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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Krieg oder Frieden

    Krieg oder Frieden

    Rund 30.000 Soldaten aus Russland nehmen laut Kalkulationen der NATO an dem Militärmanöver mit Namen Entschlossenheit der Union 2022 teil, das noch bis zum 20. Februar in Belarus stattfindet. Eine für ein Manöver ungewöhnlich hohe Zahl an Kampftruppen, die sogar aus dem Fernen Osten Russlands verlegt wurden. Dazu Luftabwehrsysteme, Raketen, die mit Atomwaffen bestückt werden können, und Kampfjets. Die russische Führung bestätigte, dass die Übung an fünf Orten im Nachbarland abgehalten wird, betonte aber, dass man sich in Bezug auf die Truppenstärke an die internationalen Vorgaben halten werde. Diese erlauben maximal 13.000 Soldaten. Internationale Militärexperten und Kritiker äußern Sorge darüber, dass der Kreml Belarus als Aufmarschgebiet für eine etwaige Invasion der Ukraine nutzen könnte. So wurde ein großes russisches Militärlager in der Nähe der Stadt Retschiza errichtet, rund 50 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. In Belarus wird mitunter befürchtet, dass die russischen Truppen auch nach der Übung im Land stationiert bleiben könnten. Eine Angst, die Alexander Lukaschenko zu zerstreuen versuchte, indem er sagte, dass die russischen Truppen nach Ende des Manövers das Land verlassen würden. Den Abzug würde er zusammen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin entscheiden. Für Ende der Woche ist ein Treffen der beiden Staatsführer angekündigt.

    Der belarussische Politikanalyst Artyom Shraibman setzt sich in seinem Stück für die russische Online-Plattform Carnegie.ru mit möglichen politischen Konsequenzen des Manövers für Belarus auseinander. Dabei fragt er auch, welche Rolle die Staatsführung um Lukaschenko für den Kreml spielen würde, falls es zu einem Krieg kommen sollte.

    Für das Regime in Belarus sind zwei extreme Szenarien unangenehm, die sich im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen ergeben könnten: ein Krieg und ein Waffenstillstand. Käme es zum Krieg, wäre man zu riskanten und wohl auch selbstzerstörerischen Zugeständnissen an den Kreml genötigt. Im zweiten Fall würde es schwierig werden, im Kreml Interesse für die zur Schau getragene antiwestliche Haltung zu wecken.
    Um die USA zu Zugeständnissen bezüglich der Sicherheitsgarantien zu bewegen, hat Moskau eine reale Drohkulisse für die Ukraine geschaffen, indem das Land von allen Seiten mit Truppen umstellt wird. Eine der Fronten dieser militärischen Diplomatie ist mittlerweile das Staatsgebiet von Belarus.

    Vom Friedensstifter zum Vorposten

    Alexander Lukaschenko fällt in diesem Geschehen nicht einfach nur die Rolle eines Statisten zu, sondern vorgeblich die des Initiators dieser Manöver, die bis zum 20. Februar in Belarus stattfinden. Er hatte als erster bereits Anfang Dezember von den bevorstehenden außerplanmäßigen Manövern gesprochen. Anschließend unterstrich er bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass er selbst die russischen Streitkräfte eingeladen habe. Man müsse die Verteidigung der Südflanke üben, da von der Ukraine eine Gefahr ausgehe.
    Bereits vor ihrem Beginn haben die Manöver die neue Rolle von Belarus in der Region verdeutlicht und auch den Kontrast zu den Träumen von einer osteuropäischen Schweiz, von denen die belarussische Regierung vor ein paar Jahren noch sprach.

    Bis 2020 hatte Lukaschenko die Verschärfung der Krise zwischen Russland und dem Westen ausgenutzt. Minsk balancierte zwischen den beiden Seiten, indem es für die eine Seite Risiken feilbot und der anderen Seite Möglichkeiten offerierte. 2020 brach dann der westliche Vektor ab, und Minsk hat jetzt weder Raum für diplomatische Schachzüge noch eine Wahl, wie es sich im Falle einer Eskalation in der Region verhalten kann. Ein neuer Versuch, sich von Moskau zu distanzieren, würde im Westen wohl kaum honoriert werden, in Russland träfe er, milde gesagt, auf Unverständnis.

    Unter Experten und Politikern gab es viele Jahre Diskussionen darüber, wie autonom Lukaschenko sein werde, wenn sich die Gefahr eines echten Krieges abzeichnet: Folgt er gehorsam dem Willen des Kreml oder geht er in Widerstand, um seine Souveränität zu bewahren und sie allen zur Schau zu stellen? 
    Anfang 2022 begann nun ein Experiment, das diese Debatte – und sei es vorübergehend – zugunsten der ersten These entscheidet. Niemand fragt sich jetzt noch, als was das belarussische Territorium zu betrachten ist: Es ist jetzt ganz und gar russisches Aufmarschgebiet. Und der Grad an Bedrohung von Seiten des belarussischen Hofes wird allein von einer Variablen bestimmt: ob der Kreml einen Krieg will.

    Lukaschenkos undankbare Rolle in dem Spiel

    Lukaschenko hat sich derweil keineswegs verändert. Es missfällt ihm, dass er nicht mehr als Herr der Lage im eigenen Land wahrgenommen wird. Es verletzt ihn allein schon der Gedanke, dass sowohl Kräfte im Ausland als auch die eigene Nomenklatura in ihm einen Vasallen Russlands und nicht des belarussischen Souveräns erkennen.
    Das ist schon an Kleinigkeiten erkennbar. Bei einer Sitzung mit den Silowiki fängt er plötzlich an, in Abwesenheit, aber sehr ausgiebig mit dem Anführer der vorletzten Oppositionsgeneration Senon Posnjak, zu streiten. Er argumentierte dabei, dass das derzeitige Regime keine Besatzung des Landes zulassen werde, woher die Gefahr auch kommen möge.

    Washington versteht diesen Charakterzug Lukaschenkos und ärgert ihn damit, dass es durch einen ungenannten Mitarbeiter des Außenministeriums erklären lässt, der belarussische Diktator habe allem Anschein nach die Situation nicht mehr im Griff. Und: Wenn sich Minsk in einen Krieg mit der Ukraine verstricken würde, könne das zu einer Spaltung der belarussischen Eliten führen. Das sieht nicht nach dem Wunsch aus, Lukaschenko in die Schranken zu weisen, sondern eher nach einem Versuch, die manipulativen Spekulationen des Gegners zu durchkreuzen und Lukaschenko zu Selbständigkeit zu ermutigen.
    Parallel drohen die USA Minsk mit neuen Sanktionen wegen der möglichen Beteiligung an einer russischen Aggression gegen die Ukraine. Das ist keine leere Drohung: Wegen der geringen Bedeutung von Belarus für die Weltwirtschaft und einer Reihe bereits verhängter Sanktionspakete wäre es politisch einfacher, Sanktionen gegen Belarus auf ein iranisches Niveau zu schrauben als in gleicher Weise gegen Russland vorzugehen.

    All diese Umstände, die Lukaschenko vielleicht erzürnen mögen, können jedoch nichts an einer weit unangenehmeren Tatsache ändern: Falls sich die Lage in der Region bis zum Äußersten eskaliert, dürfte der Kreml seine Pläne für das Territorium von Belarus nicht davon abhängig machen, was Lukaschenko dazu sagt.

    Weder Krieg noch Frieden

    Die Wahrscheinlichkeit eines echten Krieges in der Region abzuschätzen, ist eine undankbare Aufgabe. Doch selbst wenn es dazu kommen sollte, wird die belarussische Armee wohl kaum unmittelbar daran beteiligt sein.
    Die Ausnahme wäre hier, wenn es zu einem vollkommen apokalyptischen Szenario käme, bei dem die russischen Angriffe gegen die Ukraine von belarussischem Territorium aus geführt werden, und es als Antwort der Ukraine zu Raketenbeschuss und Sabotageaktionen kommt, von denen belarussische Militärangehörige oder Zivilisten betroffen wären.

    Auf eigene Faust wird Lukaschenko in dem Konflikt sicherlich keine belarussischen Truppen einsetzen. Darauf ist Moskau aus militärischer Sicht nicht sonderlich angewiesen, doch gibt es gewichtige politische Gründe. All die 27 Jahre an der Macht hatte Lukaschenko seinen Wählern Ruhe und Frieden als wichtigste Leistung versprochen, die alle anderen Entbehrungen und Probleme rechtfertigt.
    Eine Beteiligung an einem Krieg, insbesondere gegen die Ukraine, wäre selbst einem beträchtlichen Teil der Anhänger Lukaschenkos schwer zu erklären, und den übrigen Belarussen umso schwerer. Lukaschenko ist mittlerweile ohnehin zu weit vom Höhepunkt seiner Legitimität entfernt, um sein wichtigstes politisches Kapital zu riskieren, nämlich den Frieden seiner loyalen Wähler.

    Lukaschenkos jüngster Ansprache an das Volk und das Parlament zufolge ist ihm das sehr wohl bewusst. In seiner Rede fand sich viel militaristische Rhetorik, doch erklärte er auch auf die Frage einer Frau aus dem Saal, ob ihre Söhne im Ausland würden kämpfen müssen, dass die belarussische Armee dazu da sei, das Land auf dem eigenen Territorium zu verteidigen.
    „Wenn sie kommen, um uns umzubringen, werden wir uns volle Pulle wehren, auf unserem, wie auf fremdem Territorium. Von uns wird niemals ein Krieg ausgehen“, fügte er hinzu. Bei einer solchen Veranstaltung gibt es keine Fragen, die nicht vorab genehmigt wären, also wollte die Regierung, dass Lukaschenko die Gelegenheit für eine solche Antwort hat, um die zunehmenden Ängste in der Gesellschaft zu zerstreuen.

    Die Grauzone dieses gelenkten Konflikts ist ideal, um Moskau ohne größere Verluste seine rhetorische Loyalität zu verkaufen. Falls der Konflikt zwischen Russland und den USA ohne Krieg, aber auch ohne einen Frieden gelöst wird, wenn also die Differenzen diplomatisch breitgeredet werden, könnte Lukaschenko daraus sogar Kapital schlagen.
    Für das Verhältnis von Minsk zum Westen würde das allerdings nichts Neues bedeuten. Die Hoffnungen auf eine Autonomie Lukaschenkos sind eh zerstoben, und dieser Ansehensverlust lässt sich in absehbarer Zukunft nicht korrigieren.

    Im Verhältnis zu Moskau würde Lukaschenko allerdings zu einem Verbündeten, der in einem wichtigen Moment seine Pflicht in einem Bereich erfüllt hat, der für den Kreml von sakraler Bedeutung ist, nämlich bei der Sicherheit. Sollte das für Moskau nicht ein Anlass sein, bei den nächsten Kreditverhandlungen etwas großzügiger zu sein?


     

     

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  • Harter Kurs voraus

    Harter Kurs voraus

    Am 27. Februar 2022 wird in Belarus ein Verfassungsreferendum stattfinden, von dem wohl nur die wenigsten glauben, dass es die präsidiale Macht Alexander Lukaschenkos entscheidend beschränken wird. Bei seiner alljährlichen „Rede an die Nationalversammlung und das belarussische Volk“, die Lukaschenko Ende Januar im Palast der Unabhängigkeit in Minsk hielt, schwörte der Autokrat die mehr als 2500 Parlamentarier, Politiker, Funktionäre und Gäste auch auf die anstehende Abstimmung und die zu erwartenden Änderungen im politischen System ein. 

    Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski hat sich die Rede für das Online-Medium Naviny.by genauestens angehört. In seinem Beitrag analysiert er, ob die Verfassungsreform überhaupt darauf ausgerichtet ist, Lukaschenkos eingeschlagenen Radikalisierungskurs einzudämmen und ob Opposition, Medien und Zivilgesellschaft entsprechend auf erleichterte Rahmenbedingungen hoffen können.

    Seiner Rhetorik nach zu urteilen, sieht Lukaschenko die Lösung für die innenpolitische Krise und die gespaltene Gesellschaft in Belarus eindimensional: „Diese verrückten Unglaublichen“, wie er die Protestteilnehmer nannte, müssen sich der brutalen Gewalt des Regimes fügen.

    Machtwechsel als Krankheit

    Obwohl er Verfassungsänderungen immer als Demokratisierung bewarb, offenbarte sich seine tatsächliche Haltung zur Demokratie in der Aussage: „Wenn wir uns, so wie einige andere postsowjetische Staaten, dem Fieber der Machtwechsel ergäben [Hervorhebung des Autors], wenn wir ein politisches und ideologisches Zurückweichen zuließen, dann wäre ein unkontrollierbarer Sturzflug nicht mehr aufzuhalten.“ Also gilt der in Demokratien übliche Prozess des Machtwechsels als Anomalie, als Krankheit.       

    Der (aktuelle) Auftritt hat gezeigt, dass Lukaschenko nicht beabsichtigt, sein autoritäres System im Kern zu ändern. Das Publikum, das ihm zuhörte, bezeichnete er als Prototypen der zukünftigen Allbelarussischen Volksversammlung (WNS), an die er sich in Zukunft mit solchen Botschaften wenden wolle. Da stellt sich die Frage: War denn das Volk an der Zusammensetzung dieses Publikums beteiligt? Eine rhetorische Frage. Im Saal waren natürlich Beamte und erprobte Loyalisten versammelt, die eine breit aufgestellte Volksvertretung imitieren sollten.      
    Ein Gesetz, das die Kompetenzen, den Entstehungsprozess und die Tätigkeiten der Allbelarussischen Volksversammlung festlegt, soll innerhalb eines Jahres nach dem Referendum verabschiedet werden. Man kann jedoch unschwer annehmen, dass dieses zu gründende Organ, das gemäß der neuen Verfassung mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet werden soll, auf genauso intransparente und volksferne Art zusammengeschustert wird. 

    Nie der richtige Zeitpunkt für den Rücktritt

    Eigentlich geht es bei der Idee der Allbelarussischen Volksversammlung darum, die Bürger noch weiter vom Staat zu entfernen. Die aktuell regierende Elite will ein von den Willenserklärungen der Bevölkerung isoliertes politisches Konstrukt schaffen, das es ermöglicht, alle staatlichen Schlüsselfragen im intimen Kreis zu entscheiden. 
    Wobei fast kein Zweifel besteht, dass Lukaschenko auch Vorsitzender der WNS sein wird (diese Option ist ausdrücklich in dem Verfassungsentwurf vorgesehen) und die beiden Ämter mindestens bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen 2025 zu behalten gedenkt.      

    Mit seiner Rede hat Lukaschenko zum wiederholten Mal thematisiert, wie lange er vorhat, im Amt zu bleiben. Und wieder ist er einer direkten Antwort ausgewichen: „Alles je nach Situation. Wenn sie uns einen Krieg anhängen – was soll es dann für Wahlen geben, wie soll ich da abdanken? Wenn’s sein muss, nehm ich eine MG, und gehe voran … Wenn alles ruhig bleibt, sei’s drum, wenn unser Volk friedlich lebt und sich entwickelt – jederzeit.“  
    Damit gibt Lukaschenko erstens de facto zu, dass die Lage in Belarus alles andere als stabil ist. Wenn er zweitens die unermüdliche Suche nach Feinden fortsetzt, die Dämonisierung der Opposition, der benachbarten NATO-Mitgliedsländer, der Ukraine und der USA, wenn er die Atmosphäre einer belagerten Burg weiter hochpeitscht (und speziell davon war seine Botschaft durchdrungen), dann wird er immer sagen können, jetzt sei nicht der richtige Zeitpunkt zu gehen.  

    Überhaupt strotzte Lukaschenkos gesamte Rede nur so von der Idee, er sei unersetzlich (oder gar von Gott erwählt). Als ob es ohne seine Entschlossenheit mit der MG in Händen im August 2020 am Höhepunkt der Proteste (die er Aufstand nennt) das Land gar nicht mehr gäbe: Die fünfte Kolonne hätte die Macht ergriffen und Belarus bereits dem Westen ausgeliefert (die NATO-Truppen „waren schon in Startposition“).  
    Dieses Motiv – dass unter bedrohlichen Umständen ein erfahrener, starker Führer auf keinen Fall abdanken darf – wird er bestimmt weiter ausschlachten, zumal die Konfrontation mit dem Westen allem Anschein nach ernst werden und lang dauern wird. Und da eröffnet sich noch dazu die günstige Gelegenheit, dem Kreml zuzuspielen.  

    Echte Ideen zur Entwicklung fehlen dem Regime

    Wobei die Redenschreiber sich offenbar bemüht haben, Ideen von Innovation und Entwicklung einzubauen, um den Redner nicht komplett rückschrittlich und reaktionär aussehen zu lassen. Allerdings mit wenig Erfolg.
    „Wir haben alle Möglichkeiten, Belarus zu einem sich dynamisch entwickelnden Land zu machen“, erklärte Lukaschenko. Doch hat er versucht eine Überarbeitung des Grundgesetzes, die das vom ersten Präsidenten geschaffene strenge und undemokratische System aufrechterhält, als politische Innovation zu verkaufen. Sogar in Bezug auf den kontrollierten Aufbau von Parteien (auf dessen Belebung sowohl der Kreml als auch ein Teil der Loyalisten gehofft hatten) verplapperte sich unser Staatsoberhaupt mit den Worten: „Wir werden diesen Prozess nicht forcieren.“     

    Desgleichen ließ er verlautbaren, dass in nächster Zeit ein Gesetz beschlossen werde, das definiert, was Zivilgesellschaft ist und was ihr Wesen, ihre Struktur ausmache. Doch die Formierung einer Zivilgesellschaft nach staatlichen Vorgaben ist per se Nonsens. Eine echte Zivilgesellschaft wächst von unten, auf Initiative der Bevölkerung.   
    Noch dazu ist das wichtigste Ziel, wie ganz offen erklärt wurde, dass „die Basis der Zivilgesellschaft nicht schlafende Keimzellen nationaler Minderheiten werden, die 2020 das Land umstürzen wollten“. Mit anderen Worten, auf diesem durch die Repressionen verbrannten Feld sollen Attrappen geschaffen werden, GONGOs, die eine Zivilgesellschaft imitieren.

    Kein Wort fiel zum Thema Wirtschaftsreformen. Im Gegenteil, Lukaschenko gab zu verstehen, dass er IT-ler und Unternehmer noch stärker in die Mangel nehmen kann – jene Berufsgruppen, die sich aktiv an den Protesten beteiligt hatten. Indessen sind es gerade diese fortschrittlichen Gesellschaftsschichten, die die Wirtschaft in Schwung bringen könnten. Aber wie wir sehen: Der Chef des Regimes will in erster Linie den Aufstand unterdrücken, wenn auch zum Schaden der wirtschaftlichen Entwicklung. 
    Insofern sind Versprechungen dynamischer Transformationen schöne Worte und nichts dahinter. Faktisch opfert die Regierung, die um jeden Preis an der Macht bleiben will, die Entwicklung des Landes und versucht, jegliche Gegenstimmen in die Knie zu zwingen.

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    Bystro #31: Verfassungsreform in Belarus – Machtverlust für Lukaschenko?

  • Bystro #31: Verfassungsreform in Belarus – Machtverlust für Lukaschenko?

    Bystro #31: Verfassungsreform in Belarus – Machtverlust für Lukaschenko?

    „Wir brauchen eine neue Verfassung, dazu müssen wir aber ein Referendum abhalten.“ Das sagte Alexander Lukaschenko Mitte August 2020. Die Proteste nach der gefälschten Präsidentschaftswahl in Belarus befanden sich damals auf dem Höhepunkt. Den autoritären Machthabern schien die Kontrolle zu entgleiten, die Lukaschenko anderthalb Jahre nach den Protesten nun wieder in der Hand hält. Dennoch soll das Referendum zur damals angekündigten Verfassungsreform nun tatsächlich stattfinden, am 27. Februar 2022.

    Welchen Plan verfolgt Lukaschenko mit einer Verfassungsreform? Wird diese tatsächlich die Macht des nahezu allmächtigen Präsidenten beschränken? Wird die Opposition diese Gelegenheit nutzen, um wieder zu Protesten aufzurufen? In einem Bystro gibt Jan Matti Dollbaum, der zusammen mit Fabian Burkhardt eine Umfrage zur bevorstehenden Verfassungsreform durchgeführt hat, Antworten auf sieben Fragen.
     

    1. Warum braucht es im Sinne von Lukaschenko überhaupt eine Verfassungsreform, der doch – so könnte man meinen – wieder fest im Sattel sitzt? 

    Lukaschenko hat seit einigen Jahren immer wieder Änderungen angekündigt. So sagte er schon 2014 zur 20-Jahr-Feier der Verfassung, dass Belarus sich „als souveräner Staat“ etabliert habe und die Verfassung, die aus einer Zeit der Transformation stamme, nun geändert werden müsse. Zum Inhalt möglicher Änderungen schwieg er sich allerdings aus. Auch hatte Lukaschenko auf diese Ankündigungen bisher nichts folgen lassen, die Verfassung blieb seit 2004 unverändert. Die Vermutung liegt daher nahe, dass Lukaschenko mit seinen Äußerungen vor allem klarmachen wollte, dass mögliche Veränderungsimpulse allein von ihm ausgehen werden.

    Die aktuelle Verfassungsreform ist jedoch hinsichtlich ihres Timings maßgeblich von der Protestbewegung gegen die Fälschungen bei der Präsidentschaftswahl im August 2020 beeinflusst. Teile der Bewegung hatten eine Rückkehr zur Verfassung von 1994 gefordert, die dem Präsidenten weit weniger Macht gibt. Ganz allgemein gibt es in der Bevölkerung den Wunsch nach einer Reduktion der präsidentiellen Vormachtstellung im politischen System. Obwohl das autoritäre Regime die Protestbewegung niedergeschlagen hat, weiß man um diese Forderungen. Insofern bot eine Verfassungsreform die Möglichkeit, Veränderungen von oben anzubieten, um damit zumindest formal einen Schritt auf die Enttäuschten und Aufgebrachten zuzugehen. Die Verfassungsreform ist auch deshalb ein wichtiges Instrument, weil das Regime die zentrale Forderung der Protestierenden nach freien und fairen Neuwahlen ausgeschlossen hat.

    2. Am 27. Dezember 2021 wurden die Vorschläge für eine Verfassungsreform veröffentlicht. Wie sehen diese im Wesentlichen aus?

    Die Vorschläge betreffen viele Bereiche der Verfassung. Zum einen sollen sie auf die Forderungen nach Machtbeschränkung des Präsidenten eingehen. Dazu wird zum Beispiel das Limit von maximal zwei Amtszeiten wieder eingeführt (dieses war 2004 per Referendum aus der Verfassung gestrichen worden). Der Präsident hat außerdem künftig nicht mehr das Recht, per Dekret am Parlament vorbei zu regieren.

    Es gibt aber auch noch zahlreiche andere Änderungen. So können künftig Bürger Verfassungsbeschwerde einlegen, die außenpolitische Neutralität wird aus der Verfassung gestrichen und durch einen Passus ersetzt, der besagt, dass Belarus keine Angriffskriege führt, und dass dem Staat die Rolle des Garanten der Ehe als „Verbindung zwischen Mann und Frau“ zufällt. Der Staat wird außerdem verpflichtet, für „die Bewahrung der historischen Wahrheit und der Erinnerung an die Heldentaten des belarussischen Volkes während des Großen Vaterländischen Krieges“ zu sorgen. Doch auch die Bürger werden in die Verantwortung genommen. In Artikel 54 besagt eine Ergänzung etwa: „Patriotismus zu zeigen und die historische Erinnerung an die heldenhafte Vergangenheit des belarussischen Volkes zu bewahren, ist die Pflicht eines jeden Bürgers der Republik Belarus.“

    Eine weitere wichtige Neuerung ist die Erhebung der Allbelarussischen Volksversammlung in Verfassungsrang, ein Organ, das sich aus nationalen und regionalen Abgeordneten, aber auch Vertretern der Exekutive, der Judikative und der Zivilgesellschaft zusammensetzt. Auch der jeweils aktuelle und ehemalige Präsident sind Mitglieder.

    Insgesamt handelt es sich also um die weitreichendsten Veränderungen an der Verfassung seit 1996, insbesondere weil sie die Machtverteilung und direkt das Amt des Präsidenten betreffen.

    3. Sehen die Vorschläge tatsächlich eine Beschränkung der Macht Lukaschenkos beziehungsweise einen Umbau des politischen Systems vor? Oder ist das alles Symbolpolitik?

    Die Abschaffung der Dekretgewalt und die Wiedereinführung begrenzter Amtszeiten sind durchaus echte Machtbeschränkungen, die ein Zugeständnis an Lukaschenkos Gegner darstellen sollen und die bei seinen eigenen Unterstützern eher unpopulär sind. Dazu passt auch, dass Lukaschenko im Oktober 2021 erklärte, die neue Verfassung werde „demokratischer“ als die alte sein. Man sollte bei der Beurteilung dieser Maßnahmen aber unbedingt berücksichtigen, dass dem Präsidenten nach der geltenden Verfassung eine enorme Machtfülle zukommt, die sogar den russischen Superpräsidentialismus übertrifft. Diese Macht ist, selbst wenn sie nun etwas eingeschränkt wird, weiterhin erheblich. Auch wenn einzelne Kompetenzen an andere Institutionen wie die Regierung oder das Parlament abgegeben werden, sind diese zumeist direkt vom Präsidenten abhängig. Der Präsident bleibt zudem zentraler Akteur, der über den Gewalten steht und die „Einheit des Belarussischen Volkes“ verkörpern soll. Insofern ist die Reform insgesamt als Versuch zu verstehen, Veränderung zu suggerieren, ohne viel Macht abzugeben. 

    4. Unter anderem soll auch das Alter für Präsidentschaftskandidaten angehoben werden. Ist dies eine direkte Reaktion auf die Rolle von Swetlana Tichanowskaja bei den Wahlen im Jahr 2020?

    Es ist möglich, dass in dieser Änderung auch eine Reserviertheit gegenüber der „Jugend“ als politischer Akteur zum Ausdruck kommt, die bei den Protesten im Jahr 2020 eine starke Kraft darstellte. Symbolisch und substantiell sehr viel wichtiger aber ist eine andere Ergänzung: Personen, die eine andere Staatsbürgerschaft oder eine Aufenthaltserlaubnis eines anderen Staates hatten oder haben, können künftig nicht mehr bei den Präsidentschaftswahlen als Kandidaten antreten. Damit sind auf einen Streich zahlreiche oppositionelle Exilbelarussen und Exilbelarussinnen ihres passiven Wahlrechts beraubt – was sicherlich die Absicht hinter dieser Änderung ist.

    5. Der russische Außenminister Lawrow hat mehrmals auf die Bedeutung einer Verfassungsreform hingewiesen. Auch soll sie Thema in den Verhandlungen zwischen Lukaschenko und Putin gewesen sein. Warum hat der Kreml Interesse an solch einer innerbelarussischen Angelegenheit?

    Nicht nur Lawrow, auch Putin hat sich öffentlich zum Reformvorschlag geäußert und nannte ihn „folgerichtig, zur richtigen Zeit kommend und angemessen“. Der Kreml hat aus verschiedener Perspektive ein Interesse daran, dass der Reformprozess so abläuft, wie Lukaschenko ihn sich vorstellt. Zum einen soll von diesem Prozess nicht das Signal an die russische Bevölkerung ausgehen, dass mit Protest eine demokratische Veränderung durchgesetzt werden kann. Zum anderen ist es für Russland von Vorteil, wenn es mit Lukaschenko weiterhin über einen Ansprechpartner verfügt, der weitgehend im Alleingang über die großen politischen Entscheidungen bestimmen kann. Das macht Absprachen weit weniger kompliziert, als wenn verschiedene Akteure mitreden oder sogar Vetos einlegen könnten.

    Gleichwohl ist Russland aber auch daran gelegen, den politischen Konflikt möglichst nicht weiter eskalieren zu lassen, denn auch das bringt Unsicherheit ins Verhältnis zu Belarus – und gerade das kann Russland momentan nicht gebrauchen. Insofern ist es plausibel, dass Russland Lukaschenkos Zugeständnisse mitträgt, wenn sie seine Macht sichern.

    6. Könnte die Opposition das Zeitfenster des Referendums auch für sich nutzen, um neuerliche Proteste in Belarus anzustoßen?

    Ein Präsidialerlass vom 20. Januar sieht vor, das Referendum am 27. Februar abzuhalten. Dass man solange wie möglich die konkrete Planung geheim gehalten hat, ist höchstwahrscheinlich Teil der Strategie, anderen Akteuren so wenig Planungsspielraum wie möglich zu geben. Verschiedene Oppositionsgruppen haben sich gleichwohl schon vor Wochen auf eine Strategie geeinigt. Sie gehen davon aus, dass es auch diesmal erhebliche Fälschungen geben wird. Sie rufen die Belarussen trotzdem auf, zur Wahl zu gehen und dort die Stimme ungültig zu machen. Auf diese Weise soll bei hoher Wahlbeteiligung zum Ausdruck gebracht werden, dass das Referendum illegitim sei – da es ohne vorhergehende Diskussion, in repressiver Atmosphäre und im Paketwahlverfahren (nur „ja“ oder „nein“ möglich) sowie ohne echte oppositionelle Beteiligung abgehalten wird. Proteste sind aufgrund der hohen zu erwartenden Repressionen nicht geplant – obwohl Umfragen zeigen, dass die Gegner des autoritären Regimes durchaus weiterhin dazu bereit wären. 

    7. Wie sehen die Belarussen diese angekündigte Verfassungsreform?

    In einer Online-Umfrage vom September 2021, die ich zusammen mit Fabian Burkhardt durchgeführt habe, gibt eine stabile Mehrheit von zwei Dritteln an, dass die Verfassung geändert oder ganz erneuert werden müsse. Auch für die nun anvisierten Machtbeschränkungen des Präsidentenamtes gibt es deutliche Mehrheiten. Insofern liegt Lukaschenko mit seinen Zugeständnissen strategisch richtig. Es ist allerdings mehr als fraglich, ob diese ausreichen werden, den weit verbreiteten Wunsch nach echter Veränderung zu stillen.

     

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Jan Matti Dollbaum
    Veröffentlicht am: 26. Januar 2022

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  • Brief an Papa

    Brief an Papa

    Nasta Mancevich, 1983 in der belarussischen Kleinstadt Wilejka geboren, debütierte als Lyrikerin und Autorin im Jahr 2012 mit dem Buch Ptuschki (dt. Vögel), das in Belarus für viel Aufsehen sorgte, weil es unter anderem gleichgeschlechtliche Liebe thematisierte. In diesem Text für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft umkreist sie die schwierige Situation in ihrer Heimat Belarus, die seit den Protesten im Jahr 2020 in einer schweren und lähmenden historischen Krise feststeckt. Dabei verbindet sie persönliche Beobachtungen und Reflexionen mit Erinnerungen an ihren Vater und an schmerzhafte Ereignisse, die man durchstehen muss, um womöglich zu einer lebensbejahenden Zukunft zu gelangen.

    Russisches Original auf Colta.ru

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla


    Als ich geboren wurde, hast du mir ein Gedicht geschrieben:

    für naszja 

    es ist dezember. schnee fällt dicht,
    der erste schnee, mein kind, 
    auf dein gesicht, 
    dein lachen spielt mit warmem lächeln,
    noch fern dein erstes wort,
    dein erster satz.
    doch jetzt schon wärmt an diesem wintertag
    dein lächeln unsere gesichter.

                                                          12.12.83

    du – der mensch, der mir dieses gedicht geschrieben hat – hebt mich als fünfjährige mit seinen großen händen über seinen kopf und wirft mich mit aller kraft zu boden, weil ich zum rausgehen kein kleid anziehen will

    von deinen schlägen mit dem gürtel oder dem schlauch des staubsaugers bleiben noch lange spuren auf meinem kleinen körper zurück

    du, der in rage alle poster von den wänden meines zimmers reißt – ich weiß den grund nicht mehr – 

    und du, der mich nun(mehr) 38-jährige nach mutters geburtstag zum bahnhof begleitet, leicht betrunken, und meinen rucksack auf den gepäckträger des fahrrads legt, das du neben dir her schiebst

    ich sage: „komm papa, ich trag ihn selbst, er ist nicht schwer“, aber du glaubst mir nicht. dir erscheint er schwer, weil all dein schmerz, deine schuld und deine liebe darin liegen.

    Jetzt weiß ich, Papa, was du wohl fühlen musst.

    Ich weiß, wie es ist, einem nahestehenden Menschen Schmerz zuzufügen. Hätte dir jemand am Anfang, als du dieses Gedicht schriebst, von diesem Schmerz erzählt – um nichts in der Welt hättest du es geglaubt. Ich weiß, wie unerträglich groß der Wunsch ist, die Zeit zurückzudrehen, alles wieder an den rechten Platz zu rücken, sich selbst zu betrügen, zu tun, als sei nie etwas geschehen – nur um diesen Schmerz nicht spüren zu müssen.

    Nachdem du mich auf den Boden geworfen hattest, konnte ich einige Minuten lang nicht atmen – offenbar war ich auf den Solarplexus gefallen, sodass mir der Atem stockte – ich weinte aus allen Gründen auf einmal – Schreck, Schmerz, Kränkung, aber allen voran – aus Angst, nicht mehr atmen zu können. Ich verstand nicht, was vor sich geht, wusste nicht, wann das aufhören würde, wie lange ich aushalten muss, ob meine Zeit dafür reicht, ob meine Kinderlunge groß genug ist, um den Moment noch zu erleben, an dem ich wieder Luft holen kann.

    Auch jetzt schnürt es mir die Luft ab, da ich mich entschließe, endlich darüber zu sprechen, überzieht mich mit eisigem Schauer, als würde ich, wenn ich diese Dinge ausspreche, dich und unsere Familie verraten, und dazu habe ich kein Recht. Und ich weiß nicht, ob meine Luft jetzt ausreichen wird, um weiterzusprechen, aber ich möchte es versuchen, auch wenn es eine zerrissene, verworrene Geschichte wird – ich brauche dich bei mir, um sie durchzustehen, um sie beenden zu können und nicht vor Scham und Angst zu sterben. Ich brauche dich. Bleib stehen. Lauf nicht weg. Bleib stehen und zähle, wie lange ich die Luft anhalten kann. Bleib stehen und zähle, während ich dich erstarrt mit erschrockenen Augen anblicke, während ich allein durch die gepeinigte und unerträglich schöne Herbststadt laufe und laufe, während ich diesen Text schreibe.


    Im Jahr 2000 zog ich nach Minsk, mit 17 Jahren. In eine fremde Stadt, zu der ich keine Geschichten oder Erinnerungen hatte, mit der mich nichts verband. Mein gesamtes Gedächtnis war in Wilejka geblieben, doch jetzt ist auch hier ein Ort für mich gewachsen – ich lebe nun schon 21 Jahre in Minsk, den größeren Teil meines Lebens. Die Fenster meiner Wohnung gehen zur Banja hinaus, aus der im September 1999 Viktor Gontschar und Anatoli Krassowski traten und seitdem nie wiedergesehen wurden. Ich denke jedes Mal daran, wenn ich aus dem Haus trete, zur Metro oder zum Einkaufen, und an der Banja vorbeilaufe. Ich weiß, wo das passiert ist, weil mein Papa mir diese Geschichte erzählt hat, als ich zum Studium nach Minsk zog – als etwas, das ich wissen sollte. Wir saßen in der Küche und er sagte es genau so: „Du solltest das wissen …“ Vor einem Jahr tauchte an dem Gebäude in der Fabritschnaja Straße 20 in Minsk die Aufschrift auf „Wir werden nicht vergeben, wir werden nicht vergessen …“ Heute prangen an dieser Stelle auf einer weißen Mauer zwei sorgfältig gemalte, blass-beige Quadrate. Ich weiß, was sich darunter befindet.

    Jetzt ist ganz Minsk für mich voll solcher Spuren. Ich fahre mit dem Fahrrad durch die menschenleere Stadt, der Wind verweht die herabgefallenen Blätter, hebt sie mutig und selbstbewusst in die Luft, sie wirbeln vor mir herum, als würden sie mir voll Ergriffenheit alle durcheinander von etwas erzählen wollen – ich fahre über die kleine Brücke über die Swislotsch, die Brücke ist rot-grün angemalt, und ich erinnere mich, dass sie vor nicht allzu langer Zeit noch in anderen Farben gestrichen war – doch jetzt fällt es mir sogar leichter, über diese rot-grüne Brücke zu radeln, als wenn gar keine Spuren geblieben wären. Ich weiß, was diese Spuren bedeuten. Für mich symbolisieren sie unseren Schmerz. Es tut mir weh, über diese Brücke zu fahren. Und das ist besser, als gar nichts zu spüren; als so zu tun, als wäre gar nichts geschehen.

    Wir sitzen in der Küche meiner Minsker Wohnung, und während das Wasser im Kessel aufkocht, beschließe ich, dich zu fragen – warum hast du mich geschlagen? Es ist eine rhetorische Frage, wahrscheinlich steht eher das Bedürfnis nach einer Bestätigung dahinter, dass du dich ebenfalls daran erinnern kannst. Deine Antwort berührt mich, und ich glaube sie dir, ob sie ehrlich war – ich weiß es nicht. Dann stelle ich die zweite Frage – wenn du die Zeit zurückdrehen könntest, würdest du mich wieder schlagen? Diese Frage ist auch unsinnig, weil die Zeit zurückzudrehen das einzige ist, was wir in unserem Leben nicht tun können. Doch du beantwortest sie. Du sagst – nein. Wir schweigen. In dieser Pause spüre ich, wie etwas Lebendiges auftaucht, wie Bedeutung anwesend ist, die das Schweigen und die Leere ausfüllen, bis Worte herausfließen … Du sagst – ich wurde auch geschlagen. Du bist mein Papa. Ich bin dein Kind. Doch entgegen jeder Logik und allen Gesetzen der vergehenden Zeit erkenne ich deinen Schmerz jetzt, wenn ich in deine mit Tränen gefüllten Augen schaue.


    Man muss lernen zu warten. Das ist das Schwierigste – zu warten ohne die Hoffnung, dass das Warten sich lohnt, man muss Demut lernen, aber nicht resignieren, – nur dann entsteht die Möglichkeit der Verbindung mit etwas Unbekanntem – dem, was man nie im Detail zu betrachten vermag, was immer einen Augenblick eher wegrutscht, als einzelne Eigenschaften für dich sichtbar werden. Mir fällt es unglaublich schwer, diesen Text zu schreiben, ich schlage mich gleichsam bis aufs Blut durch dorniges, dichtes Gestrüpp; und immer, wenn es scheint, als sei irgendwo vor mir ein Licht in Sicht, und die Geschichte beginnt, eine scheue Gestalt anzunehmen – erschrecke ich wieder und erstarre vor Entsetzen. Mein Atem reicht nicht aus, um diesen versprengten Erinnerungen Struktur zu geben, um alles zusammenzufügen. Und dann bitte ich für mich selbst um Geduld und Vertrauen – den Raum und die Zeit.

    Ich habe zwei Familienerinnerungen, die als Bilder in meinem Kopf zum Leben erwachen – in denen wir zusammen sind, zu viert, wie auf einem Foto.

    Das erste dieser Bilder trägt das Datum Mai 1986; Papa läuft aus einem Wäldchen auf uns zu. Als das Atomkraftwerk von Tschernobyl explodierte, war ich fast drei Jahre alt. Mit Mama und der noch ganz kleinen Shenja waren wir für den Sommer zu Oma und Opa, Mamas Eltern, in das Dorf Radkow in die Oblast Gomel gefahren. Nach drei Tagen kam Papa, um uns zurück nach Wilejka zu holen. Selbst kann ich mich an diese Geschichte nicht erinnern, doch aus Mamas Erzählungen kenne ich sie in allen Einzelheiten – es ist eine jener Familiengeschichten, die ich so oft gehört habe, dass es mir scheint, als hätte ich das alles auch gesehen:

    Wir waren ja für den Sommer da, zur Erholung, wir dachten – es ist Sommer, wir sind im Dorf – Gras, frische Luft. In der Stadt waren wir arm, es gab nicht so viel zu essen, aber im Dorf gab es alles, aus den Gärten, überall … Wir wollten den ganzen Sommer bleiben. Aber dann kam es anders – am 26. fuhren wir hin, und drei Tage später schon wieder zurück. Am ersten Mai waren wir dabei, irgendwas auf dem Hof zu graben oder zu pflanzen, vielleicht machten wir die Beete oder verbrannten Abfall … Da schaue ich, und sehe jemanden aus dem Wäldchen zu uns laufen, sieht aus wie Sascha. Dabei weiß ich doch, dass er erst gestern oder vorgestern noch weggefahren ist. Und ich denke – warum ist er zurückgekommen? Und er rennt, da aus dem Wäldchen, ganz sicher ist er es … Das kann er nicht sein, denke ich mir … Warum sollte er? Und er fliegt … Und sieht genau aus wie unser Papa. Da kommt er näher – und er ist es! Als er in Wilejka angekommen war, hatte er Radio Svaboda gehört. Und die sagten was ganz anderes. Und als er genug gehört hatte, ist er noch am selben Tag sofort zu uns gefahren – hat freigenommen und ist los zu uns. Damals gab es ja noch nicht diese Telefone, du konntest nicht Bescheid sagen – am besten bist du selbst hingefahren. Ich war so erschrocken. Warum bist du hier? Was bist du hergekommen? Und er sagt: „Schnell, packt zusammen, wir fahren.“ Er war ja verantwortungsvoll, er kam, um uns zu holen. Wir hatten da noch von nichts gehört. Und er war gekommen und nahm uns mit. Als wir in Minsk ankamen, war dort schon alles voll mit Menschen, riesige Schlangen, und wir standen, alle wurden überprüft – die Schilddrüse, die Kleidung … Alle, die aus dem Zug kamen, wurden überprüft. Ich weiß noch, manche warfen sogar ihre Schuhe weg, die Kleidung musste man auch ausziehen. Bei uns war alles in Ordnung. Der Akzjabrski-Rajon war sauber geblieben. Dort zog es einfach vorbei. Aber Sascha hatte das alles im Radio gehört … Er konnte ja nicht wissen, dass der Akzjabrski sauber ist. Damals dachten alle – je näher, desto schlimmer.“

    Das zweite Erinnerungsbild entstand 20 Jahre später, im März 2006. Wir gingen zum Platz, Papa, Shenja und Lena, das Mädchen, das ich liebte und mit der ich damals zusammen war. Mama und Papa waren nach Minsk gekommen, um an der Wohnungstür zu stehen und meine Schwester und mich nirgendwo hinzulassen. Aber weil das nicht funktionierte, wurde vom Familienrat beschlossen, dass Papa mit uns geht, und Mama zu Hause bleibt und die Nachrichten verfolgt. Ich weiß noch, wie Mama Shenja und mir vorm Hinausgehen half, Zeitschriften in den Hosenbund zu stecken, die die Schläge der Schlagstöcke abmildern sollten. Später erfuhr ich, Lenas Freundin habe erzählt, ihr sei klar gewesen, dass wir uns bald trennen würden, als sie uns beide damals zusammen auf dem Platz sah – weil ich Lena so angesehen hätte, wie sie mich nicht ansah. Manchmal wünschte man sich die Fähigkeit zu haben, in die Zukunft zu schauen, um richtige Entscheidungen zu treffen, um zu wissen, worauf man sich einstellen oder wie lange man noch warten muss; ich hätte sie also damals in Lenas Augen sehen können (ihre Freundin konnte es ja), doch ich habe überhaupt nichts gemerkt. Als könnte man die Zukunft nur erkennen, wenn man in die Vergangenheit schaut. So wie ich jetzt.

    Ein Schneesturm ist aufgezogen. Die unvermittelt niederbrechende Naturgewalt lässt alles leicht irreal erscheinen, es fühlt sich an, als öffne sich eine Art Portal – und wir alle, die jetzt auf dem Platz stehen, sind in eine andere Dimension versetzt, haben die Möglichkeit, uns selbst als andere wahrzunehmen, als die, die wir sein könnten, oder die wir in Gedanken sind, oder die wir vielleicht irgendwo noch sind. Gerade eben war da noch nichts, und mit einem Male ist alles ringsum mit einem weißen Schneeschleier bedeckt, ich schaue jetzt durch ihn hindurch und versuche zu erkennen … Eine meiner Kindheitserinnerungen, die mit Papa verbunden sind, ist wie wir zusammen Fotos entwickeln. Wir schlossen uns in der kleinen Küche unserer Wilejker Wohnung ein, ein zauberhaftes rotes Licht erfüllte den ganzen Raum, durch die Schüssel mit dem Entwickler zogen wir eins nach dem anderen die leeren Blätter des Fotopapiers und begannen zu zählen, bis wir Zeugen des Wunders wurden – wenn aus dem Nichts auf dem weißen Papier das Bild erkennbar wurde … So schaue ich jetzt in mein Gedächtnis und sehe wie aus dem Nebel langsam Silhouetten auftauchen, wie auf einer aus leichten, weißen Körnchen aufgeschütteten Fotografie … Vielleicht ist da Shenja, die auf Papas Schultern sitzt wie in der Kindheit, um weiter als alle anderen sehen zu können. Vielleicht bin da ich, die daneben steht und fragt – Und? Vielleicht antwortet sie mir: „Sehr viele“. Vielleicht ruft Papa plötzlich: „Es lebe Belarus!“, und ich schaue ihn an als würde ich ihn nicht wiedererkennen, oder vielleicht ist es auch umgekehrt – überwältigt vom plötzlichen Erkennen denke ich – warum schreibst du eigentlich keine Gedichte mehr, Papa?


    Im März dieses Jahres habe ich begonnen, Tagebuch zu führen, um mir klar zu werden, wie ich meine Stummheit überwinden kann, wie ich mir selbst das Sprechen erlauben kann, wenn um mich herum so furchtbare Dinge geschehen, wie ich das Unaussprechliche lernen kann auszusprechen? Schreiben ist peinlich. Jedes Wort, das du jetzt in dem Moment schreibst, während um dich herum weiterhin Menschenleben zunichte gemacht werden, erscheint überflüssig und fehl am Platz. Es scheint, als hätten meine inneren, internalisierten Aufseherinnen einen Weg gefunden, mir endlich ganz legal den Mund zu stopfen. Vielleicht muss ich gerade deswegen und genau jetzt versuchen weiterzuschreiben. Seit Beginn meiner Tagebuchaufzeichnungen haben die Jahreszeiten gewechselt – ich habe beobachtet, wie der Frühling kam und alles ringsum mit Leben erfüllt, und wie der Herbst mit der erneuten Mahnung anbrach, dass alles irreparabel endlich ist. Ich erinnere mich gut an diese Verbindung mit den Jahreszeiten, weil in meinem Tagebuch Kerben geblieben sind  …

    Am 29. März waren in Belarus 322 Menschen als politische Häftlinge anerkannt.

    Am 12. August waren in Belarus 631 Menschen als politische Häftlinge anerkannt.

    Am 29. September waren in Belarus 702 Menschen als politische Häftlinge anerkannt.

    Am 28. Oktober waren in Belarus 833 Menschen als politische Häftlinge anerkannt.

    Gerade ist ein wunderbarer goldener Herbst, seine Schönheit tut fast ein wenig weh, ebenso die Unmöglichkeit, diese Schönheit vollkommen aufzunehmen, sie mit jemandem zu teilen, und das Vorgefühl ihrer Endlichkeit. Ich sage „ein wenig“ nicht, weil dieses Wort den Grad meines Gefühls beschreibt, sondern weil es das Gefühl mildern und mit seiner sachten Anwesenheit umhüllen soll. „Ein wenig weh“ – das sagst du, wenn du nur Wörter zu Hilfe rufen kannst. Es ist unmöglich, zwei Wirklichkeiten gleichzeitig zu fassen – den Frühling, der unausweichlich kommt und alles ringsum mit Leben erfüllt und gleichzeitig den Terror im Land, wenn alles Menschliche und Lebendige weiter vernichtet wird. Man kann dieser Aufspaltung unmöglich entkommen, nur so kann die Psyche sich retten – indem sie Teile von sich abspaltet. Diese Spaltung gibt es auch in mir – das Leben, das aus mir erwächst, trotz allem, und das Konzentrationslager, dem ich nicht entfliehen kann.


    Noch eine mit Papa verbundene Kindheitserinnerung ist, wie er die Sekunden zählt, während ich beim Baden in der Wanne tauche. Das war unser Ritual, das den langweiligen Vorgang des Badens spannend und interessant werden ließ. Papa nahm die Uhr vom Handgelenk, gab mir ein Zeichen, ich holte tief Luft und tauchte unter … Mit aller Kraft versuchte ich, es länger auszuhalten, wollte meine Stärke beweisen – schau, wie lange ich die Luft anhalten kann, wie stark und geübt ich bin, schau, Papa, was ich alles kann. Alle Ungeheuer, alle Monster, alle bösen Menschen verschwanden, wenn ich auf dem Grund des Schaumbads lag, das Zimmer von heißem Dampf erfüllt, und Papa dastand und beobachtete, und ich wusste, dass er auf mich wartet.

    Auch jetzt liege ich wie unter Wasser und halte die Luft an, manchmal scheint mir, dass mir kaum noch Luft geblieben ist, dann stelle ich mir vor, dass du wie in der Kindheit neben mir stehst und weiterzählst – während ich auf dem Grund der von Schmerz und Leid gefluteten Stadt liege, mir Raum zu geben versuche und diesen Text schreibe – ungeschickt, wie es nur einem Kind gelingt, und solange die Kraft und der Platz in meiner Lunge ausreicht – ich weiß, dass du weiterzählst, mir Zeit verschaffst – um hier zu sein, wenn ich endlich auftauchen kann, wenn ich endlich wieder Luft holen kann.

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  • In entlegenen Dörfern

    In entlegenen Dörfern

    Dörfer ticken anders als dicht besiedelte Großstädte, und noch einmal mehr, wenn sie in Grenznähe zu den Nachbarländern liegen: Der Minsker Dokumentarfotograf Siarhei Hudzilin interessiert sich für diese sehr spezielle Kultur. Über mehrere Jahre fotografierte er in den grenznahen Dörfern von Belarus.
    Neben den persönlichen Projekten, die er verfolgt, arbeitet Hudzilin seit 2011 als Fotojournalist für das unabhängige, in Belarus inzwischen blockierte, Online-Portal Nasha Niva. Auch in der New York Times und bei National Geographic wurden seine Bilder veröffentlicht. Zur Dokumentarfotografie fand er in seiner Zeit bei der Armee, als er begann, den kargen Alltag der Rekruten in den Kasernen festzuhalten und für diese Bilder ausgezeichnet wurde. 

    Im Interview berichtet er von seinen Besuchen in den Dörfern – sowohl an der Grenze zur Europäischen Union, als auch zu Russland und zur Ukraine – und davon, wie schwierig das Leben in diesen Orten ist, zum Beispiel im Norden, wo der Aswejasee wichtiger ist als die Hauptstadt Minsk. Mit seinen Bildern gibt er einen sensiblen Einblick in diesen Alltag.

    Ein junges Mädchen steht in der Stadt Dsisna inmitten von roten Backsteinruinen. Sie gehören zu einem früheren Krankenhaus, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebaut worden war. Dsisna gilt als kleinste Stadt des Landes / Foto © Siarhei Hudzilin

    dekoder: In welche Orte sind Sie für Ihre Bilder gefahren und was macht diese Gegenden genau aus?

    Siarhei Hudzilin: Als ich dieses Projekt entwickelt habe, wählte ich die entlegensten bewohnten Orte von Belarus. Im Norden ist das Asweja, im Süden Kamaryn, im Westen Wyssokaje und im Osten Chozimsk. Das sind praktisch alles Grenzgebiete. Sie sind geprägt von den jeweiligen Ländern und Grenzen. Die Grenze zur EU beispielsweise ist klar definiert, und diese klare Abgrenzung lässt die belarussische Identität sehr eindeutig hervortreten. An der EU-Grenze herrscht Visumspflicht und es gibt eine Sprachbarriere. Daher ist das Alltagsleben der Bewohner dieser Gegend kaum beeinflusst. Die Grenzen zur Ukraine und zu Russland sind dagegen fließend – der Einfluss dieser Kulturen auf die Identität der Menschen ist dort stärker spürbar. In der Nähe der Ukraine nimmt man das Ukrainische in der gesprochenen Sprache und auch in den Nachrichtensendungen wahr, in diesen Regionen sehen die Einwohner ukrainische Fernsehsender und interessieren sich sogar für ukrainische Politik. Dort bildet sich dadurch eine besondere Identität heraus, die Menschen fühlen sich zum Teil einer eigenen ethnischen Gruppe zugehörig, den Polessiern
    An der östlichen Grenze zu Russland ist die Situation ähnlich, und überhaupt, das ist ganz interessant, gibt es diese Grenze eigentlich gar nicht, auch historisch gesehen, schon seit seit mehreren Jahrhunderten nicht (angefangen von der Aufteilung der Rzeczpospolita im 18. Jahrhundert, dann kam das Russische Reich, dann die Sowjetzeit, und nun ist es der mythische Unionsstaat). Die Einflüsse sind dort stark: Die Bewohner der Grenzstädte fahren nach Russland zur Arbeit und betrachten eher Großstädte in Russland als ihre Metropolen, statt Minsk in Belarus.         

    Sie waren in Asweja, wo es ja auch den beeindruckenden Aswejasee gibt. Wie leben die Meschen dort an diesem nördlichsten Punkt mit und neben dem See?

    Der Norden von Belarus ist die Region, die wirtschaftlich am wenigsten entwickelt ist. Asweja ist ein sehr depressiver Ort, eine aussterbende Kleinstadt. Das Einzige, was dort womöglich Potenzial hat, ist Tourismus. Alles, was ich dort fotografieren konnte, waren Menschen, die ums Überleben kämpfen.   

    Die Besonderheit dieser Gegend ist, dass sie im Grenzdreieck zwischen der EU und Russland liegt. Wie sieht der Alltag mit diesen Nachbarn dort aus? Und hat sich das Leben über die vergangenen Jahre verändert?

    Das Leben hat sich nicht sonderlich verändert. Die EU-Grenze ist für die dortigen Einwohner weniger durchlässig. Das liegt nicht nur an den Visa, sondern auch am niedrigeren Lebensstandard im Vergleich zu Lettland. Russland dagegen bringt vor allem wirtschaftliche Vorteile, viele Fischer verkaufen ihren Fang aus dem Aswejasee in Russland. Der Alltag ist hier unverändert, diese Orte verkommen und sterben immer weiter aus. Obwohl das belarussische Landleben durchaus beginnt sich zu transformieren. Teils haben Covid-19 und die Digitalisierung der Wirtschaft Einfluss auf diese Entwicklung: Viele Menschen, die im Homeoffice arbeiten, verlegen ihren Hauptwohnsitz nach und nach in die Dörfer. Und die pflegen in dieser dörflichen Umgebung natürlich einen anderen Lebensstandard.    

    Wie ist die Idee zu diesem Fotoprojekt genau entstanden?

    Mich hat die kulturelle Identität der Belarussen und der Zustand des Landes im „Hier und Jetzt“ interessiert, ich wollte mich aber auf keinen Fokus und kein Gebiet festlegen – was und auf welche Weise ich fotografieren wollte. Daher brauchte ich eine Art Koordinatensystem und habe mich aus dem Geografieunterricht an die äußersten geografischen Punkte von Belarus erinnert. Ich habe gesehen, dass diese Orte quasi weiße Flecken sind, denn es gibt davon praktisch keine Fotos. So kam es zu dem Entschluss, hinzufahren und Aufnahmen zu machen. Zumal die Frage nach den Grenzen für Belarus sehr wichtig ist: Grenzen existieren in Werten, in der Kultur, in Denkweisen und sogar in der Sprache. 
    Dieser Dualismus ist vielleicht schon anthropologisch begründet – zwei Sprachen (Russisch und Belarussisch), zwei Fahnen (die offizielle rot-grüne und die nationale weiß-rot-weiße), Stadt und Land als zwei Existenzformen der belarussischen Kultur. Deswegen habe ich mich für abgelegene Orte entschieden, an denen die Gegensätze vielleicht am sichtbarsten und frei vom Einfluss moderner, massenkultureller Trends der Großstädte sind. Daher trägt das Projekt auch den Titel Along the Edge (dt. Am Rand entlang) – es ist gewissermaßen ein Querschnitt entlang der Ränder des belarussischen Raumes, nicht nur im geografischen, sondern auch im sozialen und kulturellen Sinne.          

    Wie wählen Sie die Motive für Ihre Bilder aus?

    Vor jeder Fahrt mache ich eine kleine Recherche, studiere diverse Quellen und versuche, Kontakte zu Einheimischen zu knüpfen. Vor Ort bemühe ich mich dann aber, kein bestimmtes Programm zu verfolgen, und lasse mich von der Umgebung inspirieren. Das hat etwas von einem Spiel. Auf diese Art glaube ich, in das Leben der Räume und Menschen eindringen zu können, die ich fotografiere. Ich muss einfach viel herumlaufen und mit Leuten sprechen, die ich nicht kenne, wobei ich denen dann immer erzähle was ich hier überhaupt mache und vorhabe. Bei konzeptuellen Projekten ist das natürlich nicht so, da dauern die Aufnahmen manchmal nur wenige Stunden.   

    Gibt es ein Lieblingsbild, das Sie von dort mitgebracht haben?

    Da habe ich die Qual der Wahl, aber am besten gefällt mir wahrscheinlich das erste Foto des Projekts – das weiß gekleidete Mädchen auf den Ruinen. Für mich steht es gewissermaßen als Bild von Belarus: Weite Räume mit riesigen Ruinen und Rätseln, aus Trümmern und Fragmenten verschiedener Kulturen und aus Einsamkeit. Das ist eine Leere, in der alles möglich ist, doch das Ergebnis ist unvorhersehbar und es gibt keine klaren Regeln und Algorithmen.

    Belarus ist ein Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung in Großstädten lebt. Wie sehen Sie die aktuelle Entwicklung in solchen Dörfern und der politischen Lage insgesamt?

    Diese Gegenden verkommen immer mehr, und die Bevölkerung zieht weg. Die einzige Besonderheit ist, dass an solchen Orten die Hauptstadt Minsk sehr weit weg ist und wenn Menschen von hier wegziehen, dann um Arbeit in der nächsten Stadt, maximal in der Gebietshauptstadt zu suchen. Die aktuelle politische Situation erinnert mich ebenfalls an den Zustand in Grenzgebieten. An diese Zonen, in denen keine konkreten Regeln, Normen und traditionellen Gesetzmäßigkeiten greifen. Wir haben gleichsam eine Grenze des Normalen überschritten, und dahinter beginnen Chaos und Instabilität. Und wir als Bewohner eines solchen Raumes befinden uns jetzt in diesem Grenzzustand. 
    Aber ich glaube, dieser Zustand tritt bei jeder Art von Veränderung auf. Ich für mich sehe hier eine organische Verbindung mit dem Projekt Am Rand entlang: Dieses An-der-Grenze-Sein hat sich jetzt über ganz Belarus ausgeweitet. Wenn du daher als Dokumentarfotograf oder -filmer, als Künstler oder einfach als Mensch die Kraft und die Fähigkeit aufbringen kannst, das Unbeständige in den Griff zu kriegen und Sinn und Ziel im Leben zu finden, dann bist du verpflichtet, diese Zeit zu durchleben und bestimmte Werte und Bedeutsamkeiten für die Zukunft festzuhalten.


    Norden

     

    Ein Mann läuft über den gefrorenen Aswejasee im Norden von Belarus / Foto © Siarhei Hudzilin
    Eine Frau vor einer Kirchenmauer in Asweja / Foto © Siarhei Hudzilin
    Der Blick aus einem Wohnungsfenster fällt auf einen Schulbus, der am winterlich eisbedeckten Aswejasee vorbei fährt / Foto © Siarhei Hudzilin
    Bewohner von Druja – ein Agrogorodok im Norden an der Grenze zu Lettland – setzen über den Grenzfluss Dswina zu einer Insel über, auf der sie ihre Kühe weiden lassen … / Foto © Siarhei Hudzilin
    … Auf der Insel angekommen, haben sie ihre Kühe gemolken und tragen im Dunkeln vor Tagesanbruch die Milch davon / Foto © Siarhei Hudzilin

    Süden

     

    Im Dorf Kamaryn, in der Woblasz Gomel, spielt ein Junge Federball. Kamaryn ist der am südlichsten gelegene Ort von Belarus / Foto © Siarhei Hudzilin
    Straßenszene auf dem Land: Ein Ehepaar auf einem Motorrad / Foto © Siarhei Hudzilin
    Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges vor einem Gedenkstein im Stadtzentrum von Kamaryn – zum Tag des Sieges am 9. Mai / Foto © Siarhei Hudzilin
    Stofftiere in Plastiktüten sind das Handelsgut einer Frau, die im Dorf Retschyza an der Grenze zur Ukraine (Woblasz Gomel) zum Bahnhof eilt. Dort stoppen international verkehrende Züge, und der Verkauf von Waren an die Passagiere ist für Einheimische eine Möglichkeit, Geld zu verdienen / Foto © Siarhei Hudzilin
    Eine Gänseschar auf der Hauptstraße des Agrogorodok Turow / Foto © Siarhei Hudzilin
    Eine ältere Dame in der Stadt Dawyd-Haradok: Das Kopfsteinpflaster, auf dem sie steht, stammt aus vorsowjetischen Zeiten. In früheren Jahrhunderten gehörte die Stadt zu unterschiedlichen Herrschaftsbereichen, zum Großfürstentum Litauen, zur Polnisch-Litauischen Adelsrepublik und zum Russischen Reich / Foto © Siarhei Hudzilin

    Westen

     

    In den Abendstunden sitzt eine junge Frau im Zentrum der Stadt Wyssokaje vor einer Lenin-Statue. Wyssokaje ist der am weitesten westlich liegende Ort des Landes / Foto © Siarhei Hudzilin

    Osten

     

    Im Wald nahe Chozimsk sammelt eine Frau Pilze und passiert den Grenzstein zwischen Belarus und Russland. Die Grenze existiert nur formell, ohne Grenzposten oder -kontrollen / Foto © Siarhei Hudzilin
    Ein Pferd grast in Chozimsk, Woblasz Mahiljou (russisch: Mogiljow) / Foto © Siarhei Hudzilin
    Eine Frau am Zaun vor ihrem Haus in Chozimsk / Foto © Siarhei Hudzilin
    Ein angelnder Mann nahe dem Dorf Schaladonauka. Sein Auto hat er hinter sich inmitten der Birken abgestellt / Foto © Siarhei Hudzilin
    Chozimsk bei Nacht / Foto © Siarhei Hudzilin
    Busbahnhof in Chozimsk / Foto © Siarhei Hudzilin

    Fotos: Siarhei Hudzilin
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: Ruth Altenhofer
    Text: dekoder-Team
    Veröffentlicht am 17.01.2022

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  • „Das Jahr 2020 öffnete vielen die Augen“

    „Das Jahr 2020 öffnete vielen die Augen“

    „Eine gewisse Angst hat mich ohne Zweifel von Beginn an begleitet.“ Das sagt der belarussische Rockmusiker Lavon Volski im ersten Teil des Gesprächs mit dem Online-Medium Kyky. In diesem spricht er über den langjährigen kreativen Widerstand, den er und andere Musiker und Bands gegen Machthaber Alexander Lukaschenko leisteten, über Auftrittsverbote und über die Wandlungen in der Politik der Machthaber gegenüber Kultur und Musik. 

    Im zweiten Teil des Interviews lässt Volski die 2000er Jahre Revue passieren, dann geht es hinein in die Gegenwart und in die Zeit der Ereignisse nach dem 9. August 2020, die das ganze Land,  und so auch die Kulturszene, in eine tiefe Krise gestürzt haben. 

    Marija Meljochina: Welches Fazit ziehen Sie aus den 2000er Jahren?

    Lavon Volski: Für mich war es eine sehr erfüllte Zeit. Einerseits gab es von 2004 bis 2008 durchgehend Verbote, vorher konnten wir aber noch Krambambula gründen und damit das Territorium der ironischen Popmusik entern. Das brachte uns noch größere Bekanntheit und erweiterte unser Publikum. Der Song Hoszi gefiel völlig unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, auch Funktionären. Außerdem begann in den 2000er Jahren die Zeit der Konzerte für Firmen, die es vorher bei uns nicht gegeben hatte. Danach, den Verboten sei Dank, reisten wir ins Ausland. Wir tourten durch ganz Polen, waren in Deutschland und Schweden, ich war einige Male zu Auftritten in den USA. Verbote erhöhen das Interesse.

    2010 kam es dann zu den Demonstrationen nach der Präsidentschaftswahl (ploschtscha) und deren Niederschlagung – danach versank das Land für zehn Jahre förmlich in einer Unzeit. Erzählen Sie uns von dieser Phase.

    Damals war klar, dass das Tauwetter vorbei war. Die dunklen Zeiten begannen wieder. Ich habe N.R.M. damals nicht verlassen, es war ein bisschen anders. Wir hatten einfach eine Pause, es gab keine Konzerte. Die Band traf sich zum Proben ohne mich und ohne mir Bescheid zu geben. Ich erfuhr erst aus der Presse, dass N.R.M. beim Rok-karanazyja-Festival ohne mich auftreten würden. Das war ein ziemlicher Schock, vor allem vor dem Hintergrund der Situation im Land. Ich sagte den Auftritt online ab, aber das hielt die Band nicht davon ab. Kurz; es war, wie es war. Für mich war das alles unerwartet und stressig, es hat noch lange gedauert, das zu verarbeiten. 

    Es gab die Information, dass die Band nach dem Treffen mit Praljaskouski Angebote bekam, bei staatlichen Festivals zu spielen, Sie das aber ablehnten. Das war die Ursache für den Konflikt, und N.R.M. entschied, ohne Sie zu spielen.

    Das ist eine verkehrte Darstellung – es gab keinen Konflikt in dieser Hinsicht. Nach dem Treffen in der Präsidialadministration wurde fast direkt im Anschluss ein staatliches Festival mit dem idiotischen Titel Bela Music initiiert. Dort sollten alle bekannten Rockmusiker auftreten. Und als ich die Anfrage erhielt, lehnte ich ab. Nicht genug, dass wir zu diesem Treffen gegangen waren, jetzt wollten sie uns auch noch dieses staatliche Festival anheften, um zu zeigen, dass in Belarus mit der Rockmusik jetzt alles super läuft. Ich habe die Teilnahme am Festival aus ideologischen Gründen abgesagt, aber niemand verstand das, ehrlich gesagt. Nach dieser Praljaskouski-Sache hatte ich eine so harte Zeit, dass ich 2009 bei N.R.M. eine Pause einlegte. Ich bat alle darum, für eine gewisse Zeit nicht aufzutreten, weil ich das Gefühl hatte, dass wir etwas verraten hatten. Den Musikern gefiel diese Pause natürlich nicht.

    Sie sagten, 2017 gab es eine Entspannung, als die Schwarzen Listen abgeschafft wurden.

    Ja, 2017 begann sich die Situation langsam wieder in Richtung eines leichten Tauwetters zu entwickeln, aber es erreichte nicht das Freiheitsniveau wie in den Jahren 2008/2009. Man konnte in der Prime Hall spielen, aber nicht im Stadtzentrum von Minsk, beim Schwedischen Tag zum Beispiel. 2018 wandte sich die schwedische Botschaft sogar an die Stadtverwaltung mit der Bitte, dass Krambambula auftreten dürfe, erhielt aber eine Absage.

    Wie kam es zu diesem Tauwetter? Was war 2017 passiert?

    Ich denke, da wurden wieder irgendwelche demokratischen Kräfte aktiviert. Einige Leute glaubten, dass es möglich sei, in den Machtstrukturen jemanden zu überzeugen. Damals entstand auch der Minsker Technologiepark und Ähnliches …

    „We are not afraid to dance“: Promotion-Video der Band Krambambula aus dem Jahr 2011

    War dieses Jahrzehnt – 2010  bis 2019 – in Ihren Augen eine Zeit des Stillstands, eine Unzeit für das Land, die Kultur und die Musik?

    Das würde ich nicht sagen. Es passierte immer was, nur wussten nicht viele davon, weil es sich parallel zur Machtstruktur abspielte. Es erschienen neue Alben, neue Musikpreise, es gab die Portale Tuzin Hitou und Experty.by. Zudem gab es auch noch die Musikkritik, zwar sehr begrenzt, aber es gab sie. Das war ziemlich spannend – du hast ein Album rausgebracht, zum Beispiel Drabadzi-drabada, und konntest eine Rezensionen dazu lesen, wenn du Lust hattest. Aber mit dem Album in deinem Land aufzutreten war in diesen Jahren schon nicht mehr möglich. Wir haben alle Alben in Vilnius präsentiert.

    Danach, 2017, kam das Tauwetter, man konnte auftreten, sogar bei großen Konzerten, aber es blieb der Eindruck, dass das nur temporär ist. Und so war es. Die Erfahrung zeigt, dass jedes neue Verbot strikter daherkommt als das vorangegangene. Daher werden die aktuellen Verbote meiner Ansicht nach erst dann verschwinden, wenn dieses Regime weg ist.

    Wie wurde 2020 möglich?

    Indem die Pandemie kam und die Machthaber zeigten, wie weit sie vom Volk entfernt sind. Früher wurde immer gepredigt, dass der einfache Mensch der wichtigste Wert sei. Doch hier zeigte sich nun, dass die Machthaber sich wie Aristokraten gerierten, wie ein Adel neuer Art mit Krönchen. Was, eine Pandemie? Nehmt den Traktor und Schnaps, ha-ha, wie lustig. Aber in den Familien spielten sich Tragödien ab: Hier erkrankte ein Bekannter, dort ein Verwandter. Da begann im ganzen Land die Selbstorganisation, die Freiwilligenbewegung – die totale Mobilisierung der Bevölkerung zum Kampf gegen die Pandemie, die die Regierung nicht ernst nahm. Deshalb ging das Volk  schon selbstorganisiert in diese Wahlen. 

    Nach den Wahlen kam dann ein völlig unerwartetes Ausmaß der Gewalt. Das Volk hatte in den letzten 15 Jahren gelernt, parallel zur Regierung zu existieren, ohne jegliche Berührungspunkte. Man meinte, dass sie uns nicht anrühren, und wir sie nicht anrühren – und gut. Alle bauen sich Wohnungen, Häuser am Stadtrand, erhöhen ihren Wohlstand. Wenn ein Bekannter ohne Grund in einer ominösen Angelegenheit verhaftet wurde, war das blöd, aber was soll’s. Dann wurde noch jemand verhaftet, aber der hatte sich dann womöglich in die Politik eingemischt, was wir natürlich nicht machen, also alles gut. 

    Ich habe noch nie solche Massenveranstaltungen gesehen

    Das Jahr 2020 öffnete vielen die Augen. Viele verstanden, wie es wirklich stand. Einerseits bin ich froh, dass es so gekommen ist, andererseits ist es sehr schade für diese Leute, weil sie jahrzehntelang gelebt haben, ohne zu sehen, was um sie herum geschieht.

    Sie wollten nicht sehen und nicht hören und sagten nur: „Ach hör doch auf damit.“ Aber nun kamen sie praktisch in jedes Haus.

    Das Einzige, was ich absolut nicht erwartet hätte, ist diese Menge an weiß-rot-weißen Fahnen und „Lang lebe Belarus!“. Ich dachte, das sei für immer eine Sache von ein paar Tausend Leuten, die immer die Flagge, das Wappen und das Motto verwenden. Aber plötzlich zeigten hunderttausende Belarussen die Flagge und damit auch, was Sache ist.

    Haben Sie damals im August an den Erfolg der Revolution geglaubt? Oder hatten Sie eine Ahnung, wie alles enden wird?

    Euphorie gab es zweifellos – ich habe noch nie solche Massenveranstaltungen gesehen. Danach waren Pascha Arakeljan und ich mit einer Initiative unterwegs, um die Leute in den Menschenketten zu unterstützen. Wir kamen mit Gitarre und Saxophon, spielten kurze Konzerte, aber es war klar, dass man nur mit Konzerten nicht siegen kann. Man sagt ja nicht einfach „Hau ab“ – und dann packen die ein und hauen ab …

    Ist die Revolution verloren?

    Was soll ich sagen, das ist eine recht komplexe Frage, aber ich würde das nicht so formulieren. Erstens war es kein Spiel, bei dem es ums Gewinnen und Verlieren geht. Es gibt eine Volksmasse, die mit dem gegenwärtigen System unzufrieden ist und eine Minderheit, die alles beim Alten belassen möchte – was aber nicht möglich ist.

    Das war ein Aufbegehren des Volkes 

    Sehen Sie sich als Sänger der Revolution?

    Ich betrachte mein Schaffen in einem weiteren Sinn, aber alle Musiker, die zu dieser Zeit in den Höfen gespielt haben, waren Sänger der Revolution. Aber gibt es Revolutionen ohne Waffen? Das war einfach ein Aufbegehren des Volkes. 

    Sind Sie für radikalere Handlungen?

    Nein, ich bin für friedlichen Protest – das Volk war in keiner Weise für den bewaffneten Widerstand vorbereitet. Das ist eine sehr ernste Sache, ich wünsche mir kein solches Szenario, es wäre sehr tragisch. So etwas muss auch reifen, die Bolschewiki haben sich jahrelang vorbereitet, einige Untergrundnetzwerke aufgebaut und so weiter. Es ist eine Sache von Jahrzehnten, eine wirkliche Revolution vorzubereiten, mit Anwendung von … Das ist nicht unsere Variante, scheint mir. 

    Haben Sie Belarus für immer oder nur temporär verlassen?

    Temporär. Ich bin im Sommer 2021 ausgereist und habe nichts mitgenommen. Nach den Konzerten in Polen kehre ich wahrscheinlich zurück. Aber unter dieser Regierung wird es keine normalen Auftritte in Belarus mehr geben.

    Wie wird sich die Situation in Belarus entwickeln? Müssen wir auf die Generation der Davongekommenen warten, damit sich etwas ändert, oder tritt der Wandel schon früher ein?

    Meine Intuition hat mir immer gesagt – nach den Wahlen 2001, 2006 und 2010 – dass es nicht mehr lange so weitergehen wird. Aber es ist noch über zehn Jahre weitergegangen. Deshalb würde ich meiner Intuition nicht sonderlich trauen. Im Moment denke ich, dass man ein Land nicht über viele Jahre in einem solchen Spannungszustand halten kann. Zum einen, weil es sehr teuer ist. Zum anderen, weil die Menschen den psychologischen Druck nicht aushalten – auch die, die diesen Druck ausüben.

    Lassen Sie uns fantasieren – wann kommt das neue Belarus? Wie stellen Sie sich dieses Land vor?

    Das kann tatsächlich jederzeit passieren – schon morgen. Zuerst einmal müssen in diesem Land absolut alle Grobiane aus allen Machtebenen entfernt werden, die ganze Regelreiterei in allen Bereichen, begonnen mit der Schule. Damit es nicht nur darum geht, einfach ein Häkchen zu setzen, wie man sagt, wenn überall bloß Formulare ausgefüllt werden. Ob das ein Arzt, ein Lehrer, ein Polizist oder ein Ermittlungsbeamter ist – du musst eine ungeheure Menge an Zetteln ausfüllen, aber das Eigentliche wird nicht gemacht, es geht nur um Papierkram. Das muss geändert werden. Alle Behörden müssen durchleuchtet werden, alle Mitarbeiter müssen überprüft werden. All diese Fälschungen, Manipulationen der Statistik, dieser totale Unfug, die übergebührliche Brutalität und Gewalt bei den Festnahmen – das gab es in der gesamten Zeit dieser Regierung. Doch erst jetzt haben die Menschen es gesehen, hat die große Masse es gesehen. Deshalb muss alles grundlegend reformiert werden.

    Telegram-Konzertankündigung zu einem Auftritt von Lavon Volski bei einem der „Hinterhofkonzerte” im November 2020 am Platz der Sieger in Minsk. Nach den Konzerten gab es häufig Torten und andere Süßigkeiten für die Musiker / Foto © privat
    Telegram-Konzertankündigung zu einem Auftritt von Lavon Volski bei einem der „Hinterhofkonzerte” im November 2020 am Platz der Sieger in Minsk. Nach den Konzerten gab es häufig Torten und andere Süßigkeiten für die Musiker / Foto © privat

    Und zum Schluss: Was möchten Sie den Belarussen noch sagen oder wünschen?

    Zunächst einmal bin ich den Belarussen und meiner Stadt sehr dankbar für das, was ich 2020 erleben durfte – ich hätte nicht geglaubt, das noch einmal sehen zu dürfen. Mein Verhältnis zu Minsk war sehr abgekühlt. Mir schien, die Menschen sitzen nur und schauen zu, wie die Regierung das aufbaut, was einfach nur furchtbar mit anzusehen war. Aber als die Stadt erwachte, fand ich meine Liebe zu Minsk wieder. Ich fand den Glauben an das Volk wieder. Und ich bin sicher, dass man dieses Blatt nicht mehr wird wenden können. Man muss nur ein bisschen warten, wollte ich immer sagen – aber man muss nicht warten, jeder muss einfach das tun, was von ihm abhängt.

    „Warte nicht, es gibt keine Überraschungen“

    Tatsächlich eine widersprüchliche Aussage – für mich war 2020 die Zeit der großen Überraschungen. Ein Musikreporter schrieb mir damals: Wir würden gern euer Konzert aufzeichnen, lasst uns noch die Wahlen abwarten, danach werden die Leute wie immer ein paar Tage in Depressionen sinken, und dann machen wir den Termin. Ich antwortete: „Okay, dann machen wir es wie immer.“ Aber dann kam alles ganz anders: Eine Überraschung folgte der anderen.

    Ich hoffe, uns erwartet in naher Zukunft eine große Überraschung. 

    Höchste Zeit! So viele Menschen denken dasselbe! Vielleicht erfüllt ja der Weihnachtsmann unseren größten Wunsch? In den letzten 27 Jahren hatten die Überraschungen ja immer eher negativen Charakter.

    [Das Interview wurde im November 2021 geführt – dek]

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    „Es war klar, dass wir Widerstand betreiben – im kreativen Sinn!“

    Lavon Volski gehört zu den bekanntesten und wandlungsfähigsten Rockmusikern in Belarus. Viele seiner Lieder sind zu unterschiedlichen Zeiten zu Hymnen einer Protestkultur geworden, die sich den Machthabern um Alexander Lukaschenko widersetzt. Wie viele andere hat auch er sein Land im vergangenen Jahr wegen der massiven Repressionen nach den Protesten infolge des 9. August 2020 verlassen; aktuell wohnt er in Polen.
    Das belarussische Online-Medium KYKY hat mit Volski ein langes Gespräch geführt, in dem er die Rolle der Rockmusik im unabhängigen Belarus reflektiert, die Auftrittsverbote in den vergangenen 20 Jahren, Lukaschenkos Ideologie und eigene Fehltritte. dekoder veröffentlicht das Interview in zwei Teilen.

    Teil 1

    Marija Meljochina: Lukaschenka ist seit 27 Jahren an der Macht, und Sie haben seinen Werdegang miterlebt. Ich würde gerne gemeinsam mit Ihnen den Weg von der relativen Freiheit der 1990er hin zur heutigen Militärdiktatur beleuchten. Beginnen wir 1994, als Belarus seine Staatlichkeit etablierte. Gab es damals Freiheit?

    Lavon Volski: Zu Beginn der 1990er Jahre entstand Freiheit gerade erst, Rockmusik war nicht mehr verboten, alles war erlaubt. Diese Politik währte von 1991 bis 1994, die Zeit der sogenannten Beinahe-Demokratie. Nach Lukaschenkas Machtantritt behielten die Bürokraten die Entscheidungsmuster vom Ende der 1980er Jahre noch eine Weile bei: Musik durfte nicht verboten werden, denn sie war „Arbeit mit der Jugend“: Besser, sie flippen mal bei einem Konzert aus, als dass sie Klebstoff schnüffeln. Aber einige Lokalzaren und -chefs, zum Beispiel im Exekutivkomitee von Mahiljou, führten doch Verbote ein, das war aber eher eine Ausnahme von der Regel. Sicher gab es auch mal Stunk, wenn jemandem etwas gar nicht gefiel. Aber es hatte nicht das Ausmaß, das dann in den 2000er Jahren begann. 

    In einem Interview sagten Sie, dass in den 1980ern niemand an die sowjetische Ideologie geglaubt hat. Letztlich hat sich Lukaschenka aber genau diese Ideologie zu eigen gemacht, und die Menschen glaubten ihm. Wie ist dieses Paradox zu erklären?

    Er hat anfangs mit dem Nostalgiefaktor gespielt. Das war ein sehr riskanter Schachzug, aber er war erfolgreich. Zu Beginn bewies er als Politiker durchaus Talent. Es war natürlich absolut unmöglich, in einem einzelnen Mitgliedstaat die Sowjetunion zu bewahren. Der Großteil der Bevölkerung wollte aber meiner Ansicht nach auf keinen Fall wieder neue Führer vom Typ Kebitsch, die ununterbrochen stehlen. Als die Stimmen also zwischen diesen beiden Kandidaten verteilt wurden, bekam Lukaschenka die Mehrheit, weil die Menschen nach dem Prinzip entschieden: „Ganz egal, Hauptsache nicht das, was vorher war.“ 

    Lukaschenka setzte auf die Vermehrung des Wohlstandes

    Ich würde auch nicht sagen, dass seine Ideologie sowjetisch war. Seine Rhetorik war, was man „für das einfache Volk“ nennt: „Esst euer Stück Wurst, trinkt eure 150 Gramm Schnaps, geht wählen und stimmt für mich.“ Das war nicht „Sawok“, sondern vielmehr ein Spiel mit einfachen Gefühlen. Die Sowjetideologie war anders: Alle sind Brüder und Schwestern, alle verdienen gleich. Natürlich wurde das nur postuliert und fand in der Realität nicht statt. Lukaschenka dagegen postulierte: Ihr werdet viel verdienen, ihr werdet eine Wohnung haben, ein Auto, eine Datscha – er setzte auf die Vermehrung des Wohlstandes. Darüber sprach man zu Sowjetzeiten üblicherweise nicht, das war schlechter Ton.

    Lukaschenkas Versprechen „500 für alle“ stammt also schon aus dieser Zeit?

    (lacht) Es gab dieses Versprechen, das Beste aus der Sowjetzeit zurückzubringen. Aber ich denke, dass die Menschen eher an regulären Renten und hohen Einkommen interessiert waren, an einem Anstieg des Lebensniveaus. Sie wollten diese Banditen und kriminellen Businesstypen überall loswerden. Deshalb gefiel ihnen, dass da einer kam und „Ordnung schafft“, einer, der alle das Fürchten lehrt.  

    Was ist Ihnen aus den ersten Amtsjahren Lukaschenkas in Bezug auf den Kulturbereich in Erinnerung?

    Für mich, und auch für viele andere Künstler, war das eine Katastrophe. Es war sofort klar, was für ein Mensch er ist. Und wie das bei uns so läuft, wurden sein Geschmack und seine Ansichten sofort auf das gesamte Land projiziert. Das war eine riesige Tragödie für die Kultur, aber alle hofften, dass es nicht lange dauern würde.

    Wurden die Schrauben sofort angezogen?

    Nein, es gab alles: verschiedenste Künstlervereinigungen, ausländische Galerien, Ausstellungen und Buchläden. Aktuelle Kunst. Es gab Theatervereine, viele ausländische Gäste, auch selbst konnte man zu Festivals ins Ausland fahren. Wen gab es damals? Krama, Ulis, Novae Neba, Mroja, Mjaszowy Tschas aus Nawapolazk. Es gab auch Bands aus Mahiljou und Hrodna, zum Beispiel Deviation oder Kaljan, aus denen später irgendwelche modernen Anarchopunkfolk-Formationen hervorgingen. Informelle Literaturvereinigungen entstanden, gaben Bücher heraus. Es gab alles, ohne Verbote.

    „Radio Svaboda“: der legendäre Song der Band Ulis aus dem Jahr 1990, der den belarussischsprachigen Dienst von Radio Liberty besingt.

    In der Bilanz, wie würden Sie Ihre 1990er Jahre kurz zusammenfassen?

    Da muss man trennen: Bis 1994 und nach 1994 – das waren schon zwei völlig verschiedene Zeiten mit komplett unterschiedlichen Werten. Bevor die Epoche des Autoritarismus und der Diktatur begann, gab es in den ersten drei Jahren seit 1991 meiner Ansicht nach eine nicht vollständig ausgeprägte Demokratie. In dieser Zeit arbeitete ich beim Jugendradiosender 101,2, wo auch viele Parteikader unterwegs waren. Sie waren empört über das, was wir machten. Sie hätten alles gern halbwegs neutral gehabt, aber wir sprachen schwierige Themen an, und dann auch noch in der „orthodoxen“ belarussischen Sprache, der Taraschkewiza. Deshalb wurde unser Chef oft irgendwohin einbestellt, und man schrieb uns Briefe, dass der Sender geschlossen werden müsse.

    In den 1990ern saßen auf den Schlüsselpositionen absolute Sowjetmenschen: einheitsgraue Jacketts, „was auch passiert“, „Hauptsache der Plan wird erfüllt“. Damals dachte man, dass sie langsam verschwinden würden. Aber es kam anders. Anrüchige und geistlose Menschen mit nicht mal sowjetischen, sondern stalinschen Ansichten krochen auf die zentralen Positionen.

    1994 begann dann eine neue Zeit, in der zum Beispiel plötzlich seltsame Staatsleute im alten Büro des Schriftstellerverbandes in der Frunse Straße 5 auftauchten, um mitzuteilen, dass sich dieses Gebäude im Besitz der Präsidialverwaltung befindet und man also entweder Miete zahlen oder „den Ort räumen“ müsse. Auch die zu Beginn der 1990er Jahre entstandenen privatwirtschaftlichen Strukturen wurden verfolgt – wer sich nicht schnell neu aufstellte, machte sich zum Feind.

    Das war eine sehr aufwühlende Zeit unter dem Vorzeichen der Katastrophe. Andererseits hat für mich wahrscheinlich gerade um 1994 eine sehr produktive künstlerische Reaktion auf all diese Ereignisse eingesetzt – ich schrieb viele wehmütige Songs, lyrische und Prosatexte. Bis dahin hatte ich – wie in einer verkehrten Welt – irgendwie stillgestanden.

    N.R.M.: Lavon Volski, Juras Ljaukou, Aleh Dsemidowitsch, Pit Paulau / Foto © N.R.M.
    N.R.M.: Lavon Volski, Juras Ljaukou, Aleh Dsemidowitsch, Pit Paulau / Foto © N.R.M.

    Kommen wir nun zur Epoche der 2000er Jahre, in denen Sie schon im ganzen Land Berühmtheit erlangen und Ihr Album Try tscharapachi (dt. Drei Schildkröten) erscheint.

    Die Epoche der Nullerjahre war vollkommen anders. Seit etwa 1995 oder 1996 waren wir in einer kleinen Minsker Szene bekannt. Ab und zu fuhren wir auch nach Hrodna oder Wizebsk – dort lief es in einem kleinen Kreis auch gut. Als Anfang der 2000er das Album Try tscharapachi erschien, wurden wir sehr bekannt. Das Album war in einem professionellen Studio aufgenommen worden und nicht mehr in der Garage. Darüber hinaus wurde es landesweit vermarktet – in jedem Kiosk konnte man eine Kassette oder CD von N.R.M. kaufen. Die vorangegangenen Alben waren nur im Minsker Laden Kowtschog in der Philharmonie verkauft worden. Wir gingen dann auch zum ersten Mal auf Tour. Deshalb änderte sich in den 2000er Jahren die Situation komplett.

    Die alten Fans haben uns nicht verziehen, dass wir nun für die Massen spielten. Sie schrieben uns im Internet, dass wir früher echten Rock gespielt hätten und jetzt verpoppt seien. Kurz gesagt, es war eine hektische Zeit: ständig Auftritte, Videodrehs, Interviews – ich musste mich förmlich zerteilen.

    Ab wann wuchs der Druck auf die Andersdenkenden? Können Sie sich an den Moment erinnern, als plötzlich Konzerte abgesagt wurden?

    Die ersten Anzeichen gab es schon 1995 – gemeinsam mit anderen Rockbands waren wir zum Festival für geistliche Musik Mahutny Bosha nach Mahiljou eingeladen. Der Vorsitzende des städtischen Exekutivkomitees, Sumarau, war gegen unseren Auftritt. Wir standen praktisch schon auf der Bühne, als er auf den Platz rannte und mitteilte, alles sei abgesagt.

    Ein Songschreiber darf sich nicht abwenden und gesellschaftliche und politische Themen meiden

    Das zweite Mal war im Sommer 2004 nach dem Auftritt einer Reihe von Bands im Hundepark am Bangalore-Platz. Das Konzert war dem zehnjährigen Jubiläum des Regimes gewidmet. Wir spielten alle – und danach ging es los, wohl auf Weisung von ganz oben, es tauchten die Schwarzen Listen auf und eine ganze Reihe von Bands wurde verboten. Damit war mit einem Mal alles vorbei: keine Interviews mehr in staatlichen Medien – in all diesen Teenie-Magazinen und Talkshows. Es blieben nur die unabhängigen Massenmedien, von denen es zu diesem Zeitpunkt noch viele gab. Später kam es dann vor, dass in Maladetschna 200 Leute aus dem Zug stiegen und direkt zum lokalen Klub liefen, wo N.R.M. einen Underground-Gig spielten.

    Hatten Sie Angst, dass Sie für solche Konzerte ins Gefängnis kommen, dass man Sie abholen kommt?

    Eine gewisse Angst hat mich ohne Zweifel von Beginn an begleitet. Es war klar, dass wir Widerstand betreiben – im kreativen Sinn. Wir gingen auch zu Kundgebungen, aber das war ja kein bewaffneter Kampf. Ich habe auf alles reagiert, weil ich glaube, dass ein Songschreiber sich nicht abwenden und gesellschaftliche und politische Themen meiden darf. Um für ein Underground-Konzert in den Knast zu kommen, war der Grad der Absurdität damals noch nicht hoch genug. 

    Obwohl ihr auf der Schwarzen Liste standet, habt ihr euch 2007 mit dem stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung getroffen. Warum?  Zu welchen Erkenntnissen seid ihr nach diesem Treffen gelangt?

    Das war ein total blöder Schritt – das Treffen hätte gut ohne mich stattfinden können. Ich ging nur hin, um einen Blick auf diesen „Hort des Bösen“ zu werfen. Tatsächlich hätten sie mich nicht eingeladen, wenn ihrerseits nicht irgendeine Notwendigkeit bestanden hätte. Damals gab es Prozesse in Richtung einer leichten Demokratisierung, um das Verhältnis zum Westen zu verbessern. Deshalb begannen sie mit dem Einfachsten: die verbotene Musik zurückzuholen.

    Damals kam ein findiger Mitarbeiter auf mich zu, den ich schon mehrfach getroffen hatte. Er arbeitete beim Staatsfernsehen, ein ganz normaler junger Typ. Er rief an und fragte: „Wie würden Sie reagieren, wenn die Verwaltung Ihnen ein Treffen anbietet?“ Ich antwortete, ich sei nicht sicher, aber vielleicht würde ich hingehen. Heute weiß ich, dass ich nicht hätte gehen dürfen. Sie versprachen uns, dass es keine schwarzen Listen mehr geben würde, weil das unzivilisiert sei. Falls wir mit Verboten konfrontiert würden, könnten wir in der Verwaltung anrufen und sie würden das klären.

    Das war 2007, im Jahr 2009 wurde dann Pawel Latuschka Kulturminister. Er setzte sich aktiv gegen die schwarzen Listen ein. Aber wenn ich es recht verstehe, sind die Listen nie verschwunden? Oder gab es doch ein Tauwetter?

    2009, als Latuschka Minister war, gab es diese Listen nicht. Im Prinzip gab es sie aber immer, die Programmdirektoren der staatlichen Radio- und Fernsehsender hatten sie einfach auswendig gelernt. Damit hatten sie richtig gelegen, denn 2010 tauchte die Liste wieder auf, zudem um das Fünffache länger. Ab diesem Moment konnte man nicht einmal mehr Underground-Konzerte geben. Es wurde Druck auf die Leitung und die Besitzer der Einrichtungen ausgeübt, die Konzerte erlaubt hatten. Sie wurden angerufen, erpresst, bedroht, mit Hygienekontrollen überzogen und mit üblen Strafzahlungen belegt. Diese Maßnahmen gab es bis 2017.

    Wenn Lukaschenka Sie heute zu einem persönlichen Treffen einladen würde, würden Sie hingehen?

    Natürlich nicht – man muss sich mit keinem von denen treffen, nie. Wozu auch? Ich habe den Fehler einmal gemacht. Wie ein Kind bin ich in die Präsidialverwaltung gegangen, um etwas Interessantes zu erleben. Aber sie brauchten mich nur, um ein Häkchen zu setzen, um dem Westen zu zeigen, dass alles gut wird.

    Die Fortsetzung des Interviews veröffentlicht dekoder am 11. Januar 2022.

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    Bystro #30: Warum ist Lukaschenkos Machtapparat derart stabil?

    Das Jahr 2021 in Belarus war geprägt von einer Radikalisierung des Machtapparats um Alexander Lukaschenko: Der hat die Medien, die Zivilgesellschaft, Aktivisten oder Andersdenkende mit scharfen Repressionen bekämpft. Mittlerweile ist kaum noch jemand sicher vor dem Zugriff der Silowiki, auch für Kommentare auf Facebook oder Reposts in den sozialen Medien werden mittlerweile mehrjährige Haftstrafen verhängt. Zusätzlich wurden wichtige Posten in Regierung, Wissenschaft oder Administration mit Leuten aus den Sicherheitsdiensten wie beispielsweise dem KGB besetzt.

    Warum arbeitet diese Repressionsmaschinerie derart konsequent? Wieso ist die Machtvertikale zu Beginn der Proteste nach dem 9. August 2020 nicht erodiert und weshalb zeigt sich der Apparat derart loyal gegenüber Lukaschenko? Auf diese und andere Fragen gibt der belarussische Politologe Waleri Karbalewitsch Antworten in diesem Bystro.
     

    1. Welche Rolle spielt der Machtapparat für Lukaschenko?

    Wie in jedem undemokratischen Staat spielen die Silowiki der Sicherheitsapparate und vor allem der Geheimdienste eine übergroße Rolle. Sie sind die zentrale Institution eines solchen Staates, das tragende Element des herrschenden Regimes und das wichtigste Instrument zum Machterhalt. Ihre Funktion ist in Belarus sehr viel weiter gefächert als in einem demokratischen Staat. Doch ihre Hauptfunktion besteht keineswegs im Schutz der Bevölkerung vor Verbrechern oder der Wahrung der öffentlichen Ordnung, sondern in der Verteidigung des Regimes gegen politische Opponenten. Wichtigste Aufgabe der Silowiki ist die Bekämpfung der Opposition. Sie sind an keinerlei Gesetze gebunden und ausgestattet mit dem Recht auf uneingeschränkte Macht. In Belarus gibt es keine zivile Kontrolle über das Militär und die Sicherheitsapparate.
    Die Leiter sämtlicher Sicherheitsorgane sind Lukaschenko persönlich unterstellt; sie werden von ihm ernannt und entlassen. Sie alle konkurrieren um die Gunst des Herrschers und belauern sich gegenseitig.

    2. Was hat sich innerhalb des zentralen Machtapparats durch die Proteste verändert?

    Nach den Massenprotesten von 2020 wurden politische Repressionen zum Hauptaspekt der staatlichen Politik. Deswegen nahm die Dichte und die Bedeutung der Silowiki erheblich zu. Die staatlichen Institutionen entwickeln sich in Richtung Militarisierung, Militärregime und Polizeistaat. Die Silowiki sind in Lukaschenkos Staat zum systembildenden Element geworden.

    Silowiki besetzen unterdessen Schlüsselposten im Staat. So ist etwa der Leiter der Präsidialadministration, Igor Sergejenko, ein General des KGB. Zum Katastrophenschutzminister wurde Wadim Sinjawski ernannt, ein General der Miliz. Justizminister ist der General der Miliz Sergej Chomenko. Selbst der Posten des stellvertretenden Vorsitzenden des Präsidiums der Nationalen Akademie der Wissenschaften wird von Oleg Tschernyschow, dem ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden des KGB, besetzt. Als Initiator für Gesetzesänderungen tritt in letzter Zeit vor allem das Innenministerium auf. Mal will das Ministerium Abonnenten „extremistischer“ Telegram-Kanäle zu Mitgliedern extremistischer Organisationen erklären. Mal will es Belarussen, die ins Ausland gegangen sind und es wagen, die Zustände im Land zu kritisieren, die Staatsbürgerschaft entziehen.

    3. Der KGB gilt als eine der wichtigsten Säulen des politischen Systems Lukaschenkos. Wie mächtig ist er wirklich?

    Sehr mächtig. Lukaschenko hat den Geheimdiensten jene Funktionen wiedergegeben, die sie in der UdSSR hatten. Laut Gesetz ist der KGB wie zu sowjetischen Zeiten zugleich Geheimdienst, Polizei- und Justizorgan sowie staatliche Verwaltungsbehörde. Er ist berechtigt, Verordnungen zu erlassen, die für andere staatliche Stellen verbindlich sind. Er kann seine Vertreter in eine Reihe mit den staatlichen Behörden stellen, und er kann in bestimmten Fällen die Truppen und Mittel der Armee, des Innenministeriums und des Grenzschutzes nutzen. Das Gesetz berechtigt den KGB, sich uneingeschränkt in die Tätigkeit aller (auch nichtstaatlicher) Wirtschaftssubjekte, Parteien, gesellschaftlicher Organisationen und in das Privatleben der Bürger einzumischen. Nach 2020 hat der KGB an Bedeutung gewonnen. Seine Aufgabe besteht jetzt darin, den Staatsapparat intensiv zu säubern und illoyale Verwaltungsbeamte aufzuspüren.

    4. Warum konnten die Proteste dem Machtapparat nichts anhaben?

    Für die Stabilisierung des Systems war es wichtig, dass Lukaschenko nach dem Beginn der Massenproteste 2020 die Leiter der Sicherheitsorgane ausgetauscht hat. Und zwar, weil er an deren Loyalität zweifelte. Wir können davon ausgehen, dass es dort anschließend gehörig anfing zu brodeln, denn in solch kritischen Momenten sind derlei Personaländerungen in den Sicherheitsbehörden nicht üblich. 
    Die Proteststimmung in der Bevölkerung und der „Aufstand der Massen“ führten jedoch nicht zu einer Krise der Obrigkeit und nicht zu einer Spaltung der Eliten, was allen Theorien zufolge unabdingbare Voraussetzung für den Sieg einer Revolution ist. Die Erwartung, dass der Staatsapparat unter dem moralischen und psychologischen Druck der Bevölkerung auseinanderfällt und auf die andere Seite der Barrikaden wechselt, hat sich schlichtweg nicht bewahrheitet.

    5. Warum sind die Fundamente dieser sehr loyalen und einflussreichen Machtvertikalen derart stabil?

    Der Machtapparat blieb hinter Lukaschenko, weil das autoritäre Regime in Belarus mächtig und konsolidiert ist. Keine einzige staatliche Institution wird vom Volk gewählt, ist der Bevölkerung gegenüber verantwortlich oder wird vom Volk kontrolliert. Der Staatsapparat ist absolut frei von Dissens. Für Regimegegner gibt es dort und in diesem politischen System keinen Punkt, an dem man den Hebel ansetzen könnte. Die Opposition bewegt sich seit einem Vierteljahrhundert außerhalb des Systems. Es herrscht eine strenge Machtvertikale, die von oben, von Lukaschenko persönlich gestaltet wird. Der Staatsapparat ist nicht von der Bevölkerung abhängig und reagiert deshalb nicht auf deren Forderungen, sondern bleibt demjenigen gegenüber loyal, der ihn geschaffen hat.

    Gleichzeitig ist der Staat in Belarus in allen Bereichen des öffentlichen Lebens ganz massiv präsent. Der Staat dominiert nicht nur die Wirtschaft, sondern auch den sozialen Bereich (Wohnungswesen, Gesundheit, Bildung), die Medien, die Kultur, den Sport und so weiter. Der Staat ist der wichtigste Arbeitgeber. Dadurch kann die Regierung die Gesellschaft unter die Kontrolle des Staates nehmen. Die politischen Repressionen werden nicht nur von den Polizei- und Justizbehörden und den Geheimdiensten vorgenommen, sondern von allen staatlichen Stellen. Die Arbeit sämtlicher staatlicher Einrichtungen ist jetzt weniger auf deren eigentliche Funktion ausgerichtet, sondern vor allem auf Repressionen.

    Vor den Wahlen und auch danach hat Lukaschenko die Finanzierung der Polizei- und Justizbehörden erheblich aufgestockt. Bis zum August 2020 wurden jedem Milizionär, der an der Unterdrückung von Protesten teilnahm, rund 400 US-Dollar pro „Arbeitstag“ gezahlt. In Belarus ist das fast ein durchschnittlicher Monatslohn. Das Monatsgehalt von Angehörigen der Sondereinheit OMON betrug während der Massenproteste nach unterschiedlichen Berechnungen zwischen 2000 und 6000 US-Dollar.

    6. Man hört immer wieder den Vorwurf, dass die Proteste zu friedlich waren, um den Machtblock zum Einsturz zu bringen. Hätte Gewalt gegen diesen hochgerüsteten Apparat überhaupt etwas ausrichten können?

    Erstens zeigt die internationale Erfahrung, dass gewaltsame Auseinandersetzungen auf der Straße die Zahl der Protestierenden auf ein Viertel schrumpfen lässt. Zweitens wurde gegen die Protestierenden das Militär mit Maschinenpistolen in Stellung gebracht, also Truppen mit Kampfbewaffnung, und nicht nur mit Wasserwerfern und Gummigeschossen. Die Kräfteverhältnisse waren absolut zu Ungunsten der Protestierenden. Und der Versuch eines großen gewaltsamen Widerstands hätte zu sehr vielen Opfern geführt. Drittens hätte ein gewaltsames Vorgehen der Protestierenden eine militärische Intervention Russlands bedeutet; Putin hatte die ja angekündigt. Dann hätte sich das ukrainische Szenario wiederholt. Viertens würde ein Sieg über die Diktatur, der mit Gewalt errungen wird, diese Gewaltkomponente in die Politik eines neuen Regimes weitertragen. Die gewaltsame Konfrontation zwischen verschiedenen politischen Kräften würde sich dadurch verstetigen.

    7. Wie sieht es mit der Zusammenarbeit zwischen den russischen und belarussischen Silowiki-Strukturen aus und hat der Kreml irgendeinen Einfluss auf den zentralen Machtapparat Lukaschenkos?

    Die Zusammenarbeit der russischen und belarussischen Militär- und Sicherheitsapparate ist ziemlich eng und hat sich nach 2020 verstärkt. An erster Stelle stehen vom Umfang her die Streitkräfte und die Verteidigungsministerien der beiden Länder. Ein beträchtlicher Teil der belarussischen Offiziere wird an der russischen Militärakademie ausgebildet. Auch die Geheimdienste, der KGB in Belarus und der FSB in Russland, arbeiten intensiv zusammen. 

    Was den Einfluss Russlands auf die Silowiki und den Militär- und Sicherheitsapparat in Belarus angeht, der ohne Lukaschenkos Wissen oder über seinen Kopf hinweg erfolgt, so ist der nicht groß. Die jetzige Offiziersgeneration hat ihre Karriere im unabhängigen Belarus gemacht. Außerdem bespitzeln sich die belarussischen Geheimdienste und Sicherheitsbehörden gegenseitig. In den letzten Monaten wurden Aufzeichnungen von Gesprächen und Telefonaten einiger Generäle und Offiziere verschiedener Behörden ins Internet gestellt. So stellte sich heraus, dass die Telefone des Innenministers und seiner Stellvertreter abgehört wurden.

    8. Hat die demokratische Staatenwelt irgendwelche Möglichkeiten, Lukaschenkos Machtgefüge unter Druck zu setzen?

    Es ist unwahrscheinlich, dass der Westen oder die Opposition politischen Druck auf diesen Apparat ausüben könnten. Im letzten Jahr gab es eine radikale Säuberung sämtlicher Sicherheitsbehörden, und sie wird fortgesetzt. Alle Mitarbeiter, die der Illoyalität verdächtigt wurden, wurden entlassen. Die verbliebenen stehen unter sorgsamer Kontrolle. Ihre Telefone werden überwacht (damit sie keine oppositionellen Telegram-Kanäle abonnieren), ihre Loyalität wird mit Hilfe von Lügendetektoren geprüft und Auslandsreisen sind ihnen verboten. Jede Illoyalität wird streng bestraft. Die wenigen Offiziere, die 2020 aus Protest gegen Lukaschenkos Politik ihre Entlassung einreichten, sitzen im Gefängnis. Das sind die Gründe, warum der Staatsapparat und vor allem der Militär- und Sicherheitsapparat nun monolithischer und gefestigter auftreten.

    9. Was müsste passieren, damit die Machtvertikale ihre Stabilität einbüßt?

    Es braucht eine heftige politische Krise, die das herrschende politische Regime bedroht, damit diese Vertikale ins Wanken gerät. Das könnte durch neue Massenproteste der Bevölkerung erfolgen, durch heftigen Druck aus Russland, einen sozialen oder wirtschaftlichen Zusammenbruch aufgrund von Sanktionen durch den Westen und so weiter. Es könnte auch durch einen Rückzug Lukaschenkos vom Präsidentenamt erfolgen, durch eine Doppelherrschaft. Solche Situationen sind aber nur schwer zu prognostizieren.

     

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Waleri Karbalewitsch
    Übersetzung: Hartmut Schröder
    Veröffentlicht am: 16. Dezember 2021

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    Dass Minsk als der weitgehend neutrale Ort erscheinen konnte, an dem einst noch Friedensgespräche geführt und Abkommen zum Krieg in der Ost-Ukraine getroffen wurden, ist 2021 kaum noch vorstellbar. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hat die Vermittlerrolle spätestens mit der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste in seinem Land verspielt. Die Demonstrationen begannen nach den ​​offensichtlich gefälschten Präsidentschaftswahlen vom 9. August 2020. Sowohl die EU als auch die Ukraine erkennen ihn seither nicht mehr als legitimen Präsidenten an.

    Der russische Präsident Wladimir Putin versucht dagegen, Belarus immer stärker an sich zu binden: Der Kreml betrachtet das Nachbarland, mit dem bereits im Jahr 1999 die Bildung eines Unionsstaates vertraglich vereinbart wurde, als seine Einflusssphäre. Bisher war das Vertragspapier geduldig. Teils besteht ohnehin schon eine enge Zusammenarbeit; im militärischen Bereich wurde sie zuletzt vertieft. Wirtschaftlich und finanziell ist das hoch verschuldete Belarus von Russland abhängig. Ob das Anfang November 2021 unterzeichnete Paket mit 28 Programmpunkten zum Unionsstaat tatsächlich den weiteren Weg ebnet, von dem es kündet, ist offen. 

    Ein weiteres Feld, auf dem sich Lukaschenko jahrelang zurückhielt, ist die Krim-Frage: Seit 2014 hatte er es stets abgelehnt, die durch Russland annektierte ukrainische Halbinsel als russisch zu bezeichnen. Womöglich hatte Lukaschenko Angst, dass ihm und Belarus ein ähnliches Szenario wie der Krim drohen könnte. Allerdings macht Lukaschenko seit einiger Zeit verbale Zugeständnisse an den Verbündeten, stellte Putin Anfang November auch eine Reise zur Krim in Aussicht. In einem Interview mit dem Generaldirektor der Staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja, Dimitri Kisseljow, bezeichnete Lukaschenko die Krim nun erstmals auch als „von Rechts wegen russisch“. 

    Würde Lukaschenko – für ein Treffen mit Wladimir Putin – auf die Krim reisen, so wäre er dort das erste Mal seit der Landnahme durch den Kreml. Ein Schritt, der als offizielle Anerkennung gewertet werden könnte.  
    Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat bereits die Äußerungen Lukaschenkos so gedeutet. Hingegen erklärte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba zunächst, es komme darauf an, ob Lukaschenkos Worten auch Taten folgen würden – wovor er ausdrücklich warnte.

    Was ist von Lukaschenkos Kehrtwende zu halten? Wie sind in diesem Zusammenhang andere scharfe Äußerungen an die Adresse von EU und NATO zu lesen? Und warum rückt der Machthaber damit auch die Lage der Flüchtlinge an der belarussisch-polnischen Grenze in den Hintergrund, während er die Krise zuvor als Druckmittel gegen die EU eingesetzt hat? 

    In einer Analyse für die Online-Plattform Carnegie.ru  geht der politische Beobachter Artyom Shraibman diesen Fragen nach. Dabei beleuchtet er auch, wie die kriegsgebeutelte Ukraine auf eine Krim-Reise reagieren könnte.

    In dem Interview mit Dimitri Kisseljow ließ Alexander Lukaschenko einiges selbst für ihn Sensationelles verlautbaren. Nach siebeneinhalb Jahren Drahtseilakt in Bezug auf die Krim sprach Lukaschenko endlich deutlich aus: „Die Krim ist de facto russisch. Nach dem Referendum wurde sie dann auch von Rechts wegen russisch“. 

    Außerdem kündigte er an, dass Minsk nach 25 Jahren Pause wieder um russische Atomwaffen bitten würde, sofern die NATO – wie Generalsekretär Jens Stoltenberg in Aussicht gestellt habe – Atomraketen von Deutschland nach Polen verlegt.

    Lukaschenko versprach zudem, im Fall eines Angriffs vonseiten der Ukraine „ökonomisch, rechtlich und politisch“ mit Russland an einem Strang zu ziehen, und kündigte gemeinsame Manöver an der ukrainischen Grenze an. 

    Das mit den Atomwaffen gehört natürlich in die Kategorie Hirngespinste. Die NATO hat bisher nicht vor, Atomraketen in Polen zu stationieren (Stoltenberg sprach über hypothetische Szenarien), und die Bereitschaft der Ukraine zu einem Angriff auf Russland hält sich in Grenzen. Doch diese Abfolge kriegerischer, antiwestlicher Statements sowie die maximale Annäherung an die russische Position zur Krim sind in erster Linie ein Signal  – dahingehend, dass Minsk jetzt seine außenpolitischen Prioritäten komplett neu aufstellt.  

    Doch diese Abfolge kriegerischer, antiwestlicher Statements und die maximale Annäherung an die russische Position zur Krim sind in erster Linie ein Signal – dahingehend, dass Minsk jetzt seine außenpolitischen Prioritäten komplett neu aufstellt

    Seit 2014 war Minsk dank Lukaschenkos uneindeutiger Position in der Frage „Wem gehört die Krim?“ nicht nur Verhandlungsort im Ukrainekonflikt, sondern gefiel mit seinem neuen, friedensstiftenden Gesicht auch dem Westen, vor allem mit dem gefährlichen Moskau im Hintergrund. 

    Doch diese Tauwetterzeiten sind vorbei. Die politische Krise seit den Wahlen 2020 das Flugverbot für europäische Flugzeuge im belarussischen Luftraum und Lukaschenkos prorussische Schlagseite machten Minsk als Verhandlungsort ungeeignet. 

    Die Errungenschaften aus den fünf Jahren, in denen Belarus aktiv eine multivektorale Außenpolitik (2014 bis 2019) betrieb, haben ihren Wert verloren. Die Vorteile, die die Distanzierung zu Russland brachte, gibt es nicht mehr. Und es wird sie angesichts des neuen Aufregers – der aktuellen Menschenrechtskrise – auch in absehbarer Zeit nicht geben. Erst recht mit Blick auf die Wucht, die er für den Westen entfaltet. Dafür besteht die Gefahr, Moskau zu verärgern, wenn man in der aktuellen Situation noch Neutralität vorschützt.   

    Heute hängt es vor allem vom guten Willen und den Spendierhosen des Kreml ab, wie friedlich Lukaschenkos verbleibende Jahre im Amt und der anschließende Machttransfer verlaufen werden. Somit hat es jetzt für Minsk Priorität, Moskaus Gunst zu erwerben, auch wenn man dabei ein Minimum an Souveränität preisgibt. 

    Lukaschenko will diese Gunst auf zwei Arten erwerben. Mit starken symbolischen Gesten wie der Anerkennung der Krim und indem er Russland noch tiefer in eine geopolitische Konfrontation mit dem Westen hineinzieht. Für eine belarussische Festung, die stolz den Feinden den Weg nach Moskau versperrt, wird viel lieber Geld gegeben als einem ewig schwankenden Bündnispartner, der einfach nur gut leben, nicht aber seine Wirtschaft reformieren will. 

    Daher achtet Lukaschenko darauf, dass seine Konfrontation mit dem Westen von Moskau nicht einfach nur als Gezanke zwischen kleinen osteuropäischen Staaten wahrgenommen wird, sondern als Teil eines großen Kreuzzugs der NATO gegen Russland und seine Freunde. Das ist der Grund, warum Lukaschenko jetzt so oft verbal mit russischen Säbeln rasselt und versucht, Moskau in seine Streitereien mit den Nachbarn zu involvieren.

    Zuerst erbittet (und bekommt) er ein S-400 Boden-Luft-Raketensystem an der polnischen Grenze, dann bittet er entlang dieser Grenze um regelmäßige Flugmanöver mit russischen Kampfjets – als Reaktion auf den Einsatz polnischer Soldaten an den Hotspots der Migrationskrise. Und schließlich droht er mit russischen Kernwaffen und einem gemeinsamen Krieg gegen die Ukraine, wenn diese zuerst angreift.  

    Es gibt zwei Erklärungen, warum sich solche Äußerungen gerade jetzt häufen und Lukaschenko zu Konzessionen bezüglich der Krim bereit ist. Erstens laufen Verhandlungen über einen neuen Drei-Milliarden-Dollar-Kredit für Minsk bei der Eurasischen Entwicklungsbank, die von Moskau kontrolliert wird.  

    Zweitens empfahl Putin kürzlich bei einer Rede im russischen Außenministerium der belarussischen Staatsmacht überraschend, einen Dialog mit der Opposition zu führen, nicht ohne hinzuzufügen, dass es im Land nach wie vor Probleme gebe, auch wenn sich die Lage äußerlich stabilisiert habe. Lukaschenko reagierte genervt und meinte, solle doch Putin zuerst mit Nawalny verhandeln.    

    Ähnlich wie viele Analysten verstand wohl auch die belarussische Staatsführung Putins Rat als Signal eines gewissen Unmuts. Der vielleicht darin wurzelt, dass Minsk versucht, die sich hinziehende, aber Moskau versprochene Verfassungsreform in einen Hebel zu verwandeln, der Lukaschenko den Machterhalt auf einem neuen Posten sichert. 

    Russland mit irgendetwas unzufrieden sein zu lassen, wäre jedenfalls nicht die beste Idee – jetzt, wo Kredite verhandelt werden und der Westen neue Sanktionspakete verhängt, die man mithilfe des Bündnispartners umgehen will.

    Hätte Lukaschenko die Krim vor 2020 als russisch anerkannt, hätte das bei den westlichen Staaten noch Befremden und bei der Ukraine Zorn hervorgerufen. Mittlerweile hat er in diesen Ländern ohnehin den Ruf eines verzweifelten und illegitimen Despoten erlangt, der im Kampf ums Überleben zu allem bereit ist. In dieser Logik des Abwärtsstrudels der Selbstisolierung war die Anerkennung der Krim unausweichlich.

    Die EU und die USA überhörten seine Worte über die Krim und die Atomwaffen genauso wie die anderen Drohungen

    Bei den Nachbarländern von Belarus – Litauen, Polen und Ukraine – gilt Minsk längst nicht mehr als eigenständiger Player. Aus deren Perspektive waren Lukaschenkos Äußerungen nur eine formale Anpassung des belarussischen Regimes an seine prorussische, marionettenhafte Haltung. Aufgrund der geringen Erwartungen fielen die Reaktionen auf Lukaschenkos Äußerungen auch sonst ziemlich mau aus. Die EU und die USA überhörten seine Worte über die Krim und die Atomwaffen genauso wie die anderen Drohungen. Stattdessen waren alle mit der Vorbereitung und Verabschiedung neuer Sanktionen als Reaktion auf das Organisieren dieser Migrationskrise beschäftigt.  

    Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba antwortete leicht scherzend, es sei sinnlos, auf Lukaschenkos Bewusstseinsstrom zu reagieren, man solle nach Taten urteilen. Offenbar bereitet sich Kiew auf einen diplomatisch deutlichen Einspruch vor, sobald Lukaschenko seine Versprechen hält und gegen ukrainische Gesetze verstoßend auf die Krim fährt.

    Konsequenzen wird es zwar geben, aber man darf keinen Abbruch der ukrainisch-belarussischen Beziehungen erwarten. Es ist durchaus möglich, dass Kiew seine Vertretung in Minsk zahlenmäßig herunterfährt, seinen Botschafter zurückruft und den belarussischen nach Hause schickt. Möglich sind auch neue personenbezogene Sanktionen für Reisen auf die Halbinsel und Handelskriege, doch auf den wichtigsten belarussischen Exportartikel für den ukrainischen Markt – Erdölerzeugnisse – wird Kiew nicht verzichten können.    

    Die gegenseitige Abhängigkeit der beiden Länder auf dem Erdölsektor besteht seit vielen Jahren. Die belarussischen Raffinerien exportieren rund 40 Prozent ihrer Erdölprodukte – Benzin, Diesel und Bitumen – in das südliche Nachbarland. Im Jahr 2021 übersteigt die Exportsumme zwei Milliarden Dollar.    

    Ersatz ist für die Ukraine derzeit nicht in Sicht. Die eigene erdölverarbeitende Industrie wird gerade erst wieder auf die Beine gestellt. Eine Steigerung des russischen Imports anstelle des belarussischen wäre irrwitzig, wo es doch um die Krim geht. Und Erdölprodukte aus Polen wären zu teuer.  

    Wegen der Krim-Episode wird es höchstwahrscheinlich auch keine extra Sanktionen des Westens geben. Minsk spielt da bereits in einer anderen Liga – Sanktionen werden für die Gefährdung der regionalen Stabilität verhängt, etwa für die Entführung der Ryanair-Maschine oder die Situation mit den Flüchtlingen. Vor diesem Hintergrund sind Lukaschenkos Worte in Bezug auf Russlands Territorialstreitigkeiten mit den Nachbarn zweitrangig. 

    … eine Freundschaftsgeste aus einer Hilflosigkeit heraus, nachdem die multivektorale Außenpolitik keine Früchte mehr trägt, wirkt nicht gerade aufrichtig

    Vielleicht hat Lukaschenko gerade wegen der Erkenntnis, dass er gegenüber dem Westen und der Ukraine im Grunde nichts zu verlieren hat, den Mut aufgebracht, endlich diese vom großmachtsgläubigen Teil der russischen Elite so lang ersehnte Geste zu erbringen.

    Im heutigen Kontext werden Lukaschenkos Äußerungen auch in der Beziehung zum Kreml kaum zu einem Durchbruch führen. 

    Die Unterstützung der russischen Position in Bezug auf die Krim wäre dann entsprechend gewürdigt worden, wenn sie zu einer Zeit gekommen wäre, in der sie Minsk etwas gekostet hätte. Aber eine Freundschaftsgeste aus einer Hilflosigkeit heraus, nachdem die multivektorale Außenpolitik keine Früchte mehr trägt, wirkt nicht gerade aufrichtig.  

    Moskau freut sich natürlich über jede Krise zwischen Minsk und Kiew. Das macht ein abgestimmtes Handeln der beiden Transitländer in der Zukunft unwahrscheinlicher und verengt den Spielraum für Minsker Manöver, die Chance, wieder zu einer Art Multivektorialität zurückzukehren.  

    Bei Lukaschenkos Äußerung zur Krim gibt es, genauso wie bei ein paar weiteren Verbindlichkeiten, die er eingeht, noch ein anderes Problem – nämlich ihre Haltbarkeit nach einem Regierungswechsel.

    Lukaschenkos Legitimitätskrise bedeutet, dass die morgige oder übermorgige Staatsmacht versucht sein wird, sich von manchen Versprechen oder Schritten des vorangegangenen Regimes zu distanzieren. Immer mit Verweis darauf, dass sie ein Usurpator in seinem eigenen Namen unternommen hat. 

    Das ist schon heute aus der Rhetorik der belarussischen Opposition herauszuhören: Von den Verpflichtungen, die Lukaschenko nach August 2020 eingegangen ist, werden wir nur jene erfüllen, die sich für das belarussische Volk lohnen. 

    Und während man wegen der Kredite an Janukowitsch immerhin vor Gericht ziehen kann, so ist das mit einem politischen (und nicht völkerrechtskonformen) Akt wie der Anerkennung der Krim als russisch unmöglich

    Es wird sich zeigen, ob diese Geste aus Minsk Moskau zu finanzieller Freigebigkeit anspornen wird. Dem belarussischen Staat stehen im nächsten Jahr Rückzahlungen in Höhe von 3,4 Milliarden Dollar bevor, 2023 werden es über vier Milliarden Dollar sein. Bedenkt man die Auswirkungen der westlichen Sanktionen und den Stand der Währungsreserven, so wird man ohne neuerliche russische Darlehen nicht auskommen.     

    Im September hat Putin versprochen, Lukaschenko bis Ende 2022 eine Summe von 630 Millionen Dollar zu leihen, was ganz offensichtlich nicht genug ist. Mit Lukaschenkos Krim-Diplomatie und vor allem Putins Scheu davor, seinen Bündnispartner in Bankrott und Chaos zu stürzen, kann Minsk sich daher erlauben, auf mehr zu hoffen.

    Das Problem ist, dass Lukaschenko Moskau immer wieder seine Loyalität wird beteuern müssen, und nach der Anerkennung der Krim als russisches Territorium bleibt an rhetorischen und symbolischen Konzessionen nicht mehr viel übrig.  

    Als nächstes wird er entweder etwas ihm Heiliges opfern müssen – sei es Staatseigentum oder Teile der Souveränität. Oder er muss mit seinen Nachbarländern dermaßen eskalieren, dass der Kreml sich nicht mehr raushalten kann. Derzeit sieht es ganz danach aus, als tendiere Lukaschenko zu Letzterem, und das ist heute die größte Gefahrenquelle für die Region.

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  • Minsk-21, Transitzone

    Minsk-21, Transitzone
    Zichan Tscharnjakewitsch, 1986 in der süd-belarussischen Stadt Pinsk geboren, gilt als einer der bekanntesten Literaturkritiker und -kenner seiner Generation. In diesem Text beschreibt er die momentane Lage, in der sich viele seiner Landsleute nach einem Jahr der scharfen Repressionen befinden. Eine Lage, die einem Zwischenzustand gleicht, wie in der Transitzone eines Flughafens, in der man die Gedanken ordnend vor sich hindämmert, bevor man endlich seinen Weg fortsetzen und in die Zukunft aufbrechen kann.

    Russische Version auf Colta.ru

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Die Stadt ist alt geworden, das spürt man. Obwohl, verflixt – ich weiß nicht, wie ich es euch erklären soll. Vielleicht ist mir etwas ins Auge geraten – Staub, ein Spiegelsplitter, und plötzlich ist alles verkehrt. 

    In den Trolleybussen riecht es nach Kölnisch Wasser, nach süßlichen Fahnen von Obstwein, nach vergilbtem Mull selbstgebastelter Masken, nach warmem, feuchtem Kohlendioxid: Das schlägt sich an den geschlossenen Fenstern nieder und trägt den Tod in sich. Immer hustet jemand, ständig sitzt jemand ohne Maske da und hustet. Was hast du hier verloren, Jacques-Yves Cousteau, das erste Mal in deinem Tiefsee-U-Boot,  sehr unbequem, wie lang sich dieser Tauchgang wohl hinzieht. 

    Ich stürze aus dem Trolleybus und stehe vor einer Polizeistreife. Denn in letzter Zeit geht es mir immer so: Wenn ich aus dem Trolleybus steige, stoße ich unweigerlich auf eine Polizeistreife. Neulich ging ich beim Polizeirevier Perwomaiski die Bjalinskaha Straße entlang und sah, wie die Patrouillen losmarschierten: Jede Minute kamen drei aus dem Tor heraus, dann wieder drei, insgesamt dreißig Mann mit Schlagstöcken. Hätte man die Szene gefilmt, hätte sie eins zu eins in den Director’s Cut von The Wall gepasst. Wäre später natürlich rausgeflogen. Denn eigentlich ist das langweilig. Nichts Lebendiges, keine hyperboreische Freude in den Bewegungen, keine Sturmhauben und Munitionsgürtel mehr. Routine.  

    Das letzte Mal, dass einer der berühmten grünen Gefängnistransporter zielstrebig durch die Stadt rollte, war im Juli. Es war heiß, und die schwarzen Sturmhauben ragten aus den offenen Autofenstern, scannten angespannt die Umgebung. Es war der letzte Schultag und offenbar hatte sich jemand im Innenministerium gedacht, dass zumindest ein paar angenebelte Schulabgänger, die Fahnen von Eukalyptus und Menthol verströmten, sich mit inoffizieller Symbolik schmücken, regierungsfeindliche Parolen rufen, sich einer Festnahme widersetzen und an Uniformen zerren würden. Aber nein.    

    Was soll ich denn sagen über die Zukunft? Sie dauert schon lange. Zeitspannen haben mich schon früher beschäftigt. Einmal habe ich den Sohn von Jakub Kolas gefragt, was denn Janka Kupala für ein Typ war. Während ich mich mit ihm über die 1930er und 1940er Jahre unterhielt, spürte ich eine gigantische, kosmische Distanz. Denn Gewalt verdichtet das Zeitgefühl. Gefüllt mit Gewalt, vergehen die Tage langsamer, sind voller Leidenschaft, Schmerz, Moosbeersaft. Je mehr kaputte Seelen, desto größer die Amplitude. Und das Blut in den Adern fließt nicht mehr, sondern verklumpt, verstopft und sperrt dich ein zwischen Vergangenheit und Gegenwart.    

    Außerdem: Zukunft ist nur im Prozess ihrer Gestaltung möglich. Dafür braucht man Baumaterial und ständig erneuerbare Energiequellen. Modelle, Pläne, Programme, für die es Spielregeln gibt und die man befolgen und umsetzen kann. Besser: nicht nur umsetzen kann, sondern auch wirklich will. Gleich nach dem Aufstehen, ohne erst mal eine zu rauchen.   

    Noch will man nach dem Lesen der Morgennachrichten sofort eine Zigarette rauchen: Einer ist zu Hause umgebracht worden, einer im Gefängnis gestorben, einer kam aus dem Gefängnis, hatte plötzlich Krebs und starb; wieder ein anderer sitzt einfach und lebt noch, hat zehn Tage bekommen. Oder zehn Jahre. Gerade waren es noch 700 politische Gefangene, kaum schaust du dich um, sind es schon über 900. Gerade hieß es noch, ein paar tausend politische Strafprozesse, und bumm, plötzlich sind es 5000. Sind fünf noch ein paar? Keine Ahnung, ich bin kein Linguist.      

    Keiner meiner Freunde kauft Lebensmittel auf Vorrat. Das ist alles Luxus, den man vielleicht gar nicht brauchen wird. Ein halbes Dutzend Eier, zwei Syroki, ein kleiner Becher Schmand. Eine Packung Toastbrot wirkt schon merkwürdig. Planst du etwa für eine ganze Woche? Willst du 100 werden?


    Und immerzu hustet jemand. Gestern bin ich in die Stadt gegangen, um mir den chinesischen Impfstoff spritzen zu lassen, damit ich ein Zertifikat bekomme, mir ein Ticket an die nächstbeste Küste kaufen kann, wo ich mitsamt der Kleidung ins Meer steige und vielleicht gleich dort abkratze. Im Stadtzentrum tummelten sich scharenweise Migranten, manche sogar mit Dolmetschern. Sie schienen bester Stimmung. „Ungefähr so werde ich auch drauf sein, wenn ich das Meer sehe“, dachte ich. Aber den chinesischen Impfstoff gab es nirgends, es gab nur noch Sputnik. „Ist hier vielleicht der chinesische aufgetaucht?“ habe ich bei den Impfstationen im ZUM und im GUM gefragt. „Noch nicht, kommen Sie morgen wieder. Alle fragen danach – Sie sind viele, und ich bin hier ganz allein.“

    „Hätte ich ihr Geld zustecken sollen, oder Konzertkarten für Gasmanow?“, so die trostlosen Gedanken eines Menschen, der sich in der Fernsehgeräteabteilung des ZUM umschaut. Auf zwanzig Bildschirmen  gleichzeitig die Übertragung einer Sendung über die Entwicklung strukturschwacher Regionen. Es wurde vorgeschlagen, irgendwo Geld aufzutreiben und es großzügig in die Erneuerung der bestehenden Ordnung zu stecken.

    Alle Regionen, die in der Sendung rückständig genannt wurden, würden im Fall einer Grenzziehung im Osten in den unteren und mittleren Schichten der Atmosphäre bestimmt zu Schmugglerparadiesen und bei Aufstiegsströmungen zu Freihandelszonen. Doch solange es keine Grenze gibt, fahren die Bewohner lieber auf Baustellen nach Moskau, um Estrich zu gießen und wer das nicht kann, um sich die Kehle zu füllen. Ich behielt meine Gedanken aber für mich. Wer weiß, was für Gerätschaften in dieser Fernseherabteilung noch herumstehen. Wozu habe ich überhaupt diesen ganzen Absatz geschrieben? Ich interessiere mich doch eigentlich gar nicht für Politik.    

    Auf den Bildschirmen läuft jetzt ein Fußballspiel. Doch für Fußball interessiere ich mich auch nicht. Ja klar, ich habe davon gehört, dass letztes Jahr bei der Nationalmeisterschaft im Finale, in den letzten entscheidenden Sekunden, jemand den Ball von der Spielfeldmitte direkt ins Tor des amtierenden Meisters befördert hat. Doch der Schiedsrichter hat das Tor für ungültig erklärt. Als die Mannschaft daraufhin rebellierte, hat der Schiedsrichter alle einsperren lassen, die Fans im Stadion mit Granaten beworfen und dann ebenfalls festnehmen lassen. Die, die die Übertragung verantworteten, wurden auch eingesperrt, und jetzt buchtet man die ein, die die Übertragung gesehen haben. Ich habe das Spiel natürlich nicht gesehen, ich habe nur davon gehört. Ich besitze ja nicht einmal einen Fernseher. Wie gesagt, ich interessiere mich nicht für Fußball.

    Die Stadt ist voll gelbem Ahorngestöber. Instagram ist voll bunter Blätter und in Vorstadtwäldern gefundenen Steinpilzen und Rotkappen. Es gibt auch Fans von Täublingen und Milchlingen, aber das ist eine Kaste für sich, viele Likes bekommen sie nicht. Der Schwarze Milchling ist außerdem ein Vorratspilz – da zeigt sie sich wieder, die Zukunft, die es nicht gibt. Und auch Spielregeln gibt es nicht. Nicht wie beim Angeln – fangen, ausnehmen, braten, essen. Das ist schon näher dran an der Realität.


    Wie dem auch sei, man muss das Leben genießen. Ich halte mein Gesicht in die Sonne. Nichts hindert die letzten warmen Strahlen, nichts bremst die Lichtgeschwindigkeit, denn ich stehe neben dem neuen Gebäude des Obersten Gerichtshofes. Der Platz davor ist eine riesige Ödnis ohne Bäume. Ich bin gerade arbeitslos geworden; im Land wurden mehrere hundert Organisationen aufgelöst, und heute war unsere an der Reihe. Angeblich haben wir irgendwelche Vorschriften im „globalen Computernetzwerk Internet“ ignoriert und den Kontrollinstanzen Dokumente vorenthalten. Dass sie die Hälfte dieser Dokumente bei der Durchsuchung konfisziert und die andere Hälfte zusammen mit dem Büro versiegelt haben, hat niemanden interessiert. Ich stehe da und denke nach über das „globale Computernetzwerk Internet“. Ist es wirklich so global? Und geht es überhaupt um Computer, und wenn ja, warum?

    Wenn Prousts Held sich schlaflos im Bett wälzt und seine blassen Beine betrachtet, denkt er an die Frauen, mit denen er es gut hatte. Wenn ich nicht schlafen kann, denke ich eher an das, was der in Ungnade gefallene Schauspieler Alexander Schdanowitsch einmal gesagt hat: „Jetzt in Belarus zu bleiben, ist wie in einem Zimmer zu wohnen, in dem sich unter dem Bett eine giftige Schlange versteckt.“ Eine Freundin von mir, sie ist Künstlerin, erwiderte, das Leben sei grundsätzlich eine Schlange unter dem Bett, nur sei es in Belarus eine schwarze Mamba. Ehrlich gesagt, wenn du schon ein Jahr chronisch an Schlafstörungen leidest, kommt es dir so vor, als würde unter deinem Bett ein ganzes Schlangennest hausen.

    Wenn einem etwas scheint, dann muss man sich bekreuzigen, so ein Sprichwort. Schließlich kann man seine subjektiven Wirklichkeiten, die einen in Form von Empfindungen überkommen, nicht anderen Menschen aufzwingen. Ja, hier in dieser Stadt, wo zwölf deiner Freunde schon im Gefängnis gesessen haben und weitere Angehörige immer noch sitzen, kann man Lebensfreude nur imitieren. Andererseits musst du sie auch imitieren, sonst frisst dich die Brut auf, die unter deinem Sofa zischt.


    „Na, Sie waren ja ewig nicht mehr zum Haareschneiden hier, bestimmt zwei Monate. Ist schon völlig rausgewachsen. Heute kam ein merkwürdiger Typ hier rein, der wollte unbedingt die Haare auf Pump geschnitten bekommen, hatte wohl sein Geld versoffen und kam dann her. Bei uns im Wohnheim wimmelt es von denen, wollen mal dies, mal das, und dann kommt noch dein Göttergatte, bettelt rum. Welches Wohnheim? Na, das für Energietechniker. Warum soll ich Energietechniker sein, ich bin kein Energietechniker, ich weiß gar nicht, wie viele es bei uns noch gibt von denen, vielleicht gar keine mehr, alle möglichen wohnen da, seit letztem Jahr sind es weniger geworden, die haben alle Rot-Weißen rausgefischt und auf die Straße gesetzt, wissen Sie, woran sie die erkennen? An den Augen. Als die auf die Straßen gekommen sind, da wurden ja die Augen gefilmt, und so haben sie nachher alle erkannt. Bei uns wurden vierzig Leute rausgeworfen. Aber jetzt ist kein Platz mehr, natürlich sind dafür Neue nachgekommen, sogar ein stellvertretender Minister hat bei uns gewohnt, als der alte entlassen wurde. Aus Witebsk kam der neue, hat immer gelächelt, unsere Mädels waren gleich Feuer und Flamme, aber dann kam seine Frau übers Wochenende, hat sie gesehen, und gesagt „Schluss, morgen ziehe ich hierher“. Die hat dann niemanden gegrüßt. Aber jetzt haben sie irgendeine Dienstwohnung bekommen. Aber klar, unsere Mädels sind heiß. Ach was, die sind keine Energietechnikerinnen. Die haben alle drei, vier Kinder, leben vom Kindergeld. Draußen findet man gar keinen Parkplatz mehr, die kaufen sich alle einen Geely auf Kredit, die Kinder lassen sie barfuß im Flur rumlaufen, in dreckigen T-Shirts, stehen alle rum und rauchen, sagen Hi!, die Kinder sind bis abends sowieso wieder durchnässt, das härtet ab, da braucht man keine Schuhe zu kaufen, wenn sie barfuß rumrennen Und dann immer: Hast du einen Bonbon für mich, manchmal geb ich ihnen eins. Haben Sie auch Kinder? Ja? Ach so.“


    Insgesamt glaube ich nicht, dass sich alles auf Dauer beruhigt hat. Nur die Ordnung hat sich verändert im direkten wie im übertragenen Sinn. Die Belarussen waren schon immer Meister im Universum des Überlebens, diese Fähigkeit kann ihnen niemand nehmen. Ein vernünftiger Mensch denkt strategisch, das mag die Staatsmacht nicht. Denn das strategische Denken – das zukunftsgerichtete Denken, das Denken in großen Begriffen – spielt nie auf der Seite der Gewalt. Jede Thrombose wird früher oder später bereinigt, der Organismus versteht die Notwendigkeit, sich selbst zu heilen, damit das Blut normal fließen kann.

    Aber bis dahin, bis dahin rauche ich in der Dunkelheit und atme die Fäulnis der Ebbe ein.     

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