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Editorial: dekoder entschlüsselt Belarus! Dafür brauchen wir Euch!
200 Tage Protest: Seit dem 9. August 2020 protestieren die Belarussen für Neuwahlen und ihre Grundrechte. Derzeit vor allem in Mini-flashmobs, bei Abendspaziergängen in kleinen Gruppen … Die großen Straßenproteste sind mittlerweile verschwunden, was vor allem an den massiven Repressionen liegen dürfte, mit denen der Machtapparat Lukaschenkos gegen jeglichen Widerstand vorgeht. Sei es gegen Journalistinnen wie beispielsweise Kazjaryna Andrejewa und Darja Tschulzowa, die kürzlich zu zwei Jahren Haft verurteilt wurden. (Sie hatten ein Live-Streaming eingerichtet von einer Gedenkveranstaltung für Roman Bondarenko, der am 11. November 2020 von maskierten Männern in einem Minsker Hinterhof zusammengeschlagen worden war und schließlich seinen Verletzungen erlag.) Sei es gegen Oppositionspolitiker wie Viktor Babariko, der bei der Präsidentschaftswahl gegen Lukaschenko antreten wollte, aktuell vor Gericht steht und dem 15 Jahre Haft drohen. Sei es gegen Musiker wie denen von der Band Rasbitaje serza pazana (dt. Das gebrochene Herz eines Homies), die für ein Privatkonzert 15 Tage Haft aufgebrummt bekamen. Sei es gegen jegliche Graffiti oder Symbolik des Protests. Die 75-jährige Iraida Misko beispielsweise erhielt eine Geldstrafe von 175 Euro, weil sie an einer „nicht genehmigten Kundgebung“ teilgenommen haben soll. Als Beweis präsentierten die Justizbehörden ein Foto von Iraida Misko, auf dem sie ein weiß-rot-weißes Lokum, eine Süßigkeit, in der Hand hält.
Menschenrechtsorganisationen wie Libereco haben ermittelt, dass seit Beginn der Proteste über 33.000 Menschen inhaftiert wurden. 266 werden aktuell als politische Gefangene geführt. 2020 wurden 477 Journalisten festgenommen. Es wurden über 1000 Fälle von Folter und Misshandlungen dokumentiert. Der Politologe Waleri Karbalewitsch analysiert, dass sich Belarus aktuell in einer tiefen politischen Krise befindet, für deren Lösung das Regime nur eine Antwort hat: Gewalt und Repressionen. Er schreibt: „Der Kult der rohen Gewalt charakterisiert sehr gut das Unvermögen des herrschenden Regimes, sich an die neue Realität anzupassen. Das Regime hat kein Narrativ für die Zukunft, außer der Erhaltung des Status quo, der auf Angst und Gewalt beruht.“ Wie es weitergeht, ist aktuell schwer zu sagen.
Aus Anlass des 200. Protesttages lassen wir die Vielfalt und Höhepunkte der Protestkultur in einem visuellen Rückblick Revue passieren. Es sind zweifelsohne Ausformungen eines historischen Selbstermächtigungsprozesses, mit dem die Belarussen nicht nur sich selbst, sondern auch die internationale Staatenwelt überrascht haben. Sie zeigen, dass die Sehnsucht der Belarussen nach Wandel nicht nur lange unterschätzt wurde, sondern auch, dass wir mehr auf dieses Land schauen müssen, dass wir Wissen brauchen, um entsprechende kulturelle und gesellschaftspolitische Codes und Entwicklungen entziffern und verstehen zu können.
Deswegen haben wir im November 2020 mit unserem Projekt begonnen: Belarus zu entschlüsseln, mit originären Texten, die wir dem deutschen Leser zugänglich machen. Dabei geht es nicht nur um die aktuelle Politik, sondern wir unternehmen auch Ausflüge in die Literaturgeschichte – wie bei der Gnose über Janka Kupala – oder in die belarussische Staatswirtschaft.
Wir haben viele Glückwünsche und Lobesbekundigungen zum Start des Projekts erhalten. Sonja Zekri hat uns in der Süddeutschen Zeitung wärmstens empfohlen, das Medienmagazin des Bayerischen Rundfunks berichtete ebenfalls. Seit Anfang Januar hat sich neben der S. Fischer Stiftung und der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. auch ein neuer Förderer zu uns hinzugesellt, worüber wir uns außerordentlich freuen: Das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) wird in Kooperation mit dekoder die wissenschaftliche Begleitung und Fundierung des Projektes unterstützen. So können wir beispielsweise unser Gnosen-Programm zu Belarus entsprechend ausbauen und vertiefen – mit Jakob Reuster als Gnosenredakteur auf unserer Seite.Wir leisten Pionierarbeit. Damit wir das Projekt „Belarus entschlüsseln“ aber insgesamt auf solide Beine stellen können, die eine Langfristigkeit garantieren, brauchen wir vor allem Eure und Ihre geschätzte Unterstützung. Im Belarussischen nennt man solch eine kollektive Untersützungsleistung talaka. Früher kam sie zum Tragen, wenn etwa die Scheune eines Bauern abgebrannt war und die Dorfbewohner halfen, sie zu reparieren oder neu zu errichten. Bei uns ist glücklicherweise nichts abgebrannt, wir wollen etwas aufbauen. Deswegen werden wir in den kommenden Wochen über die sozialen Medien mit einer speziellen Spenden- und Unterstützungskampagne auf den Belarus-dekoder aufmerksam machen. Helft uns dabei! Reicht uns weiter, schreibt und erzählt von uns, und verschenkt eine Klub-Mitgliedschaft, oder gerne auch zwei.
Die ersten 15 eingehenden Spenden, die uns aufgrund – sagen wir – ihrer durchschlagenden Überzeugungskraft fröhlich und freudig stimmen, erhalten als kleines Dankeschön die CD The Red Book of Belarusian Music. Dabei handelt es sich um die erste Compilation belarussischer Musik, die im deutschsprachigen Raum erschienen ist. Und zwar im Jahr 2006, als die Machthaber in Belarus gegen Musiker und Band vorgegangen sind: ein wirklich historisches Kulturstück also, das eigentlich längst nicht mehr erhältlich ist.
Für eure Unterstützung und Hilfe sagen wir jetzt schon: Danke und dzjakuj!
Euer Ingo
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Schöne, heile Wirtschaft
Gestern [am 17. Februar] begann in Minsk der Prozess gegen Viktor Babariko, der 2020 als Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen antreten wollte. Der populäre Gegenspieler Alexander Lukaschenkos wurde bereits im Vorfeld des 9. August 2020 festgenommen. Dem ehemaligen Chef der Belgazprombank werden Korruption und Geldwäsche vorgeworfen. Kritiker werten den Prozess als politisch motiviert.
Bereits vor zwei Wochen waren zahlreiche Bankiers und Geschäftsleute in Belarus festgenommen worden. Möglicherweise zielen die Machthaber mit Repressionen nun auch auf den privatwirtschaftlichen Sektor des Landes.
In Belarus ist die ausgeprägte Staatswirtschaft ein bedeutendes Herrschafts- und Kontrollinstrument für den Machtapparat Lukaschenkos, wie der bekannte Ökonom Roland Götz in seiner Gnose zum Thema erklärt. Tiefgreifende Reformen der Staatsunternehmen sind also kaum denkbar, was auf der Allbelarussischen Volksversammlung, die am 11. und 12. Februar 2021 in Minsk stattfand, einmal mehr bestätigt wurde. Premierminister Roman Golowtschenko erteilte umfassenden Reformvorhaben eine Absage.
Dass die weitgehend unrentable Staatswirtschaft aber eine Last für die Weiterentwicklung der ohnehin dauerkriselnden belarussischen Wirtschaft ist, konstatieren Experten seit vielen Jahren. So beispielsweise auch die Analyse des IPM Research Center und des Zentrums für ökonomische Forschung BEROC aus dem Herbst 2020.
Jеkaterina Bornukowa, akademische Direktorin des BEROC, seziert in einer aktuellen Analyse für das belarussische Medium Onliner.by, die offiziellen Wirtschaftsprognosen. Und sie fragt sich, woher die belarussischen Autoritäten ihren Optimismus hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung nehmen.
Das angebrochene und das vergangene Jahr sehen wirtschaftlich bei Gott nicht rosig aus. Die ganze Welt hat schon zu spüren bekommen, wie die Einkommen sinken und die Arbeitslosigkeit wächst. Oft ist zu hören, dass die Folgen der Pandemie mehr als ein Jahr zu spüren sein werden. Laut Prognosen des IWF wird das weltweite Wirtschaftswachstum kontinuierlich sinken: Von 5,2 Prozent in der Erholungsphase des Jahres 2021 auf 3,5 Prozent in 2025.
Schon zum wiederholten Mal macht die belarussische Regierung in diesem Chor allgemeinen Trübsinns und Pessimismus eine Ausnahme. Kurz: Zum Jahr 2025 ist ein Einkommenszuwachs von 20 Prozent geplant, das Bruttoinlandsprodukt soll um 21,5 Prozent steigen, die Arbeitsproduktivität in der Industrie um den Faktor 1,3.
Das soll jetzt kein motivierendes Mantra sein, um das Übel der an vielen Krankheiten leidenden belarussischen Wirtschaft schönzureden, sondern es sind ernsthafte Prognosen, die auf höchster Ebene erstellt wurden. Deswegen sehen wir uns einmal genauer an, was sich hinter diesen Zahlen verbirgt und wie derart beeindruckende Werte erreicht werden sollen.
Unternehmen kommen nicht nach Belarus, sie verlassen das Land
Gehen wir die wesentlichen Punkte einmal durch: In den vergangenen fünf Jahren wuchs das Bruttoinlandsprodukt in Belarus um 3,5 Prozent. Ich möchte das noch einmal unterstreichen: nicht im letzten Jahr, sondern in den letzten fünf Jahren zusammen. Natürlich waren es nicht die glücklichsten für die belarussische Wirtschaft, am Anfang stand das Krisenjahr 2016, am Ende das krisengezeichnete 2020. Aber wer garantiert denn, dass es in Zukunft besser wird? Derzeit gibt es wenig Anlass für Optimismus, weder auf weltwirtschaftlicher noch auf belarussischer Ebene. Doch unsere Regierung prognostiziert bis 2025 mutig ein Wachstum des BIP von 21,5 Prozent.
Schauen wir uns die Jahre einzeln an: Dieses Jahr soll das Wachstum des BIP bescheidene 1,8 Prozent betragen, was unter gewissen Umständen möglich ist; denn diese prognostizierte Wachstumsbeschleunigung ist geringer als der weltweite Durchschnitt und niedriger als im benachbarten Russland. Für 2022 erwartet man schon ein Wachstum von 2,9 Prozent, und für 2023 von 3,8 Prozent (Nochmal: Das ist so viel, wie wir in den Jahren 2016 bis 2020 geschafft hatten.) 2023 soll das Wachstum sogar bei 5,4 Prozent liegen und 2025 bei ganzen 6 Prozent.
Völlig unrealistisch sind diese Prognosen nicht – man könnte sie erzielen, doch nur unter der Voraussetzung von tiefgreifenden Strukturreformen. Wir alle kennen die Länder, in denen die Wirtschaft solche überbordenden Sprünge macht. Ich wäre stolz, würde auch Belarus dazugehören. Aber ich bin mir dessen bewusst, dass es dafür Veränderungen braucht, die seit Jahrzehnten fällig sind. Man muss das Fundament für solche hochgesteckten Ziele sofort, schon heute legen. Aber bislang deutet nichts auf Absichten in dieser Richtung hin.
Der nächste Punkt: Das real verfügbare Einkommen der Bevölkerung soll um 20 Prozent steigen. Dieser Wert lässt sich nicht isoliert betrachten. Er hängt unmittelbar vom Wachstum des BIP ab. Dementsprechend lässt auch er sich nur erzielen, wenn zuvor grundlegende Veränderungen stattfinden, für die es keinerlei Anzeichen gibt. Der Wachstumswert für das Einkommen der Bevölkerung in dieser Höhe ist also sehr hypothetisch.
Was haben wir noch? In den letzten fünf Jahren sind die Investitionen in Anlagevermögen um 8,6 Prozent gesunken, wobei die Regierung plant, dass sie bis 2025 um 22 Prozent ansteigen.
Was rechtfertigt derartige Annahmen eines Investitionswachstums, während wir beobachten, wie das Land aufgrund der politischen Krise, der Wirtschaftssanktionen und der Nichteinhaltung von Verpflichtungen gegenüber der wirtschaftlichen Akteure an Attraktivität für Investoren verliert? Die Privatwirtschaft investiert schon heute weniger, und die Prognosen für die nächste Zukunft fallen pessimistisch aus. Unternehmen kommen nicht nach Belarus, sondern verlassen massenhaft das Land.
Die Abwanderung der Arbeitskräfte wird weiter zunehmen
Man könnte natürlich annehmen, dass das Wachstum durch staatliche Investitionen zustande kommen soll, die dementsprechend vermutlich in den Staatssektor fließen würden. Aber das hatten wir schon mehrfach: Solche Investitionen sind nicht effizient, sie führen zu finanziellen Problemen in den Unternehmen, die sich dann später im allgemeinen Wirtschaftszustand des Landes, in Inflation und Währungsverlust niederschlagen.
Die nächste lautstarke Prognose: Die Arbeitsproduktivität in der Industrie soll um den Faktor 1,3 ansteigen. Das wäre tatsächlich leicht zu erzielen, man müsste nur die Arbeitsstellen in den Staatsunternehmen streichen, die unwirtschaftlich sind. Sogar wenn nur die unwirtschaftlichen Unternehmen aufgelöst würden, stiege die durchschnittliche Arbeitsproduktivität im Land schon beträchtlich. Aber offensichtlich sind derlei Maßnahmen nicht vorgesehen. Es bleibt also unklar, wie die Ergebnisse ohne einen Richtungswechsel erzielt werden sollen.
Der nächste Punkt: Zum Jahr 2025 soll die Arbeitslosigkeit bei höchstens 4,2 Prozent liegen. Wenn wir die Krise überwinden und uns keine neue „einfangen“, ist das realistisch. Die Arbeitgeber können ihre Angestellten ohne weiteres entlassen, deswegen haben sie auch keine Hemmungen jemanden zu beschäftigen. Das gewährleistet einen flexiblen Arbeitsmarkt, senkt aber das Niveau der sozialen Sicherheit der Angestellten. Sogar während der Krise lag die höchste Arbeitslosenquote bei 7 Prozent. Hinzu kommt die Abwanderung von Fachkräften ins Ausland, die nach der Pandemie wahrscheinlich weiter zunehmen wird. Die Rechnung ist also denkbar einfach: Es wird immer mehr freie Stellen und weniger Bewerber geben – wie sollte die Arbeitslosigkeit da steigen?
Zeit für rhetorische Fragen: Woher kommen solche Prognosen? Wozu braucht man sie? Ich versuche sachlich zu antworten. Als Richtwert, den man anstrebt, ist eine Prognose sinnvoll und vernünftig. Ohne Planung geht es nicht. Aber zum Erfolg gehört ein zweiter Faktor: die Fähigkeit, exakt zu kalkulieren, was für die Umsetzung notwendig ist. Aber am wichtigsten ist ein dritter Faktor: der Wille, das Geplante umzusetzen.
Kein Wachstum ohne tiefgreifende Reformen
Unsere Regierung versteht sich zwar auf Optimismus und hohe Ziele, oft gelingt sogar die Wahl der notwendigen Mittel, doch bei der Umsetzung hapert es.
In den letzten fünf Jahren gab es viele Pläne, richtige und kluge Entwürfe, doch umgesetzt wurde so gut wie nichts. Reformen in den Staatsunternehmen waren geplant, doch es geschah nichts. Es war die Rede von einer Abkehr von staatlichen Krediten, doch sie nahmen im letzten Jahr sogar noch zu. Die Reduzierung von Subventionen in der Wohnungs- und Kommunalwirtschaft waren geplant, doch sie bestehen nach wie vor. Deswegen gehe ich davon aus, dass die Regierung auch heute genau weiß: Ohne eine Lösung der politischen Krise und tiefgreifende Reformen im Staatssektor wird es kein Wachstum geben. Doch dazu findet sich in dem Programm kein Wort.
Zusammengefasst: Ich habe große Zweifel, dass sich ohne grundlegende Veränderungen auch nur ein Teil der prognostizierten Zahlen erzielen lässt. Das Traurigste ist, dass wir das Rezept für umfassende und wirksame Veränderungen all die Jahre direkt vor uns hatten. Aber es wird sich wohl kaum etwas ändern, solange man die für Belarus typische faule Ausrede ernst nimmt, dass die Rezepte für eine Gesundung der Wirtschaft, die in vielen anderen Ländern erfolgreich zur Anwendung kamen, für uns nicht gelten, weil sie unserem „einzigartigen“ Weg und den „Besonderheiten“ unserer Region nicht gerecht werden. Worin diese Einzigartigkeit und Besonderheit bestehen, weiß keiner so genau. Warum? Weil es sie nicht gibt.
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Bystro #21: Volksversammlung in Belarus – Demokratie oder Maskerade?
Minsk ist aktuell in ein rot-grünes Farben- und Flaggenmeer getaucht. Am morgigen Donnerstag, 11. Februar, beginnt in der belarussischen Hauptstadt die Allbelarussische Volksversammlung (russ. Wsebelorusskoje narodnoje sobranije). Alexander Lukaschenko hat ein solches Forum schon Mitte August in Aussicht gestellt, als die Protestwelle nach dem 9. August 2020 ihren Höhepunkt erreichte. An zwei Tagen werden 2700 Delegierte über Fragen der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik debattieren. Angeblich sollen auch Vorschläge zur Verfassungsreform vorgestellt werden. Wie legitim ist diese Versammlung? Wer genau nimmt daran teil? Was hält die Opposition von der Veranstaltung? Ein Bystro von Ingo Petz in fünf Fragen und Antworten.
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1. Was genau ist die Allbelarussische Volksversammlung?
Die Allbelarussische Volksversammlung wurde 1996 von Alexander Lukaschenko per Präsidialerlass ins Leben gerufen. Sie findet seitdem alle fünf Jahre statt. Die Delegierten, die aus allen Landesteilen stammen, sowie aus Verwaltung, Politik, Wirtschaft, Bildungswesen oder Kirche, haben in der Vergangenheit vor allem wirtschaftliche Entwicklungsfragen debattiert. Dabei wurden auch Kernziele für die jeweils nächsten fünf Jahre festgelegt, was an die Fünfjahrespläne der Sowjetunion erinnert, wie auch die ganze Aufmachung und Ästhetik an Parteitage der KPdSU erinnert. Entsprechend bezichtigen Kritiker die Veranstaltung als „Theater“ oder „Show von Lukaschenko“. Vertreter des Machtapparats halten die Versammlung dagegen für ein „demokratisches Forum“. Man kann sagen, dass es für Lukaschenko in seiner Vorstellung als „Landesvater“ ein wichtiges Legitimationsinstrument seiner Macht ist.
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2. Wie läuft die Auswahl der Delegierten?
Der Präsidialerlass (ukas) Nummer 492, mit dem Lukaschenko am 28. Dezember 2020 die Organisation der Versammlung veranlasst hat, gibt vor, dass die Abgeordneten von den Bezirks- und Stadträten in den sechs Oblasts des Landes nominiert werden. Dabei sollen sie ein möglichst breites Spektrum unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche abdecken. Jeder Oblast entsendet 310 Personen. Aus Minsk sollen nicht mehr als 370 Personen teilnehmen. Nach welchen Kriterien ausgewählt wird, ist allerdings völlig unklar. Der Prozess an sich ist höchst intransparent. Er wird zudem von der Präsidialverwaltung geleitet, also dem Kontrollinstrument der Machtvertikalen. Auf Grund der Erfahrung in der Vergangenheit kann man sagen, dass die Versammlung fast ausschließlich mit Pro-Lukaschenko-Leuten besetzt wird. Bei vergangenen Versammlungen gab es immer wieder Versuche von Oppositionellen, eine Teilnahme durchzusetzen. So 2006: Als der Präsidentschaftskandidat Alexander Kosulin Einlass begehrte, wurde er am Ort der Versammlung von der Miliz brutal zusammengeschlagen.
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3. Wie verbindlich sind die Entscheidungen der Volksversammlung?
Die Beschlüsse der Versammlung werden in Form von Resolutionen, also von Empfehlungen verfasst. Bedeutet: Es obliegt dem Ermessen von Lukaschenko, diese Empfehlungen an bestimmte Ausschüsse im Parlament oder an andere Gremien und Verwaltungsorgane weiterzugeben. Juristen wie Michail Kiriljuk halten die Versammlung grundsätzlich sogar für verfassungswidrig, weil sie als Organ oder Gremium in der Verfassung nicht erwähnt und eben nur über den Präsidialerlass geregelt sei. Auch deswegen sind Zweifel und Skepsis angebracht, ob die angekündigten Vorschläge zur Verfassungsreform – die eine Einschränkung der Vollmachten des Präsidenten und die Stärkung von Parlament und Regierung vorsehen sollen – je umgesetzt werden. Man kann aber auch annehmen, dass sie wohl kaum große Überraschungen liefern werden, in dem Sinne, dass man möglicherweise versucht, die Macht Lukaschenkos tatsächlich einzuhegen.
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4. Welchen Sinn hat die aktuelle Versammlung in Anbetracht der politischen Krise im Land?
Gute Frage, über die man nur spekulieren kann. Die Versammlung findet zu einem Zeitpunkt statt, an dem sich das Land offensichtlich in einer tiefen Krise befindet. Allerdings kann man sagen, dass Lukaschenko wohl davon ausgeht, dass er die Proteste besiegt hat. Demzufolge dürfte die Versammlung eine Art Versuch sein, die aktuellen Machthaber – die allein durch ihr brutales Vorgehen eigentlich jegliche Legitimation verloren haben – weiter zu legitimieren und ihnen mit Hilfe einer Propagandashow den Rücken zu stärken. Was durchaus Sinn macht in der Logik Lukaschenkos, der sich für den einzigen potenten Garanten der belarussischen Souveränität hält. Auf der Versammlung werden wohl auch deshalb Leute wie Wadim Gigin sprechen. Er ist Dekan der Fakultät für Philosophie und soziale Wissenschaften der Belarussischen staatlichen Universität. Ein rhetorisch versierter Redner und Vertreter des Systems Lukaschenko, der aber zumindest für Teile der Öffentlichkeit eine Art Scharnierfunktion einnimmt und nicht unbedingt als Hardliner gesehen wird.
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5. Was sagt die belarussische Opposition zu der Versammlung?
Die Demokratiebewegung lehnt die Versammlung weitgehend ab. Franak Wetschorka, Berater der Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, beispielsweise hält das Gremium für einen „Festtag für Beamte und Komplizen des Regimes“, wo alle Probleme schon gelöst seien. Pawel Latuschko, der wie viele andere Mitglieder des oppositionellen Koordinationsrates ins Ausland fliehen musste, hat angekündigt, alle Namen der „Marionettendelegierten“ identifizieren zu wollen, um sich bei der EU dafür einzusetzen, sie auf die aktuelle Sanktionsliste zu setzen. Ob es zu größeren Protesten während der Versammlung in Minsk kommt, darf allerdings bezweifelt werden, da die Hauptstadt aktuell einer von OMON und Miliz bewachten Festung gleicht.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Ingo Petz
Stand: 10. Februar 2021Weitere Themen
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Protestflagge: Verbot als Heiligsprechung
Die Generalstaatsanwaltschaft in Belarus plant, die weiß-rot-weiße Flagge als Symbol des Extremismus einzustufen, was de facto ein Verbot bedeuten würde. Das wurde vergangenen Freitag bekannt. Die Flagge ist vor allem seit Beginn der Proteste gegen Machthaber Alexander Lukaschenko am 9. August 2020 zum Symbol für die demokratische Bürgerbewegung geworden. Das Bekanntwerden der Verbotspläne entfachte empörte Debatten und neuerliche Protestaktionen, bei denen Belarussen weiß-rot-weiße Flaggen zeigten oder Gebäude damit dekorierten. Der Koordinationsrat der Opposition initiierte eine Petition gegen das Verbot und wandte sich mit einem Statement an die Öffentlichkeit: „Wir glauben, dass das Verbot der Verwendung von weiß-rot-weißen Symbolen unbegründet ist. Es wird nur dadurch motiviert, dass politischer Druck auf Bürger ausgeübt wird, die weit von der Linie der Regierung entfernt sind.“
In einem Kommentar, den Artyom Shraibman in seinem Telegram-Kanal veröffentlichte und der schließlich vom belarussischen Medium Nasha Niva übernommen wurde, prognostiziert der politische Analyst: Ein Verbot der weiß-rot-weißen Flagge könnte einen Bumerangeffekt für die Machthaber haben.
Das Verbot der weiß-rot-weißen Flagge und ihre Einstufung als Extremismus ist ein wichtiger Schritt zur weiteren Sakralisierung der Flagge. Die war zu Beginn des Jahres 2020 ein Symbol der national-demokratischen Gesellschaftsschicht – die etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Zum Jahresende hin war sie bereits – ohne Bezug zur historischen Bedeutung – ein Symbol des breiten bürgerlichen Protests.
Jetzt wird sie zu einem heiligen Symbol, zur verbotenen Frucht, zu etwas, das man nachts an Wände malt, das in verborgenen Winkeln versteckt und wodurch die emotionale Bindung an dieses Symbol immer mehr gefördert wird.
Die Machthaber unterschätzen ihre Beliebtheit und verbauen sich so einen weiteren Weg für eine Kompromissfindung, indem sie Millionen ihrer Gegner zu Kriminellen machen, nicht nur für ihre Taten, sondern auch für ihre Zeichen.
Die rot-grüne Flagge hatte immer mehr Unterstützung als die belarussische Staatsmacht und sie hätte diese ganz bestimmt überleben können. Jetzt wird der Gesellschaft angetragen sich aufzuteilen. Sich neben einer rot-grünen Flagge zu zeigen ist mittlerweile Ausdruck einer politischen Position.
Solch eine Politisierung eines Symbols und seine Bindung an eine konkrete Position ebnet den Weg dahin, dass das Verschwinden der Machthaber auch das Verschwinden seiner Attribute bedeuten wird. Die rot-grüne Flagge hatte Chancen, kein solches Attribut zu werden, aber nun wird sie es ganz bestimmt.
Mit dem Verbot der weiß-rot-weißen Flagge gewährleisten die Machthaber, dass sie zum Staatssymbol werden wird, weil sie nun keine Subkultur mehr darstellt. Ein bedeutender Tag.
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„Belarus wird zum kranken Mann Europas“
Mittlerweile sind die Massenproteste in Belarus nahezu zum Erliegen gekommen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Kälte, Corona, Erschöpfung und die anhaltenden Repressionen. Dennoch gibt es jede Woche dutzende kleinere Protestaktionen im ganzen Land, auf die der Machtapparat Alexander Lukaschenkos weiterhin mit rigorosen Festnahmen reagiert. Zudem geht das System gezielt gegen die Symbolik der Proteste wie beispielsweise der weiß-rot-weiße Flagge vor. Es dürfte klar sein: Das Land befindet sich in einer tiefen Krise, deren Lösung noch nicht absehbar ist.
Der bekannte politische Analyst Waleri Karbalewitsch seziert in seinem thesenartigen Beitrag für die Zeitung Swobodnyje nowosti Plus die Ereignisse seit der Präsidentschaftswahl am 9. August 2020, erklärt ihre Bedeutung für das politische System Lukaschenkos und die Auswirkungen auf gesellschaftspolitische Dynamiken. Dazu wagt er einen Ausblick in die Zukunft.
1. Der Hauptgrund für den revolutionären Ausbruch ist, dass das belarussische Gesellschaftsmodell, das Alexander Lukaschenko vor einem Vierteljahrhundert erschaffen hat, seine Ressourcen aufgebraucht hat und zu einer Bremse für die Entwicklung des Landes geworden ist.
Innerhalb der belarussischen Gesellschaft hat sich ein großes Protestpotential angestaut, das sich im Sommer 2020 entladen hat. Hier kamen mehrere Faktoren zusammen, die eine Situation des „perfekten Sturms“ geschaffen haben. In den 26 Regierungsjahren Lukaschenkos hat ein Generationenwechsel stattgefunden. Die Gesellschaftsstruktur hat sich gewandelt. Die Zahl der Menschen, die in privaten Strukturen arbeiten, ist gestiegen. Soziologische Umfragen zeigen, dass die Belarussen heute eine der marktfreundlichsten Nationen Europas sind.2. Der belarussische Frühling ist eine Revolution der wachsenden Erwartungen. Während das Durchschnittseinkommen in Belarus in den letzten zehn Jahren faktisch gesunken ist, sind die Ansprüche der Gesellschaft gestiegen. Lukaschenko wurde für die meisten Belarussen zum Symbol der Stagnation und der Ausweglosigkeit.
3. Der Prozess, der in den Staatsmedien als Transformation von Belarus zum IT-Land gezeichnet wurde, hatte unerwartete, weil politische Folgen. Neue Technologien und damit neue Wirtschaftszweige, zum Beispiel die IT-Branche, brachten Arbeitnehmer mit anderen Werten und einem anderen Lebenswandel hervor. Sie beförderten einen Konflikt, einen stilistischen Bruch zwischen denjenigen, die in der digitalen Sphäre mit einer horizontal organisierten Netzkultur leben, und der im Land vorherrschenden autoritären Machtvertikale. Unter anderem führte das zu einer anderen Wahrnehmung der Rolle der Frau in Gesellschaft und Politik.
4. Der Machtapparat hat sein Informationsmonopol eingebüßt. Das Internet, neue Medien und soziale Netzwerke haben das alte Kommunikationssystem des herrschenden Regimes mit der Gesellschaft zerstört. Das war ein wichtiger Faktor für den gesellschaftlichen Aufbruch.
Das Regime hat seine moralische Autorität verloren
5. Genau wie die autoritären Herrschaftsmethoden stößt das archaische sozioökonomische und politische System bei den meisten auf Ablehnung. Wir haben eine sich modernisierende Gesellschaft, die Veränderungen und sich vom Staatspaternalismus befreien will, und auf der anderen Seite ein Regime, das den Status quo konserviert. Die Gesellschaft ist über den Staat hinausgewachsen, seine Rahmen sind ihr zu eng geworden. Lukaschenko ist nicht einmal aufgefallen, dass er und das Land in verschiedenen historischen Epochen leben.
6. Das seit einem Vierteljahrhundert bestehende belarussische Modell basiert nicht auf dem Vertrauen der Gesellschaft in die politischen Institute, sondern auf dem Vertrauen in Lukaschenko. Die Legitimität des Regimes gründete in vielerlei Hinsicht auf dem persönlichen Charisma des Staatsoberhaupts. So führte die Krise des Vertrauens in seine Person zu einer heftigen politischen Krise.
7. Das Ergebnis der jüngsten Ereignisse war die Desakralisierung der Macht als solche. Bisher waren in Belarus die staatlichen Institute der einzige Mechanismus, der die Belarussen zu einer Gesellschaft vereinte. Andere Mechanismen wie Nation oder Zivilgesellschaft gab es nicht im vollumfänglichen Sinn. Jetzt weigert sich der Staat, diese einigende Funktion zu erfüllen. Im Gegenteil, die Regierung hat die Gesellschaft ganz bewusst gespalten und einem Großteil der Bürger faktisch einen Bürgerkrieg erklärt. Der Staat ist zu einer Gefahr für die Gesellschaft geworden.
8. Das Regime hat seine moralische Autorität verloren. Die Ereignisse des vergangenen Jahres haben bei dem Großteil der Bevölkerung die Illusionen hinsichtlich dessen zerstört, was der Staat Lukaschenkos in Wahrheit ist. Die Belarussen sehen die Macht nun als ungerecht und unmoralisch. Auf diese Weise wurde die belarussische Revolution, genau wie die ukrainische Revolution von 2014, zu einer Revolution der Würde.
9. Innerhalb weniger Monate, im Eiltempo, hat sich die Gesellschaft enorm entwickelt. Die Philister sind zu Bürgern geworden, mit dem metaphorischen Beinamen die „Unglaublichen“. Das Volk wurde zum politischen Subjekt, das das Regime sich weigert anzuerkennen.
10. Im Laufe der letzten Monate hat sich in Belarus eine Zivilgesellschaft formiert, horizontale Verbindungen wurden geknüpft. Eine große Infrastruktur der sozialen Bewegung ist entstanden, ganze Häuser und Viertel haben sich zusammengeschlossen und kommunizieren über Chats. Anstelle von staatlich initiierten Korporativen haben sich spontan selbstorganisierte Berufsverbände gebildet. Es gibt Chatgruppen von Medizinern (Die weißen Kittel), Sportlern und so weiter. Dieser Prozess findet zu einem wesentlichen Teil auf den digitalen Plattformen statt, das heißt auf einer postindustriellen Basis.
Die Proteste haben nicht zu einer Spaltung der Eliten geführt
11. Der Werdungsprozess der belarussischen Nation ist abgeschlossen. Gewöhnlich formiert sich eine Nation im Kampf gegen einen äußeren Feind (ein Imperium, ein Mutterland). Im Fall von Belarus formierte sich die Nation im Kampf gegen das herrschende Regime – ein weiteres Paradox der belarussischen Revolution. So ist es kein Zufall, dass traditionelle Symbole zum Symbol der Revolution wurden: die weiß-rot-weiße Flagge und das Pahonja-Wappen.
Und wir haben in diesen Monaten erstmals gesehen, dass es eine belarussische Diaspora gibt (als Teil der belarussischen Nation), die den Protest aktiv unterstützt.12. Das korporative Staatsmodell hat eine Niederlage erlitten. Die Belegschaften von Staatsunternehmen haben sich den Protesten angeschlossen – die stellen ein Schlüsselelement des belarussischen Gesellschaftsmodells und ein wichtiges Kontrollinstrument für die politische Loyalität der Arbeitnehmer dar.
13. Der prinzipiell friedliche Charakter des Protests, der im Gegensatz zur ausnehmenden Brutalität des herrschenden Regimes steht, ist ein weiteres Phänomen der belarussischen Revolution. Wenn es gelingt, ein hartes, konsolidiertes politisches Regime auf friedlichem Wege zu besiegen, wäre das eine einzigartige Erfahrung einer demokratischen Transformation.
14. Die Proteststimmung in der Gesellschaft, der „Aufstand der Massen“, hat allerdings nicht zu einer „Krise der Obrigkeit“, einer Spaltung der Eliten geführt, was nach sämtlichen Theorien eine notwendige Voraussetzung für den Sieg der Revolution ist. Die Erwartung, dass der Staatsapparat unter dem moralischen und psychologischen Druck des Volkes zu bröckeln beginnt oder auf die andere Seite der Barrikaden wechselt, hat sich nicht erfüllt. Warum?
a) Weil wir in Belarus ein starkes und konsolidiertes autoritäres Regime haben. Nicht ein einziges staatliches Institut ist vom Volk gewählt, ist dem Volk Rechenschaft schuldig oder untersteht seiner Kontrolle. Alle Institute sind gänzlich unempfänglich für abweichende Gesinnungen. Für Gegner des Regimes gibt es im Staatsapparat und dem politischen System als Ganzem keinerlei Anknüpfungspunkte. Seit einem Vierteljahrhundert existiert die Opposition im Modus vom Status her außerhalb des Systems. Es gibt eine feste Machtvertikale, die Lukaschenko von oben persönlich bestimmt. Der Staatsapparat existiert unabhängig vom Volk und reagiert deshalb nicht auf dessen Forderungen, sondern bleibt loyal gegenüber dem, der ihn geschaffen hat.
b) In Belarus ist der Staat in allen Bereichen des öffentlichen Lebens überaus präsent. Er dominiert nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch die soziale Sphäre (Wohnungs- und Kommunalwirtschaft, Medizin und Bildung), die Medien, die Kultur und so weiter. Der Staat ist der größte Arbeitgeber. Das ermöglicht der Regierung eine staatliche Kontrolle der Gesellschaft. Politische Repressionen werden nicht nur durch die Rechtsschutzorgane und die Sicherheitsdienste umgesetzt, sondern durch alle staatlichen Strukturen. Dabei steht die Umsetzung der Repressionen, und nicht die Erfüllung der eigentlichen Funktionen, heute im Mittelpunkt der Arbeit der Staatsorgane.
Der Staat wird auf das politische Regime reduziert
15. Die einzige Antwort des herrschenden Regimes auf die neue Herausforderung ist es, auf nackte Gewalt und präzedenzlose politische Repressionen zu setzen. Alle, die gegen Lukaschenko sind, werden zum Freiwild deklariert. Gesetze gelten für sie nicht.
16. Der Kult der rohen Gewalt charakterisiert sehr gut das Unvermögen des herrschenden Regimes, sich an die neue Realität anzupassen. Das Regime hat kein Narrativ für die Zukunft, außer der Erhaltung des Status quo, der auf Angst und Gewalt beruht. Lukaschenko versteht nicht einmal die Notwendigkeit eines Zukunftsnarrativs.
17. Seit Monaten befindet sich das Land psychologisch im Zustand eines Bürgerkriegs. Und der Krieg ist nicht einmal mehr kalt. Mehrere Menschen wurden getötet, Hunderte waren Prügel und Misshandlungen ausgesetzt, mehr als dreißigtausend wurden verhaftet.
18. In der Konfrontation des Regimes mit der Revolution gab es einen Komplettausfall der staatlichen Funktionen. Die Staatsorgane haben aufgehört, ihre Pflichten zu erfüllen. Die belarussische Außenpolitik ist de facto dabei, zerstört zu werden, das Land verliert seinen internationalen Subjektstatus. Die radikale außenpolitische Kursänderung innerhalb von wenigen Tagen hat eindrücklich gezeigt, dass die Außenpolitik in einem autoritären Regime nicht dem Schutz der nationalen Interessen dient, sondern lediglich ein Mittel zum Zweck ist, ein Instrument der Macht eines einzelnen Menschen. Mehr nicht.
Vollständig zerstört sind das Rechtssystem und die Organe der Rechtsprechung, ohne die die Existenz eines intakten modernen Staates unmöglich ist.
Nach und nach werden im Land Unternehmens-, Kultur- (z. B. das Kupala-Theater) und Sportstrukturen zerstört, die im Verdacht stehen, gegenüber dem herrschenden Regime nicht loyal zu sein.
Auf diese Weise entledigt sich der Staat seiner Funktionen und bewahrt nur die, die dem Machterhalt dienen: die Straforgane. Staatliche Institute, die gesellschaftliche Bedürfnisse erfüllen sollen, richten sich auf Selbstbedienung ein, um die eigenen Interessen vor den Forderungen der Gesellschaft zu schützen. Der Staat wird auf das politische Regime reduziert.19. Lukaschenko, der seit einem Vierteljahrhundert als Garant für Stabilität galt, ist paradoxerweise zu einem der Hauptfaktoren für die Destabilisierung des Landes geworden.
20. Bisher richtete sich Lukaschenko über den Kopf der staatlichen Institute und der Nomenklatura hinweg an das Volk, dabei fußte seine Alleinherrschaft auf der Unterstützung des Volkes. Jetzt, da die Unterstützung der Gesellschaft weg ist, ist er auf den Staatsapparat angewiesen. Das bedeutet, dass die Rolle, das politische Gewicht der Nomenklatur, zunimmt.
Eine Niederlage für die letzte postsowjetische Utopie
21. Das Regime wird zunehmend militarisiert. Die Sicherheitsstrukturen sind zum systembildenden Element des Lukaschenko-Staats geworden. Und sie werden ihren Anteil an der Macht einfordern. Ein Anzeichen für diesen Trend ist die Tatsache, dass Lukaschenko mit dem Beginn des Revolution die Schlüsselpositionen im Sicherheitsapparat neu besetzt hat.
22. Die belarussische Gesellschaft hat ein tiefes psychologisches Trauma erlitten. Mit diesem Trauma wird auch das Regime leben müssen. Wir sind eine traumatisierte Gesellschaft. In den kommenden Jahren wird sich das Land im Zustand eines posttraumatischen Syndroms befinden.
23. Die belarussische Revolution hat der letzten postsowjetischen Utopie einen vernichtenden Schlag versetzt. Sie zerstörte ein Projekt, das auf der Illusion beruhte, man könne Fortschritt ohne demokratische Transformation gewährleisten, und zwar indem man die grundlegenden Elemente der sowjetischen Vergangenheit konserviert.
24. Die Stärke des Staatsapparats hat Lukaschenko geholfen, an der Macht zu bleiben. Aber rohe Gewalt kann weder seine persönliche Legitimität oder die Legitimität des herrschenden Regimes gewährleisten noch die politische Krise überwinden. Der Großteil der Bevölkerung ist Lukaschenko gegenüber äußerst negativ gestimmt, und ihr aktiver Teil demonstriert Bereitschaft, den Protest fortzusetzen. Die Metapher, Lukaschenko sei Präsident des OMON, beschreibt die momentane Situation sehr gut.
25. Der Überdruss am Autoritarismus à la Lukaschenko hat dazu geführt, dass das Pendel der öffentlichen Stimmung weit in die andere Richtung ausgeschlagen ist. Belarus ist reif für eine vollwertige Marktwirtschaft und eine liberale Demokratie.
26. Mit den früheren Methoden wird sich Lukaschenko nicht an der Macht halten können. Es entsteht eine Situation, die der Klassiker der Revolutionsliteratur auf die Formel gebracht hat: Die Obrigkeit kann nicht wie einst regieren. Das heißt, um zu überleben, muss das autoritäre Regime in Belarus notwendigerweise härter und undemokratischer werden als bisher.
27. Das Ergebnis ist, dass sich im Land zwei entgegengesetzte, auseinanderstrebende Tendenzen zeigen. In den nächsten Monaten werden wir ein noch härteres autoritäres Regime erleben, und auf der anderen Seite eine politisierte, revolutionisierte, in Bewegung gekommene Gesellschaft, die den Geschmack der Freiheit gekostet hat. Der Deckel auf dem brodelnden Kessel gerät immer mehr unter Druck. Das heißt, der Konflikt wird sich zuspitzen und unversöhnlicher werden, die politische Krise wird sich verschärften.
28. Belarus wird von der Insel der Stabilität in absehbarer Zukunft zum „kranken Mann Europas“ und des ganzen postsowjetischen Raumes werden. Das ist der unausweichliche Preis für ein Vierteljahrhundert lähmender Stagnation.
Wir können schon heute sagen, dass die belarussische Revolution in die Geschichte eingegangen ist und entscheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung des Landes haben wird. Schließlich geht eine Revolution nie spurlos vorüber. Die belarussische Gesellschaft steht vor großen Veränderungen.Weitere Themen
„Alle sind entweder im Gefängnis oder außer Landes gebracht“
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Und jetzt kehren wir zum normalen Leben zurück?
Viktor Martinowitsch gehört zu den bekanntesten Schriftstellern seines Landes. In seinen Romanen befasst er sich mit den Mechanismen autoritärer Macht und ihren Auswirkungen auf den Lebensalltag der Menschen. In dieser Woche ist sein neuer Roman Revolution in der deutschen Übersetzung von Thomas Weiler erschienen. Anders als der Titel vermuten ließe, geht es in dem Roman allerdings nicht um die Protestbewegung, die Belarus seit dem 9. August 2020 in Atem hält. Vielmehr beschäftigt er sich mit dem, was Macht ist, wie sie in zwischenmenschlichen Beziehungen wirkt und wie sie Menschen letzten Endes zum Schlechten verändert. Über sein neues Buch und über die Proteste in seiner Heimat hat Martinowitsch unlängst in einer Veranstaltung des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB) gesprochen.
Auch in Kolumnen und Interviews äußert sich der Schriftsteller immer wieder zu politischen Ereignissen in Belarus. So auch in diesem Beitrag, der sich mit dem aktuellen Stand der Protestbewegung beschäftigt und den Blick in deren nahe Zukunft wagt. Geschrieben hat Martinowitsch den Artikel für die Internetseite des Kulturprojektes Budzma, veröffentlicht wurde er schließlich auch auf der Seite des belarussischen Mediums Nasha Niva.
Wahrscheinlich stecke ich schon zu lange da drin.
Und erinnere mich an sehr viel.
Jedenfalls sehe ich keinen Anlass für Optimismus.
Ihr könnt das als Denkanstoß nehmen.
Als Einladung zur Desillusionierung.
Zur Planung dieses Jahres und eures Lebens.
Als Entscheidungshilfe, wie ihr leben und was ihr ändern wollt.
Ihr meint, die Proteste leben im Frühjahr 2021 wieder auf?
Die Proteste sind nicht das Coronavirus, da gibt es keine erste und zweite Welle. Die Menschen, die im Sommer und Herbst in Massen auf die Straße gegangen sind, haben dafür gebüßt, haben gesessen, haben Repressionen unvorstellbaren Ausmaßes erlebt – wieso sollten sie wiederkommen?
An diesem Punkt waren wir schon mal.
Und es hat zu nichts geführt.
So war das in den 2000er Jahren: Im Herbst schlug die Opposition vor, bis zum Frühling zu warten. Und dann, nach dem traditionellen Tag der Freiheit und dem Tschernobyl-Marsch, wollte sie auf den Herbst warten, in dem sich die „wirtschaftliche Lage verschlechtern“ sollte. Im Herbst wiederholte sich dann das Ganze. Schon der Ausdruck „traditionelle Protestaktion“ ist ein Oxymoron. Ebenso die „geheime Protestaktion“.
Es ist doch offensichtlich, aus der Situation „Eine Million an der Stele“ wurde die Situation „Flashmob in der Metro: Menschen tragen weiß-rot-weiße Strümpfe und fotografieren sich ohne Gesichter“.
Ihr meint, Elite und Nomenklatura würden sich aufspalten lassen?
Die Krise des Jahres 2020 ist nicht mit der Krise des Jahres 1996 vergleichbar. Als ein Mann nur einen Schritt von einem Amtsenthebungsverfahren entfernt war und die Hälfte der Parlamentsabgeordneten und ein Teil der Verfassungsrichter, wenn nicht gegen ihn, so doch wankelmütig waren. Bei vergleichbarer Lage auf den Straßen und Plätzen … Und wie endete es? Mit einer Beschränkung der Sitze „im neuen Parlament“ und einer Verfassungsänderung, nach der eine Amtsenthebung schwieriger zu bewerkstelligen ist als eine Oscar-Nominierung für einen staatlich produzierten Kinofilm.
Ihr hebt auf die wirtschaftliche Lage ab? Da kann ich nur sagen: Ja, ja! Warten wir den Herbst ab! Sie wird sich verschlechtern und … (das hatten wir schon).
Ihr seid überzeugt, Putin sei enttäuscht, dass die Zusagen von Sotschi, einen Dialog zu starten und die Machtbefugnisse neu zu ordnen, nicht eingehalten wurden? Was kann der denn schon, dieser Putin? Sie sehen ja, Nawalny zu vergiften, haben sie auch nicht geschafft. Und hier haben wir es mit einem geopolitischen Gambitspiel zu tun, einer komplizierten Geschichte. Außerdem dürfte es im Frühjahr aller Voraussicht nach auch in Russland hoch hergehen, weshalb sollte man also die unzufriedenen Russen noch damit ermuntern, dass man die Proteste bei den Nachbarn in Veränderungen münden lässt?
Ich weiß, was das Regime getan hat und was es tun wird. Mit der Zusage, die Verfassung ändern zu wollen, hat es sich Zeit erkauft, die Proteste zu ersticken. Und nun, da die Spannungen unter den Ofen gekehrt sind, packt es den Stier beim Euter, schleppt das Ganze bis zum Jahr 2025 und erklärt, die Zeit sei „noch nicht reif für Veränderungen“ (wie gehabt).
Es wird vorschlagen, dass wir „die aktuelle Seite umblättern“ und „zum normalen Leben zurückkehren“.
Und manch einer wird tatsächlich zurückkehren zu diesem Leben.
Wird für die belarussische Sprache auf Etiketten kämpfen. Stets darum bemüht zu verschweigen, dass man diese Sprache binnen drei Tagen zurückhaben könnte, würde sich etwas Größeres ändern.
Manch einer wird für die Verteidigung von Kurapaty trommeln — ein Heiligtum, wenn man bedenkt, dass der aktuelle Furor dort seinen Ursprung hat, in Kurapaty, in der ausgebliebenen nationalen Einigung um dieses Unglück. Aber hätten sich die Dinge 1996 anders entwickelt, stünde in Kurapaty längst ein großes Denkmal und die umliegenden Hektar Land wären unantastbar.
Manch einer wird seine Bemühungen und seine Rhetorik auf die Erneuerung der Paläste lenken, jener Paläste, in deren Fenstern unlängst noch alle Scheiben ganz waren und die alten Eichentüren intakt, die aber zusehends verfallen und weiter verfallen werden, wenn der Staat sie wieder an sich reißt, da man hier nichts vollständig besitzen kann, unterstehen wir doch alle dem Kreisexekutivkomitee.
Diejenigen, die sich weiter erinnern, werden weiter schreien.
Weiter stöhnen.
Sie werden sich an internationale Organisationen wenden, die immer gleichgültiger reagieren werden, da an Belarus als Transitland das große Kapital derjenigen hängt, die hinter europäischen Politikern stehen.
Bald werden diese gramgebeugten Rechtschaffenen selbst bei den Menschen hier im Land kein Gehör mehr finden. Auch bei denen, die alles gesehen haben und überall dabei waren, denen die Erinnerung daran aber zu schmerzhaft ist. Dann doch lieber shoppen gehen und Serien schauen, außerdem ist es einfach eine Riesengaudi, im Gummireifen die vereiste Tubingbahn in Silitschy runterzusausen …
Wir werden uns zerstreiten darüber, wer was falsch gemacht hat. Wieso es gekommen ist, wie es gekommen ist. Wir werden den ehemaligen Führungsfiguren Vorhaltungen machen, besonders jenen, die ins Ausland gegangen sind (dabei hätten sie in erster Linie unser Mitgefühl verdient). Wir werden uns wundern über die Blumen, die manche weiterhin an den Orten ablegen, wo Taraikowski ermordet und Bondarenko zusammengeschlagen wurden.
Ich bin einer von denen, die sich erinnern und sich immer erinnern werden.
Nicht nur an 2020.
Sondern auch an 2010 (Blutlachen im Schnee, schwarze Phalangen in der Dunkelheit, das Aufblitzen der Lichter auf den Helmen).
Und an 2006 (oh, dieser Schneesturm!).
Und an 1996 und 1999 (hat einer behauptet, die ersten Todesopfer gab es erst seit letztem Sommer).
Meine Erinnerung ist es, die mir die Freude nimmt.
Aber dieselbe Erinnerung verbietet mir auch, wieder normal zu werden.
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Debattenschau № 82: Lager für politische Gefangene in Belarus?
Am 15. Januar 2021 veröffentlichte die belarussische Initiative Bypol einen brisanten Audiomitschnitt: Eine männliche Stimme spricht dort vom Schusswaffengebrauch gegen Demonstranten, über die Einrichtung eines Lagers mit Stacheldrahtzaun „für besonders Aufsässige“, und darüber, dass man Angreifern eine Lektion erteilen müsse: „Entweder verkrüppeln, verstümmeln oder umbringen.“
Die Stimme wird dem stellvertretenden Innenminister Nikolaj Karpenkow zugeschrieben. Karpenkow gilt als ausgesprochener Hardliner; als damaliger Leiter der Spezialeinheit GUBOPiK trat er bei Protesten im Herbst des öfteren selbst mit Gummiknüppel in Erscheinung. Im September machten Bilder die Runde, auf denen Karpenkow die Tür eines Minsker Cafés zertrümmert – dort hatten Protestierende zuvor Zuflucht vor den Sicherheitskräften gesucht.
In der nun aufgetauchten Aufnahme spricht die besagte Stimme auch über Alexander Taraikowski, der am 10. August 2020 in Minsk bei den Protesten von der Miliz erschossen worden war. „Ja, Taraikowski, dieser Trunkenbold und Schwachkopf. Er starb natürlich durch ein Gummigeschoss, das seine Brust erwischt hatte.“ Über die Demonstranten sagt der Mann: „Denn eigentlich sind alle, die heute auf die Straße gehen, um bei diesem Schienenkrieg mitzumachen, diejenigen, die Straßen blockieren, die Polizei angreifen, Molotow-Cocktails werfen, auch Terroristen. Das sind überflüssige Menschen in unserem Land.“ Auch Aussagen von Lukaschenko werden in der Aufnahme wiedergegeben. Unter anderem soll der Autokrat von den Sicherheitskräften gefordert haben, dass sie mit den Unruhen fertig werden sollen, „und zwar mit aller Härte“. In Bezug auf den Schusswaffengebrauch, so wird Lukaschenko zitiert, seien OMON und Miliz abgesichert.
Laut Bypol soll der Mitschnitt, den es auch in einer vollständigen deutschen Übersetzung gibt, im Oktober 2020 bei einem Abschiedstreffen von Karpenkow und Mitgliedern seiner GUBOPiK-Einheit entstanden sein. Das belarussische Innenministerium bezeichnete die Aufnahme nach der Veröffentlichung als Fake. In den Staatsmedien wurde der Mitschnitt indes überhaupt nicht thematisiert. Unter belarussischen Politikern, Journalisten und in der belarussischen Gesellschaft sorgte er für Wut und Entrüstung und entfachte eine Diskussion über die moralische Verkommenheit des Machtapparats Lukaschenko. dekoder bringt eine Auswahl von Stimmen aus dieser Debatte.
Facebook/Dimitri Nawoscha: Alles soll vernichtet werden
Der Belarusse Dimitri Nawoscha ist Mitgründer des einflussreichen russischen Sportportals Sports.ru, das unter anderem auch das Portal Tribuna in Belarus betreibt. Seiner Meinung nach zeigt die Aufnahme schonungslos die Geisteshaltung von Lukaschenkos Helfern.
[bilingbox]Lukaschenko ist es gelungen, eine Bande erstaunlichen Abschaums um sich zu versammeln, die bereit ist, Unbewaffnete zu verstümmeln und zu töten, die bereit ist, nicht nur moralische Grenzen zu überschreiten (hier gab es eh keine Illusionen), sondern auch jedwede Gesetze – sogar die eigenen diktatorischen. Bereit, in dem von den Lukaschisten ausgedachten ‚hybriden Krieg‘ alles Lebendige zu vernichten.~~~Лукашенко удалось собрать под себя банду удивительных выродков, готовых калечить и убивать безоружных, преступать не только через мораль (тут иллюзий особо не было), но и через любые законы – даже свои, диктаторские. Уничтожать всё живое в придуманной лукашистами «гибридной войне.[/bilingbox]
erschienen am 15.01.2021, Original
tut.by/Swetlana Tichanowskaja: Leben oder Konzentrationslager?
Für Swetlana Tichanowskaja, die führende Figur der belarussischen Oppositionsbewegung, sind die Aussagen in der Aufnahme ein Zeichen dafür, dass Lukaschenkos Abgang bevorsteht.
[bilingbox]Lukaschenko bereitet sich auf seinen Abgang vor. Er weiß, dass sich Belarus mit ihm in einen geächteten Staat verwandeln wird. Er weiß, dass er verloren hat. Die Frage ist nur, was er zurücklassen wird. Und jetzt möchte ich allen am Bildschirm eine Frage stellen, allen, die dieses Video sehen. Es spielt keine Rolle, für wen Sie gestimmt haben oder welche Ansichten Sie vertreten. Es spielt keine Rolle, welche Flagge oder welches Wappen Ihnen gefällt. Ich möchte jedem Belarussen eine Frage stellen: Was haben wir verdient – ein Land zum Leben oder ein Konzentrationslager?~~~Лукашенко готовится к уходу. Он знает, что с ним Беларусь превратится в страну-изгоя. Он знает, что проиграл. Вопрос лишь в том, что он оставит после себя. И сейчас я хочу задать вопрос каждому человеку у экрана, всем, кто смотрит это видео. Неважно за кого вы голосовали и каких взглядов придерживаетесь. Неважно, какой флаг и герб вам нравится. Я хочу задать вопрос каждому беларусу. Что мы заслужили: страну для жизни или концлагерь?[/bilingbox]
erschienen am 15.01.2021, Original
Facebook/Pjotr Kusnjazou: Blick in die dunkle Vergangenheit
Pjotr Kusnjazou, Direktor der regionalen Informationsplattform Gomel – Silnyje Nowosti, fühlt sich durch die Aufnahme an die schlimmsten Zeiten seines Landes erinnert.
[bilingbox]Hier sind nun also die Pläne, im Land ein politisches Konzentrationslager zu errichten – das hat selbst vor dem Hintergrund der bestehenden Realität für enorme Verwunderung gesorgt. So deutlich weht damit der Wind von den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts herüber, dass einen eine Gänsehaut überzieht. Wir ziehen hier Parallelen zum Stalinismus, erfassen Gemeinsamkeiten, während die da diese Gemeinsamkeiten gezielt planen und organisieren. Was heißt hier Stalinismus. Unter Stalin waren die Menschen nicht „überflüssig“ – alle waren gut dafür, den Weißmeer-Ostsee-Kanal zu bauen. „Überflüssige Menschen“ – das stammt aus dem Repertoire einer völlig anderen Figur, der all der Lebensraum nicht reichte; „die Überflüssigen“ konnten buchstäblich verwertet werden, was auch gemacht wurde: Goldkronen – auf den einen Haufen, Haare zum Polstern von Möbeln auf einen anderen, Organe und Blut für Medizin wieder irgendwo anders hin und so weiter. ~~~Но вот планы создать в стране политический концлагерь – это удивило сильно даже на фоне имеющейся реальности. Так чётко повеяло 30-ми годами прошлого столетия, что аж мурашки по коже. Мы тут проводим параллели со сталинизмом, улавливая общие черты, а они в это время эти общие черты целенаправленно планируют и организовывают. Да ладно, сталинизм. При Сталине „лишними“ люди не были – все годились Беломорканал строить. „Лишние люди“ – это из репертуара совершенно другого персонажа, которому все жизненного пространства не хватало, а „лишних“ можно было утилизировать в буквальном смысле, что и делалось: золотые коронки – отдельно, волосы для набивки мебели – отдельно, органы и кровь для медицины – отдельно и т.д.[/bilingbox]
erschienen am 15.01.2021, Original
Telegram/Pawel Latuschko: Befehlsgewalt von oben
In seinem Statement betont Pawel Latuschko, ein zur Opposition übergelaufener Funktionär und Politiker, die umfassende Macht Lukaschenkos.
[bilingbox]Nach Karpenkows Aussagen wird niemand mehr die geringsten Zweifel haben: Alle Gräueltaten in Belarus geschehen auf Befehl Lukaschenkos und mit seinem Wissen. Er benennt direkt die wesentliche Aufgabe der Miliz – nein, das ist nicht der Schutz des Volkes, sondern der Schutz des Nichtlegitimierten und seiner Familie.~~~После заявлений Карпенкова ни у кого не останется ни малейших сомнений: все злодеяния в Беларуси творятся по приказу Лукашенко и с его ведома. Он прямо называет основную задачу милиции – нет, это не защита народа, а защита нелегитимного и его семьи.[/bilingbox]
erschienen am 15.01.2021, Original
Radio Svaboda: Lenin als absurde Argumentationshilfe
In der Aufnahme bezieht sich die Stimme, die Karpenkow zugeordnet wird, auch auf Lenin. Jury Drakachrust, politischer Kommentator beim Sender Radio Svaboda, weist auf die bittere Ironie dieser Argumentation hin.
[bilingbox]Laut Karpenkow hat „Großväterchen Lenin“ gesagt, dass nur der Staat das Recht hat, Waffen zu benutzen, und dass alle anderen, die sie benutzen, Banditen und Terroristen sind. Die Ironie der Situation besteht darin, dass Karpenkow sich auf eine Person bezieht, die selbst ein prominenter, patentierter Bandit und Terrorist war. Es ist schwierig, in der Geschichte eine andere Figur zu finden, die ähnlich radikal wie Lenin die Tradition, die Sitten, die alte Hierarchie ablehnt – alles, was Herrn Karpenkow angeblich so am Herzen liegt. Herr Karpenkow hat in dieser Hinsicht einfach nichts zu bieten. Absolute, ideale Leere als Ideologie, mit Lenin als Prophet des Bestehenden und der Unveränderlichkeit – eine absurdere und widersprüchlichere Rechtfertigung kann man sich nicht vorstellen.~~~
По словам Карпенкова „дедушка Ленин“ говорил, что право на применение оружия имеет только государство, а все другие, кто его применяет – бандиты и террористы.
Ирония ситуации заключается в том, что Карпенков сослался на личность, которая как раз и была выдающимся, патентованным бандитом и террористом. Поискать в истории другого персонажа, который бы столь радикально, как Ленин, отвергал традицию, обычаи, прежнюю иерархию – все то, что якобы такое дорогое сердцу господина Карпенкова.
У господина Карпенкова нет в этом смысле просто ничего. Абсолютная, идеальная пустота как идеология, Ленин как пророк охранительства и неизменности – нарочно не придумаешь более абсурдного и противоречивого обоснования.[/bilingbox]
erschienen am 15.01.2021, Original
Belorusski Partisan: Für Geld oder Freischein
Lew Margolin, Ökonom und stellvertretender Vorsitzender der Vereinigten Bürgerpartei, spekuliert in einem Interview, wer die Aufnahme Bypol zur Veröffentlichung übermittelt haben könnte.
[bilingbox]Das machen natürlich deren Kollegen. Dafür könnte es zwei Gründe geben. Der erste Grund ist möglicherweise der Wunsch, Geld zu verdienen. Es ist die Information durchgedrungen, dass bestimmte Leute Geld für solche Aufnahmen verlangen. Der zweite Grund ist der Wunsch, in der Zukunft eine Art Ablass zu erhalten. Später wird man sagen: Obwohl dieser Mann dort gedient hat, war er in nichts verwickelt, mehr noch: Er hat uns als Kämpfer im Untergrund geholfen.~~~Делают, конечно, их коллеги. А причины могут быть две. Первая причина – возможно, желание заработать. Проходила информация, что кое-кто хочет денег за какие-то записи. Вторая причина – желание получить индульгенцию в будущем. Потом будет сказано: хоть этот человек и служил там, но он ни в чем не замешан и более того, он как подпольщик помогал нам.[/bilingbox]
erschienen am 18.01.2021, Original
dekoder-Redaktion
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Bystro #19: Wie frei sind die Medien in Belarus?
Journalisten in Belarus leben gefährlich. Vor allem seit dem Beginn der Proteste am 9. August 2020 sind sie fast täglich staatlichen Repressionen ausgesetzt. Auch Festnahmen gehören zum Alltag.
Wie aber sieht die belarussische Medienlandschaft aus? Wie frei können Medien berichten? Woher beziehen die Menschen ihre Informationen? Und sprechen belarussische Medien immer nur po-russki? Ein Bystro von Ingo Petz in neun Fragen und Antworten – einfach durchklicken.
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1. Wie sieht die belarussische Medienlandschaft generell aus?
Die ist zumindest auf dem Papier recht breit gefächert. Das Fernsehen spielt dabei immer noch eine wichtige Rolle, wird aber immer mehr von Internetmedien und seit vergangenem Jahr zunehmend von Messenger-Diensten abgelöst. Die Rolle von Radio und gedruckten Medien nimmt – wie in den meisten Ländern – deutlich ab. Die wichtige Unterscheidung für Belarus liegt darin, ob die Medien unabhängig oder staatlich sind. Dabei bedeutet staatlich nicht öffentlich-rechtlich. Das heißt: Gerade die wichtigsten TV-Sender oder -Unternehmen wie ONT, BT oder CTV gehören direkt dem Staat oder Holdings, an denen Ministerien oder andere staatliche Strukturen beteiligt sind. Diese Medien werden aus dem Staatshaushalt finanziert. Die Präsidialverwaltung oder das Informationsministerium haben mitunter direkten Einfluss auf die Zusammensetzung der Redaktionen und vor allem auf die politische Berichterstattung, die in erster Linie für Propagandazwecke genutzt wird.
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2. Gibt es überhaupt unabhängige Medien?
Was heißt „unabhängig“? Natürlich gibt es privatwirtschaftlich finanzierte Medien – als Fernsehen, Radio, Zeitung oder Zeitschrift, und vor allem im Internet; nicht alle, aber viele davon sind auch inhaltlich unabhängig. Eine echte Unabhängigkeit ist in autoritären Staaten eh nur schwer umzusetzen, wenn bei heiklen Themen Gefängnis oder Geldstrafen drohen. Stichwort: Selbstzensur. Zudem arbeiten sogenannte oppositionelle Medien nicht unbedingt nach journalistischen Standards, sondern betreiben nicht selten eine Art Gegenpropaganda. Dennoch ist die kritische journalistische Berichterstattung in den vergangene Jahren deutlich professioneller geworden. Und das, obwohl die Medien einer restriktiven Registrierungsregelung unterliegen. Damit Medien arbeiten können, müssen sie sich nämlich beim Informationsministerium anmelden. Diese Registrierungspflicht ist ein mächtiger Kontrollmechanismus für die autoritäre Staatsführung. Unter den sogenannten (finanziell) unabhängigen Medien befinden sich aber vor allem TV-Unterhaltungsprogramme, kommerzielle Radiosender, Tierzeitschriften, Tourismusportale oder sonstige unverfängliche Formate.
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3. Aus welchen Medien holen sich die Belarussen ihre Informationen?
Vor allem aus dem Fernsehen und aus dem Internet. Die ältere Generation guckt laut Umfragen immer noch sehr viel Fernsehen. Dabei sind die populärsten Informationskanäle ONT, RTR Belarus, Belarus 1, NTV Belarus, Belarus 2 oder CTV staatlich und somit Teil der offiziellen Propaganda. 60 bis 74 Prozent der Belarussen informieren sich Umfragen zufolge auch im Netz. Online haben die unabhängigen Medien eine wesentlich stärkere Präsenz als offline. Unter den Top Ten der wichtigsten Online-Informationsportale finden sich mit tut.by, Naviny, Belsat, CityDog und The Village Belarus vor allem kritische, journalistische Formate, zu deren Nutzern hauptsächlich jüngere und mittelalte Menschen gehören. Je jünger die Menschen also sind, desto weniger nutzen sie die klassischen Medien wie Fernsehen oder Zeitungen, und: Je jünger sie sind, desto weniger vertrauen sie laut Meinungsumfragen staatsnahen Medien und Informationsportalen.
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4. Welche Bedeutung haben die russischen Staatsmedien in Belarus?
Zentrale Programme des russischen Staatsfernsehens sind in Belarus Teil des landesweit empfangbaren Fernsehens. Teilweise werden die Inhalte eins zu eins übernommen, teilweise für das belarussische Publikum anders zusammengestellt, wie bei den Sendern NTW und RTR Belarus. Der Sender ONT ist eine Art belarussisch-russisches Joint Venture, das Inhalte der russischen Sender Perwy Kanal oder Wremja nutzt. ONT und RTR Belarus gehören zu den reichweitenstärksten Kanälen des Landes: Damit finden die Sichtweisen des Kreml in Belarus eine weite Verbreitung. Die belarussischen Ableger der Zeitungen Komsomolskaja Prawda und Argumenty i Fakty gehören zudem zu den meistgelesenen Zeitungen. Und Sputnik.by – Teil der gleichnamigen staatlichen russischen Nachrichtenagentur – ist eines der populärsten Internetmedien in Belarus. Hinzu kommt die Kreml-Finanzierung von deutlich prorussischen Portalen im Internet. Russland hat also grundsätzlich einen großen Einfluss auf die Meinungsbildung in Belarus.
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5. Wie frei können unabhängige journalistische Medien arbeiten?
Als Alexander Lukaschenko 1994 an die Macht gekommen ist, hat er sofort damit begonnen, die unabhängige Presse an die Kandare zu nehmen. Zunächst wurden Zeitungen und Zeitschriften über findige Rechtswege verboten, Journalisten festgenommen und mit Geld- oder Gefängnisstrafen belegt. Die Zensur war indirekt: über fingierte Vorwürfe und Anklagen wegen angeblicher Steuerhinterziehung. Die Methode wird auch aktuell angewandt: Wie beispielsweise bei der Initiative Press Club Belarus, deren führende Koordinatoren im Dezember 2020 aufgrund angeblicher Steuerhinterziehung festgenommen wurden.
Zudem gibt es mittlerweile sehr viele Gesetze, die nur den Sinn haben, die Arbeit von Journalisten und Medien zu behindern. Während der aktuellen Proteste sind Journalisten direktes Ziel von OMON und Spezialeinheiten: Seit August 2020 gab es fast 400 Festnahmen von Journalisten. Internetseiten werden blockiert und gestört, bei investigativen Beiträgen spricht das Informationsministerium Warnungen gegen Medien aus, was zur Schließung führen kann. Reporter ohne Grenzen führt Belarus auf Platz 153 im aktuellen Index für Pressefreiheit. -
6. In welcher Sprache senden und veröffentlichen die Medien in Belarus?
Überwiegend auf Russisch. Es gibt Medien, die beide Sprachen – also Russisch und Belarussisch – nutzen. Wie beispielsweise die unabhängige Zeitung Narodnaja Wolja (dt. Volkswille), die älteste, noch als klassisches Druckerzeugnis erscheinende sogenannte Oppositionszeitung. Aber auch Internetmedien für ein jüngeres Publikum wie 34Mag, CityDog oder The Village Belarus nutzen dieses sprachliche Zwitterformat. Selbst die älteste belarussische Zeitung Nasha Niva, die allerdings nicht mehr als gedruckte Zeitung erscheint, veröffentlicht ausgewählte Beiträge seit ein paar Jahren auch in einer russischen Übersetzung. Nur der in Prag ansässige Sender Radio Svaboda, der von Geldern der US-Regierung finanziert wird, oder das Internetmedium Novy Chas publizieren auschließlich auf Belarussisch. Die Internetseite des in Warschau ansässigen Senders Belsat, den vor allem der polnische Steuerzahler finanziert, gibt es auf Russisch und auf Belarussisch. Im Fernsehen von Belsat sprechen zumindest Moderatoren nur Belarussisch; im belarussischen Staatsfernsehen wird fast durchgehend Russisch gesprochen, und im staatlichen Radio teilweise auch Belarussisch.
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7. Welche Rolle spielen die jungen Nischenmedien im Internet?
Unabhängige Medien wie 34Mag, CityDog oder Kyky haben in den vergangenen 15 Jahren sowohl zur Diversifizierung und Professionalisierung des belarussischen Journalismus beigetragen als auch zu einer Professionalisierung des Medienmanagements. Das zeigt, dass man mit Nischenmedien auch unter schwierigen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen eine nachhaltige Entwicklung erreichen kann. Allein das Stadtmagazin CityDog hat pro Monat laut eigenen Angaben über 650.000 Nutzer. Hinsichtlich gesellschaftspolitisch relevanter Informationsaufbereitung darf man diese Medien nicht über-, aber auch nicht unterschätzen: Schließlich liefern sie den Echo- und Reflexionsraum für die Selbstentfaltungs- und Freiheitssehnsucht junger Menschen, die autoritären Systemen grundsätzlich ein Dorn im Auge ist. Zudem zeigen diese Medien einen generellen Trend: Gerade im Internet sind in den vergangenen Jahren auch zahlreiche neue, auch lokale Medien entstanden, wie beispielsweise das Portal Hrodna.Life. Diese jungen Medien setzen auf eine enge regionale Bindung zu ihrem Publikum.
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8. Haben die aktuellen Proteste die belarussische Medienlandschaft und die Mediennutzung verändert?
Infolge der Proteste, aber auch infolge der Coronakrise, die der belarussische Staat miserabel managt, lassen sich ein paar Trends ausmachen: Die staatlichen Medien haben Umfragen und Analysen zufolge grundsätzlich einen massiven Vertrauensverlust erlitten. Die Leute machen sich auf die Suche nach alternativen Informationsmöglichkeiten, vor allem im Internet, was den unabhängigen Informationsmedien und journalistischen Kanälen zugute kommt. Die deutlich gestiegene Politisierung in der Gesellschaft führt unter anderem dazu, dass auch Sport- oder Lifestyle-Medien nun gesellschaftspolitische Beiträge liefern. Trotz der gezielten Attacken und Repressionen leisten Journalisten und Medien weiterhin eine Arbeit auf hohem journalistischen Niveau. Zudem scheint die in autoritären Systemen bei unabhängigen Journalisten stark verankerte Selbstzensur im Moment kaum noch eine große Rolle zu spielen.
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9. Kann man in Bezug auf die Proteste von einer Telegram-Revolution sprechen?
Der Messenger-Dienst Telegram spielt aufgrund seiner Verschlüsselungstechnik sicherlich eine sehr große Rolle bei den Ereignissen in Belarus, vergleichbar zu den sozialen Medien während des Arabischen Frühlings. Journalistische Medien betreiben längst alle ihre eigenen Telegram-Kanäle. Zudem findet man dort Kanäle von Initiativen, Organisationen oder Fachexperten, die der Informationsverbreitung und Meinungsbildung dienen. Vor allem für die visuelle Abbildung der Proteste und der Verbreitung von Videos hat der von Exil-Belarussen aus Polen betriebene Kanal Nexta eine gewaltige Bedeutung. Da ausländische Korrespondenten so gut wie gar nicht vor Ort sind, der Staat belarussischen Korrespondenten ausländischer Medien die Akkreditierung entzogen hat und die Arbeit vor Ort grundsätzlich schwierig ist, fehlen häufig visuelle Eindrücke. Vor allem diese Funktion übernimmt Nexta. Der Kanal hat über 1,7 Millionen Abonnenten. Insgesamt kann man sagen: Ohne Telegram wüssten die Belarussen und auch die Menschen in Westeuropa sicherlich wesentlich weniger über die Vorgänge in Belarus.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Ingo Petz
Stand: 12. Januar 2021Weitere Themen
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Mit der Angst um den Hals
Seit Anfang Dezember 2020 befindet sich Alhierd Bacharevič zusammen mit seiner Frau, der Dichterin Julia Cimafiejeva, in der steirischen Stadt Graz. Beide haben von Anfang an die Proteste in ihrer Heimat gegen das autokratische System Alexander Lukaschenkos unterstützt. In einem Interview für Radio Svaboda sagte Bacharevič, nachdem er in Österreich angekommen ist: „Ich habe Belarus psychisch gebrochen und krank verlassen, voller Hass auf den Staat, voller Schmerz und Schuld. Ich denke, diese Wunde wird niemals heilen. Aber meine persönlichen Wunden sind nichts im Vergleich zu den Wunden derer, die körperlich gefoltert und zerstört wurden … Wir leben zwischen einem schrecklichen Trauma und einer hellen Hoffnung.“
Die protestierenden Belarussen bezeichnen diejenigen, die im Namen von Lukaschenko Gewalt anwenden, als „Faschisten“. Auf der anderen Seite diffamiert Lukaschenkos Machtapparat die Protestierenden als „Faschisten“. Ein Wort also mit einer schaurigen, wechselvollen Geschichte, auch in Belarus. In einem Essay für die belarussische Wochenzeitung Swobodnyje nowosti Plus befasst sich Bacharevič mit dem Faschismus, der ihn seit seiner Kindheit begleitet.
Ihre Gesichter bleiben dir sofort in Erinnerung, du prägst sie dir förmlich ein, wider den eigenen Willen – so wie Kinder Schimpfwörter auf der Straße lernen. Ihre müden Zungen sind behäbig wie ihre staatseigenen Fahrzeuge. Dafür kennen sie die wichtigsten Wörter.
„Nicht wir sind die Faschisten“, erklärt ein hoher Polizeibeamte siegessicher in einem Interview. „Ihr seid die Faschisten!“
Punkt. Er hat alles gesagt. Etwas huscht über sein müdes Gesicht. Ein Ausdruck von . . . etwas Kindlichem, Lebendigem. Das ist doch eine Beleidigung! Eine einfache kindliche Beleidigung. Und eine genauso kindliche, sture Argumentation, eine genauso ausgefeilte Formulierung. Wie hieß es doch in der Kindheit: „Was man sagt, ist man selber!“, „Selber, selber, lachen alle Kälber.“ Kurz gesagt: „Nicht wir sind das. Ihr seid das. Selber schuld.“
Ihr, die Faschisten.
Es ist klar, an wen er sich damit wendet. An uns. Das Volk. Das ist alles, was er uns nach den zwei Monaten andauernden Straßenprotesten sagen kann. Er ist doch auch ein Teil dieser Proteste: Er nimmt daran aktiv teil, wenn auch auf der anderen Seite. Aber er weiß sehr gut, wie die Bevölkerung ihn und seine Befehlsempfänger nennt. Man nennt sie bereits offen so, ohne Angst zu haben; man schreit dieses treffende Wort, spuckt es ihnen hinterher.
„Faschisten!“
Es ist gar nicht so leicht, ein Faschist zu sein. Besonders in Belarus
Wir riefen es ihnen in den Neunzigern zu. Ihnen, den Menschen in Uniform. Wir riefen es ihnen sechsundzwanzig Jahre lang zu. Ich rief ihnen dieses Wort zu, als ich noch ganz jung war: Und es war das erste Wort, das uns damals in den Sinn kam. Ich sang in einer Punk-Band über den Faschismus, und als ich über die „Braunen“ ins Mikrofon kreischte, meinte ich keinesfalls irgendwelche rechtsradikalen Glatzköpfe, die mir in einem Hinterhof auflauerten. Ich meinte sie – die vom Volk gewählte Staatsmacht – und auch dieses unglückselige, blinde, verachtete Volk selbst.
Faschisten.
Du riefst ihnen dieses Wort im Sommer zu, als wir machtlos beobachten mussten, wie diese vermummten Wesen auf einem Platz Radfahrer festnahmen, einfach nur, weil sie Radfahrer waren. Sie schnappten sie und stießen sie in die fahrenden Blechgefängnisse hinein. Du riefst es ihnen zu, als sie wehrlose Menschen neben dem Hotel Minsk jagten und Hotelgäste diese Jagd von ihren Fenstern aus mitverfolgten. Sie schauten zu und hatten das Gefühl, als wären sie in einer Zeitmaschine gelandet. Es gibt derzeit so viele Fahrzeuge auf den Minsker Straßen . . . Panzerwagen, Wasserwerfer, Gefängnistransporter, Absperrsysteme, Kastenwagen des Militärs, unheilbringende Minibusse für die Jagd auf Menschenfleisch . . . Zeitmaschinen. Maschinen der gestohlenen Zeit.
Es schien, als hätten sie sich schon längst daran gewöhnt. Hätten schweigend zugestimmt: Ja, wir sind Faschisten, was soll's. Aber dem ist nicht so. Es ist gar nicht so leicht, ein Faschist zu sein. Besonders in Belarus.
Hier ist ein „Faschist“ mehr als nur ein Faschist.
Manchmal ist es einfach nur ein Job, „Faschist“ zu sein. Man muss doch sein Brot verdienen. Faschisten möchten auch essen. Und Kinder von Faschisten weinen auch. Ein Faschist braucht auch seine Pension. Der Sozialstaat vergisst niemanden.
Wer war er nur, dieser schreckliche Faschist unserer sowjetischen Kindheit?
Diejenigen, die in der UdSSR geboren und aufgewachsen sind, haben das Wort „Faschist“ bereits in ihrer frühen Kindheit zum ersten Mal gehört. Seitdem begleitet es uns wie eine Impfnarbe auf dem Oberarm. Auch in unserem Bewusstsein setzte sich dieses Wort wie eine Impfung fest. „So etwas darf nie wieder passieren“, „Niemand ist vergessen und nichts ist vergessen“, „Wir sind das Land, das den Faschismus besiegt hat“ – so wurden wir großgezogen. Uns wurde der ewige Hass auf den Feind anerzogen, oder genauer gesagt, auf das Wort, welches den Feind bezeichnete. Der Feind war weit weg, wir wurden aus irgendeinem Grund von niemandem bedroht, und für alle Fälle brachte man uns bei, Wörter zu hassen.
Ah, diese herrlichen Wörter . . . „USA“, „BRD“ . . . „Spione“, „Verräter“, „Militärclique“ . . . „Kapitalismus“, „Revanchismus“, „Zionismus“, „Wettrüsten“ . . . „Faschisten“ . . . Wer war er nur, dieser schreckliche Faschist unserer sowjetischen Kindheit? Also erstens war er Deutscher. Die sinnlose Wendung „Befreiung von den deutsch-faschistischen Eroberern“ hat in unserer Kindheit niemanden erstaunt. Vom italienischen Faschismus erzählte man uns in der Schule nicht. Zweitens ist der Faschist ein Folterer, ein Sadist. Drittens muss er eine schöne Uniform tragen. Viertens ist es jemand, der nicht hier unter uns leben könnte. Unter sowjetischen Kindern und Erwachsenen. Er hat überhaupt kein Recht, unter Menschen zu leben. Und in unserem Land kann er sowieso nicht leben, da das kein Land ist, in dem Faschisten am Leben gelassen werden.
Ein guter Faschist ist ein toter Faschist.
Mit der Zeit lösten sich all diese Bedeutungen auf, wurden schwammiger und verschwanden. Bis auf eine. Ein Faschist ist zuallererst ein Sadist, der Inbegriff von Grausamkeit. Das Böse schlechthin. Ein Wort, das eines Tages aus der reinen Politik in die trübe Pfütze der sowjetischen Moral stürzte – und dann auch dortblieb.
Einmal, als ich ungefähr fünfzehn war, musste ich einen ganzen Tag auf einen kleinen Jungen aufpassen, der viel jünger war als ich. Er war ein verwöhntes, lautes Bürschlein. Er dachte, ich habe ihm nichts zu sagen, und wollte das Haus verlassen. Ich verbot es ihm, immerhin war ich verantwortlich für ihn. Er schrie und zappelte mit den Beinen, ich hielt ihn an den Armen fest. Er fing an zu schreien: „Du bist ein Faschist! Faschist! Umbringen sollte man dich!“ Trotzdem ließ ich ihn nicht hinaus. So wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben Faschist genannt. Damals erschrak ich. Weil ich außer Empörung und Ärger noch etwas spürte. Eine seltsame Freude, eine Aufregung und – eine Befreiung. Für ein paar Minuten war ich ein echter Faschist; und sei es nur für diesen einen Lümmel. Also stark und mit Macht ausgestattet. Ich bin über mich selbst hinausgewachsen. Ich stand über allen anderen. Über allen Moralvorstellungen, über den Menschen. Das einzige Gesetz war meine Macht. Ich verachtete dieses plärrende Kind, und ich hatte große Lust, es zu schlagen. Genau in diesem Augenblick, als er mich zum Faschisten erklärt hatte, wusste ich, dass ich – ein gewöhnlicher Teenager – alles darf.
Alles innerhalb der Grenzen meiner kleinen Welt.
Tatsächlich gab es in der Kindheit eine Menge „Faschisten“ rund um uns. Filme und Bücher, Zeitungen und Museen, unsere Spiele und sogar unsere sadomasochistischen Träume, in denen sich Eros, Thanatos und Geschichtsstunden so wonnig vereinten, waren voll mit ihnen. Sogar das Wort „Faschist“ war eindrucksvoll in seinem Klang und Aussehen: Es war kurz, widerwärtig und schön. Es ist interessant, dass das Recht auf gendergerechte Sprache hier nie infrage gestellt wurde. Eine strenge Lehrerin, eine hysterische Direktorin, eine ungeliebte Verwandte, einfach ein böses Weib auf der Straße konnte eine „Faschistin“ sein. Vor allem aber besitzt ein Faschist: Macht und Uniform. Man erkennt ihn sofort. Und er muss Waffen haben – seien es auch nur das Alter, die Stimme, das Dienstalter oder die Amtsbezeichnung.
Es waren die Erwachsenen, die uns den Faschismus beibrachten. Sie vergaßen dabei allerdings, was das ist. Und wiederholten, wie einen Zauberspruch, dass der Faschismus nie zurückkommen würde.
Nein, nein, nein, er kommt nicht zurück. Schlaf ein.
Der kyrillische Faschismus ist das einundzwanzigste Jahrhundert
Ja, ein Faschist in meinem Land ist nicht dasselbe wie ein „Fascist“.
Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, wie man dieses Wort in andere Sprachen übersetzt. Wahrscheinlich sollte es in Übersetzungen nur kyrillisch geschrieben werden. Faschismus auf Kyrillisch ist nicht das gleiche wie Faschismus in lateinischen Buchstaben mit seinen nostalgischen Erinnerungen an schwarze Hemden, staatlichen Korporatismus und den römischen Gruß. Nein, es ist kein Fascism. Der kyrillische Faschismus ist das einundzwanzigste Jahrhundert, die glänzenden Titelblätter des neuen Völkischen Beobachters, die eleganten Anzüge und einheitlichen Köpfe der Staatsbediensteten, der Schrecken, der im Netz Kreise zieht, die täglichen Lügen wie vom Fließband und die in der EU erstandenen Gummigeschosse für Andersdenkende. Er ist nah, man kann sogar Tickets dafür bestellen. Er ist irgendwo unweit der Wörter Unesco und UNO. Faschisten – das sind die, die man gestern noch Geschäftspartner nannte. Das sind die, die man de facto anerkannte und deren Hände geschüttelt wurden. Der Faschismus ist autonom und abergläubisch – wie ihr, unsere europäischen Freunde.
Aber westlich und nördlich von Belarus liest kaum jemand fließend Kyrillisch. Dort meint man, dass der „Faschismus“ (in lateinischen Buchstaben) in Europa zurzeit undenkbar ist. Und der kyrillischen Schrift im Osten darf man ohnehin nicht glauben. Dort ist alles verdreht und verzerrt: Schaut euch nur ihre Buchstaben an, das sind Parodien auf die anmutigen Buchstaben des lateinischen Alphabets.
Von der kyrillischen Schrift geht immer eine Bedrohung aus. Ständig ist bei denen irgendetwas nicht in Ordnung. Weil sie . . . Weil dort drüben einfach nicht Europa ist.
Und jetzt schon wieder.
Jedes Mal, wenn wir jemanden Faschist nennen, stehlen wir dieses Wort von jenen, die darauf einmal stolz waren.
Die zugängliche Kunst mochte das Wort „Faschismus“ immer
Natürlich ist „Faschist“ ein Wort aus dem Arsenal der Propagandisten. Es ist immer bei der Hand. Wie ein auf der Straße herumliegender Pflasterstein. Heb ihn auf und wirf! Schmeiß ihn auf die Faschisten, da triffst du auf jeden Fall jemanden. Du hast schon getroffen – in dem Augenblick, in dem du deinen Feind erfunden hast.
Faschist – das ist ein Passwort aus acht Buchstaben. Wie oft du es auch eingibst, es wird jedes Mal passen. Der Zugang zum Feind ist gewährt. Auch wenn du ein paar Buchstaben auslässt.
Die antifaschistische Propaganda ist gewiss auch Propaganda. Aber wenn unbewaffnete Menschen bis an die Zähne Bewaffneten gegenüberstehen und Worte in die Hand nehmen – ist das schon etwas Größeres. Eine Anschuldigung. Denn Worte sind unsere einzigen Waffen. Der Terror der Bewaffneten gegen die Unbewaffneten – ist das denn nicht Faschismus? Wie viele Opfer braucht es noch, damit das Wort aufhört, ein einfaches Lexem zu sein? Wie viel Schmerz und Grauen, Entführungen und Folter, damit „Faschismus“ das Gewicht und die Form seiner echten Bedeutung erlangt?
Ein Faschist, das ist einer, der alles Menschliche hinter sich gelassen hat. Ein Übermensch. Einer, der nicht mehr zu uns zurückkommen kann. Wir, wir leben doch zwischen Tod und Leben. Der Faschist aber – zwischen Tod und Rache. Zwischen sich – und sich. Einen Weg zurück zu den Lebenden gibt es nicht mehr. Wenn Faschisten an der Macht sind, musst du es ihnen unbedingt sagen. Aber zuerst musst du es dir selbst eingestehen.
Da gibt es einen Augenblick, in dem alle Farbspektren verblassen und nur zwei Farben bleiben. Sie nicht zu unterscheiden ist eine lebensbedrohende Krankheit. Nur zwei: Schauder und Hoffnung. Das Schwarz der Faschisten und unser Weiß. Ein schwarz-weißer Film über die Faschisten von damals, die quälen und töten, schwarz-weiße Aufnahmen der Kriegsjahre, von Okkupanten gemacht – all das ist jetzt, 2020, wieder Realität geworden. Aufnahmen von 1942 und 2020, nebeneinandergestellt, erschüttern uns in Belarus.
Wie sehr sie sich ähneln – die, die damals quälten, und die, die jetzt quälen. Fast Zwillinge. Und wie sehr sind wir uns nahe, als hätten wir uns auf einer historischen Brücke zufällig getroffen: die, die damals gequält wurden, und die, die heute gequält werden. Deine Vorfahren, das sind vermutlich jene, die dir einmal auf so einer Brücke begegnet sind. Und du hast dabei nicht weggeschaut.
Die Revolution ist eine Kampfansage an den Faschismus, die Revolution ist die Zeit der Einfachheit. Leider ist das so, sage ich, weil Kunst nicht einfach gestrickt sein kann. In der Kunst locken ja viele Versuchungen, eine davon – zugänglich zu werden. Die zugängliche Kunst mochte das Wort „Faschismus“ immer. Die Kunst spielt damit, wie mit einem Ball. Denn der Faschismus bietet klare und eingängige Bilder, die Künstler von der Verpflichtung zur Komplexität befreien. Die Literatur mag dieses Wort auch. Wenn du „Faschismus“ schreibst, musst du gar nichts mehr erklären. Gewalt und Macht sind ein endgültiges, universelles und auch das zugänglichste Bild.
Wenn sie uns sagen, dass wir Faschisten sind, ist das ein Verfahren, das aus der alten sowjetischen Propaganda stammt. Für Tausende Menschen wurde dies zu einer Erinnerung, die sie sich selbst ausgedacht haben.
Wenn wir ihnen sagen, dass sie die Faschisten sind, ist es ein von Millionen von Menschen geschriebenes Urteil.
Wenn die Macht jemanden einen Faschisten nennt, dann ist es eine faschistische Macht.
Das Recht zu entscheiden, wo Faschismus ist und wo nicht, darf nie der Macht gehören.
Alles ganz einfach.
Es war lächerlich, von den aussterbenden Sowjets Freiheit zu erwarten
In meinen fünfundvierzig (nur fünfundvierzig!) Jahren habe ich mehrere Regime erlebt. Ich bin unter dem Totalitarismus geboren und aufgewachsen, geriet dann in die Perestroika. Ich sah die Ratlosigkeit der Erwachsenen, die nie in einer anderen Epoche gelebt hatten. Dann gab es die Unabhängigkeit und vereinzelte zaghafte Blicke der neuen-alten Machthaber in Richtung demokratischer Ordnung. Das war noch keine Freiheit. Das war der Anfang der 1990er Jahre, und es war lächerlich, von den aussterbenden Sowjets Freiheit zu erwarten – aber es war zumindest ein Versuch, zumindest die Hoffnung auf Freiheit. Und dann begann die Diktatur. Und ich zog los nach Hamburg. Die sechs Jahre, die ich dort verbrachte, sind die einzigen Jahre in meinem Leben in einer Demokratie. Dann kehrte ich nach Minsk zurück. Und jetzt leben wir beide hier unter dem Faschismus.
Gratuliere.
Ebenfalls.
Wir werden sterben. Solche, wie wir, werden unter dem Faschismus nicht überleben. Sie ersticken.
Aber ist das tatsächlich Faschismus?
Damals wie jetzt: Angst und Brutalität
„Die Kunst der Dichtung erfordert Wörter“, meinte Brodsky. Aber pfeif auf die Dichtung. Wir brauchen doch immer Wörter. Wir Menschen sind zu Wörtern verdammt. Wir können dem Tod nicht ruhig entgegenschreiten, uns dem Tod nicht nähern, wenn wir nicht wissen, wie unser Leben heißt. Wir fragen uns immer: Wer sind wir? Wo sind wir? Wohin gehen wir? Wir ahnen, dass es keine Antworten gibt. Aber anstatt der Antworten gibt es Wörter. Es gibt Namen, und wir suchen sie. Das kann uns nicht einmal der Faschismus verbieten. Diskussionen darüber, wohin Belarus 2020 gekommen ist, fingen noch vor der Wahl am 9. August an. Was ist das für ein System, wie kann man es nennen, klassifizieren? Die Antwort hängt natürlich von vielen Faktoren ab, und einer davon ist, wo sich der Klassifizierende befindet. Internationale Analytiker sind stolz auf ihre Unparteilichkeit. Nein, das ist noch kein Faschismus, sagen sie. Viele formale Merkmale fehlen. Seltsam, aber mir scheint, sie würden ihre Meinung ändern, wenn sie nur für ein, zwei Wochen hier leben würden.
Das ist eine Junta aus Armee und Polizei, sagen die einen. Eine typische lateinamerikanische Erscheinung, die plötzlich in Osteuropa aufgetaucht ist. Nein, das ist gewöhnlicher Autoritarismus im Stadium der Agonie, sagen die anderen. Das ist ein hybrides Regime, erklären wieder andere. Mir kam einmal folgende Definition in den Sinn: Es ist wie im Jahre 1937, aber mit Internet. Damals, 1937, gab es Telegramme, die vom Staat genau unter die Lupe genommen wurden; für verdächtige Telegramme konnte man erschossen werden oder in Straflagern enden. Jetzt haben fast alle Telegram, und dafür, dass man „falsche“ Kanäle abonniert, kann man auch strafrechtlich verfolgt werden. Damals wie jetzt: Angst und Brutalität, Polizei-Einsatzwagen neben den Hauseingängen und Menschen, die mit Schrecken auf die Schritte im Treppenhaus hören. Gehst du auf die Straße, kann es sein, dass du einfach nicht mehr zurückkommst. Menschen verschwinden am helllichten Tag und werden erst später wiedergefunden. Man findet sie im Gefängnis – und freut sich noch: Er ist am Leben, sie ist am Leben. Gott sei Dank!
Einmal, damals noch im früheren Leben, sagte ein Freund von mir, ein Deutscher: Ihr habt in Belarus eine postmoderne Diktatur. Um die Gefahr, die von ihr ausgeht, zu verstehen, muss man erstens wissen, was die Postmoderne eigentlich ist. Zweitens braucht man einen guten Sinn für Humor und eine die Kapazitäten eines Menschen übersteigende Ironie. Drittens darf man nicht nach den Gesetzen der traditionellen Logik leben.
Heute schlagen wir schlaue Bücher auf und suchen nach Definitionen für das, was bei uns passiert. Wir suchen nach Parallelen. Geschichtsliebhaber und ältere Menschen wurden an die haitianischen Tontons Macoutes, an Pinochet, Salazar, Paraguay und vieles mehr erinnert. Wir tauschen im Netz gefundene Definitionen des Faschismus untereinander aus. Faschismus nach Nolte und nach Arendt, nach Payne oder nach Griffin . . . Nicht alle Punkte sind gleich. Wir streiten. Politologen runzeln die Stirn. Sie können Dilettanten nicht ausstehen. Nein, das kann nicht sein. Wie soll es im Jahr 2020 Faschismus geben? Wir aber lesen und erkennen unsere Realität wieder. Genau die Realität, die nicht nur draußen vor dem Fenster ist, nein, sie befindet sich sogar gleich unter dem Schädeldach. Ja, das ist Faschismus. Ganz besonders, wenn du über ihn liest und dich dabei mitten in ihm befindest. Ein Mensch mit einem Buch in einer durchsichtigen Kugel, aus der es keinen Ausweg gibt. Wir stehen vor dem Gefängnis in Schodsina, rauchen und warten auf jemanden.
„Faschisten! Deutsche Schweine! Ihr vergast uns! Juden und Freimaurer! Umbringen sollte man euch!“, ruft uns eine nette alte Frau an die 90 zu, die direkt gegenüber dem Gefängnis wohnt.
Unterstreichen Sie bitte die Wörter und Ausdrücke, die aus der bekannten Assoziationskette fallen.
Unsere Texte bedeuten nichts. Es gibt nur die Kugel. Durch ihre Wände hört man alles, sieht aber nichts.
Belarus hat den Faschismus nicht für sich entdeckt, es hat sich wieder an ihn erinnert
Was Faschismus ist, wussten wir hauptsächlich aus Büchern und Filmen. Die Massenkultur verschlang und verdaute den Faschismus schon vor so langer Zeit, dass wir glaubten, alles darüber zu wissen. Das Einzige, was uns überraschte: Wie man unter dem Faschismus überhaupt leben konnte. Ein menschliches Wesen zu sein und normale Bedürfnisse, Träume, Wünsche, Emotionen zu haben. In Zeit und Raum zu existieren. Konnte man sich so etwas unter dem Faschismus denn leisten? Der Protagonist in Nabokovs Erzählung Wolke, Burg, See gibt zu, dass er „keine Kraft mehr hat, Mensch zu sein“. Er lebt unter dem Faschismus, dem deutschen Nationalsozialismus der 1930er Jahre, aber in dieser Erzählung spricht Nabokov weder über die totale politische Kontrolle noch über die Gestapo. Der Faschismus zeigt sich über den Alltag, das sind die einfachen Menschen rund um uns – und das ist das Schrecklichste am Faschismus.
Wir lasen diesen Text als eine Warnung. Und jetzt hat es sich herausgestellt, dass wir in ihm leben. Es war plötzlich klar, dass man auch unter Faschismus Sushi essen oder Wein trinken, Sex haben, Kinder großziehen, etwas arbeiten, vor dem Einschlafen lesen oder spazierengehen kann. Unter Faschismus gibt es auch Musik. Man kann alles. Nichts ist erlaubt. Es gibt kein Gesetz, es gibt nur physische Bedürfnisse, Hass, Rebellion, Hoffnung – und das, was Czesław Miłosz „eine glühende Kugel der Angst“ nannte. Er erinnert sich an seine Jugend im besetzten Warschau und schreibt, dass er zu jener Zeit viel arbeitete, Gedichte schrieb, verliebt war, sogar manchmal tanzte, sich versteckte, anderen half, sich über das Essen freute, Wodka trank . . . Aber jeden einzelnen Augenblick, schreibt Miłosz, sah und spürte er diese „glühende Kugel“ gleich in seiner Nähe. Nichts konnte sie verjagen.
Wir spüren dasselbe. Außer dass manche Grenzen noch offen sind. Noch kann man die Kugel einpacken – und mitnehmen.
Die belarussische Dichterin Julia Cimafiejeva schreibt in ihrem Gedicht Der Stein der Angst über die Angst, die wie ein Edelstein von Generation zu Generation weitergegeben wird. In diesem Text wird unsere belarussische Angst zu einem seltsamen Schmuckstück, das man wie eine Halskette trägt. Ein Erbstück, mit dem man achtsam umgeht. Belarus hat den Faschismus nicht für sich entdeckt, es hat sich wieder an ihn erinnert. Das Land trug ihn immer bei sich. Warum? Wahrscheinlich aus Angst. Angst aufzuhören, man selbst zu sein.
„Wir sind doch keine Faschisten. Ihr seid Faschisten“
Belarus ist das erste europäische Land geworden, in das der Faschismus zurückgekehrt ist. Schwein gehabt. Nun sind wir wieder ein Teil der europäischen Geschichte. Warum kam es dazu?
Weil wir vorher nicht dort waren. Irgendwie wollten wir nicht. Wir hofften, heil davonzukommen.
„Menschen, seid wachsam!“, schrieb in seinem Buch Reportage unter dem Strang geschrieben der tschechische Journalist Julius Fučík kurz vor seinem Tod. Er wurde 1942 von Faschisten gefangengenommen und hingerichtet. Als ich in Westeuropa lebte, habe ich mit Erstaunen festgestellt, dass nur ganz wenige Menschen wissen, wer das war. Fast gar niemand.
Manchmal scheint es, dass sich nur die sowjetischen Kinder, die einst „Faschisten“ und „Russen“ spielten – so wie die belarussischen Kinder heutzutage „Menschen“ und „Schlägertrupps“ spielen –, noch an ihn erinnern. Und eigentlich können sich nur die sowjetischen Kinder, die gut in der Schule waren, an ihn erinnern. Den Namen von Fučík – gemeinsam mit einigen anderen – verwendete die sowjetische Propaganda ohne Ende. Aber niemand glaubte an Propaganda, und niemand nahm diesen geheimnisvollen Fučík ernst. Ja, er hatte da etwas gesagt. Von mir aus unter dem Strang. Diese Fučíks haben doch schon alle satt. Diese Geschichte, die niemand braucht . . . Sie bringt nur noch mehr Verwirrung.
Wir sind doch keine Faschisten. Ihr seid Faschisten. Ich höre förmlich die Stimme des Ermittlers, der das zu Fučík sagt – ruhig, bestimmt, müde, etwas gekränkt.
Julius Fučík wurde im Berliner Gefängnis guillotiniert. Nach geltendem Recht. Nach einem Gerichtsurteil. Unter Beachtung aller vom Gesetz vorgeschriebenen Abläufe. Die Schuld war bewiesen. Der Staat hat keinen Fehler gemacht. Der Staat muss sich doch schützen. Fučík war sein Feind und hat dafür bezahlt.
Man sagt, er hatte sogar einen Anwalt.
Alhierd Bacharevič ist aktuell im Rahmen des Programms Writer in Exile zu Gast in Graz, das in Kooperation von der Stadt Graz (Kulturressort) und der Kulturvermittlung Steiermark seit 1997 kontinuierlich bespielt wird. Die deutsche Übersetzung des Textes erschien am 24. Dezember 2020 erstmals in Die Presse.
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