewissheit verleiht der Entscheidung Sinn, stärkt die Beharrlichkeit. Nichts von den Niederlagen und Misserfolgen zu wissen, befördert Mut und Kühnheit – und das ist sehr hilfreich für das Fortkommen der Bewegung (vor allem, nicht zu denken, die Situation sei kompliziert und aussichtslos).
Wenn ich sage, dass das Belarusischsein unter unseren Gegebenheiten oft eine bewusste Entscheidung ist, erzähle ich gern die Geschichte von den Volkszählungen. Im Jahr 2019 bezeichneten 54 Prozent das Belarusische als ihre Muttersprache, 26 Prozent gaben an, Belarusisch zu sprechen (zum Vergleich: bei den Erhebungen 1999 und 2009 nannten 73 Prozent resp. 53 Prozent Belarusisch ihre Muttersprache, und 37 Prozent resp. 23 Prozent gaben an, Belarusisch zu sprechen). Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass 2019 jeder Vierte in unserem Land Belarusisch gesprochen hat – wenn es doch nur so wäre! Aber ich kann mir gut vorstellen, wie diese Konstruktion der Wirklichkeit zustande kommt: Die bewusst gewählten Antworten bei der Volkszählung sind Ausdruck der zivilgesellschaftlichen Position, eine Erklärung urbi et orbi, worauf es ankommt.
Wenn ich von der Aussichtslosigkeit der Sache spreche, weise ich darauf hin, dass 2020 nicht aus heiterem Himmel geschah, es wäre nicht möglich gewesen ohne die stete Vorarbeit der Zivilgesellschaft, darunter auch der kulturellen Projekte und Initiativen (selbst wenn die Neulinge von 2020 den Eindruck haben mögen, dass vorher alles falsch gemacht wurde). Ich erinnere mich gut an die Aktionen für Unabhängigkeit Ende 2019, als einige Dutzend Menschen mit weiß-rot-weißen Fahnen durch Minsk zogen. Ich erinnere mich an den Unwillen der demokratischen Kandidaten bei der Präsidentschaftswahl 2020, die weiß-rot-weiße Flagge zu benutzen. Und ich erinnere mich an den 16. August 2020, als ganz Minsk in Weiß-rot-weiß erstrahlte. Was das Regime heute mit unserer Flagge (und ihren Anhängern) macht, verstärkt nur das symbolische Gewicht und die Bedeutung der Flagge in der Zukunft. Bis dahin werden wir unsere tägliche Arbeit weiterführen.
Mein persönlicher Weg zur belarusischen Identität zeigt, wie wichtig es ist, Bedingungen zu schaffen, unter denen Menschen diese Entscheidung bewusst und rational treffen, und sie dann auch beibehalten und festigen können.
Oft ergeben sich Diskussionen darüber, ob die Belarusifizierung in den 1990ern erzwungen war – oder ob das nur ein Mythos ist, der zur Abschreckung dient. Ohne Gespräche darüber fallen auch Überlegungen schwer, wie die Zukunft aussehen könnte, wenn in Belarus demokratische Änderungen anstehen. Die Geschichte von der weiß-rot-weißen Flagge beweist meiner Ansicht nach eines: Der Staat muss einfach nur die Zügel lockern und nicht eingreifen – dann richtet sich alles mit der Zeit von selbst ein.
Die Förderung und Entwicklung der belarusischen Kultur muss natürlich auch durch die staatliche Politik erfolgen, und so denke ich mit Schrecken an unser Bildungssystem und die Ideologisierung der Kultursphäre. Ich vertraue nur in geringem Maße auf die Fähigkeit der aktuellen Beamten im Bildungs- und Kulturbereich, attraktive Lehrpläne gestalten zu können, die die Schülerinnen und Schüler nicht von der nationalen Kultur abschrecken. Das Problem liegt nicht darin, dass es keine entsprechenden Materialien gäbe (die gibt es), sondern in der Verknöcherung des Behördendenkens und überhaupt im niedrigen Niveau der humanistischen Bildung, das nicht so schnell zu beheben sein wird.
Als Ausweg für die Zukunft – auf diese Weise wird kein Zwang notwendig sein – sehe ich die finanzielle Unterstützung (Projektförderung) unabhängiger Kultur- und Bildungsinitiativen durch den Staat. Der Kulturhaushalt sollte also weniger in die Programme des Kultusministeriums fließen, sondern stärker an nichtstaatliche Initiativen gehen, denen es auch vor 2020 den Bedingungen zum Trotz gelang, das Feld der belarusischen Kultur reichhaltig, spannend, attraktiv und inspirierend für alle zu gestalten, die sich dieser Matrix anschließen wollten. Meiner Ansicht nach sollten dabei Projekte priorisiert werden, die auf die Bildung von Gemeinschaft und horizontalen Netzwerken abzielen und eine starke Werteorientierung aufweisen.
Zwei Beispiele
Ich möchte an dieser Stelle zwei positive Beispiele beschreiben, die konkret für meine persönliche und professionelle Entwicklung und meine Integration in die Berufswelt nicht weniger wichtig waren als die schulische und universitäre Bildung: Im Bereich der Literatur waren das die Werkstätten (Wettbewerbe) für junge Literaten. Im Bereich der Menschenrechtsarbeit – und weiter gefasst, eines Ansatzes, der auf den Menschenrechten als handlungsleitender Maxime beruht – war es die Belarusische Menschenrechtsschule. Ich bin überzeugt, dass viele, die heute eine zentrale Rolle in der belarusischen Bewegung spielen, ähnliche Seminare, Kurse und Projekte nennen können, die sie in den Orbit zogen und Wachstum und Aktivität ermöglichten. Ich beschreibe hier also zwei Beispiele unter vielen, weil sie für mich persönlich eine Schlüsselrolle spielten.
Die Wettbewerbe für junge Literaten waren drei- bis fünftägige Werkstätten, die der PEN Belarus zwischen 2000 und 2010 ausrichtete. Man stelle sich vor: Aus dem ganzen Land kamen zwei Dutzend junge Autoren und Autorinnen zusammen, die einander in der Regel noch nicht kannten und die älteren Kollegen auch nur vom Namen her. Für ein paar Tage vertiefen sich diese zwanzig Anfänger und die Riege der Meister völlig in die Literatur – Lyrik, Prosa, Übersetzung. Sie besprechen die vorab geschriebenen und für den Wettbewerb eingereichten Werke, geben einander praktische Ratschläge, es gibt Vorträge über Literaturgeschichte und die aktuelle Situation, es werden praktische Aufgaben gestellt, deren Ergebnisse ebenfalls präsentiert und diskutiert werden. Dieser Cocktail (andere Cocktails gibt es übrigens auch) gemischt mit dem informellen Austausch an den Abenden bis zum Morgengrauen, gibt nicht nur einen riesigen Schaffensimpuls, sondern integriert die Nachwuchsautoren auch in die literarischen Kreise, macht sie miteinander bekannt, schafft kreative, professionelle und freundschaftliche Verbindungen. Ich glaube, es ist vergleichbar mit einer Gruppe Absolventen einer guten Universität nach Jahren des gemeinsamen, anspruchsvollen Studiums.
Die Belarusische Menschenrechtsschule ist eine seit 2006 bestehende Bildungs- und Aufklärungsinitiative. Sie legt ein Wertefundament und vermittelt praktisches Wissen im Bereich der Menschenrechte. Mehrere Stufen der Ausbildung – Anfänger bis Fortgeschrittene – fördern mit einem Mix aus verschiedenen Formaten und Methoden, den Grundbestandteilen des nonformalen Lernens und der Kommunikation, nicht nur die Bildung der Teilnehmenden, sondern auch die Integration neuer Aktivisten und Aktivistinnen in die Zivilgesellschaft, ihr Kennenlernen untereinander und den Austausch mit erfahrenen Menschenrechtsaktivisten und Experten. Das Programm beruht auf einer soliden Wertebasis, vermittelt Wissen, das mit einem praxisorientierten Ansatz auf Schutz und Verteidigung der Rechte abzielt. Die Experten der Schule sind Vertreter der wichtigsten belarusischen Menschenrechtsorganisationen, was das Projekt und seine Erfolge zu einer gemeinschaftlichen Errungenschaft macht. Der menschenrechtsbasierte Ansatz ist nicht nur für Menschenrechtsschützer verpflichtend, sondern muss allen demokratisch orientierten Aktivitäten zugrunde liegen. Die Absolvent:innen dieser Intensivkurse werden also zu Trägern von Wissen, Kompetenzen und eines Wertegerüstes, die in allen Bereichen des gesellschaftlichen Engagements nützlich sind.
Ich denke, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass meine Tätigkeit beim PEN Belarus heute in weiten Teilen der Teilnahme an den PEN-Seminaren für Literaten zu verdanken ist. Die Menschenrechtsschule gab mir einen starken Start in die Arbeit als Menschenrechtsaktivistin. Die zukünftige Kultur- und Bildungspolitik muss daher meiner Überzeugung nach auf die Unterstützung solcher Projekte hinarbeiten, um Interesse für die belarusische Kultur zu wecken und ein menschenrechtsbasiertes Wertegerüst für jede Form des Engagements zu schaffen. Bis dahin müssen diese und andere Initiativen für die belarusische Zivilgesellschaft mit Unterstützung externer Geldgeber aufrechterhalten werden.
Schlussbetrachtung
Natürlich gibt es Familien, in denen die Kinder von Geburt an mit dem Belarusischsein aufwachsen, aber das ist nicht der einzige Weg. Wenn man keine belarusischsprachige Familie hat, kann das Umfeld die Möglichkeit geben, bezüglich der Sprache eine Entscheidung zu treffen, sie beizubehalten und auszubauen. Belarusischsein – das ist nicht nur etwas, das weitergegeben wird, sondern auch etwas, das bewusst gewählt wird, um Teil von etwas Größerem als man selbst zu sein. Es ist eine Entscheidung, die die Zukunft prägt.
Jeder neue Mensch, der das Belarusischsein wählt, macht sich zum Teil einer großen Geschichte, die auch unter den schwierigsten Bedingungen nicht abbricht. Diese Entscheidung kann er aber nur treffen, wenn es Unterstützung und Nährboden für Wachstum und Entwicklung gibt. Wir schaffen diesen Boden durch unsere tägliche Arbeit: durch Kultur, Bildung, Gemeinschaft. Diese Arbeit geschieht vielleicht unauffällig, aber sie sichert eine Zukunft, in der das Belarusischsein keine Ausnahme mehr sein wird, sondern die Norm.
Belarusischsein bedeutet heute nicht nur eine Entscheidung, sondern auch eine Verantwortung. Dafür, dass das vor uns Erreichte nicht verlorengeht, dass unsere Bemühungen zum Fundament für die nachfolgenden Generationen werden. Belarusischsein – das ist wie ein Feuer, das man nicht nur entzünden, sondern auch weitergeben muss. Und es ist kein Feuer der Auflehnung, sondern des Aufbaus, das selbst dann noch brennen wird, wenn ringsum nur noch Dunkelheit zu herrschen scheint.
Stark können wir nur zusammen werden. Belarusischsein ist keine Sache einer Einzelperson, sondern die einer Gemeinschaft, die den Menschen hilft, sich in dieser Welt zu finden. Wir brauchen einander, die Unterstützung und die Mitarbeit, damit jedes Jahr mehr Menschen fühlen, dass Belarus nicht nur ein Land ist, sondern ein Zuhause, das wir alle gemeinsam bauen.
Die aktuellen Rahmenbedingungen mögen ungünstig erscheinen, aber ich glaube daran, dass die Zukunft der belarusischen Kultur von uns abhängt. Von unserer Fähigkeit zu träumen, zu arbeiten und uns treu zu bleiben. Die Geschichte hat mehr als nur einmal gezeigt: Was wahrhaftig und lebendig ist, findet immer einen Weg zu bestehen. Und so wird Belarus seinen Weg finden, dank uns und allen, die nach uns kommen werden.
Anmerkung der Redaktion
Weißrussland oder Belarus? Belarusisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
Die Stirn ist blutverschmiert, Blut läuft aus einer Wunde am Ohr den Hals herab. „Was ist passiert, was mache ich hier“, scheint der Blick der jungen Frau zu sagen. Am ersten Tag der Massenproteste von 2020 wurde die damals 19-jährige Maryja Saizawa durch Splitter einer Blendgranate getroffen, die das belarussische OMON gegen die Demonstranten einsetzte. Das Foto von der verletzten Maryja wurde zum Symbol für die Proteste in Belarus. Dieser Tag veränderte das Leben der jungen Studentin so sehr, dass sie sich schließlich auch dem Kampf der Ukraine anschloss. Anfang 2025 verlor sie ihr Leben.
Was bringt eine junge Frau dazu, in den Krieg zu ziehen und letztlich ihr Leben aufs Spiel zu setzen? Die Redaktion des TV-Senders Nastojaschtscheje Wremja erzählt die Geschichte von Maryja Saizawa, deren Schicksal Belarussen und Ukrainer gleichermaßen bewegt.
Am 9. August 2020 wurde die damals 19-jährige Maryja Saizawa durch Gummigeschosse und Splitter einer Blendgranate verletzt. Sie war nach Minsk gekommen, um zu protestieren. Das Foto der jungen Frau ging durch zahlreiche belarussische und internationale Medien.
„Ich bereue nicht, dass ich zu den Protesten nach Minsk gefahren bin, wenigstens habe ich versucht, etwas zu tun. Und ich hoffe sehr, dass alle erbrachten Opfer – meine und die der anderen – nicht umsonst waren. Was da auf den Straßen passiert, hilft mir wirklich, nicht den Kampfgeist zu verlieren“, sagte Saizawa in einem Interview, das sie der belarussischen Redaktion von Radio Svaboda noch im Krankenhaus gab.
Unter anderem wurde bei ihr ein gerissenes Trommelfell, eine Dislokation des Innenohrs und eine Fraktur des seitlichen Stirnbeins diagnostiziert. Noch in Belarus wurde Maryja mehrfach operiert, bevor sie mithilfe des medizinischen Hilfsprogramms Medevac nach Tschechien überführt werden konnte.
„Bis zu unserem Treffen in Tschechien wusste ich nicht, dass Maryja das Mädchen auf dem Foto war“, erzählt die Koordinatorin des Programms und Leiterin des Büros der belarussischen demokratischen Kräfte in Tschechien, Kryszina Schyjanok. Im Laufe der Behandlung freundeten sich die beiden Frauen an. „Trotz Maryjas Alter – damals war sie 20 – nahm ich den Altersunterschied kaum wahr. Sie war eine sehr reife Persönlichkeit“, berichtet Schyjanok.
In ihrem Antrag auf Hilfe zählte Maryja eine lange Liste von Verletzungen auf und schrieb, dass sie eine weitere Operation am Ohr benötige. Leider konnte ihr Gehör jedoch nicht mehr wiederhergestellt werden. Maryja blieb auf ihrem rechten Ohr fast taub.
„Es war frustrierend, dass die Ärzte mein Ohr nicht retten konnten, obwohl sie es versprochen hatten. Ich musste einsehen, dass ich etwas geopfert hatte, das ich nie mehr zurückbekommen würde. Jetzt habe ich gelernt, damit zu leben. Ich habe nie ein Hörgerät bekommen. Ich wollte wissen, wie sich mein Ohr erholt. Sehr tiefe oder sehr hohe Töne kann ich hören“, erzählte Maryja.
Ihre Angehörigen erinnern sich, wie schlimm der Verlust des Gehörs für Maryja war: „Musik war ein wichtiger Teil von Maschas Leben“, sagt Lana, eine enge Freundin. „Es ist den Wenigsten aufgefallen, aber auf dem Foto von den Protesten trägt Mascha ein T-Shirt von Guns N’ Roses. Später hat ihr ein junger Mann aus der Slowakei, der die Belarussen 2020 aktiv unterstützte, ein Ticket für ein Konzert von ihnen geschenkt. Er wollte Mascha einfach irgendwie helfen“, erzählt Kryszina. „Leider konnten sie sich nicht mehr kennenlernen.“
Maryja meldete sich beim Kastus-Kalinouski-Regiment
Nach der Überführung aus Belarus blieb Maryja Saizawa in Tschechien, wo sie Sprachkurse besuchte und sich auf die Aufnahmeprüfungen an der Universität vorbereitete. Parallel gab sie Interviews und erzählte Journalisten ihre Geschichte. „Das Thema Belarus war in aller Munde, und sie wollte der Sache dienen, so gut sie konnte“, erinnert sich Lana. „Aber irgendwann war sie es leid, alles zum millionsten Mal zu erzählen. Zumal sie kein Ergebnis sehen konnte.“
Nach der vollumfänglichen Invasion Russlands in die Ukraine 2022 verschrieb sich Maryja mit Haut und Haar der Flüchtlingshilfe in Tschechien. Aber es war hart, mit den Ereignissen fertigzuwerden: Einige ihrer Freunde, die ebenfalls von Belarus nach Tschechien gekommen waren, entschlossen sich, an die Front zu gehen.
Einer von ihnen war Timur Mizkewitsch. Der damals 16-jährige Timur war 2020 nach Tschechien gebracht worden, nachdem er während der Massenproteste von den Silowiki geschlagen und gefoltert worden war. Seine Verletzungen waren so gravierend, dass er ins Koma fiel. Während er im Koma lag, starb seine Mutter, und Timur blieb als Waise zurück. Kurz nach seinem 18. Geburtstag beschloss Timur, sich der ukrainischen Armee anzuschließen.
„Ich weiß noch, wie Mascha und ich bei Timur zu Hause sitzen, und er fängt an, seine Sachen zu packen. Ich versuchte, ihn aufzuhalten. Aber als ich seinen Blick sah, wusste ich, dass ihn nichts und niemand davon abbringen würde. Hier gab es nichts, was ihn hielt“, erinnert sich Lana.
Kurz nach Timurs Abreise fasste auch Maryja den Entschluss, an die Front zu gehen. Sie wollte etwas tun, dass sie einer Rückkehr nach Belarus näherbringen würde. Ihren Freunden zufolge hatte Maryja sich zwar gut in die tschechische Gesellschaft integriert, aber wirklich zugehörig habe sie sich nie gefühlt. Die Freiheit ihres Landes war für sie verbunden mit der Freiheit der Ukraine. „Auf Seiten der Ukrainischen Armee zu kämpfen war für Mascha ein Weg, für ein unabhängiges Belarus zu kämpfen“, sagt Schyjanok.
Maryja meldete sich beim Kastus-Kalinouski-Regiment, in dem Belarussen auf der Seite der Ukrainischen Armee kämpfen. Einige Zeit später wurde sie aufgenommen. „Ich flehte sie an, nicht zu gehen, ich bekniete sie buchstäblich. Ich aktivierte ihre Freunde, wir versuchten alle, sie davon abzubringen“, sagt Lana. Aber alle Versuche liefen ins Leere. Im Frühjahr 2023 verabschiedeten ihre Freunde Maryja an die Front.
Bei ihrer Ankunft in der Ukraine wurde Maryja Saizawa der 2. Internationalen Legion der Territorialverteidigung zugeteilt. Noch in Belarus hatte Maryja Vetrinärmedizin studiert. Aufgrund ihrer medizinischen Kenntnisse schickten ihre Vorgesetzten sie zunächst zum Dienst in eine Sanitätsstation. Später war sie für die Evakuierung von Kämpfern von der Frontlinie zuständig. Wie einer der Kommandeure dem belarussischen Radio Svaboda erzählte, übersetzte Maryja auch für andere ausländische Soldaten.
Während erbitterter Kämpfe, wenn es an der Frontlinie an medizinischem Personal mangelte, leistete sie freiwillig Hilfe in den Schützengräben, berichten Maryjas Dienstgenossen. Ruslan Miroschnytschenko, der ehemalige Kommandeur der Einheit, in der Saizawa gedient hatte, erinnert sich, dass es sie immer dorthin zog, wo „es brennt”. „Sie hat so manches Leben gerettet“, sagt Miroschnytschenko.
Ein anderer Kommandeur, Maryjas Mitstreiter Ruslan Romaschnytschenko, erinnerte sich in einem Interview mit der Deutschen Welle, dass sie trotz ihres jungen Alters und der gefährlichen Lage auf dem Schlachtfeld immer die Ruhe bewahrte. „Was mich erstaunte, war ihre Entschlossenheit und ihr Fokus bei der Arbeit, ihr Wissensdurst, ihr ausgeglichener Charakter. Äußerlich wirkte sie wie ein Fels: ruhig, kühl. Gleichzeitig war sie ein sehr offener und wohlmeinender Mensch“, erzählt er.
Dann wurde sie verletzt: Eine Leuchtrakete explodierte in ihrer linken Hand. Sie erlitt schwere Verbrennungen, mehrere Knochen in ihrem Handgelenk waren zertrümmert. Aufgrund der Verwundung kehrte Maryja Saizawa zur Behandlung und Reha nach Tschechien zurück. Aber sie wollte nicht zurück in ihr altes Leben, erinnern sich ihre Freunde. Bald erklärte sie, dass sie wieder an die Front will. Kryszina Schyjanok versuchte mit allen Kräften, ihre Freundin davon abzuhalten: Sie vermittelte ihr eine Arbeitsstelle in Prag, die ihr erlaubt hätte, die Ukraine weiterhin aus der Ferne zu unterstützen. Aber Maryja wollte nichts davon wissen.
„Sie schrieb mir: ‚Was sollen sie ohne mich? Man wird sie alle erschießen.‘ Ich versuchte ihr zu erklären: ‚Du kannst diese Verantwortung nicht auf dich nehmen‘“, erinnert sich Kryszina. „Sie litt seit Belarus eindeutig unter PTBS, jetzt kam noch das Trauma aus der Ukraine hinzu. Du fährst weg vom Krieg und nimmst den Krieg mit. Hier muss man sich auch fragen, ob sie ohne die traumatische Erfahrung in Belarus überhaupt an die Front gegangen wäre.“
Ich verstehe, dass sie sich rächen wollte: für Minsk und für ‚Minsk‘
Als Maryja Saizawa sich 2020 an die Evakuierungsorganisation Medevac wandte, lehnte sie jede psychologische Hilfe ab. Dabei erwähnte sie in einem Interview gegenüber Schtosden einmal, dass sie mit Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung kämpft. „Wir können niemanden dazu zwingen, mit einem Psychologen zu arbeiten. Aber meine Schuldgefühle blieben: Ich hatte sie hergebracht, also hätte ich sie beschützen müssen“, sagt Schyjanok. „Der Verstand sagt: ‚Es war ihre freie Entscheidung, in die Ukraine zu fahren, du kannst nicht die Verantwortung für anderer Leute Entscheidungen übernehmen.‘ Und trotzdem bleibt das Gefühl zurück, dass ich nicht ernst genug genommen habe, wie labil sie war.“
Nach der Reha kehrte Maryja in die Ukraine zurück. Trotz der Einwände ihrer Vorgesetzten und aller Versuche, sie davon abzubringen, beharrte die junge Frau fest auf ihrer Entscheidung, sich erneut dem Kampf anzuschließen. Ihren Kampfgenossen zufolge hatte ihr Wunsch, an die Front zurückzukehren – diesmal als Soldatin –, mit dem Verlust von Kameraden zu tun, die im Kampf gefallen waren. Im Sommer 2023 hatte sie ihren Freund mit dem Kampfnamen „Minsk“ verloren. Nach mehreren Monaten im Ausbildungslager wurde sie im November 2024 als Scharfschützin an die Front in der Oblast Donezk geschickt.
„Ich verstehe, dass sie sich rächen wollte: für Minsk und für ‚Minsk‘“, sagt [ein Kamerad mit dem Kampfnamen] „Santa“. Ihren letzten Geburtstag feierte Maryja an der Front: Am 16. Januar 2025 wurde sie 24 Jahre alt. Am Tag darauf fiel sie im Kampf gegen die russische Armee. „In jener Nacht bei Pokrowsk hat sie hervorragende Arbeit geleistet. Aber die Artillerie tut ihr Werk“, erinnert sich „Santa“.
„Mascha hatte die Fähigkeit, andere zu inspirieren”
Die mediale und gesellschaftliche Aufmerksamkeit spielte eine große Rolle in Maryjas Selbstwahrnehmung und bei den Zielen, die sie sich steckte, meinen ihr nahestehende Menschen. „Wenn die Medien ständig über dich als Opfer des Regimes schreiben, wächst der Wunsch, allen zu beweisen, dass du kein Opfer bist, sondern ein Subjekt, dass du etwas bewegen kannst“, sagt Schyjanok. „Wir hatten ja auch Menschen bei uns im Programm, die verletzt waren, auf denen aber nicht die Last der Öffentlichkeit lag. Sie können weiterhin ihr Leben leben, sonntags auf den Bauernmarkt gehen und montags bis freitags zu ihrer Arbeit, Geld verdienen. Aber bei Mascha war es anders. Sie fragte sich, was man über sie schreiben und wie lange sie noch als Opfer gelten würde.“
Der Wunsch, aktiv zu sein und anderen zu helfen, war ein Leitmotiv für alles, was Maryja tat. Ihre Bewerbungen begann sie nicht mit ihren Arbeitserfahrungen und Qualifikationen, sondern mit den Worten, dass sie eine Arbeit sucht, die „der Gesellschaft echten Nutzen bringt und die Chance bietet, Menschen in Not zu helfen“.
Ich kann mein Leben nicht mehr unabhängig von Belarus betrachten
„Wenn jemand gezwungen ist, in der Emigration zu leben, sucht er normalerweise nach jeder Art von Arbeit. Aber für sie war es wichtig, dass die Arbeit sinnstiftend und nützlich für die tschechische Gesellschaft war“, erklärt Schyjanok. Maryjas Freunde erwähnen ihre vielfältigen Interessen. Sie sprach nicht nur sechs Sprachen, sie malte auch, spielte Football und begeisterte sich fürs Fechten.
Seit den Protesten 2020 nahm die belarussische Identität einen wichtigen Platz in ihrem Leben ein. Auch in der Emigration nahm sie weiter an Protesten gegen Lukaschenkos Regime teil. Sie thematisierte das oft im Freundeskreis und gegenüber Journalisten. „Ich kann mein Leben nicht mehr unabhängig von Belarus betrachten. Wenn nicht Belarus, was dann? Ich habe immerhin meine Gesundheit dafür geopfert. Und ich habe wirklich an unsere Idee geglaubt, ich will unbedingt, dass mein Land das schafft. Ich will das sehen und dorthin zurückkehren“, sagte Saizawa in einem Interview.
Ihre Freunde erinnern sich, wie sie in ihrer Zeit in Prag traditionelle belarussische Gerichte und Getränke für sich entdeckte, wie Draniki und Krambambulja. Irgendwann entschied sie sich, nur noch Belarussisch zu sprechen. „Nach ihrem Tod zeigte man mir ihre Nachrichten in den Kriegs-Chats: Sie schrieb in Taraschkewiza [das ist die klassische belarussische Rechtschreibung]“, erzählt Schyjanok.
Ihre Freunde heben Maryjas moralische Standhaftigkeit, ihre Prinzipientreue und innere Freiheit hervor. Besonders ehrfürchtig erinnern sie sich an die Warmherzigkeit und Aufrichtigkeit, mit denen sie sich ihrer Umwelt mitteilte. „Sie konnte es nicht ertragen, wenn jemand Fehler machte oder sein Wort nicht hielt. Weil sie selbst mit dem besten Beispiel voranging, wie man sein sollte“, sagt Lana. „Das führte dazu, dass sie oft enttäuscht wurde und sich einsam fühlte. Nach außen hin strahlte sie stets Wärme und Licht aus, aber deshalb blieb vieles in ihrem Inneren verborgen.“
An dem Tag, als die Nachricht von Maryjas Tod kam, begannen viele spontan, Erinnerungen daran zu teilen, wie sie ihre Leben beeinflusst hatte. „Mascha hatte die Fähigkeit andere zu inspirieren. Sie veränderte die Menschen um sich herum zum Besseren, als würde sie ihre innere Stärke auf sie übertragen“, erzählt Schyjanok. Und ihre Freundin Lana ergänzt: „Mascha lebt in den Herzen der Menschen weiter.“
Zur Trauerfeier kamen Dutzende von Maryjas Kampfgenossen
Maryja war die erste belarussische Freiwillige, die im Kampf für die Ukraine gefallen ist. Die Trauerfeier fand am 4. Februar 2025 statt. Maryja hatte ihre Vorstellungen von der Bestattung in schriftlicher Form Kryszina Schyjanok hinterlassen – ihrem Notfallkontakt. Diese reiste in die Ukraine, um sich von Maryja zu verabschieden und bei der Ausrichtung der Zeremonie zu helfen. Ihr zufolge habe die Militärkommandantur die Entscheidung über die Feuerbestattung getroffen. Erst wenige Stunden vor der Einäscherung erfuhr Schyjanok davon und schritt ein – denn Maryja hatte sich gewünscht, dass ihr Körper nicht verbrannt würde. Sie wollte neben ihrem Feund „Minsk“ beerdigt werden, in dem Teil des Kyjiwer Friedhofs, in dem die belarussischen Soldaten ruhen.
Als Schyjanok von der bevorstehenden Kremierung erfuhr, setzte sie sich sofort mit Swjatlana Zichanouskaja in Verbindung, die sich wiederum an die Verwaltung des Kyjiwer Bürgermeisters Vitali Klitschko wandte. Die Entscheidung, Maryja Saizawa an dem von ihr gewählten Ort beizusetzen, wurde nur wenige Minuten vor der Einäscherung getroffen.
„Das war eine dramatische Situation. Wir bekamen die Zustimmung von der Verwaltung genau in dem Moment, als die Trauerfeier vorbei war und der Sarg in den Ofen geschoben werden sollte. Die Zeremonie wurde unterbrochen“, erzählt Schyjanok. „Dank Swjatlana Zichanouskaja konnten wir Maschas letzten Willen erfüllen.“
Maryjas Eltern konnten nicht in die Ukraine kommen, um sich von ihrer Tochter zu verabschieden, aber Kryszina Schyjanok sagt, sie sei ihren Wünschen nachgekommen. „Mascha war Atheistin und wollte weder religiöse Rituale noch ein Kreuz auf ihrem Grab. Aber ich wollte gleichzeitig die Wünsche ihrer Eltern erfüllen“, erzählt Schyjanok. „Ihre Mutter bat mich, eine kleine Ikone mit der Jungfrau Maria ins Grab zu legen, nach der ihre Tochter benannt wurde. Der Vater wünschte sich weiße Rosen dazu.“
Zur Trauerfeier kamen Dutzende von Maryjas Kampfgenossen. Später übergaben sie Maryjas persönliche Gegenstände dem Museum Swobodnaja Belarus s Ukrainoi w serdze (dt. Das freie Belarus mit der Ukraine im Herzen, Wanderausstellung in der Ukraine – dek).
„Das ganze Bataillon ist in Trauer. Sie war unser Liebling. Maryja war eine der wenigen Veteranen, die erbitterte Kämpfe überstanden und dabeigeblieben waren. Wir haben einen Teil unserer Familie verloren, einen Teil von uns selbst“, sagte der Kommandeur Ruslan Miroschnytschenko in einem Interview mit Radio Svaboda. „Sie ist eine starke Kriegerin“, fügt Miroschnytschenko hinzu. „Sie hat ihr Leben für unsere und eure Freiheit gegeben. Für ein freies Belarus und für eine freie Ukraine.“
Kurz bevor Alexander Lukaschenko 1994 zum ersten Mal Präsident wurde, war im unabhängigen Belarus Homosexualität legalisiert worden. Nicht-heteronormative Lebensstile konnten langsam öffentlich thematisiert werden, Belarus feierte seine erste Queer-Ikone.
Doch die Hoffnungen auf mehr Sichtbarkeit und Anerkennung grundlegender Rechte von LGBTQ* Personen währten kurz. Stattdessen forderte strukturelle Diskriminierung von ihnen Selbsrverleugnung, bald folgte systematische Verfolgung. Als das Kulturministerium in Lukaschenkos Diktatur 2024, wenige Monate vor Beginn der Wahlkampagne zur überstürzten Präsidentschaftswahl im Januar 2025, dann Queer-Sein juristisch mit „Pornografie“ gleichsetzte, gerieten alle lesbischen, schwulen, bi- und transsexuellen Menschen ins Fadenkreuz des belarussischen Sicherheitsapparates.
Die dekoder-Autorin Xenija Tarassewitsch und der Aktivist Oleg Roshkow erläutern, wie Repressionen die Liberalisierung gegenüber der LGBTQ* Community seit der Unabhängigkeit 1991 ersetzten. Wie die belarussische Gesellschaft, die sich für tolerant hält, darauf reagierte. Und warum belarussische Queers benachteiligt werden, wenn es um die internationale Anerkennung ihrer Verfolgung in Belarus geht, beispielsweise bei Asyl-Verfahren im Ausland.
Allein im September 2024 wurden in Belarus laut der Menschenrechtsorganisation Legal Initiative 15 bis 20 Menschen aus der LGBTQ* Community festgenommen. Bekannt wurde auch die Inhaftierung von acht trans* Personen. Die Silowiki erstellten gegen sie Anzeigen wegen „Rowdytums“. Gegen zwei von ihnen wurden Strafverfahren wegen „Verbreitung pornografischen Materials“ eingeleitet.
Ein Jahr zuvor, im September 2023, hatte die belarussische Regierung begonnen, einen Gesetzentwurf – analog dem russischen Gesetz – zum Verbot von „Propaganda nichttraditioneller sexueller Beziehungen“ zu erarbeiten. Kurz darauf begannen Razzien auf queeren Partys (ähnlich wie zur gleichen Zeit in Russland und obwohl das Gesetz in Belarus bis heute nicht angenommen ist – dek.), bei denen die Silowiki persönliche Daten der Besucher sammelten.
Doch das war nicht immer so. Als Belarus in den 1990er Jahren unabhängig wurde und Alexander Lukaschenko erst anfing Richtung Alleinherrschaft zu streben, war die Situation weitaus verheißungsvoller.
Nur Kultur, keine Menschenrechte
Homosexuelle Beziehungen wurden in Belarus im Jahr 1994 entkriminalisiert, drei Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit und nur wenige Monate vor Lukaschenkos Machtantritt. Bis dahin hatte das sowjetische Gesetz mit dem Artikel über „Unzucht zwischen Männern“ gegolten.
Der Machtwechsel, gefolgt vom Wechsel des politischen Regimes, brachte anfangs keine sichtbaren Veränderungen bei einer sich abzeichnenden Liberalisierung. Über Themen wie Sex und Homosexualität wurde nun mehr oder weniger offen gesprochen. In Belarus gab es zu dieser Zeit auch die erste queere Ikone: Edzik Tarlecki alias Madame Zju-Zju.
„Seit den 1990er Jahren gab es einen Konsens: Man kann sich in der Kultur engagieren, aber nicht in den Menschenrechten, – erst recht nicht über die Rechte und Probleme der Community sprechen“, erklärt Oleg Roshkow, Gründer der Medieninitiative J4T (Journalists For Tolerance).
Madame Zju Zju performt „Ach, kakaja shenschtschina!“ (1995, dt. Ach, was für eine Frau!) der ukrainisch-sowjetischen Gruppe Freestyle aus Poltawa, begleitet von einem „betrunkenen Chor“. / Quelle: youtube.com/@Norma Pospolita Madame Zju Zju
Chronik belarussischer Pride-Märsche
Das belarussische Online-Magazin Make Out hat vor einigen Jahren, noch vor der jüngsten Verfolgungswelle, eine Chronologie der Pride-Demos veröffentlicht, die halblegal in Minsk stattfanden.
Im Jahr 1999 fanden dank der Organisatoren der ersten Minsk Pride neben den Wettbewerben Mr. Gay Belarus und Transmission auch ein Bildungsprogramm und eine Konferenz zum Thema Rechte von Schwulen und Lesben statt. In der Nacht stürmte OMON den Club, in dem alles stattfand. Dennoch nahmen an der ersten belarussischen Pride ungefähr 500 Menschen teil.
Im Jahr 2001 gab es dann den ersten richtig großen Pride-Marsch: Zwischen 500 und 2000 Teilnehmende versammelten sich in der Nähe des Minsker Stadtzentrums unter Regenbogenflaggen. Zwar war die Veranstaltung nicht von den Behörden genehmigt, dennoch verlief alles ohne Zwischenfälle. Indes sah sich aber Tarlecki aka Madame Zju Zju schon Mitte der 2000er Jahre gezwungen, in die Ukraine zu gehen.
In den Folgejahren fanden kleinere Aktionen statt, zum Beispiel 2008. 2010 lösten OMON-Einheiten die Pride auf und verprügelten Teilnehmende. Im folgenden Jahr wurde der LGBTQ*-Marsch am Stadtrand von Minsk abgehalten, um Gewalt zu vermeiden. Die letzte öffentliche Aktion fand 2012 statt: Aktivist*innen fuhren mit Plakaten und Regenbogenfahnen in Straßenbahnen durch die Stadt.
Oleg Roshkow widerspricht einer unter Belarussen verbreiteten Vorstellung von Toleranz und betont, dass queere Menschen in Belarus nur hinter verschlossenen Türen sie selbst sein können. Im öffentlichen Raum seien sie stets gezwungen sich zu verstellen. Roshkow nennt diese Praxis „soziale Kastration“.
„Solange man so tut, als sei man heterosexuell, wird man von der Gesellschaft toleriert, obwohl alle alles wissen. Wenn ich mich aber öffentlich zu meiner Homosexualität bekenne, folgen massive negative Reaktionen: ‚Wie kannst du es wagen, deine Homosexualität zur Schau zu stellen‘“, erklärt Roshkow.
Die vielleicht bekannteste homophobe Straftat in der Geschichte des unabhängigen Belarus war der sogenannte Fall Pi: Am 25. Mai 2014 wurde der Architekt Michail Pischtschewski nach einer privaten Party in Minsk überfallen und verprügelt. Er lag einen Monat lang im Koma, aufgrund großflächiger Hämatome mussten ihm 20 Prozent der Gehirnmasse entfernt werden.
Es ist eine Sache, Schwule nicht zu mögen, aber eine andere, einen Menschen zu töten.
„Michails Geschichte ging mir persönlich sehr nah“, erinnert sich Roshkow. „Ich kannte ihn nicht, aber als ich von seinem Fall erfuhr, half ich seinen Eltern dabei, Geld für die Behandlung zu sammeln. Zunächst waren sie dagegen, die Sache öffentlich zu machen, aber dann arbeiteten sie mit der Presse zusammen, weil es eine Chance gab, ihn zu retten. “
Auch die Nicht-Queers leisteten in diesem Fall erhebliche Unterstützung, so Roshkow: „Es ist eine Sache, Schwule nicht zu mögen, aber eine ganz andere, einen Menschen zu töten. Viele Belarussen sahen eine Grenze überschritten, als sie diesen Fall sahen.“
Michail erlangte das Bewusstsein zwar wieder, seine Gehirnfunktionen blieben jedoch eingeschränkt. Am 25. Oktober 2015 starb er an einer Hirnhautentzündung.
Verstaatlichte Homophobie
Roshkow bewertet den Angriff auf Pischtschewski als Signal für alle LGBTQ* Menschen, denn jede*r von ihnen hätte an seiner Stelle sein können. Dennoch sei Queerfeindlichkeit lange Zeit nicht institutionalisiert gewesen. So waren in Minsk queere Partys durchaus erlaubt, auch wenn sie oft Razzien erlebten. Doch nach Ansicht des Experten habe es lange keine konkrete politische Entscheidung gegeben, die queere Community systematisch zu verfolgen.
Die Trendwende fand Roshkows NGO J4T in zunehmender Hetze gegen LGBTQ* in belarussischen Staatsmedien: in der ersten Hälfte des Jahres 2020 in zehn Prozent der Veröffentlichungen, in der zweiten Hälfte bereits in 20 Prozent. Und im Jahr 2021 enthielt bereits jede vierte Veröffentlichung zum Thema LGBTQ* Hassrede.
„Es gibt in den staatlichen Medien eine Kampagne gegen die queere Community“, sagt Roshkow. „Nach unseren Maßstäben bedienen sich die Propagandisten der gröbsten Form von Hassrede.“
Wenn ich ein Foto, auf dem ich meinen Freund auf die Wange küsse, in ein soziales Netzwerk gestellt hätte, könnte ich wegen Pornografie vor Gericht kommen.
Von indirektem Druck gingen die belarussischen Behörden schließlich zu direkten Maßnahmen über: Im April 2024 verabschiedete das Kulturministerium einen Beschluss, der „nichttraditionelle Beziehungen“ mit Pornografie gleichsetzt. Und nun können die Strafverfolgungsbehörden praktisch jede Darstellung eines homosexuellen Paares oder einer trans* Person nach Artikel 343 des Strafgesetzbuchs verfolgen, der eine Strafe von bis zu vier Jahren Gefängnis vorsieht.
„Wenn ich vor fünf Jahren ein Foto, auf dem ich meinen Freund auf die Wange küsse, in ein soziales Netzwerk gestellt hätte, könnte das jetzt als Pornografie angesehen werden. Und ich könnte für die Verbreitung des Fotos vor Gericht kommen“, erklärt Roshkow.
Menschenrechtsaktivisten von Legal Initiative schreiben, dass mittlerweile sämtliche nichtheterosexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen, auch wenn sie in gegenseitigem Einverständnis bestehen, als etwas Illegales interpretiert werden, was die gesellschaftliche Missbilligung und die Rechtfertigung von Gewalt gegen Queers verstärkt.
Transition ja, Toleranz nein
Zwar ist Belarus immer noch eines der wenigen Länder, in denen nach Änderung der entsprechenden Rubrik im Reisepass eine Transition mit kostenloser Hormontherapie und chirurgischer Geschlechtsangleichung möglich ist. Voraussetzung ist allerdings das Einverständnis einer sechs- bis achtköpfigen ärztlichen Kommission.
Trans* Personen werden dennoch diskriminiert. Menschenrechtsaktivist*innen berichteten im Jahr 2024 von den Erfahrungen des trans* Mannes Marat. Er machte die Transition und erhielt neue Dokumente. Aber seine Daten in den Geburtsurkunden seiner vier Kinder konnte er nicht ändern lassen – die Standesämter verweigerten ihm das.
Später gingen bei der Schulverwaltung anonyme Anzeigen wegen angeblicher häuslicher Gewalt ein. Marat bekam Kontrollbesuche. Bald darauf wurde er erneut vor die medizinische Kommission bestellt, wo die Genehmigung zur Transition annulliert und die Rückgabe seiner Dokumente verlangt wurde. Marat floh letztlich mit seinen Kindern nach Frankreich.
Abgesehen von all dem gibt es in Belarus noch kein Verbot von „Propaganda [nichttraditioneller Beziehungen – dek.]“ wie in Russland, und die LGBTQ* Gemeinschaft ist auch nicht als „extremistische Bewegung“ eingestuft.
Aktivist*innen und Expert*innen zufolge verschlechterten sich jedoch die Aussichten für konkrete Personen. Wie Roshkow betont, sind heute alle queeren Menschen in Gefahr, da die Silowiki auch ohne solche Verbote über ein umfangreiches Instrumentarium verfügten, um jede queere Person verhaften zu können. Angesichts der allgemeinen Repression schätzt Roshkow die Situation queerer Menschen in Belarus als noch schwieriger als in Russland ein.
Dass wir kein Gesetz haben, macht die Situation nur noch schlimmer. Belarussische Queers können international nicht um Hilfe und Schutz bitten.
Gleichzeitig erregt Belarus weniger Aufmerksamkeit, die dortige LGBTQ* Community erfahre wenig Unterstützung. Auf Hilfe aus dem Ausland könne man nicht zählen.
Andrej Sawalej, Koordinator der Fall-Pi-Kampagne, sieht das ähnlich: „Die Tatsache, dass wir kein Gesetz haben, das LGBTQ* Menschen (direkt) diskriminiert, macht die Situation nur noch schlimmer. Belarussische Queers können international nicht um Hilfe und Schutz bitten. Aber Russen können das – sie haben das Gesetz über ‚Propaganda für nichttraditionelle Beziehungen‘, sie bekommen Asyl in Europa. Belarussische Queers leben in der gleichen Realität, aber die europäischen Beamten sagen ihnen: ‚Ihr werdet nicht diskriminiert.‘“
Queere Flüchtlinge bekommen in den meisten Fällen ein humanitäres Visum für Litauen, aber Litauen gibt ihnen nicht immer auch eine Aufenthaltsgenehmigung oder den Flüchtlingsstatus. Dies gilt insbesondere für trans* Personen, da es in Litauen selbst an notwendigen medizinischen Einrichtungen für Geschlechtsangleichung und Hormontherapie fehlt.
Die meisten queeren Menschen in Belarus haben keine Möglichkeit, das Land zu verlassen. Das ist ein seltenes Privileg.
Auch in anderen EU-Ländern gibt es Schwierigkeiten, einen legalen Status zu erhalten. Infolgedessen sitzen Belarus*innen in der Falle: ohne Zugang zu lebenswichtigen medizinischen Leistungen und ohne Chancen auf Asyl. „Man muss bedenken, dass die meisten queeren Menschen in Belarus keine Möglichkeit haben, das Land zu verlassen“, erinnert Roshkow. „Das ist ein seltenes Privileg. Darum wollen sie vor allem ein normales Leben führen. Unsere Aufgabe ist es, ihnen in dieser ‚neuen Normalität‘ zu helfen.“
Trotz aller Schwierigkeiten machen die queeren Aktivist*innen weiter: „Wichtig für die Community sind gemeinsame Erfahrungen, Zusammengehörigkeitsgefühl und Unterstützung. Bis vor Kurzem konnten viele Initiativen noch Offline-Veranstaltungen organisieren, aber jetzt ist das nicht mehr sicher“, sagt Roshkow. „Die Menschen wollen positive Nachrichten, interessieren sich für Lifestyle, Kultur-Events, suchen Beispiele für erfolgreiche belarussische Queers. Und praktische Informationen: Wie man als gleichgeschlechtliches Paar in Belarus eine Wohnung mietet, wie man die Geschlechterrollen in einer Beziehung verteilt, wie man toxische Beziehungen und Fake-Dates vermeidet.“
Das Schweigen der demokratischen Kräfte
Roshkow hat keinen Zweifel daran, dass Belarus irgendwann doch auch ein „Propaganda“-Gesetz verabschieden wird. In Anbetracht der bereits bestehenden Gesetze zur „Pornografie“ dürfte es jedoch nicht besonders hart ausfallen, glaubt der Experte. Was in der Queer-Community auch aufgefallen sei, meint Roshkow, ist, dass die demokratischen Kräfte die LGBTQ* Community während der Diskussion über den „Pornografie“-Gesetzesentwurf, als parallel die mediale Hasskampagne gegen sie gestartet wurde, in keiner Weise unterstützt hätten. Eine der wenigen, die sich negativ dazu äußerten, war Olga Gorbunowa, die – mittlerweile ehemalige – Sprecherin für Sozialpolitik des Vereinigten Übergangskabinetts.
Wir machen uns keine Illusionen. Uns ist klar, dass wir uns nur auf uns selbst verlassen können.
Roshkow vermutet, dass in der breiten Wählerschaft von Swetlana Tichanowskaja nicht alle tolerant gegenüber der queeren Community sind. Seit die Unterstützung für Tichanowskaja schwinde, versuche sie, diese zu erhalten, indem sie „sichere Positionen“ vertritt. Es gebe keinen politischen Willen, eine kleine Gruppe zu unterstützen, wenn man riskiert, die breite Zustimmung zu verlieren.
„Wir sollten versuchen, uns durchzusetzen und Belarus in den Medien und der Kunst wieder auf die Tagesordnung zu bringen“, sagt Roshkow. Außerdem könne man über diplomatische Kanäle arbeiten, müsse mehr an nicht öffentlichen Treffen und Verhandlungen teilnehmen. „Wir machen uns keine Illusionen, dass uns jemand unterstützen wird. Uns ist klar, dass wir uns nur auf uns selbst verlassen können. Aber wir lassen uns nicht unterkriegen.“