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Wird Lukaschenko nervös?
Das Goethe-Institut in Minsk und der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) müssen auf Druck der belarussischen Machthaber ihre Arbeit im Land einstellen. Ein Schritt, der international vielfach kritisiert und als Reaktion auf das vierte Sanktionspaket der EU gedeutet wurde. Am 16. Juni 2021 hatten die EU-Außenminister beschlossen, massiv die Sanktionen gegen die belarussische Führung auszuweiten. In der vergangenen Woche sagte Alexander Lukaschenko auch, dass die Sicherheitsbehörden „terroristische Schläferzellen“ enttarnt und zerschlagen hätten. Diese stünden in Verbindung mit Deutschland, der Ukraine, den USA, Polen und Litauen. Daraufhin verfügte der Staat die Schließung der Landesgrenze zur Ukraine. Im Fokus der „antiterroristischen“ Operation stehen dabei Mitglieder des ehemaligen Telegram-Kanals Einheiten der zivilen Selbstverteidigung (blr. Atrady hramadsjanskai samaabarony), der von den Behörden als extremistisch verboten wurde. Dutzende Mitglieder des Kanals wurden festgenommen, einige stehen bereits vor Gericht.
Zudem erschien am 3. Juli im staatlichen TV-Sender ONT ein Beitrag, der angeblich „terroristische Aktivitäten“ in Belarus beweist. Dies sorgte im Land für hitzige Diskussionen. In dem Beitrag wird ein offenbar inszeniertes Attentat auf Grigori Asarjonok gezeigt, einen der berüchtigsten Fernsehmoderatoren der Staatspropaganda, der für den Staatssender CTV arbeitet und regelmäßig gegen die Opposition hetzt. In dieser Atmosphäre beging die Staatsführung am 3. Juli den „Tag der Unabhängigkeit“ mit zahlreichen Veranstaltungen im ganzen Land.
Wird Lukaschenko angesichts einer schwächelnden Wirtschaft nun doch nervös oder ist es bloß Säbelrasseln? Der politische Analyst Waleri Karbalewitsch erörtert in seinem Beitrag für das Medium SN Plus mögliche Folgen der Sanktionen und diskutiert verschiedene Szenarien, mit der die belarussische Führung auf die Strafmaßnahmen reagieren könnte.
Sei vorsichtig mit deinen Wünschen – sie könnten in Erfüllung gehen.
Englisches Sprichwort
Mögliche Folgen der Sanktionen
Nach eingehender Betrachtung des von der EU erlassenen Papiers ist klar, dass die sektoralen Sanktionen, sagen wir mal, nicht in der radikalsten Form ergangen sind. Das wird zum Beispiel daran deutlich, dass das wichtigste Kaliprodukt, das nach Europa exportiert wird, nicht auf der schwarzen Liste steht. Und Belaruskali hat nicht darunter zu leiden, sondern unter dem blockierten Zugang zum litauischen Hafen Klaipėda, über den 97 Prozent der belarussischen Exporte von Kalidüngern abgewickelt werden. So muss eine neue Route über einen russischen Hafen im Leningrader Gebiet erschlossen werden.
Außerdem treten die Sanktionen teilweise erst mit Beginn des kommenden Jahres oder sogar noch später in Kraft. Wenn es also um die Auswirkungen der Sanktionen geht, so sind die in den nächsten Monaten nicht zu erwarten.
Nichtsdestotrotz beginnt das Land, mit den sektoralen Sanktionen zu leben. Diese unterscheiden sich von zielgerichteten (gegen einzelne Unternehmen oder Oligarchen gerichtete) Sanktionen dadurch, dass sie schwieriger zu umgehen sind. Ein Unternehmen kann man verkaufen, der Name oder Eigentümer kann sich ändern, mit ganzen Branchen lässt sich das jedoch nicht machen.
Die Verluste für die belarussische Wirtschaft lassen sich nur schwer beziffern. Es gibt Schätzungen, nach denen Belarus 15 Prozent seines Exports verliert. Immerhin geht ein Viertel der belarussischen Exporte von Erdölprodukten in Mitgliedsstaaten der EU, im Jahr 2020 waren das rund 600 Millionen US-Dollar. Darüber hinaus wurden 10 Prozent der Kaliexporte, für rund 200 Millionen US-Dollar in die EU geliefert.
Premierminister Roman Golowtschenko erklärte, die Verluste durch die Sanktionen würden nicht mehr als 2,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen. Unabhängige Wirtschaftswissenschaftler nennen Werte von 7 bis 14 Prozent. Diese große Schere ergibt sich durch unterschiedliche Berechnungsmethoden. Die einen zählen nur den unmittelbaren Schaden, andere berücksichtigen auch mittelbare Verluste (Kosten durch die Suche nach Wegen zur Umgehung der Sanktionen, ausbleibende neue Vertragsabschlüsse, den Umstand, dass ausländische Geschäftspartner Unternehmen meiden, die auf der Sanktionsliste stehen und so weiter).
Die Sanktionspolitik des Westens ist jedoch ein Prozess – der wurde nun in Gang gesetzt, und es ist unklar, wo und wann er zum Halten kommt. So erklärte jüngst Victoria Nuland, Mitarbeiterin für politische Angelegenheiten im US-Außenministerium: „Die EU ist einen Schritt voraus, indem sie sektorale Sanktionen gegen die belarussische Wirtschaft und jene Bereiche verhängt hat, von denen Lukaschenko abhängig ist. Wir werden versuchen nachzuziehen“.
Die Sanktionen des Westens verstärken die Abhängigkeit des Landes von Russland. Allerdings könnte der Umstand, dass der russische Oligarch Michail Guzerijew auf der Sanktionsliste landete, Unternehmen aus Russland von Belarus abschrecken. Man könnte leicht auf der schwarzen Liste der EU und von den USA landen.
Das gefährliche Thema Krieg
Die Regierung in Belarus hat auf die Sanktionen mit aggressiver Rhetorik, Drohungen gegen den Westen und Erpressungsversuchen reagiert: So hat sich beispielsweise der Strom illegal einreisender Migranten aus Belarus nach Litauen drastisch verstärkt.
Doch unsere Aufmerksamkeit weckt Folgendes: Seit dem 9. August 2020 schürt Lukaschenko in der Bevölkerung Angst vor einem möglichen Krieg mit dem Westen. Angesichts der sektoralen Sanktionen der EU und der USA erlangt diese Rhetorik einen neuen Sinn.
Bei einer Rede am 22. Juni 2021 in der Festung von Brest setzte Lukaschenko einen starken Akzent auf die Frage nach einem möglichen neuen Krieg. Er erklärte: „Im vergangenen Jahr haben wir die modernsten Technologien eines hybriden Krieges erfahren müssen. Die Belarussen fragen immer öfter: Was ist los, werden wir in den Krieg ziehen? Wie denn, Belarussen. Wir sind schon lange im Krieg. Der Krieg hat einfach andere Formen angenommen … 80 Jahre sind vergangen, und …? Ein neuer heißer Krieg … Und weiter? Eine Intervention?“
Indem er in der Bevölkerung Angst vor einem Krieg schürt, versucht Lukaschenko, künstlich das Modell einer „belagerten Festung“ zu konstruieren, die politischen Repressionen zu rechtfertigen sowie die Nomenklatura und die eigenen Anhänger zur Verteidigung des Regimes zu mobilisieren.
Eine solche Rhetorik könnte jedoch das Gegenteil bewirken. Das Volk will keinen Krieg und hat Angst davor. Die Gefahr, dass ein bewaffneter Konflikt entfesselt wird, weckt im historischen Gedächtnis des Massenbewusstseins traumatische Archetypen. Die Belarussen, sogar die Anhänger Lukaschenkos sind wohl kaum gewillt, für Lukaschenko in den Krieg zu ziehen. Dessen Figur wird zunehmend mit Kriegsgefahr assoziiert. Auch der Effekt einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung sollte nicht vernachlässigt werden.
Der Normalbürger sieht, dass das Ausmaß der Probleme – und zwar nicht nur der wirtschaftlichen –, die Lukaschenko zu verantworten hat, größer und größer wird. Der Preis für Lukaschenkos Verbleib an der Macht wird mit jedem Tag höher. Auch für seine nähere Umgebung, einschließlich seiner Hof-Oligarchen.
Aus der Geschichte sind diverse Beispiele bekannt, dass Wirtschaftssanktionen und äußere Konflikte Auswirkungen auf die Stabilität eines politischen Regimes hatten. Mitunter wird ein Regime dadurch gefestigt. Manchmal ist das Gegenteil der Fall.
Es gibt einige Beispiele, dass autoritäre Regime sich in einem bewaffneten Konflikt mit einem äußeren Feind befinden, ihn verlieren und dann zusammenbrechen. So stürzte die Diktatur der Obristen in Griechenland 1974 nach der Niederlage im Zypern-Konflikt mit der Türkei. Die Militärdiktatur in Argentinien brach 1983 nach dem verlorenen Falklandkrieg gegen Großbritannien zusammen. Das Regime von Slobodan Milošević trat wegen des Kosovo einen Krieg gegen die gesamte Welt los, verlor ihn und wurde im Jahr 2000 nach Protesten der Bevölkerung gestürzt.
Dies einfach als Anregung zum Nachdenken.
Das Spiel mit Roman Protassewitsch
Der Umstand, dass Roman Protassewitsch und Sofija Sapega in Hausarrest überführt wurden, ist ein Hinweis, dass das Regime eine Vielzahl von Schachzügen unternimmt und den oppositionellen Journalisten als wichtige Figur einsetzt.
Die Regierung hat sich entschieden, angesichts der dramatischen Folgen von Protassewitschs Festnahme (Schließung des Luftraums und sektorale Sanktionen durch die EU) den Gefangenen vollends auszunutzen und aus der Affäre eine möglichst große politische Dividende herauszupressen. Romans Einwilligung „mit den Ermittlungsbehörden zusammenzuarbeiten“ eröffnete der Regierung die Möglichkeit, – an unterschiedliche Adressaten gerichtet – gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.
Aufgabe Nummer eins ist natürlich die Diskreditierung der Opposition. Die „entlarvenden“ Erklärungen von Protassewitsch sollten all das Negative über die politischen Opponenten unterfüttern, das ein ganzes Jahr schon wie ein Wasserfall aus den Kanälen des belarussischen Staatsfernsehens strömt. Hinzu kommt die Diskreditierung der westlichen Länder. Roman soll „Beweise“ geliefert haben, dass die Proteste von westlichen Geheimdiensten gesteuert worden seien. Das alles richtet sich an das inländische Publikum.
Um den Skandal mit der erzwungenen Landung Russland gegenüber zu „verkaufen“, hat die belarussische Regierung betont, dass Roman im Donbass gekämpft habe. Das hat intensives Interesse bei den russischen Medien gefunden. Zur Lösung dieses Problems wurde die „Volksrepublik Luhansk“ ins Spiel gebracht – erfolglos, wie sich später herausstellte.
Der Hausarrest für Sofija Sapega, die die russische Staatsangehörigkeit besitzt, ist ebenfalls eine Geste an Moskau, eine Demonstration des grenzenlosen „Humanismus“ der belarussischen Behörden.
Eine andere aufdringliche Demonstration des Humanismus ist an das westliche Publikum gerichtet. In Europa wurde geschrieben, dass Protassewitsch möglicherweise gefoltert wurde. Und die Medien-Kampagne gegen Lukaschenkos Regime stützte sich unter anderem auf das Mitgefühl für ein Opfer des diktatorischen Regimes (und nicht nur auf die Verletzung der Flugsicherheit). Romans gesunde, muntere und lächelnde Auftritte vor der Öffentlichkeit sollten diese Thesen widerlegen. Auf gleiche Weise ist auch Romans Überführung in Hausarrest zu verstehen.
Mit den öffentlichen Auftritten von Protassewitsch wollte das offizielle Minsk zudem versuchen, die Wirtschaftssanktionen des Westens, wenn nicht zu verhindern, so doch abzumildern.
Ein weiterer Aspekt dieses endlosen belarussischen Dramas steht in Verbindung mit der Psychologie der einen Person: Das Phänomen eines reuigen, moralisch gebrochenen Feindes erklärt in der belarussischen Politik vieles. Unter Lukaschenko als Präsidenten wurden sämtliche politischen Häftlinge dazu gedrängt, Gnadengesuche zu schreiben. Das war für den Staatschef von grundsätzlicher Bedeutung.
Nach den vom Regime inszenierten Auftritten Protassewitschs kann man nun auch Menschlichkeit walten lassen. Es gibt derzeit 515 politische Häftlinge in Belarus. Allerdings zeigt man sich nur gegenüber Juri Woskressenski und Roman Protassewitsch „menschlich“ (Sofija Sapega soll lediglich Protassewitsch Gesellschaft leisten). Diese politischen Gefangenen haben nicht nur öffentlich vor der Kamera Reue gezeigt, sondern stehen jetzt auf der anderen Seite der Barrikaden. Das ist das Handlungsmuster für alle politischen Häftlinge, die vorzeitig aus dem Gefängnis freikommen wollen.
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Am Ende der Fahnenstange?
Am 21. Juni 2021 haben die EU-Außenminister neue Sanktionen beschlossen – und damit das vierte Sanktionspaket seit der Wahlfälschung und dem Beginn der Proteste gegen die belarussische Staatsführung am 9. August 2020. Grund für die neuen Maßnahmen war die erzwungene Landung des Ryanair-Fluges 4978 in Minsk, bei der der Journalist und Blogger Roman Protassewitsch und seine Freundin Sofia Sapega festgenommen wurden.
Der Sanktionsliste, auf der sich bereits 88 Vertreter der belarussischen Machthaber befanden, wurden 78 weitere Personen hinzugefügt. Darunter auch hochrangige Silowiki wie der stellvertretende Innenminister Nikolaj Karpenkow, Verteidigungsminister Viktor Chrenin, der Befehlshaber der Luftwaffe Igor Golub und der Verkehrs- und Kommunikationsminister Alexej Awramenko, aber auch Manager von Staatsunternehmen, Polizisten, Richter, Parlamentsabgeordnete und andere Vertreter des Systems Lukaschenko, die mit einem Einreiseverbot in die EU belegt wurden. Zudem sollen erstmals auch bedeutende Staatsunternehmen und Wirtschaftszweige sanktioniert werden, wie beispielsweise Unternehmen für Finanzdienstleistungen, aus dem Energiebereich oder auch das Unternehmen Belaruskali, einer der weltweit wichtigsten Hersteller von Kalidünger. Parallel verhängten auch die USA neue Sanktionen.
Scharfe Reaktionen aus Belarus folgten prompt. Alexander Lukaschenko wähnt sich bereits in einem neuen, heißen Krieg. An die Adresse des deutschen Außenministers Heiko Maas sagte er: „Wer sind Sie? Ein reuiger Deutscher oder der Erbe der Nazis?“ Der belarussische Staatschef drohte mit einer harten Reaktion auf die Sanktionen, ohne diese aber konkret auszuführen.
Wie könnte solch eine Reaktion aussehen? Und was bedeuten die Sanktionen für die belarussischen Machthaber? Der Journalist Alexander Klaskowski geht diesen Fragen in einem Analysestück für das Medium Naviny.by nach.
Der Westen betont, dass er mit den aktuellen Maßnahmen das Regime von Alexander Lukaschenko dazu bringen will, die Repressionen zu stoppen, die politischen Gefangenen freizulassen und faire Wahlen abzuhalten. Die Vertreter des Regimes geben jedoch deutlich zu verstehen, dass genau das Gegenteil der Fall sein wird.
Die Erklärung von Außenminister Wladimir Makei im April ist mittlerweile ein Klassiker ihres Genres geworden:
„Jede weitere Verschärfung der Sanktionen wird zum Ende der Zivilgesellschaft führen.“
Die Regierung untermauert diese rhetorische Drohgebärde durch ihr Vorgehen, indem sie die Zahl der politischen Gefangenen erhöht und die roten Absperrbänder um die protestierenden Teile der Gesellschaft enger zieht – die Oppositionsparteien, die Nichtregierungsorganisationen und die nichtstaatlichen Medien (in diesem Bereich war die Zerschlagung des äußerst populären Internetportals Tut.by ein schockierender Vorgang, 15 Mitarbeiter wurden verhaftet).
Kann man zweimal in denselben Fluss steigen?
In den letzten Wochen begannen über Verwandte der politischen Gefangenen Informationen durchzusickern, dass einigen in den Strafkolonien hartnäckig nahegelegt wird, Gnadengesuche zu stellen. Auch wurden in den Medien Überlegungen laut, dass es eine Amnestie für politische Häftlinge geben könnte. Auch von anderen regierungsfreundlichen Figuren wird diese Frage immer wieder durchgekaut.
Man fühlt sich an das Jahr 2011 erinnert. Seinerzeit hatten sich die Beziehungen zwischen Minsk und dem Westen drastisch verschlechtert, nachdem eine Demonstration auf dem Unabhängigkeitsplatz auseinandergetrieben worden war und dutzende Regimegegner verhaftet wurden; damals wurden ebenfalls Sanktionen verhängt.
Die belarussische Regierung hatte sich in der Defensive gefühlt, die politischen Gefangenen bedrängt, Gnadengesuche zu schreiben, und diejenigen freigelassen, die ein solches Papier unterschrieben. Später wurden sogar auch diejenigen freigelassen, die sich hartnäckig geweigert hatten, um Gnade zu bitten. In der Folge steuerten Minsk und der Westen allmählich auf eine Normalisierung der Beziehungen zu (wozu übrigens auch in erheblichem Maße die russische Aggression gegen die Ukraine 2014 beigetragen hat).
Aber kann man zweimal in denselben Fluss steigen? Heute ist der Konflikt sehr viel schärfer. Die EU und die USA weigern sich, Lukaschenkos Legitimität anzuerkennen. Der wiederum befürchtet, dass ein Ende der Repressionen den protestbereiten Teil der Gesellschaft ermutigen könnte, nach dem Motto: Der Würgegriff des Regimes wird schwächer, der Führer gibt klein bei.
Der Skandal wegen der erzwungenen Landung der Ryanair-Maschine in Minsk und der Festsetzung des Regimegegners Roman Protassewitsch, der sich an Bord befunden hatte, sprühte zusätzlich eine gehörige Menge Kerosin in den lodernden Konflikt. Jetzt neigt man in Brüssel und Washington dazu, das Regime in Belarus auch als Gefahr für die internationale Sicherheit zu betrachten. Wie soll es da einen Dialog geben? Zumal in der Minsker Rhetorik keinerlei Kompromissbereitschaft zu erkennen ist. Der Ton ist weiterhin angriffslustig und drohend.
Die Regierung ist nicht bereit, einen Rückzieher zu machen
Doch selbst wenn man westliche Politiker als Halunken bezeichnet, ist die belarussische Führung prinzipiell nicht gegen eine Befriedung, weil dieser höllische Zwist, so sehr man auch den Dicken markiert, die wirtschaftlichen Interessen bedroht. Unter die neue Sanktionen fallen jetzt auch Michail Guzerijew, Alexander Saizew, Alexej Olexin, Sergej Teterin und Alexander Schatrow, die als „Lukaschenkos Brieftasche“ gelten.
Minsk möchte sich allerdings lediglich zu den eigenen Bedingungen versöhnen und nichts von demokratischen Ultimaten hören.
„Zum jetzigen Zeitpunkt ist die belarussische Regierung nicht zu einem Rückzieher bereit“, meint Andrej Fjodorow, Experte für internationale Politik.Er vermutet in einem Kommentar für das Nachrichtenportal Naviny.by, dass die Regierung einen Teil der politischen Häftlinge freilassen könnte, um ein Signal an den Westen zu senden. Der Druck auf die Zivilgesellschaft dürfte aber aufrechterhalten werden. Man werde wohl einige Organisationen schließen, werde aber, „anders als bei Tut.by, ohne Verhaftungen vorgehen“.
Waleri Karbalewitsch, ein Experte des Minsker Thinktanks Strategija, befürchtet, dass nach der Verhängung wirklich harter Sanktionen „von einer Amnestie nicht mehr die Rede sein wird“. Seine Prognose lautet, dass das Regime auf diese Schritte des Westens mit einer Verschärfung der Repressionen antworten wird, insbesondere gegen Medien.
Bezeichnend sei hier die Absicht des Innenministeriums, durchzusetzen, dass sämtliche Inhalte des zerschlagenen Portals Tut.by per Gericht als extremistisch eingestuft werden, erklärt der Experte in einem Kommentar für Naviny.by. Einen derartigen Ansatz könnte die Regierung dann auch auf andere unabhängige Medien ausweiten, meint Karbalewitsch.
Dadurch bliebe den Journalisten nur, „entweder das Land zu verlassen oder ins Gefängnis zu wandern oder den Beruf zu wechseln“.
Mit der Verschärfung der Sanktionen gerät der Westen in ein moralisches Dilemma, da das Regime in Belarus sich kaltblütig und systematisch an jenen rächt, die es für eine Fünfte Kolonne seiner Feinde im Ausland hält.
Wobei laut einiger Experten das Regime aufgrund zu großer Anspannung müde ist und unweigerlich versuchen wird, wenigstens für den Anfang die Spannungen an der Westfront zu reduzieren.
Minsk erhöht den Einsatz
In nächster Zeit werde ein „Prozess in zwei Richtungen“ zu beobachten sein, meint Igor Tyschkewitsch, Experte am Ukrainski institut buduschtschego (dt. Ukrainisches Zukunftsinstitut) in einem Kommentar für Naviny.by. Einerseits werde der Druck auf die Zivilgesellschaft weitergehen, andererseits sei eine Amnestie für politische Häftlinge zu erwarten – wenn nicht zum Unabhängigkeitstag am 3. Juli, dann vielleicht zum 17. September (an diesem Datum wurde ein neuer Feiertag eingeführt, der „Tag der Einheit des Volkes“).
Nach der Vorstellung des Entwurfs für eine neue Verfassung, die „irgendwann zum September hin“ erfolgen werde, werde die Regierung mit dem Westen „herumhandeln“, lautet Tyschkewitschs Prognose. Er glaubt, dass über diplomatische Kanäle „bereits die ersten Beratungen [in dieser Richtung] laufen“.
Was die Repressionen betrifft, so hat die Regierung „ihre Arbeit im Wesentlichen getan“, jetzt „werden die Reste erledigt“. Heute sorgt einfach jeder Fall von Repression für besonderes Aufsehen, doch habe es im Februar beispielsweise mehr solcher Fälle gegeben, meint der Experte.
Die Fortführung der Repressionen lasse sich unter anderem dadurch erklären, dass Minsk „den russischen diplomatischen Traditionen folgt: Vor dem Beginn wichtiger Verhandlungen wird der Einsatz maximal erhöht“.
Die Opposition soll aus einem Dialog mit dem Westen herausgehalten werden
Tyschkewitsch ist der Ansicht, Minsk werde die westlichen Akteure mit der Aussicht auf Veränderungen im politischen System und auf die Einführung gewisser demokratischer Elemente locken. „Der Westen wird sich auf die eine oder andere Weise auf einen Dialog einlassen. Vielleicht nicht sofort, aber er wird reagieren müssen“, meint er gegenüber Naviny.by. Dem Westen sei klar, dass er „in der heutigen Konfiguration [des politischen Systems] Lukaschenko durch Sanktionen nicht wird stürzen können“.
„Die Blockade“ im Dialog mit der EU und den USA könnte Anfang des kommenden Jahres „gelöst werden“. Dabei werde Minsk „auf seinem eigenen Algorithmus beharren“ – eine etwas demokratischere Verfassung, ein neues Wahlgesetzbuch und dann Wahlen, lautet seine Prognose.
Werden sich die ausländischen Teams von Lukaschenkos Widersachern in diesen Prozess einschalten können? Tyschkewitsch meint, sie müssten ihren Politikstil und den Kommunikationsansatz ändern, wenn ihre Anführer nicht das gleiche Schicksal ereilen soll, wie Juan Guaidó (der venezolanische Oppositionsführer, der nach einer Reihe politischer Misserfolge von der EU nicht mehr als rechtmäßiges Staatsoberhaupt anerkannt wurde).
Für die ausländischen Teams der Opponenten des Regimes in Belarus sei es wichtig „zu versuchen, auf die Schlüsselfrage zu antworten: Was werdet ihr mit Belarus machen?“
Stand heute gebe es „eine Reihe von Parolen und Erklärungen, dass der Westen uns Geld geben wird. Doch wo sind die Vorschläge für die Vertreter der Agrarwirtschaft, des Maschinenbaus, der Sicherheitsbehörden, der Mitarbeiter im Bildungswesen? Da geht es darum, was man öffentliche Politik nennt. Bislang allerdings arbeiten die Widersacher Lukaschenkos im Modus „revolutionäre Propaganda“. Und hierbei sind sie in starkem Maße ein Spiegel von Alexander Lukaschenko“, meint Tyschkewitsch.
Brisante Mischung mit möglicherweise heftiger Wirkung
Wenn wir von Versuchen sprechen, auf das Regime einzuwirken, müssen wir auch den Faktor Russland berücksichtigen. Die belarussische Führung erklärt, sie werde den Schaden durch die westlichen Sanktionen über eine verstärkte Zusammenarbeit mit Russland und der Eurasischen Wirtschaftsunion ausgleichen.
Moskau hat es offensichtlich nicht eilig, einfach so Geld zu geben und verbilligte Energieträger zu liefern. Es wäre aus Sicht des Kreml dumm, die beklagenswerte Lage des Verbündeten nicht für seine Interessen und eine stärkere Anbindung von Belarus auszunutzen.
Sollte der Kreml – und auch der Westen – starken Druck ausüben und das Regime in Belarus in die Zange nehmen, dann dürfte es den „Weg nach Osten“ wählen. Es würde seine Abhängigkeit von Russland verstärken und Teile seiner Souveränität aufgeben, erläutert der internationale Politikexperte Andrej Fjodorow.
Auch diese wahrscheinliche Wirkung der verschärften Sanktionen stellt für die EU und die USA ein Problem dar. Derzeit sieht es so aus, als würden sie nach dem Prinzip vorgehen: „Tue, was du tun musst, komme, was wolle“.
Die Verfechter von Sanktionen bauen darauf, dass die Sanktionen das Regime niederringen werden, bevor das Land seine Souveränität an Moskau opfert.
Und wenn man die Variante bedenkt, dass die Volksrevolution in irgendeiner Form das geschwächte Regime besiegt, so bedeutet das ebenfalls ein Risiko: Wenn Moskau plötzlich mit Panzern vorfährt, um – im eigenen Verständnis – rettend die Lage zu klären.
Heute lässt sich nur eines prognostizieren, nämlich dass die Sanktionen einen kumulativen Effekt haben werden. An einem bestimmten Punkt wird sich Quantität in Qualität verwandeln. Die Stabilitätsreserven der belarussischen Wirtschaft sind nicht allzu groß, die Schwachstellen nehmen zu, und der Teufel weiß, wann die Wirtschaft des Landes zusammenbricht.
Gleichzeitig wächst in der Gesellschaft der Grad der Unzufriedenheit, wobei sich zur politischen Unzufriedenheit jetzt auch die wirtschaftliche gesellt – und dies in zunehmendem Maße. Und an einem bestimmten Punkt könnte diese brisante Mischung hochgehen.
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„Geiseln verurteilt man nicht!“
Nach über 90 Minuten Befragung im staatlichen Sender ONT sagt Roman Protassewitsch einen Satz, dessen Botschaft viele Belarussen nur zu gut verstehen: „Und ich möchte nie wieder in die Politik verwickelt werden, oder in irgendwelche schmutzigen Spiele oder Streitigkeiten.“ Es ist ein Satz, den viele Belarussen in den vergangenen 26 Jahren verinnerlicht haben: sich nicht in die Politik einmischen. Denn, wenn sie es tun, wenn sie ihren Unmut gegenüber Alexander Lukaschenko auf die Straße tragen, wenn sie sich oppositionell betätigen, gibt es womöglich Probleme mit den Machthabern.
Solche Probleme hat eben nun der 26-jährige Protassewitsch, der vor zehn Tagen auf spektakuläre Art und Weise zusammen mit seiner Freundin Sofia Sapega festgenommen wurde: Das Ryanair-Flugzeug, in dem er saß, wurde während eines Flugs von Athen nach Vilnius zu einer Zwischenlandung in Minsk gezwungen. Vergangenen Donnerstag strahlte der Staatssender ONT besagtes Interview aus, in dem Senderchef Marat Markow Protassewitsch über seine Arbeit für den Telegram-Kanal Nexta, über die Opposition um Swetlana Tichanowskaja, über seine Zeit und Rolle beim „Asow“-Bataillon in der Ukraine und viele andere Themen sprechen lässt.
„Heute haben wir die öffentliche Hinrichtung von Roman Protassewitsch erlebt“, kommentierte der Historiker Alexander Fridman das ausgestrahlte Gespräch, in dem der Interviewte nicht etwa seine Sicht auf die Dinge und seine Überzeugungen darlegt. Protassewitsch fungiert als Überbringer von althergebrachten Narrativen, alten Botschaften in neuem Gewand und ein paar gänzlich neuen Bonmots der Staatspropaganda. So sei die Opposition um Tichanowskaja und Pawel Latuschko in der Diaspora nur an Geld interessiert, der Westen und die EU würden die Opposition und so letztlich auch die Proteste finanzieren, zudem habe ein Teil der Opposition selbst die Notlandung mit Protassewitsch inszeniert, um die belarussische Führung zu diskreditieren und Sanktionen durch die internationale Staatenwelt zu provozieren.
Das TV-Gespräch löste international vehemente Kritik aus. Auch auf belarussischer Seite wurden viele Stimmen laut – darunter die Eltern Protassewitschs –, die mutmaßten, dass das Interview unter Druck, möglicherweise unter Folter, entstanden sei. Der Menschenrechtler Sergej Ustinow analysierte dazu die Wunden an Protassewitschs Handgelenken und sein offensichtlich geschwollenes Gesicht und verglich dies mit den bekannten Foltermethoden des belarussischen KGB. Nikolaj Chalesin, Gründer des Belarus Free Theatres, urteilte, dass man Protassewitsch für seine Aussagen nicht schuldig sprechen dürfe und dass das Gespräch ein neuerlicher Beweis dafür sei, dass die Machthaber vor Gewalt, Niedertracht und Zynismus nicht halt machen: „In Belarus leben wir in einer Zeit, in der sich Beispiele für Schwäche, Verrat und Laster mit Beispielen für verzweifelten Mut, unglaubliche Stärke und überwältigende Liebe abwechseln. Dies sind die Zeichen des Krieges – der Wechsel von Hässlichkeit und Schönheit. Und es ist nicht an uns, über diejenigen zu urteilen, die nicht unsere Seite gewählt haben.“ Der Politologe Waleri Karbalewitsch kommentierte, dass viele Aussagen Protassewitschs vor allem an einen adressiert seien – nämlich an Lukaschenko selbst. Protassewitsch äußert dabei auch die Hoffnung, dass Lukaschenko ihn aufgrund seiner angeblichen Beteiligung am Krieg der Ukraine gegen die prorussischen Separatisten nicht an die Machthaber der Luhansker Volksrepublik ausliefere. Karbalewitsch schreibt: „Ein weinender Feind, der um Gnade und Nachsicht von Alexander Grigorjewitsch bittet, ist die politische Dividende, die alle negativen Folgen aufhebt: die Sperrung des Luftraums, Wirtschaftssanktionen und so weiter. Ein moralisch gebrochener Gegner ist Balsam für eine traumatisierte Seele.“
In dem Gespräch, das im Original über vier Stunden gedauert haben soll, nannte Protassewitsch auch einen Chat, über den bekannte Belarussen die Proteste im Sommer 2020 geplant und organisiert haben sollen. So fiel auch der Name des renommierten politischen Analysten Artyom Shraibman, der am Tag nach der Ausstrahlung der Sendung Belarus verließ und sich nun in der Ukraine befindet. In einem Post, den er über seinen Telegram-Kanal und über Facebook verbreitete, erklärte er seine Beweggründe für die hastige Flucht und auch seine Beteiligung an besagtem Chat.
Was für eine Ironie. Am Morgen des 3. Juni erscheint im Medienprojekt Redakzija ein Beitrag, der mit meinen Worten endet, ich würde mich nicht direkt gefährdet fühlen und Belarus deswegen nicht verlassen. Und schon abends packe ich eilig meine Sachen zusammen und mache mich auf den Weg.
Ich finde es wichtig zu sagen warum. In dem Interview auf ONT hat Roman Protassewitsch gesagt, ich hätte beratend zur Seite gestanden in einem Chat, den man bezeichnen könnte als Koordinationszentrum der Revolution: Love Hata [dt. Liebeshütte].
Ich kann nur raten, warum und ob aus eigenem Willen – doch Roma hat übertrieben, was meine Beteiligung angeht. Ich war tatsächlich bis Ende Herbst 2020 in diesem Chat, der seinerzeit als einfacher Online-Treffpunkt für Blogger begonnen hatte. Aber mit zunehmendem Umfang der Proteste wurde dieses Thema zum zentralen Diskussionspunkt.
Mich hat interessiert, live zu beobachten, wie diejenigen miteinander kommunizieren, die ab August als Koordinatoren der belarussischen Revolution bezeichnet wurden. Diese Bezeichnung passt jedoch bei weitem nicht zu allen in diesem Chat, und die Besprechung der Details bevorstehender Aktionen geschah aus Sicherheitsgründen in Audiokonferenzen der Koordinatoren. Aus eben jenen Sicherheitsgründen habe ich an keiner dieser Konferenzen teilgenommen.
Doch es ging dabei natürlich nicht nur um Sicherheit. Entschuldigt den Pathos: Ich vertrete schon lange die Position, dass ein Analyst nicht Teilnehmer sein kann oder darf an den Prozessen, die er analysiert, genau wie ein Fußballkommentator bei einem Spiel nicht gleichzeitig Feldspieler sein kann. Viele kritisieren mich für diese Zurückhaltung, doch Politik ehrlich analysieren und gleichzeitig politisch aktiv sein, das könnte ich nicht.
Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht genau, ob die belarussischen Geheimdienste überhaupt ein auf Verhaftung abzielendes Interesse an mir hatten. Es gibt Gerüchte über die Vorbereitung eines Strafverfahrens, doch das lässt sich momentan schwer belegen. Paradoxerweise wussten die Silowiki über die Existenz dieses Chats, seine Themen und Teilnehmer mindestens seit Mitte Herbst. Ich wurde sogar schon im Dezember auf ONT in der Teilnehmerliste gezeigt, vor einem halben Jahr. Und nichts ist passiert.
Ich habe damals nicht das Land verlassen, weil mir bewusst war, dass man mir eigentlich nichts vorwerfen kann. Trotz der geleakten Screenshots aus dem Chat und obwohl die Geheimdienste sicherlich einen riesigen Fundus solcher Screenshots haben, wusste ich genau, dass da keine „Strippenzieherei“ von mir zu finden ist, weil es sie tatsächlich auch nicht gab. Höchstens, wenn man sie in Photoshop malt. Es gab von mir keinerlei Beratung jenseits einer grundlegenden Beschreibung dessen, wie ich die Lage im Land sehe, also das, was ich auch in Interviews und Artikeln sage.
Doch im heutigen Belarus ist selbst die Nichtbeteiligung an dem, was die Staatsmacht für ein Verbrechen hält, keine ausreichende Absicherung mehr. Im Fall tut.by, bei dem es formal um Steuern des Unternehmens geht, sitzt der politische Block der Redaktion ein, Leute, die vermutlich keinerlei Ahnung davon haben, wie viel Steuern gezahlt werden.
In meinem Fall ist das genau die gleiche Situation. Allein die Tatsache, dass ich vor vielen Monaten in diesem Chat dabei war und jetzt die laute Äußerung von Protassewitsch, dazu ein Moderator, der in Bezug auf mich extra nachgefragt hat – das bedeutet den Übergang in eine ungemütliche Risikozone. Dieses Gefühl wurde stärker, als ich an eben jenem Abend draußen an meinem Hauseingang etwas bemerkte, das sehr nach Beschattung aussah.Ich weiß nicht, ob mir Verhaftung drohte. Sie strahlten Romans Interview aus, ohne mich vorher festzunehmen, obwohl ich mich nicht versteckt hatte. Möglicherweise wäre auch jetzt wieder alles ausgegangen wie vor einem halben Jahr, also folgenlos. Doch unter diesen Vorzeichen einfach weiterhin ruhig im Land zu leben und zu arbeiten, wäre schwierig gewesen. Daher musste ich die schwere Entscheidung treffen, zu gehen. Beide Alternativen – Untersuchungshaft oder tägliche Erwartung der Untersuchungshaft – wären sowohl für mich als auch für meine Nächsten schlimmer gewesen.
Im Grunde war’s das schon. Ich danke für die Aufmerksamkeit, für die Anteilnahme und für die vielen Angebote zu helfen. Meine Situation ist ungleich einfacher als die derer, die im Gefängnis sitzen oder auf die Entlassung ihrer Angehörigen warten müssen. Deswegen wäre es an meiner Stelle eine Sünde zu verzagen. Ich arbeite weiter, wie ich bisher gearbeitet habe. Ich werde mein Bestes geben, meine gewohnte Herangehensweise an Analysen beizubehalten, auch wenn man versucht, aus mir den Berater von irgendjemandem zu kneten. Ich habe niemanden beraten und habe es auch nicht vor.
Dann bis bald in der Heimat. Alles geht vorüber.PS: Groll gegen Protassewitsch gibt es nicht und kann es auch nicht geben. Wir wissen nicht, welchen Keller in Luhansk und welches Schicksal für seine Freundin man ihm ausgemalt hat für den Fall, dass er das Interview ablehnt. Geiseln verurteilt man nicht.
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„Wir brauchen keine starken Anführer – wir brauchen eine starke Gesellschaft.“ Dies sagte die Philosophin Olga Shparaga im August 2020 in einem Interview, kurz nachdem sich eine historische Protestwelle gegen die belarussischen Machthaber erhoben hatte. Das autoritäre System von Alexander Lukaschenko versucht bis heute diesen gesellschaftspolitischen Wandlungsprozess durch Gewalt und Repressionen aufzuhalten und zu stoppen. Viele wie Olga Shparaga, die die historischen Ereignisse in ihrem Buch Die Revolution hat ein weibliches Gesicht beschreibt, haben das Land mittlerweile verlassen und arbeiten von Vilnius, Warschau oder Berlin aus daran, die Silowiki in Belarus unter Druck zu setzen und die entstandene Oppositionsbewegung voranzutreiben.
Mit unserer Podcast-Reihe Mediamasterkaja (dt. Medienwerkstatt) wollen wir den eingeleiteten Wandlungsprozess in Bezug auf die Medien kritisch begleiten und mit unterschiedlichen Akteuren erörtern. In der ersten Folge sind es Olga Shparaga und die Gender-Forscherin Lena Ogorelyschewa, die diskutieren, inwieweit die Rolle der Frauen bei den Protesten auch die belarussische Medienwelt bereits geprägt hat – oder wie das Auftreten einer Frau wie Swetlana Tichanowskaja das klassische Rollenverständnis auch von Medien und Journalisten in Belarus herausgefordert hat. Wir bringen einige Auszüge aus dem Podcast.
Mediamasterskaja: Kann man sagen, dass Frauen eine Schlüsselrolle bei den Protesten von 2020 gespielt haben?
Olga Shparaga: Durch die Märsche, die im August zusätzlich zu den großen Sonntagsmärschen begannen, wurden die Frauen dann in dem weiteren Protest zu einem agierenden Kollektiv, das natürlich nicht homogen ist. Wie ich in meinem Buch über die Revolution in Belarus schreibe, ist dieses weibliche Subjekt durch das Patriarchat gespalten. Ein Teil der Frauen begreift sich als feministisch, ein anderer nicht. Aber das ist ein normales Phänomen, das wir in modernen Gesellschaften überall auf der Welt beobachten können. Es hängt mit der Polarisierung der Gesellschaften zusammen, mit der ungleichen sozialen, ökonomischen, politischen Position von Frauen, auf die verschiedene Frauen, die sich in verschiedenen Situationen befinden, mit unterschiedlichem Bildungsgrad und Einkommen, unterschiedlich reagieren.
Dass die Herausbildung eines kollektiven weiblichen Subjekts eine wichtige und neue Etappe war, sehen wir unter anderem daran, dass es ab dem dritten Frauenmarsch harte Repressionen und Festnahmen gab. Das führte dazu, dass die Organisatorinnen diese Form des Protests schließlich aufgeben mussten.
Dennoch waren und sind die Frauen weiterhin im öffentlichen Raum präsent. In kleinen Gruppen, ja, aber sie sind sehr kreativ und beweisen nach wie vor, dass Frauen Führung übernehmen können, dass sie der Gesellschaft neue Formen des Protests und des Widerstands anbieten können. Sie beweisen, dass Frauen Verantwortung übernehmen, Leaderinnen sein und uns verschiedene Formen der Solidarisierung anbieten können.
Hat die Aktivität der Frauen bei den Protesten das Bild von Frauen bereits verändert?
Eine wichtige Etappe war, denke ich, die Schwesterlichkeit in den Gefängnissen, der Zusammenhalt unter Frauen. Sie schreiben darüber in ihren Briefen, wie zum Beispiel Julia Sluzkaja. Wir erfahren daraus, wie wichtig diese gegenseitige Unterstützung für die Frauen ist. Eine weitere wichtige Komponente, eine wichtige Dimension der Revolution von 2020 verbinden diverse Forscher heute mit dem Begriff der gegenseitigen Fürsorge. Fürsorge lässt neue soziale und horizontale Verbindungen entstehen – etwas, das in der belarussischen Gesellschaft sehr gefehlt und sich im Verlauf der Ereignisse herausgebildet hat. Hierfür waren oft Frauen die Impulsgeberinnen, sie bestimmten die Stoßrichtung. Von diesen Verbindungen hängt in meinen Augen die demokratische Zukunft von Belarus ab.
Die Tatsache, dass ein Teil der belarussischen Gesellschaft derart überrascht war von der aktiven Position von Frauen, hängt natürlich mit den bestehenden Stereotypen zusammen. Diese Stereotype werden wiederum von den offiziellen Medien aktiv unterstützt. Denken wir nur an die Aussage von Lidija Jermoschina, dass Frauen Borschtsch kochen sollten, anstatt sich mit Politik zu beschäftigen. Leider sind solche Ansichten auch für die belarussische Zivilgesellschaft und die unabhängigen Medien charakteristisch. Wir wissen, mit welcher Art von sexistischen Äußerungen die Präsidentschaftskandidatin Tatjana Korotkewitsch 2015 konfrontiert war. Genau diese Stereotype und Vorstellungen waren der Grund dafür, dass ein Teil der belarussischen Gesellschaft die Frauenbewegung am Anfang nicht ernst genommen hat.
Aber ich glaube, die Tatsache, dass die Aktivierung der Frauenbewegung in mehreren Etappen verlief und die Frauen ihre Fähigkeit, Führung zu übernehmen, Leaderinnen zu sein und als Team zu arbeiten auf jeder Etappe von einer neuen Seite entdeckt haben, hat die Sicht auf die Frauen verändert.
Wie lässt sich die Sichtbarkeit von Frauen in Politik und im gesellschaftlichen Leben erhöhen?
Warum werden Frauen so widerwillig in Geschichte, Politik und das öffentliche Leben einbezogen, warum werden sie immer auf die zweiten Ränge verwiesen? Weil in der belarussischen Gesellschaft patriarchale Denkmuster vorherrschen, also die Vorstellung, dass Männer Führungsrollen übernehmen können und sollen und Frauen im Hintergrund zu bleiben haben. Und das sehen wir leider nicht nur im staatlichen Kontext. Leider beobachten wir das auch innerhalb der Zivilgesellschaft.
Zweitens müssen wir beachten, dass auch Kommentatoren, Redakteure von Internetportalen, Journalisten und Leiter von diversen Projekten die Hintergrundrolle der Frau mit deren individuellen Fähigkeiten in Verbindung bringen und nicht mit der sozialen Ordnung, den Stereotypen, die in der Gesellschaft vorherrschen. Daraus folgt, dass die leitenden Akteure – meist Männer, selten auch Frauen – nicht verstehen, wie wichtig es ist, dass Frauen einen würdigen Platz in der Gesellschaft einnehmen, einen Platz, den sie einnehmen können und wollen. Dass Frauen ihre Unterstützung brauchen, dass man die bestehenden Stereotype kritisieren muss.
Wie können die Medien die Rolle der Frau stärken?
Ich finde, noch vor einem oder mehreren Monaten haben wir mehr weibliche Expertinnen gesehen. Hervorzuheben wären da Walerija Kostjugowa, Katerina Schmatina oder Tatjana Tschulizkaja.
Dass die Frauen aus dem öffentlichen Raum verschwunden sind, dass sie weniger werden, beweist meiner Meinung nach, dass wir bewusst daran arbeiten müssen und uns auf die Anwesenheit von Frauen fokussieren. Wir brauchen dringend ein Verständnis davon, dass die Abwesenheit von Frauen im öffentlichen Raum gesellschaftliche Gründe hat, und nicht etwa mit angeborenen oder individuellen psychologischen Besonderheiten von Frauen zusammenhängt. Das bedeutet nämlich, dass man dieses Problem beheben kann, indem man die Rahmenbedingungen ändert. Und diese Bedingungen können von den Redakteuren, Journalisten, Projektleitern selbst geändert werden. Es muss eine Politik geben, die die Gleichberechtigung der Geschlechter anstrebt.
Aber das Wichtigste ist, glaube ich, dass das alles nicht geschehen wird, solange nicht die Projektleiter und Redakteure davon überzeugt sind, dass die Teilnahme von weiblichen Expertinnen, die Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Raum sowohl für die Frauen als auch für die Gesellschaft als Ganzes wichtig ist. Die Wichtigkeit hat die Revolution von 2020 bewiesen, die Veränderungen, die in der belarussischen Gesellschaft passiert sind, ihre Aktivierung, das Entstehen von neuen sozialen Verbindungen, die Fortsetzung des Widerstands, den es natürlich nach wie vor gibt in der belarussischen Gesellschaft.
Warum hat das Image, das Swetlana Tichanowskaja um ihre Person aufgebaut hat, den Belarussen so gefallen?
Lena Ogorelyschewa: Für das moderne Belarus mit seiner zwiespältigen Wahrnehmung der Genderfrage war die Figur Swetlana Tichanowskaja und ihre Image-Kampagne deshalb so erfolgreich, weil sie einerseits eine starke Führungspersönlichkeit ist, eine Leaderin, die vor Tausenden von Menschen auftreten konnte. Ich spreche jetzt von der Swetlana Tichanowskaja, wie wir sie während des Wahlkampfs erlebt haben.
Sehr vielen Menschen hat sie als Leaderin imponiert, aber auf der anderen Seite war da auch ihre persönliche Geschichte, die ebenfalls maximal verbreitet wurde: Dass sie diese Führungsrolle quasi ungewollt übernommen hat, weil sie vor allem Ehefrau und Mutter ist. Dass sie das alles nur deshalb auf sich genommen hat, weil ihr Mann inhaftiert wurde. Das hat auch den Menschen gefallen, die sonst für traditionelle Werte einstehen, für die patriarchale Ordnung. Ein großer Teil der potentiellen Wählerschaft von [Sergej] Tichanowski hat sie unterstützt und gewählt, weil es gewissermaßen ein Kompromiss war: Ich unterstütze ja nicht eine Frau, sondern die Ehefrau von Tichanowski. Oder, ich unterstütze ja eigentlich Tichanowski, aber weil ich ihn nicht wählen kann, wähle ich seine Frau.
Wenn wir uns unsere Kultur und die Frauenfiguren ansehen, die darin gepriesen werden, dann ist genau dieses Bild – die Frau als Mutter, ihre Bereitschaft, sich für irgendwelche gesellschaftlichen Ziele zu opfern – durchaus überlebensfähig und populär. Deshalb hat diese Geschichte sehr vielen Menschen, auch solchen, die sonst unpolitisch sind, imponiert.
Die Leute sind auch der Schwäche von Swetlana Tichanowskaja gefolgt
Auch die PR-Strategie war sehr erfolgreich, wiederum nicht unbedingt nach Lehrbuch, wie man einen politischen Leader aufbaut. Bei Tichanowskaja war alles umgekehrt: Sie hat ihre Schwäche in den Vordergrund gestellt, dass sie lieber Frikadellen braten würde. Und das war erfolgreich. Die Menschen sind ihr gefolgt. Unter anderem ihrer Schwäche. Manche haben darin eine Stärke gesehen. Manche sagten sich: Alles okay, das sind keine Feministinnen, die die Macht ergreifen, wenn alles vorbei ist, geht die Frau zurück zur Familie.
Ja, jetzt ist natürlich alles anders. Sowohl ihr Image als auch die Art, wie sie sich positioniert. Sie wirkt wie eine unabhängige, starke Politikerin, deren Worte Autorität haben. Aber angefangen hat alles genau so. Leider kann man sich noch immer schwer eine Strategie vorstellen, die für eine weibliche Politikerin erfolgreicher wäre als die, die sie in dem Moment gewählt hat. Selbst in dem so fortschrittlichen Amerika sind die Leute nicht bereit, für Hillary Clinton zu stimmen. Lieber Trump als Hillary, zeigt uns die Praxis.
In der ersten Zeit hat Swetlana Interviews gemieden. Ihr Erscheinungsbild unterschied sich sehr von dem, wie es heute ist. Aber dann, nachdem sich die Wahlkampfstäbe zusammengeschlossen hatten, wurde allen klar, dass Swetlana die einzige Alternative zur herrschenden Macht ist. Ob wir das wollen oder nicht, eine andere Alternative gibt es nicht.
Auch danach wurde Tichanowskaja kritisiert, aber ich kann mich nicht an eine Flut von Artikeln erinnern, die sie immer noch ausgelacht oder kritisiert hätten für ihre, nun ja, nennen wir es Unprofessionalität. Langsam bildete sich eine Parallele heraus: Wenn du Tichanowskaja kritisierst, bist du für die Macht. Etwas dazwischen gibt es nicht.
Ich denke, am Anfang haben die Medien sie manchmal gnädiger behandelt, waren vielleicht geduldiger mit ihren Schwächen als politische Anführerin. Wenn wir analysieren, was geschrieben wurde, dann überwiegen die Artikel, die Tichanowskaja begeistert lobten. Diese Begeisterung gab auch in den folgenden sechs Monaten den Ton an, nicht nur die Begeisterung der Journalisten, sondern auch die des Publikums, das ihr überwiegend wohlgesonnen war. Nur selten kamen kritische Äußerungen in ihre Richtung.
Wie veränderte sich die Berichterstattung mit der Veränderung von Tichanowskajas Image?
Sie wird jetzt als gestandene und unabhängige Politikerin beurteilt. Deshalb gibt es mittlerweile auch Artikel wie „Hier hätte das Tichanoswkaja-Büro vielleicht das tun können, und hier hätte es vielleicht besser anders gehandelt“. Eine interessante Tendenz, finde ich. Im ersten Moment hatte man Mitleid, im nächsten begann man an sie zu glauben. Und ehe man sich versah, war sie nicht mehr die Frau in der Politik, sondern einfach nur Politikerin. Man kann jetzt nicht mehr einfach zurück zu der Situation, wo man sie vor allem als Frau oder als besonders weiblich beurteilt hat, weil sie diese Etappe schlicht hinter sich gelassen hat.
Wir haben uns damit abgefunden, dass Tichanowskaja in unserem Informationsfeld existiert, dass sie ein unabhängiges Subjekt ist und im Grunde eine der ganz wenigen Hoffnungen darauf, dass sich der Fall Belarus nach einem positiven Drehbuch entwickelt. So hat sie unter anderem auch den potentiellen Sexismus besiegt, der in ihre Richtung zielte.
Das heißt nicht, dass alles nur gut ist. Es kann alle möglichen Meinungen zu Tichanowskaja geben, aber die, die sie eher loben als kritisieren, überwiegen.
Gibt es zunehmend weibliche Expertinnen, und wovon hängt das ab?
Wir sehen zum Beispiel, dass man jetzt relativ regelmäßig Frauen als politische Beobachterinnen einlädt. Plötzlich hat sich herausgestellt, dass es in Belarus nicht nur Frauen gibt, die von Beruf Politikerinnen sind, sondern sich auch mit der Analyse von politischen und wirtschaftlichen Prozessen beschäftigen, und diese Frauen werden jetzt in die Redaktionen eingeladen.
Aber das ist in Wirklichkeit ein sehr langsamer Prozess. Und wir müssen uns klar sein, dass sich alles hier Gesagte nur auf unabhängige Medien bezieht. Ja, man sieht zum Teil mehr weibliche Expertinnen. Im März gab es zum Beispiel viele runde Tische, an denen auch Frauen teilgenommen haben, Politikwissenschaftlerinnen, Frauen, die in soziologische Forschungen involviert sind, und eine ganze Reihe von anderen Expertinnen. Aber im April war alles wieder beim Alten.
Wenn wir uns zum Beispiel heute dieselbe Situation im Westen anschauen, dann kann man sich schwer eine große Paneldiskussion vorstellen, an der keine einzige Frau teilnimmt. Das würde sofort negativ aufstoßen. Das Publikum wäre empört: „Was ist denn hier passiert? Ist irgendwas kaputt? Bringt das schnellstens in Ordnung“, weil man es nicht mehr gewohnt ist.
Ich würde gerne glauben, dass die belarussische Medienwelt irgendwann an den Punkt kommt, an dem die völlige Abwesenheit von Frauen in bestimmten Bereichen etwas Ungewohntes sein wird.
Welche Rolle spielte die Staatspropaganda bei der Beleuchtung der Ereignisse des Jahres 2020?
Das ist ein sehr wichtiger Punkt, über den ich auch gerade nachdenke: Wie Frauen in den staatlichen Medien dargestellt werden, denn auch dort können wir eine Spaltung beobachten, die es seit August gibt und die sich immer mehr vertieft. Damit meine ich, dass es aus Sicht der Staatsmedien offenbar „normale Frauen“ und die Smaharki-Frauen gibt – solche, die an Protesten teilnehmen.
Das Bild der „normalen Frau“ hat sich nicht geändert. Immer noch dieselbe Palette von patriarchalen und sonstigen Stereotypen. Aber die Smaharki werden auf jede erdenkliche Weise diskreditiert, da sind der Kreativität der Künstler und Schreiber von politischen Pamphleten keine Grenzen gesetzt.
Von einer dieser Künstlerinnen gibt es ein Bild, Der Frauenmarsch. Ziel war es, die Frauen zu diffamieren und zu zeigen, wie abnormal sie sind, weil sich „normale Frauen“ solche Emotionen nie erlauben würden, aber ich finde dieses Porträt sehr lebendig und menschlich. Seit ich es kenne, liebe ich die Frauen, die an politischen Prozessen teilnehmen, noch viel mehr. Sie sind dort so lebendig, so ungleichgültig.
Dieses Porträt will die Gesichter der Frauen entstellen, denn das weibliche Gesicht soll ja, wie wir alle wissen, schön sein. Aber für mich steckt die Schönheit genau da drin, in dem Schmerz, den man angesichts der Ereignisse empfindet, den Schmerz angesichts der menschlichen Tragödien, die Frauen und Männer hier und jetzt erleben, wo immer sie gerade sind. Und auch den Schmerz darüber, wie die Staatspropaganda versucht, das belarussische Volk zu entzweien, indem sie sich unter anderem dieser festgefahrenen Geschlechterstereotypen bedient. Sie versucht auch die Frauen zu entzweien. Ihr Ziel erreichen sie nicht. Mit diesen Versuchen und dem plumpen Spiel mit dem Patriarchat erreichen sie exakt das Gegenteil.
Warum sind die Massenmedien nicht mehr die primäre Quelle für wichtige Informationen?
Da kommen wir wieder auf die Rolle der Medien. Hier könnten wir eine ganz eigene Diskussion aufmachen, aber sie passt sehr gut zu dem, was aktuell in Belarus passiert. Wir sehen, dass die sozialen Netzwerke, die Mikroblogs, diverse Kommunikationskanäle heute eine riesige Rolle spielen. Und wenn wir uns nochmal Tichanowskaja ansehen, aber auch andere Frauen, die 2020 mit politischen Ambitionen vorgetreten sind, sehen wir, dass die Nachrichten ihr Publikum nicht mehr unmittelbar aus den Massenmedien erreichten – jeder, der wollte, konnte ihren Telegram-, Facebook-, Instagram– oder YouTube-Kanal abonnieren und die Informationen aus erster Hand bekommen. Und wenn man seine Informationen aus den Mikroblogs einer bestimmten Personen bezieht, können die Medien das Bild nicht mehr so leicht verzerren, wenn sie das wollen.
Wobei ich in dem Fall gar nicht von verzerren sprechen will, denn im Hinblick auf einen politischen Leader oder politische Leaderin muss natürlich klar sein, dass eine Swetlana Tichanowskaja in Wirklichkeit ganz anders sein kann, als das Image, das ihre PR-Abteilung von ihr zeichnet. Das ist weder gut noch schlecht – das ist einfach die Realität. Bei männlichen Politikern ist das nicht anders – ihr Bild in der Öffentlichkeit kann sich sehr stark von dem unterscheiden, wie sie in Wirklichkeit sind. Aber das Sprachrohr der PR ist so mächtig, dass die Massenmedien es manchmal schwer haben, dieses Bild zu beeinflussen.
Ich würde sagen, dass die Medien die Inspiration, die von Tichanowskaja ausging, von dem Zusammenschluss der drei Wahlkampfstäbe und den drei Gesichtern der weiblichen Revolution, natürlich befeuert haben. Aber sie haben eher das aufgegriffen, was in der Realität passierte.
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Surrealismus à la Lukaschenko
Die Lage in Belarus spitzt sich stetig weiter zu: Mehr als 35.000 Menschen wurden seit Beginn der Proteste im August 2020 festgenommen, rund 400 politische Gefangene sitzen derzeit in belarussischen Gefängnissen ein. Erst am Dienstag wurden sieben weitere Aktivisten der belarussischen Opposition zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Darunter auch Pawel Sewerinez, Co-Vorsitzender der oppositionellen und nichtregistrierten Christdemokratischen Partei, der für sieben Jahre ins Gefängnis muss.
Für internationales Aufsehen und harsche Kritik sorgte jedoch vor allem die erzwungene Flugzeuglandung einer Ryanair-Maschine in Minsk und die dabei erfolgte Festnahme des ehemaligen Nexta-Chefredakteurs Roman Protassewitsch. Die EU beschloss umgehend Sanktionen, unter anderem ein Landeverbot für belarussische Linien auf EU-Flughäfen. Am Mittwoch hat sich Belarus’ Machthaber Alexander Lukaschenko nun erstmals zu den Vorwürfen geäußert.
In seiner Rede sprach Lukaschenko von einem erneuten Kalten Krieg und warnte, Russland könne das nächste Land sein, gegen das der Westen vorgehe. So diskutieren Experten auch, an wen das Vorgehen Lukaschenkos gerichtet ist: Dient der Fall nur als abschreckendes Beispiel nach innen oder auch als Signal an Russland, dass er, Lukaschenko, Moskau loyalster Verbündeter gegenüber dem Westen sei? Damit würde womöglich auch dem Kreml nichts anderes übrig bleiben, als Lukaschenko gewähren zu lassen.
Gerade angesichts von früheren Spekulationen, Moskau könne Lukaschenko mittelfristig austauschen oder gar die Integration von Belarus weiter vorantreiben, sagte die Politologin Ekaterina Schulmann auf Echo Moskwy, Lukaschenko sei Erstaunliches gelungen: „Einerseits ist er der Henker seines Heimatlandes, andererseits der letzte Garant dessen Unabhängigkeit.“ Ein Treffen von Lukaschenko und Putin ist für den heutigen Freitag in Sotschi anberaumt.
Die Novaya Gazeta bringt Ausschnitte aus der Rede Lukaschenkos – aus der nur Auszüge an die Öffentlichkeit gelangten – und überprüft einzelne seiner Aussagen kritisch.Eine Besonderheit von Alexander Lukaschenko ist: Wenn er von einer Bühne spricht, dann fängt er selber an zu glauben, was er da sagt. Sonst glaubt es keiner, auch nicht die, die in diesem Moment im Zuschauerraum sitzen. Doch er schert sich nicht um die Reaktionen des Publikums, die Meinung der Leute oder die Reputation des Landes. Lukaschenkos Phantasie prescht seinen Worten voraus und malt so bunte Bilder, dass jeder Surrealist vor Neid erblasst.
Am Mittwoch betrat Lukaschenko den Ovalen Saal des Hauses der Regierung anlässlich eines Treffens mit Abgeordneten, Mitgliedern der Verfassungskonvents und Vertretern von Regierungsorganen. Schon am Vorabend war klar, dass er nicht über die Aussaat und nicht einmal über den Slawjanski Basar, sondern über das am Sonntag gekaperte Flugzeug sprechen würde. Dass er lügen würde und selbst dran glauben. Und so ist es geschehen.
Wenn Lukaschenko von einer Bühne spricht, dann fängt er selber an zu glauben, was er da sagt
Das Flugzeug, so heißt es, wurde über dem Atomkraftwerk Belarus umgeleitet, um eine große Katastrophe zu verhindern: „Im Flugraum befindet sich das Kernkraftwerk Belarus. Und in dessen Nähe kam es zur Umleitung des Flugzeugs. Was wäre gewesen, wenn es plötzlich … Reicht uns nicht ein Tschernobyl? Und wie hätten wohl in einer solchen Situation die USA reagiert, angesichts ihrer eigenen traurigen Erfahrung [am 11. September 2001]? Es liegt nicht nur, besser gesagt, es liegt überhaupt nicht an dem Düsenjäger, der absolut regelkonform losgeschickt worden ist. Fakt ist auch, worüber wir nicht reden: Dass auf meinen Befehl hin alle Schutzsysteme des Atomkraftwerks, einschließlich der Flugabwehr, alarmiert und umgehend in höchste Einsatzbereitschaft versetzt wurden.“
Nur ließ man das Flugzeug über Lida umkehren, das Atomkraftwerk befindet sich allerdings in der Nähe von Ostrowez. Von dem Punkt aus, an dem das Linienflugzeug kehrtmachte, sind es 104 Kilometer bis zum Kernkraftwerk, 11 Kilometer bis zur litauischen Grenze und 70 Kilometer bis Vilnius.
Später sagte Lukaschenko, dass der Flugkapitän sich 15 Minuten lang mit „den Gastgebern“ und mit Mitarbeitern des Flughafens in Vilnius beraten habe. Offenbar hat das Flugzeug in diesen 15 Minuten einfach so in der Luft gestanden und sich nirgendwo hin bewegt – und wartete geduldig auf den Düsenjäger, von dem es dann höflich zum Ort der Landung begleitet wurde.Von dem Punkt aus, an dem das Linienflugzeug kehrtmachte, sind es 104 Kilometer bis zum Kernkraftwerk, 11 Kilometer bis zur litauischen Grenze und 70 Kilometer bis Vilnius
Natürlich war ein Terrorist an Bord. Natürlich kam die [Info über die] Bombendrohung aus der Schweiz. Natürlich ist das alles eine Hinterhältigkeit des Westens, der sich an Belarus für die Pandemie rächt. Dort bei denen im Westen haben Menschen am Lockdown gelitten, nun sind sie neidisch auf die Belarussen und hassen die eigenen Regierungen. Und das ist ein Motiv, sich an dem stabilen und wohlhabenden Staat zu rächen: „Offensichtlich ist die westliche Gesellschaft nicht zufrieden damit damit, wie sich der Ausgang aus der Pandemie vollzieht, wie sie vor Corona geschützt wurde, wie die Impfstoffe im Westen verteilt wurden und wie die Impfungen laufen. Kurz gesagt, wie die Menschen aus der Gefahr befreit und in Krankenhäusern behandelt werden. Deshalb ist es für den Westen so wichtig zu zeigen, dass es keine besseren Beispiele gibt – wo man sich um die Menschen, ihre Rechte und ihre Gesundheit besser kümmert als bei ihnen. Und deshalb ist es ihnen so wichtig, davon abzulenken, was in ihren Ländern vor sich geht. Unsere Haltung zu Pandemie – diese Erfahrung ist unbequem für sie. Schließlich müssen sie sich vor ihren Bürgern verantworten, für die Lockdowns und das Einsperren. Belarus, insbesondere wenn es wirtschaftlich voller Leben ist, schmeckt ihnen nicht. Also greifen sie an.“
Eiskalter statt Kalter Krieg
Der Angriff, so Lukaschenko, ist brutal. Der Krieg ist nicht mehr kalt, sondern eiskalt. Er könne wohl aber jederzeit zu einem „heißen“ und sogar zu einem Weltkrieg auswachsen: „Wir befinden uns nicht an vorderster Front eines neuen Kalten sondern eines eiskalten Krieges. Und nur ein Staat, der sich dem hybriden Druck nicht beugt, kann dem standhalten. Ich wende mich an die gesamte internationale Gemeinschaft: Belarus zuzusetzen – das macht keinen Sinn! Und bevor Sie irgendwelche überstürzten Schritte machen, denken Sie daran, dass Belarus das Zentrum von Europa ist. Und wenn hier etwas ausbricht, dann wird das ein weiterer Weltkrieg.“ Diesen Krieg werde Belarus laut Lukaschenko nicht gewinnen, sicher sei aber, dass es dem Feind einen „unzumutbaren Schaden“ zufügen werde.
Und genau diese Art von Schaden hat Lukaschenko derweil der einzigen Fluggesellschaft von Belarus zugefügt.
Während er vor den Funktionären sprach, verbrannte ein Belavia-Flugzeug, das auf dem Weg nach Barcelona war, über Kobrin kreisend seinen Treibstoff. Es durfte den polnischen Luftraum nicht passieren und kehrte später nach Minsk zurück. Flugverbindungen nach Großbritannien, Litauen, Tschechien, Finnland, Lettland, der Ukraine und Frankreich sind ausgesetzt. Zypern, Österreich, Polen, Spanien, Lettland, Deutschland, die Niederlande, Schweden, Ungarn, die Ukraine, Litauen, Großbritannien und Frankreich wollen den belarussischen Luftraum nicht mehr nutzen. Und das ist offenbar erst der Anfang.Auf den Krieg bereitet sich Lukaschenko gemeinsam mit seinen engsten Gefährten vor: Premierminister Roman Golowtschenko sagte bei seiner Rede im Ovalen Saal, dass Belarus im Falle neuer Sanktionen als Gegenmaßnahmen ein Importembargo und Transitbeschränkungen einführen wird. Und KGB-Chef Iwan Tertel verkündete, dass die „Hysterie des Westens“ im Zusammenhang stehe mit den Aussagen von Roman Protassewitsch, der natürlich die Namen westlicher Protest-Sponsoren und Auftraggeber von Terroranschlägen preisgegeben habe. Nach diesen Erklärungen – zu Krieg, Embargo, Terroranschlägen und einem Flugzeug mit Sprengstoff über einem Atomkraftwerk – erscheint doch eigentlich nur noch ein Bunker oder ein sofortiger Rausschmiss der gesamten Regierung logisch.
Doch Lukaschenko schmiedet ernsthaft Pläne. Nicht nur, dass er am 26. Mai mit einem „Weltkrieg“ drohte, ein Treffen mit Putin ankündigte, und Putin und Biden zu einem Treffen in Minsk anstelle von Genf einlud. Er sprach auch vom Verfassungsreferendum, das auf jeden Fall 2022 kommen wird. Lukaschenko glaubt, dass er eine Zukunft hat. Oder genau genommen: Er glaubt daran, sobald er beginnt, darüber zu sprechen.
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Leben und Sterben
„Mir fällt es schwer, über die Gegenwart zu sprechen, wenn ich die Vergangenheit nicht verstehe.“ In diesem Satz liegt wohl die Quintessenz dessen, was Lesia Pcholka antreibt und was ihre Arbeit ausmacht. Die Belarussin beschäftigt sich als Fotografin, Künstlerin oder Projektmanagerin in unterschiedlichen Formen mit der Aufarbeitung der Geschichte ihres Landes, seiner Kultur und seinen Traditionen. Gerade hat sie mit ihrer Initiative VEHA nach drei Jahren Arbeit zwei Projekte zum Abschluss gebracht: Die beiden Bücher Dsjawotschy wetschar (dt. Jungfernabend) und Aposchni fatasdymak (dt. Das letzte Foto) umfassen 100 Fotografien aus der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Belarus zum Russischen Zarenreich gehörte, bis zur zweiten Hälfte der 1980er Jahre in der Sowjetunion. Die beeindruckenden Fotos von Hochzeiten und Beerdigungen stammen aus unzähligen Familienarchiven, die Lesia Pcholka in den vergangenen Jahren zusammentragen konnte. Die Bilder zeigen die Veränderung von Traditionen und Ritualen vor dem Hintergrund von gesellschaftspolitischen und kulturhistorischen Wandlungsprozessen in Belarus.
dekoder: Mit was beschäftigt sich VEHA? Und wie ist das Projekt entstanden?
Lesia Pcholka: VEHA lässt sich am ehesten als eine unabhängige Initiative beschreiben, die sich mit Archivfotografie und der Alltagsgeschichte der Belarussen beschäftigt. Ich habe sie 2017 gegründet, und zwar als eine Reaktion auf die Unzugänglichkeit der belarussischen Archive und die einseitige Darstellung unserer Geschichte. Die wird vor allem über die Tragödie des Großen Vaterländischen Kriegs konstruiert und über die Angst, dieser könnte sich jederzeit wiederholen. Das öffentliche Narrativ beginnt natürlich mit dem einigermaßen bequemen Jahr 1941 und endet mit den Erben des Sieges (so heißt ein Saal im neuen Museum des Großen Vaterländischen Kriegs in Minsk, in dem Porträts des Präsidenten und seiner Familie ausgestellt sind). Die Erinnerungsmuster, die man uns bietet und die uns zugänglich sind, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Der Große Vaterländische Krieg aus Sicht der heutigen Regierung, das Großfürstentum Litauen als einer der Vorgängerstaaten von Belarus, aus Sicht der damaligen Opposition. VEHA aber geht es um die Bewahrung der unsichtbaren Geschichte, um das Verstehen der kulturellen Codes auf alten Fotografien und um die Beteiligung jedes einzelnen am Erhalt des kulturellen Erbes. Das erscheint dem gegenwärtigen Regime so langweilig, dass es nicht einmal unter die Zensur fällt.
Woher kam die Idee für die Projekte zu den Hochzeits- und Beerdigungsfotos?
2018 haben wir das erste Buch Nailepschy bok (dt. Die beste Seite) herausgegeben, in dem wir Portraits von Belarussen vor gewebten Teppichen gesammelt haben. Es sind Aufnahmen von armen Leuten auf dem Land in der Zwischenkriegszeit. Sie konnten sich keinen Besuch im Fotostudio leisten, deswegen wird das auf den Fotos imitiert. Das erkennt man nur, wenn man den Kontext kennt, in dem diese Bilder entstanden sind. Auf den Fotos sehen wir schön gekleidete Menschen, die sich von ihrer „besten Seite“ zeigen, um für ihre Nachfahren ein positives Bild von ihrem Leben zu hinterlassen. Nach dem Erscheinen des ersten Buchs beschlossen wir, eine Retrospektive des gesamten 20. Jahrhunderts zusammenzustellen, und mit etwas Glück auch des auslaufenden 19. Jahrhunderts, um zu sehen, wie sich Generation um Generation verändert, um eine visuelle Chronologie zu kreieren.
Das beliebteste Thema, das dokumentiert wird, war und ist die Hochzeit. Wir fingen also an, Hochzeitsfotos zu sammeln, um ein Narrativ anhand der Kommunikation von Frauen während der Erstellung eines wjasselnaga wjanka (eines Kranzes aus Kunstblumen für die Braut) herauszuarbeiten. Viele Hochzeitsbräuche, die heute tradiert werden, wurden künstlich geschaffen, ihnen liegt die Idee der Manipulation zugrunde, etwas zu lenken, durch sie werden Politik oder kapitalistische Prinzipien des Konsums umgesetzt. Nicht viele Menschen kennen die Herkunft, Bedeutung und Authentizität der Bräuche. Die Fotografien zeigen die Entstehungszeit von Bräuchen und ihr Verschwinden.
Belarus ist ein sehr ländlich geprägtes Land, das viele Kriege und Katastrophen erlebt hat. Welchen Einfluss hat dies auf Familienarchive und die Fotografie an sich?
Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war die Fotografie ein Privileg der Städter. Um sich fotografieren zu lassen, musste man ein Studio aufsuchen, diese befanden sich meist in der Nähe der Eisenbahn und wurden überwiegend von jüdischen Familien betrieben. Dorfbewohner konnten sich teure Fotografien oft nicht leisten, außerdem hätten sie dafür in die Stadt fahren müssen. Die meisten Familienarchive wurden seit Anfang der 1950er Jahre gesammelt – nachdem die Fotografie nicht mehr an Studios gebunden war und sich schnell ausbreitete. Nicht zu vergessen sind auch die zwei Weltkriege und die Repressionen, als in Familien viele Fotografien einfach vernichtet wurden, um bestimmte Verwandtschaftsbeziehungen zu verbergen. Derzeit erleben wir einen weiteren Verlust einer ganzen Schicht unserer visuellen Geschichte, weil die Menschen den Wert von Familienfotografie nicht sehen und sie dementsprechend auch nicht in der nötigen Form aufbewahren.
Kümmern sich in Belarus nicht die staatlichen Museen um den Erhalt solcher Fotos?
Doch, aber sie betreiben das völlig losgelöst von den Menschen. Auf den Webseiten der Museen finden sich kaum Fotoarchive, und es ist nahezu unmöglich, an die Bestände zu kommen. Im vergangenen Jahr habe ich selbst versucht, mir die Frage zu beantworten, was denn mit unseren Museen nicht stimmt, und kam zu folgendem Ergebnis: Für 2017 bis 2020 gab es einen Plan, der eine Modernisierung der Museen und eine Digitalisierung der Exponate vorsah, es sollten Kataloge erstellt, neue Technologien bei der Ausstellungs- und Bildungsarbeit eingeführt werden (so stand es im Gesetz zu den Museen und Museumsbeständen der Republik Belarus). Das wurde auch umgesetzt – alle belarussischen Museen haben jetzt eine Webseite. Ich habe es selbst überprüft. Das Problem ist nur, dass es meistens Standardwebseiten sind, die nur ein Minimum an Information enthalten; Kataloge der Bestände finden sich dort gar nicht. Ich habe mit einigen Museumsmitarbeitern gesprochen und sie gefragt, warum die staatlichen Museen so einen schlechten Internetauftritt haben. Die häufigste Antwort war: Fehlende Mittel und die Machtvertikale im Entscheidungsprozess (der sogenannte Plan „von oben“, der einen strengen Rahmen vorgibt). Die zweithäufigste: Die Museumsmitarbeiter wollen die Exponate aus ihren Beständen nicht online präsentieren, weil sie befürchten, dass die Besucher dann nicht mehr ins Museum kommen. Ließe sich das erste mit finanziellen Mitteln lösen, so ist das zweite eine Frage des Umdenkens darüber, was ein Museum eigentlich ist – dafür braucht es Weiterbildung und Zeit.
Auf den Beerdigungsfotos sind Freunde und Verwandte um den Sarg der Verstorbenen gruppiert. Was ist das für eine Tradition, und wie ist sie entstanden?
Das ist eine sehr alte Tradition, solche Fotos finden sich in fast jedem Familienalbum. Besonders verbreitet waren sie in den 1970er Jahren, damals wurden halbautomatische Kameras jedem zugänglich. Im Gegensatz zu europäischen Traditionen wurden Tote nie wie Lebende fotografiert, also mit offenen oder aufgemalten Augen, in netten Posen. So etwas zu tun, galt als ein beleidigender Umgang mit dem Körper des Verstorbenen. Die kanonisierten Traditionen waren ein Porträt vom Verstorbenen im Sarg in Nahaufnahme und unbedingt ein Foto von einer Menge an Verwandten um den Sarg. Während die Trauernden in den 1930er Jahren in die Kamera gesehen und posiert hatten, sahen sie später, ebenfalls posierend, den Toten an, um ihm quasi die letzte Ehre zu erweisen. Im Moment der Aufnahme gehörte es sich nicht, Gefühle zu zeigen (die Angehörigen weinten und klagten nicht); Menschen verschiedenen Alters sahen dem Verstorbenen ruhig und ernst ins Gesicht. Heute berichten sie, dass diese Kollektivaufnahmen angefertigt wurden, „um sich zu erinnern, wer bei der Beerdigung war“, und dass sie daran teilgenommen haben, weil es wichtig sei „Traditionen zu achten“.
Werden solche Fotos auch heute noch gemacht?
Heute wollen viele Menschen ihre Angehörigen nicht tot auf Fotos sehen, sie wollen sie „lebend in Erinnerung behalten“, deswegen werfen sie die Fotos von Beerdigungen weg. Die Erinnerung an den Tod wird aus dem Leben der Menschen verdrängt, was typisch ist für eine postchristliche, atheistische Gesellschaft, die den Tod fürchtet. Beerdigungsfotos werden aus Familienalben entfernt und nur die ältere Generation bewahrt sie aus Tradition auf. Wobei diese Träger der Tradition selbst nicht wirklich erklären können, wozu sie es machen.
Fotos: Lesia Pcholka/VEHA
Bildredaktion: Andy Heller
Interview: dekoder-Redaktion
Übersetzung: Maria Rajer
Veröffentlicht am 27.05.2021Weitere Themen
„Wir brauchen keine starken Anführer – wir brauchen eine starke Gesellschaft“
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Harte Landung
Um 14.15 Uhr Ortszeit landet am vergangenen Sonntag die Ryanair-Maschine FR 4978 am Nationalen Flughafen von Minsk. Eigentlich hätte der Flug, der in Athen gestartet war, um 13 Uhr die litauische Hauptstadt Vilnius erreichen sollen, das eigentliche Ziel der Reise. Was den Piloten letztlich veranlasst hat, mit über 100 Passagieren und sechs Crewmitgliedern an Bord in der belarussischen Hauptstadt zu landen, darüber gibt es noch kein klares Bild. Denn in dem Moment, als die Boeing 737 sich über der belarussischen Stadt Lida befand, war sie Vilnius eigentlich näher als Minsk. In der offiziellen Erklärung, die vom Pressedienst des Minsker Flughafens veröffentlicht wurde, heißt es, dass das Flugzeug ein Notsignal abgegeben und sich an den Minsker Flughafen gewandt habe mit der Bitte um Landung. Die Nachricht sei um 12.50 Uhr Minsker Zeit eingegangen, berichtet Tut.by in einer detaillierten Recherche. Dann wird die Faktenlage unklarer. Denn ursprünglich ist in den offiziellen Kanälen der belarussischen Machthaber von einer Bombendrohung die Rede. Am Sonntagabend heißt es von offiziellen belarussischen Stellen dazu, dass man diese aus Informationen der Hamas erhalten habe, was von der Hamas aber kurze Zeit später dementiert wird. Jedenfalls macht sich der Ryanair-Flug auf den Weg nach Minsk, mittlerweile ist ein Kampfjet der belarussischen Luftwaffe aufgestiegen, angeblich auf Befehl von Alexander Lukaschenko, der die Aktion persönlich geleitet haben soll. Die MiG 29 begleitet Flug FR 4978 nach Minsk.
Nach der Landung müssen die Passagiere die Maschine verlassen, ihr Gepäck wird mehrmals von Sicherheitsbeamten durchsucht. Die mehrstündige Aktion findet neben dem Flugzeug statt, was für eine angebliche Bombendrohung zumindest ungewöhnlich erscheint. Schließlich werden zwei Passagiere festgenommen: Der Belarusse Roman Protassewitsch und dessen Freundin Sofia Sapeha, eine russische Staatsbürgerin. Protassewitsch war Chefredakteur des Telegram-Kanals Nexta, der seit dem Beginn der Proteste in Belarus nach dem 9. August 2020 zu einer der wichtigsten Informationsquellen für die Ereignisse in dem osteuropäischen Land avancierte. Der Kanal wurde von den Machthabern in Belarus als „extremistisch“ eingestuft. Der 26-jährige Protassewitsch, der bereits seit 2019 in Polen lebt, stand auf der Fahndungsliste der belarussischen Machthaber. Nach Bekanntwerden der Festnahmen macht in den sozialen Medien schnell eine Anschuldigung die Runde: Die Landung in Minsk sei eben wegen Protassewitsch erzwungen worden. Nexta ließ die Vermutung verlautbaren, Lukaschenko habe mit einem Verstoß gegen alle Gesetze ein Flugzeug „gekapert“. Das offizielle Minsk verteidigte sein Vorgehen, das nun „bewusst politisiert“ werde.
Das Vorgehen des Lukaschenko-Staates wurde noch am Sonntagabend von zahlreichen Regierungen und Organen der EU scharf kritisiert. Dem Autokraten wurde „Luftpiraterie“ vorgeworfen. Zahlreiche Fluggesellschaften haben angekündigt, den belarussischen Luftraum ab sofort umfliegen zu wollen. Bereits am Montag verkündete die EU neue Sanktionen, unter anderem soll der Luftraum über der EU für belarussische Maschinen gesperrt werden. Zudem wurde die unverzügliche Freilassung von Protassewitsch gefordert, dem nach belarussischen Gesetz bis zu 15 Jahren Haft oder sogar die Todesstrafe drohen könnten. Am Montagabend verbreiteten mehrere staatliche Kanäle in Belarus ein Video von Protassewitsch, in dem er – sichtlich unter Druck stehend und mit Verletzungen und blauen Flecken im Gesicht – seine vermeintliche Schuld eingestand.
Warum ausgerechnet Protassewitsch? Was bedeutet dieses beispiellose Ereignis für die belarussische Opposition und für die internationale Staatenwelt? Hat der russische Präsident Putin Lukaschenko den Rücken für diese Aktion freigehalten, war der Kreml letzten Endes womöglich sogar beteiligt? Auf diese und andere Fragen versucht der belarussische Journalist Alexander Klaskowski in seiner Analyse für Naviny.by Antworten zu finden.
Offiziell versucht Minsk alles so darzustellen, als sei Protassewitsch ganz zufällig gefasst worden. Eigentlich habe Belarus aber Europa vor einer Gefahr gerettet (und was, wenn nun tatsächlich eine Bombe an Bord gewesen wäre, hm?!), und nur deswegen habe es den ausländischen Linienflieger, der von Athen nach Vilnius flog, zur Landung gezwungen.
Ihren Reaktionen nach zu urteilen glauben Europa und Washington einer so unschuldigen Version nicht mal ansatzweise. Die dortigen Politiker gehen vielmehr davon aus, dass das Regime, um seinen Feind einzufangen, das Leben von EU-Bürgern und die Flugsicherheit gefährdet hat. Schwere Vorwürfe wurden laut. Die Entführung eines Flugzeugs auf Geheiß der Behörden bezeichnete Ryanair-Chef Michael O’Leary als „staatlich gesponsorte Piraterie“. Er deutete an, dass sich an Bord des Flugzeugs mehrere KGB-Agenten befunden hätten.
Den Kommentaren in den Medien und Sozialen Netzwerken nach zu urteilen vermuten auch viele unabhängige Experten und belarussische Bürger hinter dieser verrückten Geschichte eine gut durchdachte Aktion der belarussischen Geheimdienste. Umso mehr als die großen Bosse mit den Schulterklappen zuvor öffentlich gedroht hatten, die ihren Worten zufolge „blutrünstige“ Opposition wo auch immer zu ergreifen. Die Geschichte von der Festnahme Protassewitschs schlägt genau in diese Wir-haben-lange-Arme-Kerbe. Das breite Publikum nun von einer anderen Interpretation zu überzeugen, ist also eine – nun, sagen wir mal: sehr undankbare Aufgabe.
Warum ausgerechnet Protassewitsch?
Der Blogger und Journalist Protassewitsch ist 2019 nach Polen emigriert. Er hat der belarussischen Machtelite natürlich ordentlich in die Suppe gespuckt, als er im vergangenen Jahr bei Ausbruch der Massenproteste einen Telegram-Kanal redaktionell verantwortete [den Kanal Nexta – dek], den die Behörden schließlich als „extremistisch“ einstuften.
Die Welle der belarussischen Revolution hat das Regime ins Wanken gebracht und seine Führung eindeutig in Angst versetzt. Und einige Telegram-Kanäle schienen tatsächlich die Straßenproteste zu koordinieren und führten einen harten Infokampf gegen das Regime. Deswegen wurde gegen Protassewitsch auch ein Strafverfahren aufgrund von drei Paragraphen eingeleitet.
Aber jetzt sind die Proteste dem Erdboden gleichgemacht. Zu koordinieren gibt es da nichts mehr. Warum ist die Verhaftung Protassewitschs den Machthabern ausgerechnet jetzt so wichtig, dass sie sogar all die unangenehmen Konsequenzen aus dem Ausland in Kauf nehmen?
„Hier geht es nicht so sehr um rationale, als vielmehr um emotionale Aspekte. Zum Beispiel um den Wunsch, sich für die Schockmomente zu rächen, die die Machthaber im letzten Jahr durchgemacht haben“, so Waleri Karbalewitsch vom analytischen Zentrum Strategija in Minsk.
Außerdem sei den Machthabern wichtig, durch den Fang eines Feindes ihre Anhänger zu motivieren, „so nach dem Motto, schaut her, wie cool wir sind“, sagt der Analyst in einem Kommentar auf Naviny.by.
Die Verhaftung Protassewitschs passe gerade in propagandistischer Hinsicht gut ins Konzept: „Womöglich wird er etwas erzählen, und dann heißt es im Fernsehen: Schaut her, die westlichen Geheimdienste haben eine Farbrevolution in Belarus eingefädelt.“
In der Tat hat die belarussische Führung schon seit Beginn der Proteste die Verschwörungserzählung forciert, dass Saboteure im Westen diesen ganzen Brei angerührt hätten. Und wir haben schon gesehen, dass die hiesigen Silowiki imstande sind, die Zungen der Verhafteten zu lösen. Also ist nicht ausgeschlossen, dass man Protassewitsch etwas in den Mund legen wird – um Leute zu diskreditieren, die gegen das System von Alexander Lukaschenko kämpfen, und besonders diejenigen, die er „Flüchtige“ nennt.
Und natürlich wird mit dem Aufgreifen Protassewitschs das Ziel verfolgt „den Anführern der emigrierten Opposition einen Schreck einzujagen“, unterstreicht der Gesprächspartner von Naviny.by.
Es sei noch hinzugefügt, dass dieser Plot, der so manchen Blockbuster aus Hollywood in den Schatten stellt, sicherlich den gesamten Protest der belarussischen Gesellschaft beeindrucken wird. Als wollten die Machthaber zeigen: Wenn wir sogar die kriegen, die sich mit der Ausreise in Sicherheit wähnten, dann können wir euch, liebe Täubchen, sowieso jederzeit in die Mangel nehmen.
Über die Folgen dieser Geschichte, die bereits heftigen Widerhall in der Welt gefunden hat, hat man sich in den belarussischen Machtstrukturen nicht allzu viele Gedanken gemacht, besser gesagt „man erwartet nicht, dass es besonders weitreichende Folgen geben wird“, so Karbalewitsch.
Lukaschenkos Krieg mit dem Westen spielt Moskau in die Hände
Moskaus Reaktion auf diesen Skandal ist interessant: Die Sprecherin des russischen Außenministeriums hat in ihrer typischen Manier versucht, dem Westen die Leviten zu lesen. Dieser, so Maria Sacharowa, solle sich doch mal erinnern an die „Zwangslandung des Flugzeugs des Präsidenten von Bolivien in Österreich auf Ersuchen der Vereinigten Staaten; und an die Ukraine, wo ein belarussisches Flugzeug mit einem Antimaidan-Aktivisten elf Minuten nach dem Start zur Landung gezwungen wurde“.
Doch so viel Whataboutism hat sich als tölpelhaft erwiesen: Denn damit gibt man indirekt zu, dass Minsk, als es das irische Flugzeug zur Landung zwang, eine Sonderoperation durchgeführt hat.
Insgesamt hat Moskau allerdings zurückhaltend reagiert. Putins Pressesprecher Dmitri Peskow kommentierte den Ryanair-Vorfall nicht weiter: die internationalen Luftfahrtbehörden sollten die Situation bewerten, sagte er nur. Der russische Außenminister Sergej Lawrow plädierte dafür, „die Situation nicht im Eifer des Gefechts und nicht übereilt zu bewerten, sondern auf Grundlage aller verfügbaren Informationen“.Mit anderen Worten: Die russische Führung scheint nicht bereit zu sein, vorbehaltlos für ihren Verbündeten einzustehen. Warum nicht?
Der Minsker Analyst Andrej Fjodorow schließt in seinem Kommentar für Naviny.by nicht aus, dass die belarussischen Behörden geplant hatten, Moskau in den Skandal mit der Zwangslandung und der Festnahme von Protassewitsch hineinzuziehen: „Wenn Moskau [in dieser Geschichte] Schulter an Schulter mit Minsk kämpfen würde, hätte es keine Handhabe, [die belarussische Regierung] bei Verfassungsreformen, Machttransfer und so weiter unter Druck zu setzen.“ So sieht der Analyst eine mögliche Logik der belarussischen Seite.
Moskau würde nur ungern in eine Angelegenheit hineingezogen, in der die Minsker Argumente nicht sehr überzeugend klingen. Der Kreml will seine Vorteile in den Verhandlungen mit Lukaschenko nicht verlieren, sagt der Gesprächspartner von Naviny.by.
Man muss jedoch anmerken, dass einige Kommentatoren meinen, dass bei der Verhaftung von Protassewitsch auch russische Geheimdienste ihre Hand im Spiel hatten.
So oder so, der Skandal mit dem Ryanair-Flugzeug und die Inhaftierung des ausgewanderten Oppositionellen ist für Moskau von Vorteil, glaubt Karbalewitsch: „Lukaschenko ist isoliert; neue Konfrontation mit dem Westen; die Brücken werden abgebrochen.“
Minsk setzt noch auf Verhandlungen, doch vorläufig wächst sich der Konflikt weiter aus
Im Prinzip sieht es wie ein politische Gesetzmäßigkeit aus: Je schlechter Lukaschenkos Beziehungen mit dem Westen sind, desto abhängiger ist er vom Kreml. Die Geschichte mit Protassewitschs Gefangennahme schwächt also potenziell Lukaschenkos Position in Richtung Osten.
Das zieht allerdings auch die Europäische Union in Betracht, wenn sie Sanktionen gegen das belarussische Regime ausarbeitet. In Brüssel befürchtet man traditionell, dass übermäßiger Druck auf Belarus das Land immer stärker an Russland bindet.
Die zweite Sorge des Westens gilt den möglichen Gegensanktionen: Das Regime könnte die Opposition, die zivilgesellschaftlichen Strukturen und die unabhängigen Medien im Land endgültig zerstören. Im April hat der belarussische Außenminister Wladimir Makei ein solches Szenario ganz offen umrissen: Falls die Sanktionen verschärft würden, „wird es diese Zivilgesellschaft nicht mehr geben, um die sich unsere europäischen Partner so sehr sorgen“.
Die belarussischen Behörden rechnen offensichtlich damit, dass der Westen mit seinem „verfaulten Humanismus“ kalte Füße bekommt und keine härtere Gangart einlegen wird.
Andere Kommentatoren meinen, dass die belarussische Führung, die die europäischen Politiker für Schwächlinge hält, mit dem Ryanair-Flugzeug dem kollektiven Westen auf den Zahn fühlt: Wird er auch diese Pille schlucken?
Darüber hinaus könnte Protassewitsch, den belarussische Menschenrechtler bereits als politischen Gefangenen anerkannt haben, hinter Gittern (zusammen mit den anderen bekannten Persönlichkeiten) zu einem wertvollen Faustpfand werden in den voraussichtlichen Verhandlungen des Regimes mit dem Westen, in denen es um einen Ausweg aus der Isolation und das Auftauen der Beziehungen gehen wird. Darin liegt ein weiteres Motiv der Regierung, die Kosten für die sensationelle Landung des irischen Flugzeugs in Minsk in Kauf zu nehmen.
Werden solche Berechnungen aber aufgehen? Wie ein Schneeball sammelt diese ganze Geschichte bis jetzt üble Konsequenzen an. Vor dem Hintergrund des Skandals mit dem Flugzeug entflammte ein diplomatischer Konflikt mit Lettland. Minsk gab bekannt, dass es nicht nur seinen Botschafter, sondern die gesamte Botschaft wegen des Vorfalls mit der belarussischen Staatsflagge in Riga abberuft. Lettland reagierte symmetrisch.
Der Knoten des Konflikts mit dem Westen zieht sich immer fester zu. Und in Belarus wird alles noch düsterer.
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Debattenschau № 83: Das Ende der unabhängigen Medien in Belarus?
Am Morgen des 18. Mai 2021 drangen Mitarbeiter der staatlichen Abteilung für Finanzermittlung (DFR) in die Redaktionsräume des unabhängigen Medienportals Tut.by in Minsk ein. Sie durchsuchten die Räumlichkeiten sowie einige regionale Büros des Unternehmens und auch die Wohnung von Chefredakteurin Marina Solotowa. Im Laufe des Tages wurden die Webseite sowie zahlreiche Spiegelserver blockiert. Am Ende des Tages wurde schließlich bekannt, dass zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Tut.by inhaftiert wurden.
In einer offiziellen Verlautbarung des Informationsministeriums zum Vorgehen gegen das größte unabhängige Medienunternehmen des Landes heißt es: „Die Generalstaatsanwaltschaft stellte zahlreiche Sachverhalte von Verstößen gegen das Gesetz über Massenmedien fest, die die Platzierung von verbotenen Informationen in einer Reihe von Veröffentlichungen auf der Internetressource Tut.by betreffen.“ Zudem wird Tut.by Steuerhinterziehung vorgeworfen. Gegen die Inhaber des Unternehmens wurde ein Strafverfahren eingeleitet.
Tut.by wurde in den vergangenen Jahren immer wieder Ziel von staatlichen Attacken. Journalistinnen und Journalisten, die für unabhängige Medien in Belarus arbeiten, leben seit den Protesten infolge des 9. August 2020 ohnehin gefährlich.
Schon in den ersten Stunden nach Bekanntwerden des Vorgehens gegen Tut.by schwappte eine Welle der Empörung in den belarussischen sozialen Medien auf sowie zahlreiche Bekundungen der Solidarität. Zudem entfachte sich eine Debatte über die Frage, wie der Schlag gegen Tut.by einzuordnen sei und wie weit die Machthaber um Alexander Lukaschenko hinsichtlich der ohnehin weitreichenden Repressionen noch gehen werden. dekoder bringt eine Auswahl von Stimmen aus dieser Debatte.
Nasha Niva: Abhängiger von Russland?
Das älteste belarussischsprachige Medium Nasha Niva hält das Vorgehen gegen Tut.by für einen schweren Schlag, der die belarussische Medienlandschaft insgesamt betrifft.
[bilingbox]Durch die Sperrung von Tut.by ist ein Strich unter die bisherige Existenzweise von Medien in Belarus gezogen worden. Die Zerschlagung des Medien-Flaggschiffs wirft die nationalen Medien um Jahrzehnte zurück und macht den Staat hinsichtlich der Information noch abhängiger von Russland. Es ist nun notwendig, die Gesellschaft für die Unterstützung der Medien zu mobilisieren, die es noch gibt – innerhalb des Landes und im Ausland.~~~Блакаванне Тут.бая таксама падводзіць рысу пад ранейшым этапам існавання СМІ ў Беларусі. Разгром флагмана медый адкідвае нацыянальныя СМІ на дзесяцігоддзі і зробіць дзяржаву яшчэ больш інфармацыйна залежнай ад Расіі. Спатрэбіцца мабілізацыя грамадства на падтрымку тых беларускіх СМІ, якія застаюцца — унутры краіны і за яе межамі. [/bilingbox]
erschienen am 18.05.2021, Original
Narodnaja Wolja/Pjotr Kusnjazou: „Die Machthaber machen einen riesigen Fehler“
Pjotr Kusnjazou, Direktor der regionalen Informationsplattform Gomel – Silnyje Nowosti, urteilt in einem längeren Kommentar für die Zeitung Narodnaja Wolja, dass die ständigen Repressionen gegen unabhängige Medien vor allem die Hoffnungen auf ein demokratisches Belarus zerstören.
[bilingbox]Kann man in diesem Kampf siegen? Für vernünftige Menschen ist offensichtlich, dass man das nicht kann, wenn solche Methoden zum Einsatz kommen. Darüber hinaus ist noch etwas anderes offensichtlich: Jegliche folgerichtige Bewegung in die vorgegebene Richtung „alle zu erwürgen“ kann lediglich dazu führen, dass im Informationsraum von Belarus eine gähnende Leere entsteht. Eine Leere – kein Vakuum. Ein Vakuum kann es in diesem Bereich nicht geben, denn wenn ihnen das gelingt, was sie wollen, dann wird diese Leere unmittelbar gefüllt werden mit einem Produkt von völlig anderem Niveau und völlig anderer Qualität.
In diesem Sinne bedeutet der Tod des unabhängigen Mediensektors einen Schlag nicht nur und gar nicht so sehr gegen den demokratisch denkenden Teil der Gesellschaft als vielmehr gegen Belarus als zivilisiertes Land.~~~Возможно ли победить в этой борьбе? Здравомыслящим людям очевидно, что такими методами – нет. Больше того, очевидно и другое: последовательное движение в заданном направлении «всех придушить» может привести лишь к тому, что в информационном поле Беларуси появятся зияющие пустоты. Пустота – не вакуум, вакуума в этой среде быть не может, поэтому, если у них получится сделать то, что они хотят, пустоту эту, неминуемо, заполнит продукт совершенно другого уровня и качества.
В этом смысле гибель существующего независимого медиасектора будет означать удар не только и не столько по демократически мыслящей части общества, сколько по Беларуси как цивилизованной стране как таковой.[/bilingbox]erschienen am 18.05.2021, Original
SB. Belarus segodnja/Alexander Schpakowski: „Apotheose der Unverschämtheit und Unmoral“
In seiner Einschätzung für die staatliche Zeitung SB. Belarus segodnja hält der Politologe Alexander Schpakowski das Vorgehen des Staates gegen Tut.by aufgrund mutmaßlicher Steuervergehen für völlig legitim. Zudem wirft er ein, dass Unternehmen, die Teil des Minsker Hi-Tech-Parks sind und damit von Steuervergünstigungen profitieren, sich dem Staat gegenüber loyaler zeigen sollten.
[bilingbox]Für all diese IT-Unternehmen sind sehr hohe Zuwendungen vorgesehen. Ganz ehrlich – meiner Ansicht nach ist das eine Apotheose der Unverschämtheit und Amoral. Einerseits als Flaggschiff im Informationskrieg gegen den Staat und gegen den Präsidenten persönlich aufzutreten. Gegen Lukaschenko. Denn sie bekämpfen ihn ja nicht nur als politischen Führer, sondern auch als Menschen, beleidigen und diskreditieren ihn mannigfach. Und andererseits sind sie sich gleichzeitig nicht zu fein, Zuwendungen anzunehmen, die ihnen vom belarussischen Staat gewährt werden, und Erlasse dieses Staatsmannes, des Präsidenten der Republik Belarus zu nutzen. Das ist meiner Ansicht nach die Apotheose der Doppelmoral, der Unverschämtheit, der Amoral, die ich rein menschlich nicht verurteilen würde, doch meine Bewertung fällt negativ aus.~~~Вот для этих всех IT-компаний предусмотрены очень серьезные льготы. И, на мой взгляд, если честно, это апофеоз наглости и аморальности. С одной стороны, выступать флагманом информационной войны против государства и против Президента лично. Против Лукашенко. Ведь они в том числе борются именно с ним не только как с политическим лидером, но как с человеком, всячески его оскорбляя и дискредитируя. Но при этом не стесняются пользоваться льготами, предоставленными белорусским государством и указами этого государственного деятеля — Президента Республики Беларусь. Вот это, на мой взгляд, апофеоз двойных стандартов, наглости, аморальности, который чисто по-человечески я не берусь осуждать, но моя оценка этого негативная.[/bilingbox]
erschienen am 18.05.2021, Original
Facebook/Lavon Volski: „Je suis Tut.by“
Lavon Volski gilt als Ikone der alternativen Musikszene in Belarus. Er ist der Meinung, dass die ständigen Repressionen das Fass zum Überlaufen bringen könnten.
[bilingbox]Ich verstehe, dass das Niveau gehalten werden muss. Das Level darf nicht gesenkt werden. Immer wieder muss deutlich gemacht werden, wer hier der Herr im Hause ist. Alle müssen in Angst gehalten werden. Das ist eine einfache Bauernregel: Angst haben – das bedeutet: jemanden zu achten. Nur wächst mit jedem neuen Druck nicht die Angst, sondern der Hass. Und der erfasst mit jedem Tag, mit jedem neuen „kriminellen“ Fall mehr und mehr Leute. Er sammelt sich immer weiter an, er staut sich auf in diesem geschlossenen Raum. Der Zeiger schlägt schon längst aus dem roten Bereich, und sie kippen immer mehr Zündstoff hinein, immer mehr … Je suis Tut.by~~~Я разумею, што ўзровень трэба трымаць. Не зьніжаць градус. Раз за разам дэманстраваць, хто тут гаспадар. Трымаць усіх у страху. Такі просты мужыцкі разьлік: баяцца — значыць паважаюць. Толькі ад кожнага новага ціску расьце ня боязь, а нянавісьць. І яна з кожным днём, з кожнымі новымі “крымінальнымі” справамі ахапляе ўсё болей і болей людзей. І яна ўсё назапашваецца, усё расьце ў гэтай замкнёнай прасторы. Стрэлка даўно на чырвонай зоне, а яны ўсё падкідаюць паліва, болей і болей… Je suis TUT.by[/bilingbox]
erschienen am 18.05.2021, Original
YouTube/Swetlana Tichanowskaja: „Sie töten die Presse“
Für Swetlana Tichanowskaja, die führende Figur der belarussischen Oppositionsbewegung, ist es völlig klar, welches Ziel die belarussischen Machthaber mit der Abschaltung von Tut.by verfolgen.
[bilingbox]Wir alle sind heute Zeugen des vorsätzlichen Mordes an dem Medium und unabhängigen Portal Tut.by. 20 Jahre hat es den Belarussen einwandfrei seriöse Nachrichten vermittelt und war ein Paradebeispiel für die unabhängige Presse. Viele haben befürchtet, dass es so kommen wird. Doch es ist ein völlig anderes Gefühl, wenn man die konsequente Zerstörung der Freiheit mit eigenen Augen sieht. Die Zusammenrottung von Leuten, die in Belarus die Regierungsmacht fest in ihren Händen halten – das ist ein wahres Besatzerregime: Sie töten die Presse, töten Parteien und Gruppierungen, sie töten uns – auf der Straße und in den Gefängnissen.~~~Сегодня мы все – свидетели умышленного убийства медиа и независимого портала TUT.by. Он 20 лет исправно сообщал беларусам честные новости и был образцом независимой прессы. Многие опасались, что так и произойдет, но это совсем другое чувство, когда смотришь на последовательное уничтожение свободы собственными глазами. Сборище людей, которые удерживают власть в Беларуси, – это и есть настоящий оккупационный режим: они убивают СМИ, убивают партии и сообщества, убивают нас – на улицах и в тюрьмах.[/bilingbox]
erschienen am 18.05.2021, Original
Tribuna/Maxim Beresinski: „Sie können nicht alle zum Schweigen bringen“
Maxim Beresinski, der für das populäre Online-Sportmedium Tribuna die belarussische und ukrainische Sparte verantwortet, fragt sich, wen die Staatsmacht als nächstes ins Visier nehmen könnte.
[bilingbox]Wir sind schon daran gewöhnt: Jeden Tag gibt es einen neuen Tiefpunkt. Und trotzdem ist es jedes Mal ein Schock …
Alles läuft genau so, wie es Pastor Niemöller auf dem Höhepunkt im Kampf mit den Nazis in Deutschland gesagt hat: Politiker, Geschäftsleute, Anwälte, Studenten, Pfarrer, kinderreiche Mütter haben sie schon geschasst. Jetzt sind die Journalisten dran. Wenn sie jetzt kommen und dich holen, wird niemand mehr da sein, dem du es erzählen kannst. Wir wissen nicht, was der nächste Trigger sein wird, aber der einzige Weg ist nun die maximale Öffentlichkeit. Alle Stimmen werden sie nicht schaffen abzuwürgen.~~~Мы уже привыкли к тому, что каждый день – новое дно. Но все равно каждый раз шок.
Все идет ровно так, как говорил пастор Нимёллер в разгар борьбы с нацизмом в Германии. Они уже пришли за политиками, бизнесменами, адвокатами, студентами, священниками, многодетными мамами. Теперь они пришли за журналистами. Теперь, когда придут за тобой, некому будет об этом рассказать. Мы не знаем, что станет новым триггером, но максимальная гласность сейчас – единственный путь. Все голоса им не заткнуть.[/bilingbox]erschienen am 18.05.2021, Original
RuBaltic/Wsewolod Schimow: Faustpfand in Verhandlungen mit dem Westen?
In einem Beitrag für das Kaliningrader Online-Portal RuBaltic hält der belarussische Politologe Wsewolod Schimow beim Vorgehen gegen Tut.by eines für sicher: die weitere Verschlechterung der Beziehungen mit dem Westen.
[bilingbox]Die Idylle endete am 9. August 2020, als das „herzliche Einverständnis“ zwischen der Regierung und den Kräften, die Tut.by verkörpern, innerhalb von einer Sekunde zerstört war.
Die ganze Frage ist, wie weit die belarussischen Machthaber in diesem Spiel zu gehen bereit sind. Die Zerschlagung von Tut.by bleibt ja im Westen nicht unbemerkt und senkt die Chancen auf eine Normalisierung der Beziehungen weiter.
Andererseits ist nicht ganz auszuschließen, dass das Schicksal von Tut.by vielleicht ein Faustpfand wird in den Verhandlungen zwischen den belarussischen Machthabern und dem Westen.~~~Идиллия закончилась после 9 августа 2020 года, когда «сердечное согласие» между властью и теми силами, которые олицетворяет tut.by, было в момент разрушено.
Весь вопрос в том, насколько далеко готова белорусская власть идти в этой игре. Ведь разгром tut.by не останется незамеченным на Западе и еще больше снизит шансы на нормализацию отношений.
С другой стороны, нельзя исключать, что судьба tut.by как раз-таки станет элементом торга в переговорах между белорусской властью и Западом.[/bilingbox]erschienen am 18.05.2021, Original
Facebook/Yahor Lebiadok: Die Förderung der russischen Agenda
Der Militärhistoriker Yahor Lebiadok bringt die Zerschlagung der unabhängigen belarussischen Medien in einen außenpolitischen Zusammenhang. Er glaubt, dass hinter dem Vorgehen gegen Tut.by eine Konzession Lukaschenkos an Wladimir Putin und dessen Politik erkennbar sei.
[bilingbox]Was Tut.by angeht, kann man unterschiedlicher Meinung sein. Aber was das Portal ausmacht: Es stellt eine gewisse Barriere zu russischen Inhalten in den Köpfen der Belarussen dar.
Ich habe es bereits mehrfach gesagt und wiederhole es hier noch einmal: Während alle auf die Verhandlungen zu Krediten, Öl und Integrations-Roadmaps schauen, gibt Lukaschenko zur Unterstützung Putins (oder unter seinem Druck) viel Belarussisches auf – von der Kultur bis zu dringlichen Themen. Das merken die Menschen angesichts der vielen Nachrichten gar nicht, und es sind Dinge, um die es Lukaschenko aus seiner Perspektive nicht schade ist. Für Lukaschenko bedeutet die Säuberung solcher Medien, die Bewahrung der Regierung vor Kritik – auch im Zusammenhang mit möglichen politischen Kampagnen zu einer neuen Verfassung. Für Putin bedeutet sie die Säuberung des belarussischen Informationsraumes von allem Belarussischen und gleichzeitig die Förderung der russischen Agenda. ~~~К TUT.BY может быть различное отношение, но что свойственно этому порталу — это определенный барьер на пути российского контента в головы беларусов.
Говорил ни раз и здесь повторю — пока все смотрят на торг по кредитам, нефти, интеграционным картам Лукашенко за поддержку Путиным (или под давлением) сдает беларуское — от культуры до повестки дня. Это людям мало заметно в объеме новостей, и это то, что Лукашенко не жалко сдать, на его взгляд. Для Лукашенко зачистка такого рода СМИ — это удержание власти от критики, в том числе и в контексте возможных политических кампаний по Конституции (что и для РФ, вероятно, нужно). Для Путина — это зачистка беларуского информационного пространства от всего беларуского с продвижением российской повестки[/bilingbox]erschienen am 18.05.2021, Original
dekoder-Redaktion
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„Wenn es zur Demokratisierung kommt, dann aus Versehen“
Am 10. Mai 2021 hat Alexander Lukaschenko das Dekret „Zum Schutz der Souveränität und der verfassungsmäßigen Ordnung“ unterschrieben, über das bereits in den vergangenen Wochen in der belarussischen und internationalen Presse spekuliert worden war. Das Dekret regelt einen neuen Machtübergang, abseits des Weges, den die Verfassung vorsieht. Im Falle eines gewaltsamen Todes von Lukaschenko übergeht die präsidiale Macht nun nicht mehr an den Premierminister, sondern an den Sicherheitsrat. Dieser kann dann beispielsweise den Kriegszustand ausrufen, der die Durchführung von Demonstrationen oder Streiks unmöglich macht. Der Sicherheitsrat hat neben dem Präsidenten aktuell acht weitere Mitglieder, so unter anderem den Premierminister, den Vorsitzenden des KGB, den Chef der Präsidialverwaltung sowie Innen- und Verteidigungsminister. Der Politologe Waleri Karbalewitsch beispielsweise sieht in der neuen Regelung eine klare Stärkung der Silowiki.
Aber natürlich braucht es nicht nur Beamte der Sicherheitsstrukturen, um den autoritären Staatsapparat am Laufen zu halten. In einem Interview für das belarussische Medium Belorusy i rynok befasst sich der politische Analyst und Journalist Artyom Shraibman mit dem Beamtenapparat des Lukaschenko-Staates und mit Fragen, die für das weitere Überleben des Systems eine immanent wichtige Rolle spielen.
Nach welchen Kriterien erfolgt in Belarus die Auswahl von Staatsbeamten?
In politisch sensiblen Strukturen wie dem KGB, dem operativ-analytischen Zentrum OAZ oder dem Innenministerium war das Hauptkriterium schon immer die Loyalität zur Regierung. In anderen Behörden war die politische Komponente früher weniger wichtig: Im Gesundheitsministerium, dem Katastrophenschutzministerium oder dem Außenministerium war bis vor kurzem noch ein gewisses Ausmaß an Freigeist zulässig. In diesen Behörden wurde mit dem Aufstieg auf der Karriereleiter immer stärker ausgesiebt. Ein solider Fachmann konnte beispielsweise bis zum Posten des Verwaltungschefs aufsteigen, danach wurden seine Karrierechancen mit dem KGB, der Präsidialadministration und anderen Behörden abgestimmt. Menschen mit einem „falschen“ politischen Lebenslauf blieb der Aufstieg verwehrt.
Ich denke, das war der entscheidende Faktor, warum sich die Regierung nach den Ereignissen im August halten konnte: Das System hatte den Aufstieg der meisten unabhängig denkenden Menschen verhindert. In höheren Ämtern haben nur einige wenige offen oder halboffen Kritik geäußert. In der Mitte und dem unteren Teil des Staatsapparates sah es schon ganz anders aus.
Derzeit werden alle Anwärter für Staatsämter unabhängig von der Stellung und Behörde danach durchleuchtet, ob sie politisch vertrauenswürdig und loyal zur gegenwärtigen Regierung sind. Aus zuverlässigen Quellen weiß ich, dass Mitarbeiter des Innenministeriums und des Ermittlungskomitees unter Einsatz eines Lügendetektors befragt werden, um diejenigen auszusieben, die bei den Wahlen für den „falschen“ Kandidaten gestimmt hatten – ihre Verträge werden nicht verlängert. Die Regierung hat die enorme Bedeutung der politischen Loyalität von Beamten auf allen Ebenen klar erkannt.
In diesem Jahr rechne ich nicht mehr mit einem Zusammenbruch
Aber das trifft nicht nur auf Ministerien zu. Sogar in kleineren Staatsunternehmen werden Geschäfts- und Abteilungsleiter ersetzt.
Da greift aber ein anderes Prinzip. Ich denke nicht, dass diese Menschen sich in irgendeiner Form als illoyal gezeigt hatten. Vielmehr waren sie nicht aktiv genug bei der Verfolgung von Dissidenten in ihren Unternehmen. Sie hatten ihre Unternehmen nicht von „aufwieglerisch Denkenden“ gesäubert und mussten den Preis dafür zahlen. Würde sich der August wiederholen, würde es zu Streiks kommen und sich ein Fabrikleiter seinen Arbeitern anschließen, wäre das katastrophal für die Regierung. Wenn sie mich also nach einer Tendenz fragen, dann lässt sich eine Abwanderung von qualifizierten Fachkräften und von Menschen mit einem Gewissen beobachten, und an ihre Stelle treten Aufseher.
Welche Konsequenzen hat es, wenn erfahrene Fachleute durch einfach nur regimetreue Menschen ausgetauscht werden?
Auf kurze Sicht stärkt es das Regime. Das System besteht nur noch aus besonders gehorsamen und loyalen Menschen, die keine Bedenken bei der Ausführung jedweder Anweisungen haben. Aber langfristig sägt man damit den Ast ab, auf dem man sitzt, denn solche Leute sind vor allem darauf bedacht, sich anzudienen und berücksichtigen keine langfristigen Konsequenzen. Sie treffen realitätsferne Entscheidungen, sie glauben, das Recht zu haben, ideologisch Druck auf Menschen auszuüben, ihre Mitarbeiter dreist zu behandeln, harte Entscheidungen zu treffen, ohne sie mit der Belegschaft abzustimmen. Letztendlich verliert das gesamte System an Kompetenz und macht einen Fehler nach dem anderen.
Außerdem zerstört diese „negative Selektion“ jegliche Chancen auf einen positiven politischen Wandel in Belarus. Je mehr sich das System abschottet, desto weniger Möglichkeiten hat es, in Krisenzeiten vernünftige Entscheidungen zu treffen. Unter diesen Umständen wird ein Wandel nicht als eine Evolution, sondern durch eine politische Katastrophe passieren, sprich durch einen Zusammenbruch der gesamten politischen Struktur.
Wann wird die kurzfristige Phase enden, und wann werden die Konsequenzen eintreten, von denen Sie sprechen?
Das hängt davon ab, wann der Regierung die Mittel für die brutale autoritäre Kontrolle von jedem gesellschaftlichen Bereich ausgehen und davon, wie sehr sie die Daumenschrauben noch anzieht.
In diesem Jahr rechne ich nicht mehr mit einem Zusammenbruch. Die Regierung hat sich potentieller Überläufer entledigt, und sie hat finanzielle Reserven, zumindest für die nächste Zeit. Ich denke, die Konsequenzen werden zutage treten, sobald es konstitutionelle Veränderungen gibt – selbst wenn die Regierung davon überzeugt ist, den Nachfolger oder die führende Partei vollkommen unter Kontrolle zu haben. In diesem System reicht eine Prise Freiheit und es bricht wegen seiner flächendeckenden Inkompetenz und seiner Unfähigkeit, vorauszudenken, in sich zusammen.
Ich erwarte von dieser Regierung hingegen keinerlei demokratische Reformen
Was motiviert die Fachleute derzeit noch in diesem System zu bleiben? Denen ist ja sicher klar, wie falsch alles war, was in den letzten sieben Monaten passiert ist?
Teilweise hält sie dort die Angst um ihre eigene Zukunft, um die Zukunft ihrer Familien, die materielle Abhängigkeit von der Anstellung, vielleicht auch Kredite oder Wohnraum, der ihnen als Beamten im Staatsdienst zur Verfügung gestellt wird.
Denkbar ist auch, dass manche von ihnen noch hoffen, das Regime würde sich von selbst reformieren. Sie reden sich ein, dass es besser sei, Teil des Staatsapparates zu bleiben, denn „wenn wir gehen, nehmen völlige Obskuranten unsere Plätze ein, wir lenken das Land wenigstens in die richtige Richtung“. Mit solchen Illusionen beruhigen sie ihr Gewissen. Sie glauben, Alexander Lukaschenko wäre allen Ernstes zu demokratischen Reformen und Fortschritt bereit, und wollen ihn darin unterstützen. Solche Menschen gibt es noch im Innenministerium und in den Finanzbehörden. Ich erwarte von dieser Regierung hingegen keinerlei demokratische Reformen. Wenn es zu einer Demokratisierung kommt, dann aus Versehen. Die Regierung wird mit Veränderungen experimentieren und die Kontrolle über diese Vorgänge verlieren. So etwas ist in vergleichbaren Fällen auch in anderen Ländern passiert.
Die andere Möglichkeit ist, dass die Demokratisierung durch einen Zusammenbruch kommt: Wenn es zu einer neuen Welle der Gewalt oder einem Wirtschaftskollaps kommt – dann fegt der Sturm alles weg. Diese zwei Varianten halte ich für wahrscheinlich. Aber eine gesteuerte Modernisierung, die sich diese Menschen womöglich erhoffen, wird es ganz sicher nicht geben.
Die Oppositionsführer haben einen offenen Brief im Namen der Staatsbeamten aufgesetzt, den sie veröffentlichen wollen, wenn über 5000 Unterschriften zusammenkommen. Wie stehen die Chancen, dass die Opposition die Unterstützung so vieler Beamter bekommt?
Es ist schwer, das Ausmaß des Dissidententums innerhalb des Systems zu beurteilen. Viele Menschen, bei denen der August wirklich dauerhafte Spuren hinterlassen hat, hatten im letzten halben Jahr genug Gelegenheit zu gehen. Manche taten es leise, ohne großes öffentliches Aufsehen. Wie der stellvertretende Finanzminister Andrej Belkowez, der seinen Posten verließ, ohne dass es medial Beachtung fand. Er stellte an dem Tag, als Roman Bondarenko starb, in den sozialen Netzwerken eine Kerze als Profilbild ein; da war allen klar, dass er seinen Posten nicht einfach so aufgegeben hatte. Ich denke, es gab einige solche Menschen auf verschiedenen Regierungsebenen, die ohne viel Aufsehen ihre Stellung verlassen haben.
Das Volk ist gewachsen, während sich die Regierung zurückentwickelt hat
Den anderen ist es irgendwie gelungen, sich selbst davon zu überzeugen, dass sie in diesem System weiterarbeiten sollten: Das geht uns nichts an; wir sind nicht dafür verantwortlich, was die OMON-Kräfte machen; die andere Seite trägt eine Mitschuld und so weiter. Da greifen dann psychologische Schutzmechanismen. Und ein Mensch, bei dem die einsetzen, hat keine Zweifel mehr: Wozu soll er denn so einen Brief unterschreiben? Er hat doch seinen Seelenfrieden schon erreicht oder ist auf dem besten Weg dorthin. Deswegen bin ich mir nicht sicher, ob sich im Beamtenapparat noch 5000 Menschen finden, die ihr Gewissen plagt, die aber noch im Amt sind. Wir werden es an den Unterschriften sehen.
Es heißt oft, ein Volk hätte den Herrscher, den es verdient – das ließe sich doch auch auf die Beamten übertragen. Was denken sie darüber?
Jedes Volk, auch das belarussische, verdient es, seine Regierung und seine Amtsträger frei zu wählen. Würde das Volk auch bei freien Wahlen weiterhin Populisten und inkompetente Leute wählen, könnte man vermutlich sagen, es habe sich dafür entschieden und dementsprechend seine Wahl verdient. Aber es ist nun mal so, dass das belarussische Volk schon lange keine Wahl mehr hatte.
In den 1990er Jahren entsprach das Wertesystem der Regierung den durchschnittlichen Forderungen der Belarussen, deswegen konnte sich Lukaschenko mit seinen Werten bei fairen Wahlen durchsetzen. Aber das belarussische Volk ist gewachsen, es hat ein Generationswechsel und eine Werterevolution im Bewusstsein der Belarussen stattgefunden, wie einige Umfragen belegen. Die Ansichten der Belarussen über Marktwirtschaft, Toleranz und Meinungsfreiheit haben sich geändert. Das Volk ist gewachsen, während sich die Regierung zurückentwickelt hat.
Wann haben wir aufgehört, diese Regierung zu verdienen? Wann sind wir über sie hinausgewachsen? Diese Fragen zu beantworten ist unmöglich. Genau wie die Frage, wann ein Junge zu einem Mann wird. Das kann niemand sagen. Solche Prozesse haben nicht den einen Wendepunkt. Man kann ja auch nicht sagen, am Morgen vor dem Fall der Berliner Mauer hatten die Ostdeutschen die kommunistische Regierung noch verdient und am Tag darauf sind sie ein Volk gewesen, dass eine bessere Regierung verdient. So funktioniert das nicht.
Verdient Maria Kolesnikowa, die ihren Pass an der Grenze zerrissen hat, etwa unsere Regierung? Oder Dimitri Daschkewitsch, der für seine Überzeugungen insgesamt mehr Zeit im Gefängnis gesessen hat als die meisten unserer Abgeordneten an der Universität? Verdienen all die anderen politischen Gefangenen und Menschen, die bei friedlichen Protesten festgenommen wurden, etwa diesen Umgang? Ich denke, unser Volk verdient viel bessere Verwaltungsbeamte als die, die es gerade hat.
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Zitat #10: „Lukaschenko kapiert nicht, wie massiv er die Belarussen verprellt hat“