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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Hier sterben Menschen, und ich soll zu Hause sitzen?”

    „Hier sterben Menschen, und ich soll zu Hause sitzen?”

    Etwa 1500 Belarussen sollen im russischen Angriffskrieg auf Seiten der Ukraine kämpfen, 1000 beim Kalinouski-Regiment, das auch bei Bachmut im Einsatz ist. Viele Belarussen haben für das Nachbarland zu den Waffen gegriffen, weil sie die Ukrainer unterstützen wollen, auch weil sie das Schicksal von Belarus in den Händen des Kremls sehen und weil Machthaber Lukaschenko sich tief in den Krieg verstrickt hat.

    Einer von diesen Freiwilligen ist Sonja – so zumindest sein etwas seltsamer Kampfname, der übersetzt so viel wie Schlafmütze bedeutet. Er dient als stellvertretender Kommandeur einer Maschinengewehr-Einheit im Kalinouski-Regiment. Mit dem Kämpfer wider Willen, der vor dem Krieg im Kindergarten arbeitete und der in Belarus nie gedient hat, hat das belarussische Online-Medium Zerkalo ein langes Gespräch geführt: über seine Motivation, doch zur Waffe zu greifen, über die Kämpfe an der Front, über seine Pläne und darüber, was der Krieg mit einem macht.

    Das Interview beginnt eine halbe Stunde später als geplant: „Sonja“ hat verschlafen. Erst vor ein paar Tagen ist er von seinem zweiten Kampfeinsatz in Bachmut zurückgekehrt. Zwei Monate war er dort. Heute ist sein fünfter Urlaubstag. Sieben liegen noch vor ihm. 

    „Ich sag’s, wie es ist, ich bin eigentlich Hedonist und habe mit dem Militär überhaupt nichts am Hut. Diese ganzen Entbehrungen machen keinen Spaß, aber wenn’s drauf ankommt, dann verschlafe ich nicht“, erklärt er seine Verspätung eloquent. „Nur damit Sie verstehen: Bei unseren letzten Kampfeinsätzen mussten wir um drei Uhr nachts aufstehen, hatten eine Stunde zum Fertigmachen und waren im Morgengrauen in unseren Stellungen. Als der Kommandeur vor dem Urlaub zu mir sagte: ‚Kannst bis sechs im Bett bleiben‘, dachte ich: ‚Gott, endlich mal ausschlafen.‘ Was meinen Kampfnamen angeht, das nehme ich nicht so ernst. Die anderen Jungs suchen sich Namen wie Warjagow (Wikinger) oder Achilles, aber mir war das ziemlich egal. Beim ersten Frühsport im Trainingslager habe ich verschlafen, da sagten sie: ‚Du bist echt ne Schlafmütze [auf Russisch sonja – dek].‘ Da hatte ich meinen Kampfnamen.

    Wenn ich mich vorstelle, lachen die Ukrainer immer – zumal wir in einer Maschinengewehr-Einheit sind, an vorderster Front, wir kundschaften aus, greifen an, wehren Attacken ab – aber dann freunden wir uns an. Da geht’s nicht um den Kampfnamen, sondern darum, wie du kämpfst. Wenn du ein schlechter Kämpfer bist, kannst du dich noch so oft Wikinger nennen, das wird dir auch nicht helfen.”

    Sonja ist jung, groß wie ein Basketballspieler und hat ein Babyface. Er spricht Englisch, liest Bücher auf Deutsch und macht sich Sorgen, dass seine Frisur heute nicht sitzt. Von Beruf ist er Jurist, aber im Herzen Romantiker. Er hat in Belarus, Polen und Russland gelebt und als Gerichtsvollzieher, Kellner, Autowäscher, Tischler, Packer, Leiter eines Steinbruchs, Touristen-Guide, Chauffeur und Berater in einem Callcenter gearbeitet. Auf die Frage, warum er so oft den Arbeitsplatz gewechselt hat, sagt er, das sei „sein Charakter“, er habe lange nicht gewusst, wo er hingehöre.

    „Aber jetzt habe ich meinen Platz gefunden“, sagt er. „Das ist seltsam, weil ich mich über Armeeleute immer lustig gemacht habe. Ich hielt sie für hohl und hilflos. Aber ich habe das Gefühl, eine wichtige Arbeit zu machen: Ich rette Menschen, kämpfe für sie. Trotzdem bin ich wahrscheinlich kein echter Soldat. Ich bin im Krieg gelandet, das ist wohl etwas anderes als die normale Armee.“

    Sonja war nie bei der Armee, stattdessen hat er in einem Kindergarten gearbeitet. Er ist zufällig dort gelandet, als er eines Tages im Internet nach Jobs suchte – aber nicht nach Branchen, sondern nach Entfernung. Das nächste war der Kindergarten. Also rief er dort an.

    2022 hat Sonja Kindern und Erwachsenen Englisch beigebracht und wollte nicht weg aus Belarus. Sein Motto war: „Wenn alle gehen, bleibe ich.“ Aber als im Februar der Krieg begann, änderte er seine Meinung.

    „Im Schützengraben werde ich oft gefragt, warum ich jetzt in der Ukraine bin. Ich weiß nie, was ich darauf antworten soll. Na ja, warum wohl? Hier sterben Menschen, unter anderem auch durch unsere Schuld, und ich soll zu Hause sitzen?“, erklärt er. „Es gibt da diesen Film, Shutter Island. Leonardo Di Caprio spielt darin einen Feldmarschall, der den Verstand verliert. Am Ende sagt er diesen schönen Satz: ‚Was ist besser – als Monster zu leben oder als Mensch zu sterben?‘ Ich habe meine Wahl getroffen. Gleich am 24. Februar. An dem Abend sagte ich zu meinen Eltern, dass ich fahren werde. Wie sie reagiert haben? Wie sollen normale Eltern schon darauf reagieren? Meine Mutter wurde hysterisch, mein Vater sagte: ‚Bist du blöd? Denk doch mal nach!‘ Aber sie wussten, dass sie mich nicht aufhalten können. Ich bin stur wie ein Bock. Doch weil mein Vater krank wurde, musste ich die Abreise verschieben.“

    Ich sag‘s euch lieber gleich, ich hab noch nie gekämpft, kann sein, dass ich mir die Hosen vollmache

    Im Sommer 2022 verließ Sonja verließ Belarus. Bei der Einreise nach Polen wurde er festgehalten. Fünf Jahre zuvor war er dort in einen Autounfall geraten und hatte seine Strafe nicht bezahlt. Er sagt, er habe seinerzeit beim Gericht angerufen und sich erkundigt, dort habe es geheißen, der Fall sei erledigt. Sonja vermutet, dass nach Beginn des Krieges die Akten von Belarussen wieder hervorgeholt wurden, unter anderem auch seine. Im Endeffekt musste er ins Gefängnis und nach der Freilassung eine elektronische Fessel tragen. Als endlich alles geklärt war, war es schon Winter.

    Dann meldete er sich als Freiwilliger bei der ukrainischen Botschaft in Warschau, wollte in die ukrainische Armee eintreten. Sie lehnten ab, aber gaben ihm die Nummer des Kalinouski-Regiments. In der belarussischen Einheit nahm man ihn zwar auf, aber der Hindernislauf war damit nicht beendet: Kurz vor seiner Abfahrt bekam Sonja Windpocken. Zwei Wochen lang lag er mit Fieber im Bett. Erst dann ging es endlich in die Ukraine, zu den Übungen ins Trainingslager – und dann an die Front.

     Ein Rosenkranz am Rückspiegel eines ukrainischen Militärfahrzeugs / Ashley Chan/ZUMA Wire/imago images
    Ein Rosenkranz am Rückspiegel eines ukrainischen Militärfahrzeugs / Ashley Chan/ZUMA Wire/imago images

    „In meiner Familie wurde Sport groß geschrieben, ich musste immer ordentlich trainieren. Ich habe lange gepumpt, wollte den Mädels gefallen, und jetzt zahlt es sich endlich aus – am Maschinengewehr“, grinst Sonja, als er sich erinnert, wie er in seine Einheit kam. „Ich wusste schon im Trainingscamp, dass ich in die MG-Einheit will. Bei den Übungen stellte ich mich gut an. Und nach dem ersten Kampfeinsatz war es irgendwie von selbst klar, was ich machen werde. Es stellte sich obendrein heraus, dass ich mutig bin.“

    Woran haben Sie das gemerkt?

    „Erst wurde ich dem Bataillon Volat zugeteilt, aber als ich Senat kennenlernte (den stellvertretenden Kommandeur des Bataillon Litwin – Anm. d. Red.), habe ich mich ummelden lassen, damit ich unter seine Führung komme. Zum ersten Kampfeinsatz nahm er mich mit in die Oblast Charkiw. Bevor wir losfuhren, ging ich zu ihm und den anderen Jungs und hab gesagt: ‚Ich sag‘s euch lieber gleich, ich hab noch nie gekämpft, kann sein, dass ich mir die Hosen vollmache.‘ Ich dachte, es ist besser, wenn ich sage, dass ich ein Feigling bin. Wenn ich dann keiner sein sollte, umso besser, und wenn doch, dann hab´ ich sie wenigstens vorgewarnt. Ich wollte jedenfalls nicht den Macker spielen.

    Als wir ankamen und aus dem Auto stiegen, ging sofort der Beschuss los. Ein Panzer hatte uns im Visier. Wir liefen in irgendeinen Keller. Wir waren zu viert: ich, Senat und noch zwei andere großartige Männer – Weras und Helm. Sie hatten alle Erfahrung, nur ich war ganz neu. Und plötzlich, mitten in diesem Beschuss, wurde mir klar, dass ich keine Angst habe. In diesem Keller saßen wir vier Tage. Nachts gingen wir ins Feld, gruben Schützengräben und deckten Helm, damit er als Scharfschütze ein paar von denen umnieten konnte. Nach den vier Tagen sagte Senat: ‚Du bleibst hier vorne, du hast keine Angst.‘ Wie er das gemerkt hat? Weil ich eingeschlafen bin. Ganz in der Nähe schossen Panzer und die Artillerie, der Putz rieselte von der Decke, und ich sagte: ‚Hört mal, wir sitzen hier noch ne Weile, ich werd mal ne Runde pennen.‘ Ich zog die Weste aus, den Helm, kroch in den Schlafsack und war weg. Senat hat danach gesagt: ‚Ich hab noch nie jemanden gesehen, der so wenig Angst hatte.‘ Und ich: ‚Vielleicht hast du noch nie jemanden gesehen, der so dumm ist. Das geht meist Hand in Hand.‘“

    Außerdem müssen Sie ziemlich stark sein. Wie viel wiegt so ein Maschinengewehr?

    „Ich habe ein Minimi 5,56, das wiegt zwölf Kilo, und ein CZ-Gewehr. Aber das Maschinengewehr kommt selbst für einen Kämpfer mit meiner Spezialisierung erst an zehnter Stelle. Spaten, Schlafsack, Besteck, mit dem du dein Dosenfleisch löffelst, und Wasser – das sind deine Hauptwaffen. Geballer kommt selbst auf dem Schlachtfeld gar nicht so oft vor, und wenn, dann nicht gezielt. Meistens kommt es aus Panzern, Minenwerfern und Flugzeugen, und wenn du dich retten willst, musst du dich schnell und tief eingraben können. Einmal gaben wir buchstäblich 200 Meter von den feindlichen Positionen entfernt den ukrainischen Artilleristen die Koordinaten durch. Sie zielten und schossen daneben, direkt auf uns. Ich hatte buchstäblich 30 Sekunden zwischen zwei Einschlägen, um mir ein Loch zu buddeln und wie ein Strauß meinen Kopf reinzustecken. Wenn dich ein Geschoss am Arsch oder am Bein erwischt, ist es halb so wild. Aber wenn’s dein Kopf ist, bist du tot.

    Ich bin ein religiöser Mensch und glaube an Schicksal, deshalb seh’ ich die Beschüsse gelassen. Ich vertraue darauf, dass es mich nicht erwischt, weil ich meine Mission noch nicht erfüllt habe.“

    Welche ist das?

    „Dieses Land zu verteidigen und zu meiner Familie zurückzukehren, zu meinem Haus, das ich selbst gebaut habe, meinem Garten, den ich selbst angelegt habe.“

    Nach seinem ersten Kampfeinsatz kehrte Sonja für drei Tage zurück nach Kyjiw, um sich zum Rettungsassistenten ausbilden zu lassen. Da erfuhr er, dass seine Kampfgenossen bei Bachmut sind, und bat seine Kommandantur, ihn auch dorthin zu schicken. Sie sagten: „Warte, bis wir ein Auto gefunden haben.“ Lange warten musste er nicht.

    „Da waren unsere Kämpfer, die brauchten Hilfe, da mussten wir hin“, erklärt er seine Entscheidung, von heute auf morgen an einen der gefährlichsten Hotspots dieses Kriegs zu fahren. „Was, Sorgen? So was hatte ich gar nicht. Nach Charkiw wusste ich ganz genau, was ich kann, ich wollte geradezu in die Schlacht. Einer meiner Kameraden wurde kürzlich verletzt. Das Auto, in dem er saß, wurde aus einem Granatwerfer beschossen. Es hat ihm das Trommelfell zerrissen. Seitdem redet er jeden Tag nur noch davon, wann sein Urlaub endlich vorbei ist und er wieder in den Krieg ziehen kann.“

    Ist das schon eine Art Abhängigkeit? Hängt man nach Bachmut quasi „an der Nadel“?

    „Ich gebe zu, das hat was von Abhängigkeit. Wenn man mal in einer richtigen Schlacht war, mittendrin, dann kommt einem alles andere fade vor. Das normale Leben wird langweilig. Aber die Hauptmotivation ist nicht die Abhängigkeit, sondern die Pflicht. Du siehst Menschen, die für dich Risiken eingehen, und kannst sie nicht einfach im Stich lassen.”

    Sie haben gesagt, Sie haben an vorderster Front gekämpft. Wie ist das so?

    „Während der Einsätze arbeitet man schichtweise: vier Tage im Schützengraben, dann genauso lange auf dem Stützpunkt [an einem anderen Ort], wo wir ordentlich essen und uns ausschlafen. An der Front kämpfen wir auf den Wiesen und in den Wäldern rund um Bachmut, ganz nah an den *** [den Russen – Anm. d. Ü]. Wenn wir mit schweren Maschinengewehren schießen, dann bauen wir sie normalerweise auf einem Hügel oder einem befestigten Bunker auf und halten vier Tage die Stellung. Außerdem können wir Drohnen steigen lassen und Ziele erwischen, die hinter den Hügeln in mehreren Kilometern Entfernung liegen. 

    Meistens sind sechs bis acht Mann in Stellung. Zwei haben Dienst (sehen bei Tageslicht durch die Fernrohre, bei Nacht in die Nachtsichtgeräte), die anderen ruhen. Die Dienste wechseln alle zwei, drei Stunden, weil dann die Konzentration abnimmt. Aber das sind Normen, die nur auf dem Papier existieren, in der Praxis zieht man manchmal auch sechs oder acht Stunden durch.   

    Ah, und man muss wissen, ich habe eine Eigenart. Sagen wir mal so, ich bin ein bisschen crazy. Ich kann nicht stillsitzen, weil, wie mein Vater immer sagte, der Wolf beißt in die Beine. Wenn wir auf den Posten kommen, dann nehm ich immer einen Batzen Zigaretten mit, gehe zu den ukrainischen Partnern, stelle mich vor, informiere mich über die Lage an der Front und mache mich nützlich, wo ich kann: Die einen brauchen Infos, die anderen Hilfe beim Angriff. Einen Maschinengewehrschützen kann man immer gebrauchen. Und ich hab einen Kurs zum Rettungssanitäter gemacht. Dieses Wissen hab’ ich allerdings nur einmal angewendet, konnte den Mann aber nicht retten. Gross hieß er, war ein Ukrainer. Wurde von einem Hubschrauber aus beschossen und die Lunge getroffen. Ich war in dem Moment ganz in der Nähe. Die Ukrainer hatten keine Evakuierung vorbereitet, also trug ich ihn zusammen mit einem Kameraden eineinhalb Kilometer von der Front weg. Er starb in unseren Armen. Seine Verletzungen waren schwer, es ist uns nicht gelungen, ihn zu stabilisieren. Als wir ihn den Ärzten übergaben, bedankten sie sich, aber ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Das war der schlimmste Moment meines Lebens. Gross hat eine Frau und eine kleine Tochter hinterlassen.”

    Was haben Sie dann den Rest des Tages gemacht? Geweint?

    „Gar nichts. Hab dagesessen, geraucht, geweint.”

    Weinen Männer im Krieg oft?

    „Natürlich, wir sind ja Menschen und nicht aus Stein.”

    In seiner Zeit in Bachmut hat Sonja fünf Kilo abgenommen. Im Unterschied zu seinem Kurzurlaub nach dem ersten Kampfeinsatz hat er diesmal „bei Senat ganze zwölf Tage herausgeschlagen“. Weil er weiß: sein Organismus braucht Erholung. 

    „Der Großteil des Lebens im Schützengraben sind nicht Angriff und Verteidigung, sondern reines Überleben. Suche nach Essbarem, nach Wärme, nach Möglichkeiten, zu Hause anzurufen oder Tee zu kochen. Das ist alles nicht so schön wie in den Videos, in denen irgendwelche Typen mit MGs auf Sturm gehen und alle niederknallen. Nein. Das ist Dreck, Schmerz, Kälte und Mäuse. Letztere sind unsere größte Plage. Die laufen nachts, wenn man schläft, einfach über einen drüber. Über den Bauch, übers Gesicht. Wir haben versucht, sie zu bekämpfen, aber wenn eine tot ist, kommen drei andere. Das ist Sisyphos-Arbeit. Sie werden von Tag zu Tag größer und fressen unser ganzes Proviant auf, das wir jetzt in Metall- oder Holzkisten aufbewahren müssen. Alles, was in Rucksäcken oder Plastiktaschen ist, erwischen sie, auch wenn das Zeug aufgehängt ist. Einmal hat mich ne Maus sogar vollngekackt, krass, oder? Wer macht denn so was?”

    Vergeht die Zeit im Kampf in einem anderen Tempo?

    „Es ist alles durcheinander, weil man nicht regelmäßig isst und schläft. Man hat zum Beispiel drei Stunden lang Dienst, dann hat man genauso lang Pause. In diesen drei Stunden muss man es schaffen, zum Bunker zu gehen, zu essen und zu schlafen. Bis man eingeschlafen ist, bleibt nur noch eine Stunde. Bestenfalls, wenn man nicht von einem Geschoss geweckt wird. Dann muss man erst wieder einschlafen. So geht das vier Tage lang. Das Problem ist nicht, dass man nicht schläft, sondern dass man nicht am Stück schläft. Können Sie sich vorstellen, was mit dem Organismus passiert? Dazu kommt noch die unregelmäßige Ernährung und tonnenweise Zigaretten. Am Ende eines solchen viertägigen Einsatzes steht man schon ziemlich neben den Schuhen.

    Ich kann es nicht leiden, wenn jemand sagt, die Russen seien miese Kämpfer. Sie sind echte Profis

    Um es an der Front halbwegs auszuhalten, versuchen wir, viel zu lachen. Ein Schuss, alle gehen in Deckung, und einer schreit: „Wer hat mir in die Hosen gep…?“ Ohne Humor geht es gar nicht. Wenn du glaubst, du musst das alles bierernst nehmen, drehst du schon nach ein paar Stunden durch.” 

    Sie kamen im April nach Bachmut, da war es noch recht kalt. Wie ist es denn, unter solchen Bedingungen im Schützengraben oder im Bunker zu sitzen, vor allem nachts?

    „Du schläfst in Thermowäsche und komplett angezogen. Über der Kleidung ziehst du die Schutzweste an, und so schlüpfst du in deinen Schlafsack. Nur dass Sie es wissen: Auch jetzt sind die Nächte kalt. Bei meinem letzten Einsatz hatten wir Ukrainer dabei. Deren Kommandeur hatte einen lustigen Kampfnamen: Tomate. Also, Sonja ist noch nicht das Schlimmste. Wobei Tomate ein zwei Meter großer, hartgesottener Frontkämpfer mit grimmiger Miene ist. Ich meinte noch zum Spaß, komm, lass mal klotzen statt kleckern, nennen wir dich gleich Señor Pomidor. Na, und der hatte keinen Schlafsack, also hab ich mich in der Nacht mit ihm in meinen gekuschelt. Blöde Kommentare über Schwule kann man sich sparen. Man muss sich eben irgendwie wärmen, sonst erfriert man.”   

    Wie würden Sie die Russen als Gegner beschreiben?

    „Die Russen sind gut. Ich kann es nicht leiden, wenn jemand sagt, die Russen seien miese Kämpfer. Sie sind echte Profis. Am Anfang vielleicht nicht so, aber jetzt haben sie den Dreh raus. Wenn ich gefragt werde, wieso wir sie nicht plattmachen, dann sage ich: ,Komm doch selber und mach sie platt.‘  

    Während meines Einsatzes sind wir in einem Monat zwei Kilometer vorangekommen. Rechnen Sie sich mal aus, wie lang wir da bis zur Krim brauchen? Hören sie nicht auf diese ***, die behaupten, dass die Russen nichts anderes können, als Kanonenfleisch zu verpulvern. Ich sehe es ja mit eigenen Augen: Sie können kämpfen, sie können mit Drohnen umgehen, und ihre Stellungen halten können sie auch. Genug Waffen und Munition haben sie auch, also hört auf, auf einen schnellen Sieg zu hoffen.” 

    Reden wir mal von etwas Positivem: Sie sind jetzt im Urlaub, wie ist es denn, nach zweieinhalb Monaten in Bachmut ein relativ friedliches Leben zu führen?

    „Am ersten Tag hab’ ich mich in der Parfümerie verirrt. Ich brauchte eine stoßfeste Hülle für mein Tablet. Und neben dem Haus, in dem ich für die paar Tage eine Wohnung gemietet habe, gibt es ein großes Einkaufszentrum. Eine Freundin und ich gingen rein, und da waren lauter Spiegel, alles glänzte – ich war komplett verloren. Ich wusste nicht mehr, wo ich war, hatte ja vor 20 Stunden gerade noch im Schützengraben gehockt. Ich laufe, so bilde ich mir ein, durch den Elektronikladen und finde nirgendwo eine Hülle. Irgendwann stupst mich meine Freundin an und fragt: ,Brauchst du irgendwas von hier?‘ – ,Was meinst du?‘, frage ich verwirrt, seh mich um und checke, dass ich zwischen Lippenstiften und Wimperntusche eine Tablethülle suche. Ich hab´ irgendeinen Spruch gerissen, und wir sind raus. Aber insgeheim dachte ich, wie sehr ich doch neben der Spur sein muss, wenn ich Parfümerie mit Elektronik verwechsle. Das macht mir schon Angst.”

    Was werden Sie nach dem Krieg als Erstes tun?

    „Wenn ich überlebe? Ich gehe zurück nach Belarus. Ich hab’ mir dort ein Haus gebaut, mit Grundstück und Garten. Ich pflanze noch ein paar Bäume und hisse eine Flagge, nein zwei – eine belarussische und eine ukrainische. Das steht mir zu, ich hab´ ja gekämpft. Und dort lebe ich dann. Ich möchte Jäger werden, die Tiere schützen, das hat mir mein Vater beigebracht. Und mir eine Frau suchen, eine junge, hübsche. Wissen Sie, eine, wo sich die anderen Männer umdrehen, wenn ich mit ihr die Straße langgehe. Und Kinder will ich haben. Das sind natürlich lauter Fantasien, aber träumen schadet ja nicht?”

    Wieder im Kindergarten arbeiten wollen Sie nicht?

    „Vielleicht auch das.”

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    Um 19:07 Uhr am 24. Juni vermeldete der Pressedienst Alexander Lukaschenkos, dass Putin ihn am Morgen über die Situation im Süden Russlands telefonisch informiert und dass man „gemeinsame Handlungsschritte“ vereinbart habe. Im Anschluss soll Lukaschenko in Absprache mit Putin Gespräche mit Jewgeni Prigoshin, dem Chef der Wagner-Gruppe, geführt haben. „Die Verhandlungen dauerten den ganzen Tag über an.“

    Rund drei Stunden später äußerte sich auch der Kreml-Sprecher: Lukaschenkos Vermittlungsbemühungen, so Dimitri Peskow, dienten dazu, ein Blutvergießen zu vermeiden. Es sei sein „persönlicher Initiativvorschlag“ mit Prigoshin zu verhandeln, der belarussische Machthaber kenne den Wagner-Chef seit über 20 Jahren. Obwohl Putin den Wagner-Chef noch am morgen der Meuterei eines „Stichs in den Rücken“ Russlands bezichtigt hatte, sollte Prigoshin nun laut Peskow Amnestie erhalten und „nach Weißrussland gehen”. Bislang gibt es jedoch keinen Hinweis darauf, dass der Wagner-Chef tatsächlich dort angekommen ist. 

    Die belarussischen Propaganda-Organe preisten Lukaschenko gemeinsam mit den russischen jedenfalls als Retter, weniger begeistert zeigte sich dagegen die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja: „Die Ankunft des Kriegsverbrechers Prigoshin in Belarus ist ein weiteres Element der Instabilität. Wir dürfen nicht vergessen, wie Lukaschenko vor den Wahlen 2020 33 Wagner-Söldner festnehmen ließ. Belarus braucht nicht noch mehr Kriminelle und Banditen, sondern Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit für unser Volk.“ Sie betonte, dass Lukaschenko Belarus wieder einmal zur „Geisel der Spiele und Kriege anderer Leute" gemacht habe.

    Auch nicht wenige westliche Medien werten Lukaschenkos mutmaßliche Vermittlerrolle als „Gewinner-Coup“, mit dem er seine Position gestärkt habe. Dennoch bleibt die Frage: Inwieweit war der belarussische Machthaber tatsächlich an den Verhandlungen mit Prigoshin beteiligt? In einer Recherche von Meduza, die sich auf Quellen im Umfeld des Kreml stützt, wird Lukaschenkos Einbeziehung in die Vermittlergruppe damit erklärt, dass Prigoshin Verhandlungen mit „ranghöchsten Entscheidern“ gefordert habe, Putin selbst aber ein direktes Gespräch mit ihm abgelehnt habe. Wie entscheidend Lukaschenkos Beitrag war, bleibt also nebulös und fragwürdig.


    Der belarussische Politanalyst Alexander Klaskowski vermutet: „Tatsächlich ist es möglich, dass der Kreml auch bei dieser Verschwörung einfach den belarussischen Vasallen eingesetzt hat.“ Auch Artyom Shraibman meint in seiner kurzen Analyse für das belarussische Online-Medium Zerkalo, dass man den tatsächlichen Beitrag Lukaschenkos nicht überbewerten sollte. Zudem analysiert er die möglichen Auswirkungen für Belarus und Russland selbst.

    Erstens: Die Pressedienste von Lukaschenko und Putin sprechen von einer unglaublichen Rolle des belarussischen Politikers bei der Rettung Russlands vor dem Chaos. Diese Dienste sind allerdings nicht die zuverlässigsten Informationsquellen für diesen Krieg.

    Tatsächlich war Lukaschenkos Rolle wohl eher technisch: Er erfüllte seine Aufgaben, diente den Vereinbarungen der Vermittler, die für beide Seiten des Konflikts von größerem Gewicht sind – und die der Kreml nicht in das Licht der Öffentlichkeit rücken will. Im russisch[sprachig]en Telegram sprechen viele von einer Vermittlung durch Putins Getreuen – Ex-Leibwächter und heute Gouverneur der Oblast Tula, Alexej Djumin.

    Zweitens: „Prigoshin geht nach Weißrussland“ bedeutet nicht, dass Prigoshin in Belarus bleiben wird. Was soll er da auch?

    Wenn in unserer Santa Barbara-Version des Letzten Tages nicht doch noch eine überraschende Wendung eintritt, wird er dort erstmal ankommen, durchatmen – und dann wird er schon seine Lücken finden und sich wieder auf den Weg machen. 

    Drittens: Da Lukaschenko bei den Regime-loyalen Belarussen jetzt mehr Unterstützung hat und auf die Dankbarkeit Moskaus für seine (doch nicht ganz unbedeutenden) Dienste zählen kann, geht er aus der Sache als Gewinner hervor. Zumindest in naher Zukunft.

    Viertens: In etwas weiterer Zukunft wird das belarussische Schicksal von der Entwicklung des russischen Regimes abhängen, das heute den schwersten politischen Schlag seit Jahrzehnten erlitten hat, weil er das Ausmaß seiner Zerbrechlichkeit, seiner inneren Konflikte und seines Chaos offenbart hat.

    Dabei wissen wir noch gar nicht, wie diese Krise enden wird, welche Zugeständnisse Putin unter dem Druck des Wagner-Marsches noch machen wird, wie sich dies auf die Haltung anderer Teile des Systems ihm gegenüber und auf die Moral der russischen Armee wie auch aller anderen bewaffneten Russen auswirken wird.

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    Wenn Lukaschenko plötzlich stirbt

    Auf den Fotos von der Parade am Tag des Sieges in Moskau, an der Alexander Lukaschenko traditionell teilnimmt, konnte man sehen, dass es dem belarussischen Machthaber nicht gut ging. Tatsächlich fehlte er dann zum Festessen, zu dem Putin geladen hatte. In Minsk überließ er seinem Verteidigungsminister Viktor Chrenin das Reden bei den dortigen Feierlichkeiten, danach war von ihm ein paar Tage nichts mehr zu hören. Ungewöhnlich für den Diktator, der seit 1994 nahezu omnipräsent in den staatlichen Medien zu sein scheint. Schnell machten Spekulationen die Runde, Lukaschenko könnte ernsthaft erkrankt sein. Schließlich tauchte er wieder auf, noch sichtlich angeschlagen, aber lebendig. 

    Was aber würde passieren, wenn Lukaschenko tatsächlich plötzlich stirbt? Welche Dynamiken würden sich in Gang setzen – in der Machtelite, in der Opposition, auf der Seite von Russland? In seiner Video-Kolumne Shraibman antwortet für das belarussische Medium Zerkalo sucht der Politikanalyst Artyom Shraibman Antworten auf diese drängenden Fragen.

    Auf den Fotos von der Parade am Tag des Sieges in Moskau, kann man sehen, dass es Alexander Lukaschenko nicht gut ging / Foto © Gavriil Grigorov/ITAR-TASS/imago images
    Auf den Fotos von der Parade am Tag des Sieges in Moskau, kann man sehen, dass es Alexander Lukaschenko nicht gut ging / Foto © Gavriil Grigorov/ITAR-TASS/imago images

    Alexander Lukaschenko ist nicht mehr der Jüngste, und wir sehen, dass seine Gesundheit nachlässt. Das schränkt bereits seine Arbeitsfähigkeit ein. Vor Kurzem war er für fünfeinhalb Tage von der Bildfläche verschwunden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sein Gesundheitszustand mit der Zeit wie der der Generalsekretäre der KPdSU zu Beginn der 1980er Jahre sein wird. Welche politischen Perspektiven eröffnen sich für die herrschende Regierung und die demokratischen Kräfte im Fall einer dauerhaften Einschränkung von Lukaschenkos Arbeitsfähigkeit? 

    Zunächst ein kleiner lyrischer, oder besser gesagt theoretischer Exkurs: Autoritäre Regime unterscheiden sich voneinander nicht nur im Ausmaß der Brutalität und Repressionen, sondern auch darin, ob sie sich auf eine Führerpersönlichkeit oder auf kollektive Institutionen stützen. Das belarussische Regime kann man mit Fug und Recht als eines der personalistischsten in ganz Eurasien bezeichnen. Lukaschenko hat während seiner gesamten politischen Karriere Institutionen abgelehnt, sie bekämpft und versucht, eine direkte Verbindung zwischen sich und dem Volk aufzubauen. Regime, die auf eine Person konzentriert sind, sind im Durchschnitt besser vor Komplotten oder Spaltungsversuchen der Eliten geschützt. Wenn diese Eliten unzufrieden mit dem Führer sind, haben sie nicht einmal einen Ort, an dem sie sich physisch treffen und diskutieren können, was zu tun ist. Selbst in Italien unter Mussolini gab es den Großen Faschistischen Rat, der ihn schließlich aus seinem Führeramt absetzen konnte. In der Sowjetunion gab es die Kommunistische Partei und Organe, in denen regelmäßig Umstürze heranreiften, wenn die Nomenklatura unzufrieden mit dem Generalsekretär war. 

    Im heutigen Belarus gibt es nichts dergleichen. Das ist in gewisser Weise der Faktor, der das Regime aufrechterhält. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem Lukaschenko selbst entscheidet abzutreten oder dies aus biologischen Gründen spontan tut. Und er hat bereits damit begonnen, Prototypen zukünftiger kollektiver Institutionen zu schaffen, zum Beispiel die Regierungspartei oder die Allbelarussische Volksversammlung. Allerdings sind das bislang nur Keime, oder überhaupt nur Pläne. Sollte diese Situation im Fall eines spontanen Abtritts Lukaschenkos noch dieselbe sein, dann wird aus der Stärke des Regimes mit einem Mal seine Achillesferse, denn sobald in einem personalistischen System die einzige Person geht, die die Machtspitze hält, also der autoritäre Führer, und er bis dahin nicht geschafft hat, einen Nachfolger zu ernennen, versinkt der Apparat der Staatsbeamten im Chaos. Sie haben keine Ahnung, wie es weitergehen soll. In Belarus sind diese Leute nicht gewohnt, politisch selbständig zu handeln, sie führen Anweisungen aus. Sie haben keine Erfahrung mit der Bildung von Allianzen und damit, untereinander Dinge auszuhandeln. Für sie ist es das Wichtigste, Einfluss auf Lukaschenko zu nehmen. 

    Ja, sie können Intrigen spinnen, um den Einfluss anderer Personen auf ihn zu schwächen, doch das ist eine Politik, die nur darauf ausgerichtet ist, die Hauptperson im System zu überzeugen, nicht darauf, eigenständig Entscheidungen zu treffen und Kompromisse zu finden. 

    Für Moskau ist Lukaschenkos Abgang nicht nur ein Risiko, sondern auch eine Möglichkeit

    Dies also die lange Herleitung zur Antwort auf unsere Frage. Im Fall, dass Lukaschenko plötzlich stirbt oder durch eine ernste Erkrankung das Land nicht mehr führen kann, eröffnet sich vor allen Akteuren ein riesiges Fenster von Möglichkeiten. Einen belastbaren Plan für einen Machttransfer gibt es nicht. Selbst in Russland ist das anders – hier hat es in den vergangenen Jahrzehnten, ob real oder nur nominell, Präsidentenwechsel gegeben. Also wird es von entscheidender Bedeutung sein, wer zuerst die Initiative ergreift und Bedenken gegenüber seiner Macht wirksam ausräumt, denn in diesem Fall wird ein Großteil der Nomenklatura erleichtert aufatmen, weil an Lukaschenkos Stelle ein neuer, klarer Führer auftaucht, auf den man sich einfach wie gewohnt einstellen kann. 

    An dieser Stelle ist eine Weggabelung, wo mehrere Szenarien denkbar sind. Der Akteur, der Initiative zeigt, könnte Russland sein, wenn es zu diesem Zeitpunkt Kraft und Interesse hat, sich mit dem Machttransfer in Belarus zu befassen, und in Minsk selbst völlige Ratlosigkeit herrscht. Für Moskau ist Lukaschenkos Abgang nicht nur ein Risiko, sondern auch eine Möglichkeit, den Einfluss auf den Nachfolger zu erhöhen, indem Moskau in der ersten Zeit wirtschaftliche und militärische Unterstützung leistet, bis er seine Macht konsolidiert hat. Dieser Einfluss kann später genutzt werden, um ihn zu Zugeständnissen zu bringen, auf die Lukaschenko sich zu Lebzeiten nie eingelassen hat. 

    Andererseits kann die Quelle für diese politische Initiative inländisch sein. Zum Beispiel könnten sich die belarussischen Silowiki untereinander erfolgreich auf einen Anführer aus ihren Reihen einigen, die zivile Bürokratie zerschlagen, den Kriegszustand ausrufen oder auf andere Weise vor einer möglichen inneren Destabilisierung warnen, und dann, schon aus einer Position relativer Stärke, Gespräche mit Moskau aufnehmen. 

    Eine dritte Option ist, dass sich die formelle Nachfolgerin Lukaschenkos – aktuell ist das der Verfassung nach Natalja Kotschanowa, die Vorsitzende des Rates der Republik – als machtliebender und cleverer erweist, als wir das von ihr erwarten, da wir sie nur als die rechte Hand betrachten, die Lukaschenko lobt und preist. 

    Theoretisch könnte sie schnell eine Koalition aus ihr loyalen Staatsbeamten zimmern, die mit ihrer Unterstützung unter Lukaschenko ernannt wurden. Dann kann Kotschanowa die gesamte Führung der Silowiki austauschen, denn der Verfassung nach wird sie die Befugnis dazu haben. Moskau kann sie zusichern, dass sie sich an alle roten Linien halten wird. Danach, wenn sich die Situation stabilisiert hat, wird sie nichts daran hindern, allein zur Wahl anzutreten oder die Wahl ganz abzusagen, wieder durch die Ausrufung irgendeines Kriegszustandes. Ähnlich ambitioniert können theoretisch auch andere hohe Staatsbeamte sein, zum Beispiel der Premierminister oder der Chef der Präsidialverwaltung Lukaschenkos. Doch die müssten irgendwie damit zurechtkommen, dass es laut Verfassung auf dem Weg zur Macht ein Hindernis für sie gibt – den Vorsitzenden des Rates der Republik. Heute ist das Natalja Kotschanowa. Um dieses Hindernis zu überwinden, braucht es Absprachen mit den Silowiki. 

    Anders gesagt, es gibt viele Möglichkeiten. Und über revolutionäre Szenarien und die Beteiligung der Opposition haben wir noch gar nicht gesprochen. Angesichts dieser Ungewissheit, können heute weder wir noch die potentiell Beteiligten voraussagen, wie sich die Ereignisse entwickeln werden. Und wenn wir ergänzen, dass wir nicht wissen, wie stark oder schwach Russland zu diesem Zeitpunkt sein wird, gibt es ohnehin kein unvorstellbares Szenario. 

    Haben die belarussischen demokratischen Kräfte irgendeinen Plan zur Machtübernahme im Land, falls sich die Situation in Belarus kardinal verändert, zum Beispiel durch den Tod Lukaschenkos? Haben sie eine Chance, diese Pläne erfolgreich umzusetzen?

    Die Frage nach dem Plan sollte man besser direkt an die demokratischen Kräfte richten. Swetlana Tichanowskaja hat gesagt, dass an verschiedenen Handlungsszenarien gearbeitet wird für den Fall, dass Lukaschenko stirbt. Alexander Asarow, der Vorsitzende von BYPOL, hat häufig betont, dass es für diesen Fall den Plan Peramoha gibt. Für unabhängige Beobachter wie mich sind das Katzen im Sack, weil wir nicht wissen, wie viele Menschen tatsächlich zur Verfügung stehen, die zum Zeitpunkt X mobilisiert werden können. Wir wissen auch nicht, wie weit dieser Plan bereits ausgearbeitet ist und was die Silowiki tun werden, um seine Umsetzung im Vorhinein zu verhindern. Für eine Erfolgschance der demokratischen Kräfte in einer solchen Situation müssten vier Bedingungen gleichzeitig eintreffen.  

    Erstens, sie müssen geeint sein und entschlossener handeln als 2020. Sie müssen von sich aus die Initiative ergreifen und nicht abwarten, wohin ein spontaner Ausbruch an politischer Energie in der Masse das Land treibt. Zweitens, die Machtvertikale, vor allem die Silowiki, müssen zerstreut oder paralysiert sein. Das kann durch eine Zerstörung der Unterordnung geschehen, durch eine Spaltung der Eliten oder einfach Passivität, wenn die Angst vorherrscht, Verantwortung zu übernehmen, wenn die andere Seite gewinnt. Drittens ist es notwendig, dass Russland sich in die Situation nicht einmischt, entweder aufgrund eigener Probleme oder, dass Russland es gar nicht schafft, wenn sich die Ereignisse in Belarus so rasant entwickeln, einzugreifen. Viertens wird es nicht ohne eine Mobilisierung der Massen gelingen. Wenn die Menschen nicht bereit sind, auf die Straße zu gehen, zu protestieren und zu streiken, endet jede Entschlossenheit der Opposition beim Sturm eines Grenzübergangs oder in sehr emotionalen YouTube-Filmchen. 

    Schauen wir also, was davon realistisch ist, falls Lukaschenko plötzlich sterben sollte. Einheit und Entschlossenheit der Opposition – die ist vorhanden. Historische Umbruchsituationen lassen alten Streit und Beleidigungen schnell in Vergessenheit geraten und diejenigen bedeutungslos werden, die weiterhin schimpfen, anstatt an der gemeinsamen Sache zu arbeiten. Irrungen und Wirrungen auf der Machtebene – sind nicht garantiert, aber durchaus möglich. Wir wissen nicht, wie die Elite auf einen solchen Schock reagiert, da es so etwas in der Geschichte von Belarus bislang nicht gegeben hat. Aber es ist nicht auszuschließen, dass das Land für eine gewisse Zeit die Regierbarkeit einbüßt. Problematisch ist es allerdings mit der Zurückhaltung Russlands. 

    Die demokratischen Kräfte stehen im besten Falle noch vor wenigstens zwei Barrieren auf dem Weg zum Erfolg

    Wenn Lukaschenko verschwindet und den demokratischen Kräfte tatsächlich etwas gelingt, kann ich mir keinen Grund vorstellen, warum der Kreml sich zurückhalten und einfach zuschauen sollte, wie in seinem wichtigsten militärischen Brückenkopf moskaufeindliche Kräfte die Macht übernehmen. Beschwörungsformeln vom „weisen Putin“ oder „unser Verhältnis wird dann sogar noch besser sein als unter Lukaschenko“ zu wiederholen, werden dann nichts mehr bringen. Daran hat auch damals niemand so recht geglaubt. Durch den Krieg gegen die Ukraine hat Russland eventuell nicht genügend Landstreitkräfte verfügbar, doch Einheiten der Nationalgarde würden vermutlich ausreichen. Bis 2020 hatten viele, darunter auch ich, Zweifel, dass Putin Lukaschenko seinen OMON zu Hilfe schicken würde, wenn der nicht zurechtkommt. Doch heute würde daran wohl niemand mehr zweifeln. 

    Dieselbe Skepsis ruft bei mir die Option einer massenhaften Mobilisierung zu Protesten hervor, angesichts des Zustands der Gesellschaft. Es sei denn, eine neue Regierung verkündet aus irgendeinem Grund eine Amnestie und weist die Silowiki selbst in die Schranken. Aber warum sie das tun sollte, weiß ich nicht. Somit stehen die demokratischen Kräfte selbst im besten Falle – Chaos im Regime und innere Einheit – noch vor wenigstens zwei ernstzunehmenden Barrieren auf dem Weg zum Erfolg. Deshalb hängt die Antwort auf unsere Frage völlig davon ab, wann die plötzliche Veränderung eintritt, wie es Russland zu diesem Zeitpunkt geht und wie es um das Protestpotential der Belarussen bestellt sein wird. 

    Wenn Russland nach dem Tod Lukaschenkos versucht, Belarus schnell zu schlucken und den konfusen Kräften in Minsk ein entsprechendes Ultimatum stellt, könnte der Westen das dann verhindern? Und würde er das überhaupt wollen?

    Die ehrliche Antwort lautet hier vermutlich: Nein. Der Westen verfügt schlicht nicht über die Ressourcen und Hebel, um eine solche Entwicklung zu verhindern. Auch wenn im Westen der unmissverständliche Wunsch herrscht, ein unabhängiges Belarus zu erhalten. Doch das bedeutet nicht, dass der Westen eine Okkupation von Belarus oder den Machttransfer an einen Nachfolger Lukaschenkos stillschweigend schlucken wird. Dessen Legitimität wird nicht größer sein als jetzt. Und das bedeutet, dass alle tiefgreifenden Entscheidungen, die den Interessen der belarussischen Gesellschaft klar zuwiderlaufen, vom Westen wohl nicht als rechtserheblicher Tatbestand anerkannt werden.  

    Aus formeller Sicht würde eine solche Übernahme des Landes als Okkupation betrachtet und eine neue Regierung Russlands auf unserem Territorium würde zumindest im Westen – aber vielleicht auch von anderen Staaten auf der Welt – nicht anerkannt. Und hier hängt viel davon ab, wie sich die neue Regierung und die unter Druck stehende belarussische Gesellschaft verhalten. Natürlich wird es innerhalb des Landes nicht genügend Ressourcen geben, um sich allein als belarussische Gesellschaft Russland entgegenzustellen. Doch die pure Existenz von öffentlichen Rücktritten, Protesten, Partisanenaktionen, anderen Widerstandsformen kann Einfluss darauf haben, wie weit sich die Nichtanerkennung dieser Einverleibung ausdehnen kann. 

    Auch die NATO wird für Belarus nicht in den Krieg eintreten

    Tichanowskajas Kabinett, die einzige halbwegs legitime Vertretung der Belarussen in der Welt, könnte in einer solchen Situation zur vollwertigen Exilregierung werden. Im Westen und selbst in der Ukraine würde die Anerkennung dieser Regierung keinerlei Aufwand bedeuten. Eher im Gegenteil, sie kann dem Kampf der Belarussen behilflich sein, ihnen Hoffnung geben, die Unabhängigkeit wiederzuerlangen. Eine ähnliche Rolle spielten die Exilregierungen Polens und Frankreich während der Besatzung ihrer Länder durch die Nationalsozialisten. Sie gaben den Menschen Kraft im Kampf und ermöglichten eine effektive Koordinierung der Aktivitäten vom Ausland aus. Was die Hebel und Druckmittel angeht, so wurden gegenüber Russland bereits beispiellos harte Sanktionen verhängt. Im Falle eines „Anschlusses“ von Belarus würden diese natürlich noch einmal verstärkt. Doch das würde den Kreml kaum zum Umdenken bewegen. Auch die NATO wird für Belarus nicht in den Krieg eintreten, da der Wunsch, einen dritten Weltkrieg zu verhindern, dort viel größer ist als die Sorge um die Souveränität eines Landes, das viele ohnehin seit Langem für einen Verbündeten Moskaus halten. Doch falls der Widerstand in Belarus umfassenden Charakter und vor allem bewaffnete Form annimmt, wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er als Komplex mit dem Widerstand in der Ukraine wahrgenommen würde. Und dies kann Möglichkeiten für die Unterstützung mit Waffen eröffnen. 

    Die belarussischen Partisanen werden wohl kaum Panzer oder Flugzeuge bekommen, aber eine Lieferung leichter Waffen oder Sprengmaterials ist durchaus vorstellbar. Alles hängt vom Umfang des Widerstandes ab und der klaren, einheitlichen Koordinierung dieses Kampfes durch ein Zentrum als Ansprechpartner. Ein solches Koordinierungszentrum kann durchaus aus den heutigen demokratischen Kräften hervorgehen und sogar einem sich dazu gesellenden Teil der Nomenklatura, der die Okkupation nicht unterstützt. 

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  • Unter dem Einfluss der russischen Welt

    Unter dem Einfluss der russischen Welt

    In seiner Amtszeit seit 1994 hat Alexander Lukaschenko mit dem Einfluss Russlands in Belarus geschickt gespielt, den Kreml auch teilweise immer wieder ausgespielt, wenn er zumindest zeitweise der EU entgegengekommen ist. Der russischen Führung ist es nie gelungen, eine wirkliche Kontrolle über den Machtapparat Lukaschenkos aufzubauen. Im Zuge der Niederschlagung der Proteste im Jahr 2020, der Radikalisierung des politischen Systems in Belarus oder der Rolle der belarussischen Führung im russischen Krieg gegen die Ukraine hat Russland potentielle außenpolitische Ausweichmanöver für den belarussischen Machthaber aber deutlich eingeschränkt. 

    Kann Russland diese Situation soweit nutzen, um seinen ideologischen Einfluss in Belarus zu stärken? Mit dieser zentralen Frage beschäftigt sich der belarussische Journalist Alexander Klaskowski in seiner Analyse für dekoder.

    Das russische private Militärunternehmen Wagner hat eine finstere Reputation. Es ist in einer Reihe von Staaten als verbrecherische oder terroristische Organisation eingestuft. Seine Söldner sind jetzt in der Ukraine am Werk. Der Vorschlaghammer ist zu einem Symbol der Abrechnung mit jenen geworden, die die Wagner-Leute für „Verräter“ halten.

    Diese spezifische Reliquie der Russki Mir wird nun – signiert von einem der Wagner-Männer – in einem belarussischen Museum als Exponat ausgestellt. Dabei empören sich nur jene Belarussen laut, die sich in der politischen Emigration befinden. Wer vor Ort ist, schweigt lieber. Es wird gemunkelt, dass Wladimir Gabrows Initiativen unter der Schirmherrschaft des belarussischen KGB stehen.

    Der ehemalige Angehörige der Fallschirmjäger steht jedenfalls in der Gunst der Regierung und taucht regelmäßig im Staatsfernsehen auf. Ende vergangenen Jahres überreichte Bildungsminister Andrej Iwanez ihm die Urkunde Für die aktive Beteiligung an der militärisch-patriotischen Erziehung der jungen Generation. Gabrow kann sich auch mit der Dankbarkeit von Alexander Lukaschenkos Präsidialadministration brüsten.

    Das Experiment einer „sanften Belarussifizierung“ ist gescheitert

    Dabei hatten sich glühende Verfechter der Russki Mir in Belarus vor wenigen Jahren noch längst nicht so wohl gefühlt. Lukaschenko hatte zwar dem Kreml die Treue geschworen, war aber auch auf der Hut geblieben. Er widersetzte sich nach Kräften dem Vormarsch der russischen Soft Power, die er zu Recht als Bedrohung für seine Herrschaft ansah.

    Unter anderem bemühten sich die belarussischen Behörden, die Märsche am Tag des Sieges, die Moskau im Rahmen des Unsterblichen Regiments im gesamten nahen Ausland initiierte, wenn nicht zu verbieten, so doch möglichst klein zu halten. So verweigerte die Minsker Stadtverwaltung einem Verein mit diesem Namen die Registrierung. Lukaschenko erklärte, dass es in Belarus seit langem schon die Aktion Belarus gedenkt gebe und die Russen die Idee „einfach geklaut“ hätten.

    Die Geheimdienste des Regimes erstickten im Keim Kosakeninitiativen, mit denen belarussische Jugendliche geködert werden sollten. Lukaschenko erklärte klipp und klar: „Das sind gar keine Kosaken. Es gibt Menschen, denen ist völlig egal, wie sie ihr Geld verdienen. Die werden von jemandem in Russland bezahlt. Wir sehen das …“ Ende 2017 verurteilte ein Gericht in Minsk drei belarussische Autoren der russischen Nachrichtenagentur Regnum zu fünf Jahren Freiheitsentzug auf Bewährung. Sie wurden der Volksverhetzung angeklagt, weil sie – so die Gutachter – in ihren Beiträgen die Souveränität von Belarus in Frage gestellt und beleidigende Aussagen über das belarussische Volk sowie dessen Geschichte, Sprache und Kultur gemacht hätten.

    Eine Weile liebäugelte Lukaschenko sogar mit einer „sanften Belarussifizierung“. Dabei bemühte er nationale Narrative, um ein Gegengewicht zum Druck aus dem Kreml zu bilden. Die Regierung ließ etwas mehr Freiheit für Kultur- und Bildungsinitiativen des nationalbewussten Teils der Gesellschaft. 2018 wurden im Zentrum von Minsk sogar eine Demonstration und ein Gedenkkonzert anlässlich des hundertsten Jahrestages der Belarussischen Volksrepublik genehmigt. Zehntausende versammelten sich mit den historischen weiß-rot-weißen Flaggen.

    Als dann aber 2020 gleich Hunderttausende mit diesen Flaggen auf die Straße gingen, um gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen zu protestieren, verstand Lukaschenko, dass er einen Geist aus der Flasche gelassen hatte. Er griff zu brutalen Repressionen, und die historische Flagge wurde zu einem Symbol des Faschismus erklärt. Bis heute werden Teilnehmer der friedlichen Demonstrationen ausfindig gemacht und hinter Gitter gebracht.

    Aktivistin Bondarewa gegen Socken, Lateinisches und Denkmäler 

    Dafür sahen einige Adepten der Russki Mir ihre Zeit als gekommen. Ein Beispiel hierfür ist die unermüdliche Aktivität von Olga Bondarewa aus Hrodna. Unabhängigen Medien zufolge ist Bondarewa in Polen wegen Zigarettenschmuggels vorbestraft. 2020 jedoch kamen ihre Hasstiraden gegen Protestierende der Regierung ganz gelegen.

    Nachdem Bondarewa ein „aufrührerisches“ Gemälde in einer Ausstellung von Ales Puschkin, einem dezidiert nationalbewussten Künstler, gemeldet hatte, wurde der Künstler angeklagt und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Bondarewa erreichte auch, dass von dem Gelände des Privatmuseums von Anatoli Bely in der Stadt Staryja Darohi die Skulpturen einer Reihe belarussischer historischer Persönlichkeiten entfernt wurden.

    Sie führte einen leidenschaftlichen Feldzug gegen Socken mit belarussischen Aufschriften; gegen nicht genehme Bücher; gegen Exkursionsleiter, die Belarussisch sprachen und deren Auslegung der belarussischen Geschichte, die angeblich von der offiziellen abwich; gegen einen Priester, der eine Andacht „für die Krieger und Verteidiger der Ukraine“ abgehalten hatte. Die rastlose Aktivistin machte auch vor der lateinischen Schrift nicht Halt, die unter anderem für das Belarussische verwendet wird und die sie als Instrument der Polonisierung anprangerte.

    Irgendwann ging die übereifrige Aktivistin selbst den Bürokraten und Propagandisten des Regimes auf die Nerven. Umso mehr, als sie begann, führende Repräsentanten und Mitarbeiter staatlicher Medien, die ihren Kriterien nicht genügten, grob zu beschimpfen. „Was geht in ihrem kranken Hirn vor?“, empörte sich über Bondarewas Ausfälle Swetlana Warjaniza, stellvertretende Vorsitzende der Gebietsorganisation Hrodna der regimetreuen Bewegung Belaja Rus.

    Nicht, dass die Funktionäre unbedingt gegen Bondarewa wären. Aber sie wollen wegen ihrer Aufrufe auch nicht von ihren Vorgesetzten eins auf die Mütze bekommen. Nach dem Motto: Warum habt ihr sie nicht im Auge gehabt? Warum habt ihr den Aufruhr zugelassen? Also haben wohl einige von ihnen damit begonnen, diese Aktivistin dezent in die Schranken zu weisen.

    Im Februar verweigerte die Miliz Bondarewa die Einleitung eines Strafverfahrens, nachdem sie angeblich in einem Telegram-Kanal beleidigt worden sei. Auch könnte ihr Rechtsstreit mit dem Parlamentsabgeordneten Igor Marsaljuk in einem Fiasko enden. Der hatte ihre Ausfälle nicht länger ertragen und sich an den Generalstaatsanwalt gewandt, damit dieser eine rechtliche Bewertung der Aktivitäten von „pseudopatriotischen Bloggern“ vornimmt.

    Auf der anderen Seite scheinen sich lokale Behörden wohl doch ein wenig vor Bondarewa zu fürchten und ihren „Signalen“ lieber Folge zu leisten. So wurde kürzlich bekannt, dass in der Ortschaft Selwa auf geheimnisvolle Weise das Denkmal der Dichterin Laryssa Henijusch verschwand, die unter Stalin zu 25 Jahren Gulag verurteilt worden war.

    Die Propaganda des Kreml hat zusätzliche Freiräume bekommen

    Allerdings gibt es in Belarus nur wenige Verfechter der Russki Mir, die so besessen sind wie Bondarewa. Man kann sich denken, dass diese Leute in den Augen der meisten Belarussen wie skurrile Freaks wirken. Der Soziologe Filipp Bikanow, der im vergangenen Jahr eine Studie zur nationalen Identität durchführte, stufte lediglich vier Prozent der Befragten als „Russifizierte“ ein. Zahlreiche weitere Studien haben bereits festgestellt, dass die Wenigsten für einen Beitritt von Belarus zu Russland sind. Die erklärten Anhänger der Russki Mir bilden in Belarus also keine kritische Masse. Ganz anders als 2014 auf der Krim und im Donbass.

    Bikanows Kategorisierung zufolge gibt es im Land jedoch nicht wenige „sowjetische“ Belarussen (nach seinen Berechnungen rund 29 Prozent), die ebenfalls für russische Propaganda empfänglich sein könnten. Und für die gibt es seit 2020 mehr Freiräume. 

    Lukaschenkos Medien wiederholen zahlreiche Narrative des Kreml. Unabhängige belarussische Medien werden systematisch als extremistisch eingestuft und aus dem Land vertrieben; wer sie innerhalb des Landes liest, wird bestraft. Die Miliz überprüft bei ihren Opfern, welche Telegram-Kanäle sie abonniert haben, um „Aufrührer“ aufzuspüren. Es ist jedenfalls sicherer, nur konforme Inhalte zu konsumieren. Umfragen zufolge gewinnen die kremltreuen und die staatlichen belarussischen Medien, die ihnen nach dem Mund reden, infolge durchaus an Einfluss.

    Der Führer schaufelt der Unabhängigkeit des Landes ein Grab

    Nach 2020 haben die Verfechter der Russischen Welt ihre Position auch im Verwaltungsapparat merklich gefestigt, sowohl in Lukaschenkos unmittelbarer Umgebung als auch – und insbesondere – in den Sicherheitsbehörden.

    Der ehemalige politische Gefangene Konstantin Wyssotschin erinnert sich an seinen Aufenthalt in der GUBOPiK, der Hauptverwaltung zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und Korruption, einer Abteilung des Innenministeriums, die sich zur politischen Polizei gemausert hat: „Was mich verblüffte: An allen Bürotüren hängen Flaggen mit dem Z, und in den Räumen hängen zwei Portraits – eins von Lukaschenko und eins von Putin.“ Das Z nutzen die russischen Militärs zur Markierung ihres Geräts beim Einmarsch in die Ukraine. Es wurde auch zu einem propagandistischen Symbol der Aggressoren.

    Viele belarussische Offiziere erhielten ihre Ausbildung in Russland und haben dort noch Freunde. Manch einer, so wird gemunkelt, ist neidisch auf die Bezahlung der russischen Offiziere und Generäle. Verteidigungsminister Viktor Chrenin bezeichnete Lukaschenko und Putin öffentlich als „unsere Präsidenten“. Es stellt sich also die Frage, auf welcher Seite die Befehlshaber der belarussischen Armee und anderer Sicherheitsstrukturen (und nicht nur dort) im kritischen Moment stehen werden, wenn ihre Hirne von der Propaganda des Kreml gewaschen sind und sie praktisch in imperialen Kategorien denken.

    Als prorussisch gelten unter anderem der stellvertretende Innenminister Nikolaj Karpenkow (der früher die erwähnte GUBOPiK leitete), Oleg Romanow, der Chef der vor kurzem gegründeten Partei Belaja Rus, der Staatssekretär des belarussischen Sicherheitsrates Alexander Wolfowitsch sowie die Vorsitzende des Rates der Republik Natalja Kotschanowa. Letztere genießt das uneingeschränkte Vertrauen Lukaschenkos, der ihr verantwortungsvolle und heikle Aufgaben überträgt. Sie gilt sogar als mögliche Nachfolgerin des alternden Führers.

    Zum orthodoxen Weihnachtsfest entzündete Lukaschenko eine Kerze in der Kirche des am Stadtrand von Minsk gelegenen St. Elisabeths-Klosters, das als Hochburg von Anhängern der Russki Mir bekannt ist. Unter anderem wurden hier Spenden(gelder) für die russischen Aggressoren gesammelt, was bei den Opponenten des Regimes für Empörung sorgte. Das Staatsoberhaupt nahm das Kloster jedoch in Schutz: „Ihr macht das richtig. Achtet nicht auf dieses Dutzend gekaufter Leute.“

    Dabei ist offensichtlich, dass Lukaschenko Bauchschmerzen hat, den Aggressor uneingeschränkt zu unterstützen, weil ihm dafür perspektivisch ein Platz auf der Anklagebank im Internationalen Gerichtshof droht. Aber was soll er tun? Die Zeiten, da der belarussische Herrscher, wenn ihn der Kreml zu sehr bedrängte, die Zähne fletschen und sogar Wirtschaftskriege führen konnte, sind vorbei.

    Der Wendepunkt war die gewaltsame Niederschlagung der Proteste 2020. Um sich im Sattel zu halten, bat Lukaschenko Putin um Hilfe. Der bot ihm die starke Schulter und erntete dafür Begeisterung von Lukaschenkos Gefolgsleuten und Silowiki. Doch dann forderte Putin für die Rettung des verbündeten Autokraten einen grausamen Preis: Moskau nutzte Belarus als Aufmarschgebiet für den Überfall auf die Ukraine, beschmutzte das Regime durch die Beteiligung an seinem Eroberungskrieg und will jetzt in Belarus taktische Atomwaffen stationieren, wodurch der Nachbar noch stärker an Russland gefesselt wird.

    Angesichts dieser höheren Gewalt wählte Lukaschenko den Weg der Zugeständnisse an den Kreml – Zugeständnisse an den Westen und die Opposition kamen für ihn grundsätzlich nicht in Frage.

    Der belarussische Herrscher hat sich selbst in eine Zwickmühle gebracht: Obwohl er sich der Gefahr einer schleichenden imperialen Expansion durch Russland sehr wohl bewusst war, ist er jetzt dazu gezwungen, der Russki Mir immer weiter die Tür zu öffnen, damit er sich selbst hier und jetzt an der Macht halten kann. Somit schaufeln nicht die „prorussischen Freaks“ der belarussischen Unabhängigkeit das Grab, sondern der Führer des Regimes selbst.

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    „Als wäre all das Entsetzliche und Absurde um mich herum gar nicht da“

    Wahlen unter tatsächlich fairen und freien Bedingungen – mit diesem Ziel ging das Bündnis um Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa im Sommer 2020 in den politischen Kampf gegen den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko. Zehntausende Belarussen waren bereits in der Zeit des Wahlkampfs zu den Kundgebungen des Dreigestirns gekommen. Was folgte, waren Proteste, Gewalt, Festnahmen und Repressionen, die bis heute andauern. Tichanowskaja und Zepkalo mussten ins Exil. Wie ihre Mitstreiterinnen war Kolesnikowa eigentlich keine Politikerin, sondern Musikerin und Projektmanagerin. Dann wurde sie im Zuge der Repressionen verschleppt, festgenommen und schließlich zu elf Jahren Haft verurteilt. Mittlerweile ist sie seit über 1000 Tagen in Haft.

    Das belarussische Online-Medium Zerkalo zeichnet sowohl ihren Lebensweg und ihren Sprung in die Politik detailliert und kenntnisreich nach, als auch die Bedingungen ihrer heutigen Haft. 

    Maria Kolesnikowa wurde 1982 in Minsk in eine Ingenieursfamilie geboren. Ihre Familie erzählt von ihrer glücklichen Kindheit: „In den 1980er Jahren gab es so viele Jolka-Feste mit den klassischen Figuren, mit Väterchen Frost und Schneeflöckchen, im Kindergarten, in der Schule, im Betrieb der Eltern, sodass die Festtagsstimmung und die Feierlaune ziemlich lange anhielten“, erinnert sich Marias Vater, Alexander Kolesnikow. „Ich weiß noch, wie Mascha einmal fragte: ‚Wie viele Väterchen Frost und Schneeflöckchen gibt es eigentlich auf der Welt?‘, weil sie bei jeder Feier anders aussahen. Sie war oft ganz aufgeputscht von den vielen bunten Eindrücken, der allgemeinen Euphorie und der Freude, Liebe und Herzlichkeit überall, und es war nicht einfach, sie zu beruhigen. In diesen Momenten war sie sehr aktiv, fröhlich und lustig. Mit einem Wort: glücklich. Wir alle waren glücklich!“

    Maria war die ältere von zwei Schwestern. „Mascha ist von Natur aus ein sehr guter, empathischer und kommunikativer Mensch“, erzählt ihre Schwester Tatsiana Khomich. „Sie bemüht sich immer, mit Menschen aus verschiedenen Bereichen in Kontakt zu kommen, weil sie daraus etwas Neues schöpfen, etwas lernen kann. Sie hat einen starken Gerechtigkeitssinn. Sobald sie eine Ungerechtigkeit wahrnimmt, spricht sie sie an, geht auf die Menschen zu. Ich weiß noch, wie sie in der Kindheit immer als große Schwester für mich eintrat, wenn mich jemand beleidigte. Sie war immer eine Anführerin. Menschen sind gern mit ihr zusammen, weil sie die Gabe besitzt, andere zu inspirieren.“

    Schon als Kind liebte die zukünftige Politikerin Musik. „Unsere Mutter vermittelte uns internationale Klassik, unser Vater die Klassiker der Rockmusik. Wir hörten Rachmaninows Konzerte genauso wie die Rock-Oper Jesus Christ Superstar. Von klein auf fügte sich das für uns wunderbar ineinander. Mit unserer Mutter reisten wir durch Europa und besuchten immer Opern, Konzerte, Museen und Ausstellungen“, erinnert sich Maria.  

    Nach dem Abschluss der 9. Klasse an der Schule Nr. 184 in Minsk begann Maria ihre Ausbildung am Minsker Glinka-Konservatorium, mit Spezialisierung auf Flöte. In einem Interview erzählte sie, dass sie in ihrem Jahrgang das einzige Mädchen neben 15 Jungs gewesen sei. „Ich hatte große Schwierigkeiten, mit den Jungs auszukommen, aber so habe ich gelernt, mit der Männerwelt zu kommunizieren. Damals war man der Ansicht, ein Mädchen müsse sich in diesem schwierigen Fach nicht allzu sehr anstrengen, da sie in drei Jahren ohnehin heiratet und Kinder bekommt. Eine professionelle Zukunft sah man nur für Männer. Das traf mich damals sehr schwer, ich war immer überzeugt, alles schlechter als ein Junge zu machen. […] Wir hatten das gleiche Recht auf Bildung, aber kein Recht auf gleiche Behandlung?“ 

    Das Projekt über die Freiheit

    Hartnäckig machte Kolesnikowa weiter. Nach dem Konservatorium begann sie ein Studium an der Musikhochschule und verdiente ihr Geld im Orchester der Oper, in einem Ensemble und im Orchester des Präsidenten. Nach dem Diplom durchlief sie zwei Jahre lang das Graduiertenprogramm der Musikakademie, um dann 2007, mit 25 Jahren, nach Deutschland zu gehen. An der Hochschule für Musik in Stuttgart begann sie ein Studium der Alten und Neuen Musik. 

    Die nächsten zwölf Jahre verbrachte sie im Westen und besuchte Belarus nur selten, entwickelte sich als Musikerin und Projektmanagerin weiter. „Ich stehe mit eigenen Projekten auf der Bühne, werde aber auch zu Auftritten mit anderen Projekten eingeladen“, erklärte sie vor den Wahlen 2020. „In Europa ist es üblich, dass du als Musikerin deine Ideen selbst verwirklichst. Von der Bühnenverkabelung bis zum Flyerdruck – ich kann alles, auch Stühle aufstellen, weil ich es oft genug selbst gemacht habe. Auch für finanzielle Fragen, wie die Förderung von Musikprojekten, konnte ich Lösungen finden. In Deutschland habe ich wirklich eine Schule in Management, Abrechnung und Organisation durchlaufen.“

    Im Jahr 2019 änderte sich alles. Kolesnikowas Mutter starb während einer geplanten Herzoperation in einem Minsker Krankenhaus. Ihr Tod veranlasste Maria zur Rückkehr. „Mir war bewusst, wie allein mein Vater nun war, der 38 Jahre lang mit meiner Mutter zusammengelebt hatte. Ich hatte das Bedürfnis, mehr Zeit als vorher mit meiner Familie zu verbringen. […] Wäre meine Mutter am Leben geblieben, hätte ich vielleicht nicht das gemacht, was ich heute tue, weil dann auch ihre Meinung eingeflossen wäre“, erklärte sie. Zufall oder nicht, noch im selben Jahr beteiligte sich Kolesnikowa an einem Projekt über Freiheit. „Ich spielte Bassflöte, auf einem Bildschirm liefen Filmaufnahmen vom Ploschtscha-2010. In den ersten Wochen im Wahlkampfteam musste ich oft an dieses Projekt denken“, erzählte Maria. 

    Bekanntschaft mit Babariko und Start im Wahlkampfteam

    In Belarus organisierte Kolesnikowa die Vortragsreihe Musiklektionen für Erwachsene, die sehr gut ankam und jeweils bis zu 120 Besucher anlockte. 2019 nahm sie am Projekt Orchester der Roboter teil, in dem Schüler lernten, Robotermusiker zu programmieren. Doch ihr wichtigstes „Baby“ war das OK16. 2017 hatte der bekannte belarussische Mäzen und Chef der Belgazprombank, Viktor Babariko, für drei Millionen Dollar die ehemaligen Werkshallen der Minsker Werkzeugmaschinenfabrik MZOR gekauft, wo noch im selben Jahr ein neuer Kulturstandort namens OK16 öffnete. Zu dieser Zeit kontaktierte Maria Kolesnikowa Babariko zum ersten Mal auf Facebook, im Jahr darauf lernten sie sich persönlich kennen. 

    „2018 organisierte ich ein großes Projekt und kam mit fünf deutschen Künstlern nach Minsk. Wir veranstalteten gemeinsam Performances, Bildungsprojekte und Diskussionen im OK16. Es war ein durchweg ehrenamtliches Projekt, einfach internationaler Austausch. Und dort lernten wir uns kennen“, erinnerte sie sich in einem Interview mit Tut.by.

    In der kurzen Zeit seines Bestehens wurde das OK16 zu einem zentralen Punkt auf der kulturellen Landkarte von Minsk. Kolesnikowa wurde künstlerische Leiterin und traf Babariko häufig bei Veranstaltungen. Sie besprachen auch gemeinsame Projekte, die im OK16 stattfanden: „Damals zeigte sich, dass unsere Wertvorstellungen sehr nah beieinander liegen. Als ich dann von seinem Vorhaben hörte, für das Präsidentenamt zu kandidieren, konnte ich das nur unterstützen.“ 

    Am 12. Mai 2020 machte Babariko seine Kandidatur öffentlich. Acht Tage später wurde seine Initiativgruppe registriert. „Eduard (Babarikos Sohn, Anm. der Zerkalo-Redaktion) und ich waren vom ersten Tag an dabei, dann kamen immer mehr Leute dazu“, berichtete Maria dem Portal Tut.by.

    Veronika Zepkalo, Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa am Tag, als ihr Bündnis bekannt gegeben wurde, dem 17. Juli 2020 / Foto © Tut.by

    Ein Herz wurde zu ihrem Symbol

    Iwan Krawzow zufolge, der ebenfalls Mitglied des Wahlkampfteams war, übernahm Kolesnikowa praktisch sofort die Führung: nicht formal, sondern einfach, weil sie sowohl unter ihren Mitstreitern als auch inmitten gänzlich unbekannter Menschen Autorität ausstrahlte. „Es ist eine Illusion, dass man aus einer beliebigen Person jemanden machen kann, den die Menschen lieben sollen. Autorität und Leadership sind keine einfachen Dinge, sie hängen von Charaktereigenschaften ab, von Handlungen, vom Umgang mit Menschen und auch von der Gesamtsituation, dem politischen Prozess, an dem sich jemand beteiligt. Mascha ist eine gute Managerin, sie kann mit Menschen arbeiten. Das war von Beginn der Wahlkampagne an sichtbar. Sie versteht es, den besten Zugang zu unterschiedlichen Charakteren zu finden. Sie hat Erfahrung als Projektleiterin, die sie in den letzten Jahren im Kulturbereich sammelte“, erzählt Krawzow. Er erinnert sich, dass Kolesnikowa im Juni 2020, als das Team immer größer wurde, schnell das professionelle Niveau der Neuzugänge einschätzen konnte und problemlos zuordnete, in welchem Bereich sich die Person am besten einbringen konnte. 

    Zum Symbol der Kampagne wurde ein Herz, das Kolesnikowa immer und überall, wo sie auftrat, mit ihren Fingern formte. Selbst im Gerichtssaal, bereits hinter Gittern. Das Symbol sei nicht ihre Idee gewesen, erzählte Maria Tut.by: „Das war Teamwork, eine große Anzahl von Menschen hat gemeinsam die Entscheidung getroffen, was es wird. Aber wir denken, dass dieses Zeichen die Mission von Viktor und seinen Anhängern sehr gut wiedergibt, nämlich gegenseitigen Respekt, Liebe, Selbstachtung. Das alles steckt in diesem Herz.“

    Parallel zu Kolesnikowas effektiver Arbeit erlebte die Gesellschaft einen ungekannten Aufbruch. Die Registrierung eines Präsidentschaftskandidaten erforderte 100.000 Unterschriften. Babarikos Stab reichte rund 365.000 Unterschriften ein, von denen die Verwaltung etwa 165.000 als gültig anerkannte. Das reichte für die Registrierung als Kandidat.

    Doch Babarikos Kandidatur wurde noch im Keim erstickt. Am 18. Juni wurden er und sein Sohn in der Strafsache „Belgazprombank“ festgenommen. Es war abzusehen, dass auch die Mitglieder seines Teams Repressionen zu befürchten hatten, doch Maria gab nicht klein bei. „Meine Kunst wäre keinen Heller wert, wenn ich sagen würde: ‚Ach, was soll’s, ist mir zu chaotisch bei euch, ich fahre wieder nach Stuttgart, trinke Sekt auf dem Balkon und freue mich über die Rosen!‘ Es ist sinnlos, Kunst zu schaffen, mit der ich mein Leben lang über Freiheit und über die Hürden der Zensur spreche, wenn ich dann in einem Moment, in dem ich tatsächlich helfen und etwas verändern kann, einfach weggehe“, erklärte sie ihre Haltung im Juni 2020.

    Wahlkampf für Tichanowskaja

    Zu diesem Zeitpunkt war Maria das bekannteste Gesicht in Babarikos Wahlkampfteam. Sie hatte gemeinsam mit dem Team seine Dokumente bei der Zentralen Wahlkommission eingereicht. Doch am 14. Juli, da saß er bereits hinter Gittern, wurde seine Registrierung abgelehnt, ebenso die von Waleri Zepkalo. Allerdings ließ die Wahlkommission die damals praktisch unbekannte Swetlana Tichanowskaja als Kandidatin zu. 

    Am 16. Juli fand das schicksalsträchtige Treffen der drei Wahlkampfteams – Babariko, Zepkalo, Tichanowski – statt, bei dem beschlossen wurde, die Kräfte zu vereinen. „Damals kamen alle drei Teams zusammen, und es brach eine heiße Diskussion aus. Aber dann schlug Mascha vor: ‚Lasst uns doch zu dritt weitermachen‘. Und gemeinsam sind wir dann ziemlich weit gekommen“, sagte Veronika Zepkalo, die das Team ihres Mannes vertrat. Bei diesem Treffen einigten sich alle auf fünf Grundprinzipien: zu einer Stimmabgabe ausschließlich am 9. August aufzurufen; sich für die Befreiung der politischen und wirtschaftlichen Gefangenen einzusetzen; die Präsidentschaftswahl zu wiederholen; die Wähler über Möglichkeiten zum Schutz ihrer Stimmen zu informieren; sich an Initiativen für faire Wahlen zu beteiligen. 

    Das vereinte Wahlkampfteam führten Tichanowskaja, Zepkalo und Kolesnikowa gemeinsam an, „die drei Grazien“, wie sie bald genannt wurden. Sie wurden zum Symbol einer friedlichen Bewegung für Wandel, aber auch für eine vereinte belarussische Opposition. Aufwärmzeit gab es keine. Bereits am 19. Juli fand die erste Kundgebung mit Swetlana Tichanowskaja in Dsershinsk statt. Wie Tut.by anmerkte, wurde die kaum publikumserfahrene Kandidatin auf der Bühne von Kolesnikowa und Zepkalo unterstützt, und der Ablauf der Veranstaltung wurde erweitert und verbessert, zum Standard für alle weiteren Kundgebungen. Zuerst sprach Tichanowskaja über ihren Mann, seinen Kampf und darüber, dass ihre Kandidatur nur die Reaktion auf seine Festnahme bei einer Kundgebung am 29. Mai in Grodno sei. Maria und Veronika sprachen dann über die Probleme im Land und über die fünf Prinzipien, auf die sich die drei Teams geeinigt hatten. 

    Kolesnikowa prägte während der Kampagne gleich mehrere markante Aussagen, die Tut.by zusammengetragen hat: „Belarussen, ihr seid unglaublich“, „Liebe ist stärker als Angst“, „Die scheppernde Rostlaube der Regierung zerfällt in voller Fahrt“, „Jeder von uns sollte sagen: Ich kann alles ändern“, „Wir haben uns verändert, und zwar für immer“ und „Ihr wisst, was wir machen werden: dieses System mit allen gesetzlichen Mitteln beackern“. 

    Ich habe Angst, dass es nie enden wird

    „Ab dem Zusammenschluss verbrachten wir fast die ganze Zeit zusammen. An manchen Tagen hatten wir drei bis vier Kundgebungen, ständig Interviews, Pressekonferenzen, Auftritte, Fahrten. Es gab keine freien Tage, wir waren ständig irgendwo unterwegs. Auf den Autofahrten durch das ganze Land lernten wir das gesamte Imbissangebot der Tankstellen kennen. Kein Tag verlief nach Plan. Wir wussten nicht, ob wir am Abend nach Hause zurückkehren, ob wir es zurück ins Büro schaffen. […] Es gab auch unangenehme Situationen. In einer Stadt wurden wir vor der Kundgebung gewarnt, dass auf dem Dach eines naheliegenden Gebäudes Scharfschützen gesehen wurden. Später, als wir auf die Bühne traten, zeigten die Menschen in Richtung des Gebäudes und riefen, da seien Scharfschützen. Ich schlug vor, sie zu begrüßen. Wir wandten uns alle drei um und winkten den Scharfschützen einfach zu“, erinnert sich Veronika Zepkalo. 

    Am 30. Juli fand im Minsker Park der Völkerfreundschaft eine Kundgebung statt, die zu diesem Zeitpunkt die größte in der Geschichte des unabhängigen belarussischen Staates. Menschenrechtsaktivisten schätzten die Zahl der Teilnehmer auf 63.000. 

    Drei Tage zuvor sagte Kolesnikowa in einem Interview diese – im Nachhinein betrachtet – prophetischen Worte: „Ich habe keine Angst im klassischen Sinne. Ich habe Bühnenangst, aber ich gehe trotzdem auf die Bühne und mache meine Arbeit. Ich habe Angst, dass es nie enden wird, wenn wir jetzt nicht all unsere Kraft aufbringen. Wenn es aber jetzt nicht endet, dann machen sie uns alle platt. Dann bleibt hier nichts übrig von frei denkenden Menschen, von Menschen, die bereit sind, ihre Unzufriedenheit zu äußern, von Menschen, die ihr eigenes Unternehmen aufbauen wollen. Die IT-Leute denken vielleicht, es geht sie nichts an, weil sie für Externe arbeiten, aber auch sie sind betroffen. Wenn sich jetzt nichts ändert, dann ändert sich nie etwas. Und mit ,jetzt‘ meine ich den 9. August plus einige Zeit für den Prozess. Der Prozess ist im Gange, und es ist die einzige Chance auf Veränderung. Wenn wir das nicht hinkriegen, können wir alle unsere Koffer packen und das Land verlassen.“

    […]


    Veränderung lag in der Luft, dennoch sollte es anders kommen. Ab dem 9. August 2020 kam es zu massiven Protesten. Hunderttausende gingen auf die Straßen, nicht nur in der Hauptstadt Minsk, sondern auch in vielen anderen Städten, und sogar in Dörfern. Der Staat reagierte mit brutaler Gewalt, alleine in der ersten Woche der Proteste wurden Tausende festgenommen. In den Gefängnissen wurden die Menschen geschlagen und gefoltert. Swetlana Tichanowskaja wird von den Machthabern gezwungen, das Land zu verlassen. Die Opposition ruft einen Koordinationsrat ins Leben, der den Machtwechsel vorbereiten und begleiten soll. Aber auch dessen Führungsmitglieder werden nach und nach inhaftiert oder fliehen außer Landes.


    Karpenkows Drohungen und der zerrissene Pass

    Am 7. September wurde Maria festgenommen. Eine Leserin von Tut.by erzählte, wie sie auf dem Prospekt der Unabhängigkeit hinter sich das Klappern von Absätzen hörte, sich umdrehte und Kolesnikowa erkannte. Es war etwa 10.05 Uhr am Vormittag. 

    „Ich hatte sie schon einmal live gesehen, deshalb erkannte ich sie. Ich wollte noch zu ihr hingehen, mit ihr reden und mich bedanken, dann überlegte ich es mir anders, dachte, sie muss bestimmt müde sein. Ich ging also weiter, spielte noch kurz mit dem Gedanken, mich umzudrehen und ihr mit den Händen ein Herz zu zeigen. Beim Nationalen Kunstmuseum sah ich einen dunklen Kleinbus mit der Aufschrift Swjas (dt. Netz) auf der Seite, an der Rückseite stand die Marke Sobol. Ich lief weiter, dann hörte ich, wie ein Handy auf dem Asphalt aufschlug, dann Fußgetrappel, ich drehte mich um und sah, wie maskierte Leute in Zivil Maria in diesen Kleinbus zogen. Ihr Telefon war heruntergefallen, einer der Männer hob es auf, sprang in den Kleinbus, und sie fuhren weg“, berichtete sie. 

    Wohin Maria gebracht wurde, blieb unklar. Tut.by bekam von Innenministerium, Untersuchungsausschuss und Wirtschaftsbehörden die einstimmige Auskunft, es lägen keine Informationen über eine Festnahme vor. Sie alle logen. 

    Später berichtete Maria in einem Brief, was mit ihr geschehen war: „Nach meiner Verschleppung wurde ich gewaltsam ins Büro von Nikolaj Karpenkow gebracht, dem Chef des GUBOPiK, der mich anschrie, beleidigte und einschüchterte. Das ,Gespräch‘ fand im Beisein zweier anderer Herren statt: Gennadi Kasakewitsch, erster Stellvertreter des Innenministers, und Andrej Pawljutschenko, Chef des OAZ [Operatives Analysezentrum]. Sie stellten mir ein Ultimatum: entweder, ich verlasse das Land und kann jenseits der Grenze machen, was ich will, oder sie bringen mich außer Landes – lebendig oder zerstückelt. Sie brechen mir die Finger, sie sperren mich für 25 Jahre ein, ich werde Hemden fürs Militär nähen … Das Gespräch dauerte mehrere Stunden, mit einer Pause zur ,Erholung‘ in einer Einzelzelle.“

    Da die Politikerin nicht ausreisen wollte, beschloss man, sie gewaltsam außer Landes zu bringen. An diesem Tag wurden in Minsk zwei weitere Aktivisten aus Babarikos Wahlkampfteam festgenommen, Anton Rodnenkow und Iwan Krawzow. Sie hatten nach Maria gesucht und wurden vor ihrem Haus aufgegriffen. Schon am Abend des 8. September gaben sie eine Pressekonferenz in Kyjiw. 

    Kolesnikowa zerriss ihren Pass

    Rodnenkow und Krawzow berichteten, dass sie am frühen Morgen (des 8. September) in einen Kleinbus gesetzt und zum Grenzübergang Alexandrowka an der ukrainischen Grenze gebracht worden seien. Krawzow hätte Kolesnikowa in die Ukraine bringen sollen, um die Situation im Land zu „deeskalieren“. Maria trafen sie erst in der neutralen Zone, hinter der belarussischen Grenzlinie. Laut Plan sollten alle drei in einem Auto in die Ukraine fahren. 

     „Kaum hatten sie Mascha aus dem Kleinbus geholt, da begann sie schon im Befehlston ihre Freilassung zu fordern und die Vorgangsweise der Beamten strafrechtlich einzuordnen“, erzählte Krawzow. „Als sie dann im Auto saß und ihren Pass sah, schnappte sie ihn sich und zerriss ihn in viele kleine Stücke. Dann warf sie die zerknüllten Fetzen aus dem Fenster unbekannten jungen Leuten zu, die das Auto umringten. Schließlich kletterte sie durch das Fenster aus dem Auto und rannte zurück zur belarussischen Grenze.“  

    Dort wurde Maria von denselben Leuten verhaftet, die sie hergebracht hatten. Am 9. September, dem dritten Tag nach der Festnahme, wurde bekannt, dass Kolesnikowa sich im Untersuchungsgefängnis Nr. 1 [Minsk, Waladarka] befand. Einige Tage später wurde sie nach Shodino überführt, wo sie bis zum Januar des Folgejahres blieb, als man sie wieder nach Minsk zurückbrachte. Kolesnikowa wurde angeklagt, zu Handlungen aufgerufen zu haben, die auf die Gefährdung der nationalen Sicherheit abzielen. 

    Gefängnisalltag

    In einem Interview mit der BBC berichtete Kolesnikowa ausführlich über ihr Leben hinter Gittern: „Ich wache jeden Morgen um 6:00 Uhr frisch und munter auf. In meinem früheren Leben wäre das unvorstellbar gewesen. Um 6:30 Uhr beginnt das Frühstück im Gefängnis, es gibt Brei, Saft, Brot und Tee. Doch ich esse nie so früh und lasse es stehen. Dann ,dusche‘ ich, indem ich Wasser in der Schüssel erwärme. […] Um 8:00 Uhr kommt die Kontrolle, danach lerne ich zwei bis drei Stunden lang Fremdsprachen oder lese auf Deutsch oder Englisch. Das ist meine produktivste Zeit. Gegen 9:00 Uhr habe ich Ausgang. Der Gefängnishof ist drei mal drei Meter groß (in Shodino war er größer). Aber auch so schaffe ich es, 40 bis 50 Minuten zu laufen und mache anschließend noch 30 Minuten lang Übungen. 

    Nach dem Ausgang frühstücke ich: belegte Brote oder, selten, Brei mit Trockenfrüchten, unbedingt aber einen starken Kaffee. Ich räume meine Zelle auf, und auch darin liegt eine gewisse Freude: den Ort, an dem du dich befindest, sauberer, gemütlicher und besser zu machen. Wenn keine Treffen mit Anwälten oder Verhöre anstehen, lese ich im Anschluss zwei, drei Stunden lang. […]

    Während der gesamten Zeit war ich in fünf verschiedenen Zellen, mit jeweils anderer Belegschaft. Meine jetzige Zelle ist sehr klein, 2,5 mal 3,5 Meter, es gibt zwei Pritschen für vier Personen, eine Toilette, Waschbecken, Fernseher, Wasserkocher, eine Kanne, Schüsseln, einen Tisch, eine Bank. Durch das Fenster und das Gitter ist der Himmel zu sehen. 

    In Belarus ist das Rauchen an öffentlichen Orten verboten, sogar an Haltestellen, doch im Gefängnis gilt das nicht. Hier rauchen fast alle und überall: in den Zellen, Gängen, Diensträumen. Das gefährdet nicht nur meine Gesundheit, sondern auch meinen Beruf als Flötistin.“ 

    Wir ergänzen, dass Kolesnikowa im Gefängnis keine Flöte und auch nicht immer Noten haben darf. 

    […]

    Krankheit und Operation

    Ende 2022 verschlechterte sich Kolesnikowas Gesundheitszustand rapide. 

    Ihr Anwalt hatte sie zuletzt am 17. November in der Strafkolonie besucht. Später wurde bekannt, dass Maria in die Isolationshaft verlegt worden sei. „In der Arrestzelle war es sehr kalt, Maria schlief praktisch nicht. Um sich aufzuwärmen, bewegte sie sich die ganze Zeit und legte an einem Tag rekordverdächtige 15.000 Schritte in der kleinen Zelle zurück. In den Tagen vor der Krankenhauseinweisung verlor Maria immer wieder das Bewusstsein, sie litt unter erhöhtem Blutdruck und Übelkeit. Einmal wurde sie in der Dusche ohnmächtig und zog sich beim Sturz Schrammen an den Beinen zu. Der Gefängnisarzt meinte nur, sie hätte jeden Morgen im Strafraum die Möglichkeit gehabt, ihre Probleme zu melden, hätte dies aber unterlassen. Dabei hat sie Tabletten gegen den Bluthochdruck bekommen, die man ihr ohne eine Anzeige gesundheitlicher Beschwerden wohl kaum gegeben hätte“, erzählten ihre Mitstreiter. 

    Am 28. November wurde sie für weitere zehn Tage in die Isolationszelle gebracht. Ihr Anwalt wurde mit der Begründung, sie habe keinen Antrag auf ein Treffen mit ihm gestellt, nicht zu ihr durchgelassen. Er unternahm zwei weitere Versuche, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Am nächsten Tag hieß es, Kolesnikowa sei im Krankenhaus. Zu Bluthochdruck, Übelkeit und Ohnmacht waren am Nachmittag noch starke Bauchschmerzen hinzugekommen, sie war buchstäblich umgefallen. Maria wurde in die chirurgische Abteilung [des Gefängniskrankenhauses] gebracht, jedoch schon am Abend in die Unfallklinik in Gomel verlegt, weil sie operiert werden musste. Sie hatte einen Magendurchbruch. 

    Kolesnikowas Diagnose war die Folge eines Magengeschwürs. Ein Durchbruch tritt auf, wenn das Geschwür die Magenwand „durchschlägt“ und der Mageninhalt (mitsamt der Salzsäure, die die Nahrung zersetzt) in den Bauchraum fließt. Zu einer solchen Perforation kommt es in 10 bis 15 Prozent der Fälle eines Magengeschwürs, in der Regel begleitet von starken, stechenden Schmerzen. Trotz hochentwickelter Medizin bleibt die Behandlung von Magendurchbrüchen eine komplizierte Aufgabe für Chirurgen: Die Sterblichkeit bei entsprechenden Operationen liegt, je nach Quelle, bei 5 bis 18 Prozent (teilweise sogar 25 Prozent). 

    Endlich kann ich wieder ein bisschen laufen

    Noch am selben Tag, dem 28. November, wurde Kolesnikowa mittels Laparoskopie (Bauchspiegelung, minimalinvasiver Eingriff) erfolgreich operiert. Sie wachte aus der Narkose auf, ihr Zustand blieb aber weiterhin kritisch. Ihr Vater fuhr in die Klinik, doch sein Gespräch mit den Ärzten fand im Beisein von Mitarbeitern des Innenministeriums statt. Die Ärzte weigerten sich, dem Vater die Diagnose mitzuteilen: Dafür sei angeblich Marias schriftliche Zustimmung nötig. 

    Am 1. Dezember erfuhr Zerkalo von einem Insider, dass nach wie vor weder Familienangehörige noch Anwalt Maria besuchen durften. Sie erfuhren auch nichts über ihren Zustand. „Man sagt ihnen ganz trocken, alles sei in Ordnung, und es werde alles Nötige getan“, sagte er. Ärzte und Pflegepersonal mussten Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnen, im Falle einer Zuwiderhandlung drohten sechs Jahre Gefängnis. Erst am 5. Dezember wurde Kolesnikowa zurück ins Gefängniskrankenhaus verlegt und konnte dort ihren Vater treffen. Das zehnminütige Treffen fand unter Aufsicht des Arztes und mehrerer Gefängnisbediensteter statt. 

    „Endlich kann ich wieder ein bisschen laufen, etwa eine Stunde am Tag, ich steigere langsam Tempo und Schrittzahl, heute 5000. Das ist ein echter Rekord für mich, nachdem ich mich vom 29. November bis letzte Woche fast gar nicht bewegt habe. Es ist noch nicht alles wieder gut, aber ich bin positiv und optimistisch und will unbedingt gesund werden! Also, mach dich bereit: deine Draniki und Schaschliks stehen bald ganz oben auf meiner Speisekarte“, schrieb Kolesnikowa ihrem Vater am 27. Dezember 2022. Doch das war eher ein Aufmunterungsversuch, denn tatsächlich ging es Maria eher schlecht. „Kolesnikowa liegt auf der Krankenstation, ihr Zustand ist nicht sehr gut, sie ist völlig abgemagert“, erzählten Mitinsassinnen zu Beginn des Jahres 2023. 

    Zur selben Zeit entzog das Justizministerium Wladimir Pyltschenko, Kolesnikowas und Eduard Babarikos Anwalt, die Lizenz. Aufgrund mangelhafter Qualifikation könne er seinen Beruf nicht ausüben. Am 16. Januar wurde Kolesnikowa wieder in den regulären Strafvollzug verlegt. Sie geht wieder zur Arbeit, sei aber „nach der Schicht sehr müde“. Ihren Mitstreitern zufolge gehe es ihr gut, sie lege langsam Gewicht zu.  

    „Ich weiß ganz genau, dass jede Schwierigkeit vorübergeht“, schrieb sie in einem ihrer Briefe in die Freiheit. „Warum also traurig sein und sich sorgen, wenn doch auf jeden Fall der Moment kommt, an dem sie vorbei geht? Wozu Lebenszeit auf etwas verschwenden, das sinnlos ist und mir sogar schadet? Ich lebe so, als wäre all das Entsetzliche und Absurde um mich herum gar nicht da.“

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  • Bystro #44: Wer ist Swetlana Alexijewitsch?

    Bystro #44: Wer ist Swetlana Alexijewitsch?

    Als erste Vertreterin der belarussischen Literatur überhaupt erhielt die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch 2015 den Literaturnobelpreis – „für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“, wie es in der Begründung der Jury hieß. 

    Wie wurde die 1948 im westukrainischen Stanislaw geborene Alexijewitsch, die sich bis heute auch immer wieder zu politischen Entwicklungen äußert, zur Schriftstellerin? Wie hat sie ihre dokumentarische Prosa entwickelt? Welche Autoren haben sie geprägt? Auf diese und andere Fragen antwortet die Slawistin und Literaturwissenschaftlerin Nina Weller in einem Bystro.

    Русская Версия

    1. Wie wurde Swetlana Alexijewitsch zur Schriftstellerin? 

    Alexijewitsch hat schon als Schulmädchen Gedichte und Erzählungen geschrieben, die in Zeitschriften gedruckt, beziehungsweise im Radio gesendet wurden. Nach dem Studium der Journalistik in Minsk arbeitete sie als Korrespondentin kleiner Regionalzeitungen in den Gebieten Gomel und Brest und (wie ihre Eltern) als Lehrerin. Anfang der 1970er Jahre kehrte sie nach Minsk zurück und war ab 1976 für die Redaktion der Literaturzeitschrift des belarussischen Schriftstellerverbandes Njoman tätig. Sie erprobte damals unterschiedliche Gattungen, schrieb Erzählungen, Essays, Reportagen und entwickelte sukzessive ihre zwischen dokumentarischem und literarischem Schreiben angesiedelte Form. In ihrem ersten, aus Zensurgründen nie veröffentlichten, von ihr selbst als zu journalistisch empfundenen Buch Ja ujechal is derewni (dt. Ich bin aus dem Dorf weggegangen) thematisierte sie das dörfliche Leben, das auch ihre Kindheit sehr geprägt hatte. Bereits dieses Buch basierte auf Zeitzeugengesprächen. Zur besonderen Form des vielstimmigen Schreibens inspirierte sie der Schriftsteller und Menschenrechtler Ales Adamowitsch, der ihr Kollege bei Njoman war und der neben russischen Klassikern wie Dostojewski ihr wichtigstes Vorbild werden sollte. 

    2. Was ist der literarische, inhaltliche Kern ihres Schaffens?

    Alexijewitschs Schaffen kreist um das Alltagsleben des sowjetischen Menschen im Ausnahmezustand der historischen Katastrophen und im Zwielicht des utopischen Versprechens. In ihren Büchern collagiert sie Berichte, Erinnerungsfetzen, Gedanken gewöhnlicher Menschen zu ihren persönlichen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, dem Afghanistankrieg, der Tschernobyl-Katastrophe und den gesellschaftlichen Umbrüchen in (post)sowjetischen Zeiten. Ihr Werk erzeugt eine „Geschichtsschreibung von unten“, jenseits der offiziellen sowjetischen Erzählungen von Heroismus und Patriotismus. Alle ihre Bücher basieren auf einer Vielzahl von Zeitzeugengesprächen, die Alexijewitsch unter Verzicht auf eine auktorial wertende Erzählerstimme zu einem chorischen Gesamtwerk komponiert, sodass die erzählende Zeugnisliteratur stets mehr als nur die Summe einzelner Stimmen ergibt. Es sind „kollektive Romane“, Roman-Oratorien, die von Schmerz und Leid erzählen und zugleich dem Vergessen entgegenwirken sollen. Sowohl in ihrer Methode der vielstimmigen dokumentarischen Prosa als auch in ihrem moralisch-humanistischen Anspruch an das Schreiben war Alexijewitsch von Anfang an nachhaltig von Ales Adamowitsch und Daniil Granin beeinflusst. 

    3. Welche Bücher gehören zu ihrem Hauptwerk?

    Die aus fünf Büchern bestehende Folge Golossa Utopii (Die Stimmen der Utopie) gilt als ihr Hauptwerk. Darin hat sie eine Chronik des tragischen 20. Jahrhunderts vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende der Sowjetunion erschrieben und ihre Form der Dokumentarprosa weiterentwickelt. Die Herangehensweise des vielstimmigen Erzählens setzte sie erstmals im Buch U woiny ne shenskoje lizo (Der Krieg hat kein weibliches Gesicht) ein. Es basiert auf Gesprächen mit Kriegsteilnehmerinnen und zeigte den bis dato verdrängten Blick von Frauen auf die zermürbende Kriegsrealität. Es konnte, wie auch Poslednije swideteli (Die letzten Zeugen) mit Erinnerungen an Kriegskindheiten, erst 1985 in zensierter Fassung erscheinen. In Zinkowyje maltschiki (Zinkjungen, 1989) wird vom Krieg der Sowjetunion in Afghanistan und seinen Folgen erzählt, in Tschernobylskaja molitwa. Chronika buduschtschewo (Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft, 1997) von den Auswirkungen der Reaktorkatastrophe im Jahr 1986. Ein kollektives Gesamtbild des Lebens und Leidens im sowjetischen Kommunismus und der postsowjetischen Ära collagierte sie in ihrem Opus magnum Wremja sekond chend (Secondhand-Zeit, 2013). 

    4. Wie ist ihr Verhältnis zu Belarus? 

    Alexijewitsch kam in der sowjetischen Westukraine zur Welt. Ihre Mutter ist Ukrainerin, ihr Vater Belarusse. Nach dessen Militärdienst übersiedelte die Familie nach Belarus, wo sie die belarussische Staatsbürgerschaft annahm. Auch wenn Alexijewitsch ausschließlich auf Russisch schreibt und oft ihre Nähe zur russischen Kultur und zu einem kosmopolitischen Kontext betont, positioniert sie sich klar als Belarussin und belarussische (nicht russische) Autorin. Ihre breite Anerkennung als Vertreterin der belarussischen Literatur in Belarus und in der internationalen Welt erfolgte, wenn auch nicht unumstritten, spätestens mit der Verleihung des Literaturnobelpreises 2015. Noch 2013 hatte sie die belarussische Sprache in einem Interview mit der FAZ als „bäuerlich und literarisch unausgereift“ bezeichnet. Später nahm sie von ihren Äußerungen vehement Abstand und betonte die Gleichberechtigung des Belarussischen und Russischen als Literatursprachen im Kosmos einer mehrsprachigen belarussischen Literaturgeschichte. Den Belarussen gilt sie – wie seinerzeit der Schriftsteller Wassil Bykau – als moralische Stimme.

    5. Sie hat sich 2020 den Protesten in Belarus angeschlossen und musste daraufhin das Land verlassen. Ist sie immer noch politisch aktiv?

    In vielen Interviews zeigte sich Alexijewitsch 2020 überwältigt davon, wie viele Menschen in Belarus, über alle Generationen und sozialen und biografischen Hintergründe hinweg, für demokratische Werte, Menschenwürde und ein Ende der Diktatur auf die Straße gingen und trotz der massiven Gewalt seitens des Staates friedlich blieben. Sie gestand, einen derartigen Protestwillen dem belarussischen Volk nicht zugetraut zu haben. Umso entschiedener positionierte sie sich auf Seiten der Opposition und des Protests und äußerte öffentlich scharfe Kritik am Vorgehen Lukaschenkos. Im August 2020 wurde sie in die Führung des Koordinationsrates der Opposition berufen, der den Machtwechsel vorbereiten und begleiten sollte. Infolge dessen geriet sie selbst unter massiven Druck der staatlichen Behörden. Im September 2020 versuchten unbekannte Männer, sie in ihrer Privatwohnung einzuschüchtern, woraufhin sie zu einer Pressekonferenz direkt vor ihrer Wohnungstür einlud und Diplomaten aus mehreren Ländern sie zur Unterstützung in ihrer Wohnung besuchten. Ende September 2020 verließ sie Belarus und hat sich seither aus dem aktiven politischen Leben weitgehend zurückgezogen. Stattdessen arbeitet sie in Berlin an einem neuen Buch über die Ereignisse nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen, über die Proteste, ihre Niederschlagung und die Folgen für die belarussische Gesellschaft. 

    6. Sie hat auch einen eigenen Verlag ins Leben gerufen. Was ist das für ein Projekt?

    Den Pfljaŭmbaŭm-Verlag (belaruss. Пфляўмбаўм) gründete sie, nach langjähriger Vorarbeit, gemeinsam mit Alena Kaslowa, der jetzigen Verlagsleiterin. Das Verlagsprogramm umfasst ausschließlich Autorinnen, bisher in erster Linie belarussische, darunter auch jene, die bislang kaum oder gar nicht wahrgenommen wurden. „Wir schaffen eine eigene Frauenwelt mit ähnlichen Anschauungen. Die Männerwelt hat überhaupt keine Ahnung, dass diese Frauenwelt existiert“, sagte sie vor der deutschen Presse anlässlich der Verlagsvorstellung auf der Leipziger Buchmesse 2023. Zu den ersten Publikationen gehören etwa Gedichtbände der Dichterinnen Natallja Wischneŭskaja, Sinaida Bandaryna und Jaŭhenija Pfljaŭmbaŭm, der Namensgeberin des Verlages. Auch Werke von zeitgenössischen Schriftstellerinnen wie Tanja Skarynkina und Eva Viežnaviec, deren Roman Was suchst Du, Wolf? mit dem renommierten unabhängigen Jerzy Giedroyc-Preis in Belarus ausgezeichnet wurde, gehören zum Programm. Die Existenz solch eines Verlages gleicht in Zeiten der massiven Repressionen gegen unabhängige Verlage durch die Machthaber in Belarus einem kleinen Wunder. Inzwischen befindet sich der Verlag in Vilnius. 

     

    Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Nina Weller
    Veröffentlicht am 31.05.2023

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  • Der Abgrund ist bodenlos

    Der Abgrund ist bodenlos

    Die Repressionsmaschinerien des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko und die seines russischen Kollegen Wladimir Putin werden schon lange miteinander verglichen. In Belarus rollt seit der Niederschlagung der Proteste im Jahr 2020 eine ungeheure Repressionswelle gegen jeglichen vermuteten Widerstand, die russische Führung hat auf ihrer Seite die Maßnahmen gegen Medien, Zivilgesellschaft und Andersdenkende vor allem seit dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine verschärft. Für Meduza erklärt der belarussische Politikanalyst Artyom Shraibman detailreich die Eigenheiten und Formen der Repressionen in Belarus – die möglicherweise als Blaupause für die Ausweitung der Unterdrückung in Russland dienen könnten.

    Die Nachricht, dass der Politiker Wladimir Kara-Mursa zu 25 Jahren Straflager verurteilt wurde und Alexej Nawalny vermutlich ein vergleichbares Verdikt erwartet, ruft bei vielen Russen Angst und Befremden hervor. Für die Belarussen bestätigt sich wieder einmal der schon zum Klassiker gewordene, traurige Witz über die beiden Regime und die Fernsehserie. 

    In einem Interview mit Juri Dud erklärte der belarussische Comedian Slawa Komissarenko den Unterschied zwischen dem belarussischen und dem russischen Regime so: 

    Wir schauen beide dieselbe Serie, aber ihr seid bei der dritten Staffel und wir schon bei der fünften. Und manchmal schauen wir zu euch rüber und sagen: „Oh, bei euch wird es bald auch ziemlich interessant!“

    Das ist nicht nur ein Witz. Betrachtet man das Ausmaß und die Brutalität der Repressionen, hat Belarus tatsächlich fast auf allen Etappen von Lukaschenkos Regierungszeit Wladimir Putins Regime übertroffen. Eine Ausnahme stellte lediglich der kurze Zeitraum von 2015 bis 2019 dar, als Minsk versuchte, sich korrekter zu benehmen, um das Verhältnis zum Westen aufzubessern. Doch danach wurde die „Balance“ wiederhergestellt. Die gescheiterte Revolution 2020 rief Repressionen einer Intensität hervor, die in der poststalinistischen Geschichte sowohl in Russland wie auch in Belarus ihresgleichen sucht. 

    Obwohl, eine Ausnahme gibt es noch, nämlich geplante Morde an Journalisten und Politikern. Für Belarus war und bleibt das eine eher untypische Maßnahme, die Minsk nur ein einziges Mal ergriff – in den Jahren 1999-2000, als das Regime zwei belarussische Politiker, Viktor Gontschar und Juri Sacharenko, sowie den Journalisten Dimitri Sawadski und den Geschäftsmann Anatoli Krassowski verschwinden ließ und vermutlich auch ermordete. Damals zeigten selbst die offiziellen Ermittlungen, dass die Lukaschenko nahestehenden Silowiki Viktor Scheiman und Dimitri Pawlitschenko in die Sache verwickelt waren. In Putins Russland dagegen standen Morde an Politikern, Journalisten und Überläufern durch den Geheimdienst – oder gescheiterte Versuche, sie zu verüben – immer schon auf der Tagesordnung.

    Bei allen anderen repressiven Praktiken sind die belarussischen Silowiki grausamer und weniger selektiv – und haben damit vor den russischen Kollegen gewissermaßen einen Vorsprung. Man kann nicht behaupten, dass sie ihre Erfahrungen austauschen. Um neue Formen der Gewaltanwendung und der Menschenrechtseinschränkung zu finden, müssen sich die russischen Silowiki ihre nächsten Schritte nicht unbedingt von den Belarussen abschauen, es gibt da keine Patente und kein Knowhow. Jedes Regime verfolgt da seinen eigenen Plan. Doch da die belarussischen Silowiki diesen Weg schon früher eingeschlagen haben, ist die Beobachtung ihrer Methoden sinnvoll für Russen, die verstehen möchten, wie ihr eigenes Regime möglicherweise weiter degradieren wird. 

    Folter – für die Silowiki Routine

    Zunächst kam es in Belarus zu einer Normalisierung von physischer Gewalt bei Festnahmen, in den Polizeidezernaten und Untersuchungshaftanstalten. Folter und Prügel sind auch für russische Silowiki nichts Neues, doch in Belarus ist Gewaltanwendung bei Festnahmen aus politischen Gründen seit 2020 Routine. Es passiert nicht mit jedem, aber mit zu vielen, um es bloß als Exzesse einzelner Beamter abzutun. 

    Während der Proteste 2020 war das Verprügeln der Festgenommenen eine zusätzliche präventive Maßnahme. Die 15 Tage Haft sollten nicht wie eine zu schwache Bestrafung wirken, die den Protestierenden keine Lektion erteilt. Heute wird häufig geschlagen und gefoltert, wenn sich jemand weigert, sein Mobiltelefon zu entsperren. Ein weiterer Grund kann schlichte Bosheit oder Rache der Silowiki für angebliche Beleidigungen sein, zum Beispiel, wenn sie jemanden verdächtigen, persönliche Daten von Mitarbeitern des Innenministeriums geleakt zu haben. 

    Neben der Gewalt ist auch die demonstrative Erniedrigung der Verhafteten auf Video zur gängigen Praxis geworden. Im Juni 2022 wurde ein Häftling vor laufender Kamera gezwungen, mit Nadeln und Tinte eine Tätowierung mit einem Hakenkreuz zu entfernen. Anderen Aktivisten malte man zur Aufnahme von „Reue-Videos“ etwas ins Gesicht oder klebte ihnen Protestutensilien an.

    Die Gefangenen werden zweimal pro Nacht geweckt, das Licht brennt rund um die Uhr

    Zur physischen Gewalt kann man auch die Haftbedingungen der politischen Gefangenen rechnen, die Arreststrafen verbüßen. Die Menschen verbringen die langen Wochen ihres Freiheitsentzugs – teilweise mehrere 15-tägige Fristen nacheinander – in überfüllten Zellen, ohne Bettzeug und Matratzen, ohne Dusche, Ausgang und Pakete von Angehörigen (manchmal werden Medikamente durchgelassen), ohne Recht auf Korrespondenz und Treffen mit einem Anwalt. Sie werden zweimal pro Nacht geweckt, das Licht brennt rund um die Uhr. Viele beklagen die Folter durch Kälte, wenn sie ohne warme Kleidung in unbeheizte Zellen gesperrt werden. Auch die Strafgefangenen unterliegen vielen Einschränkungen, doch das Haftregime der „Arresthäftlinge“ ist bislang deutlich strenger. 

    Alle sind jetzt „Extremisten“

    Anfang Mai 2023 zählen belarussische Menschenrechtler fast 1500 politische Gefangene im Land (bei einer Bevölkerung von etwas mehr als neun Millionen). Dabei räumen selbst die Menschenrechtler ein, dass diese Zahl zu niedrig angesetzt ist, da viele Angehörige  die Festnahmen lieber nicht öffentlich machen, um die Haftbedingungen nicht zu verschlimmern. 

    Die Mehrheit der politischen Gefangenen wurde aufgrund zweier Tatbestände verurteilt – wegen Teilnahme an den Protesten 2020 und nach den sogenannten Diffamierungsparagrafen, also dem Vorwurf der „unangemessenen Meinungsäußerung“. Das sind die Paragrafen zur „Beleidigung des Präsidenten“ und einzelner Amtsträger sowie zum „Schüren von Hass“ gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen (gemeint sind wohl die Silowiki) und – in letzter Zeit immer öfter angewandt – der Paragraf zur „Diskreditierung der Republik Belarus“.

    Das Schüren von Hass wird dabei so breit wie nur möglich ausgelegt. Es kann ein zu grobes Wort in Bezug auf die Sicherheitskräfte in den sozialen Netzwerken oder in einem Nachbarschafts-Chat sein. Hunderte Menschen sitzen im Gefängnis, weil sie in den sozialen Netzwerken Freude über den Tod eines Angehörigen der KGB-Spezialeinheit geäußert haben, der bei der Stürmung der Wohnung des Minsker Informatikers Andrej Selzer im Herbst 2021 erschossen wurde, oder weil ihnen Selzer leid tat, der erschossen wurde, als die Spezialkräfte das Feuer erwiderten.

    Es genügt an einem der Sonntagsmärsche teilgenommen zu haben, um bis zu vier Jahr Gefängnisstrafe zu erhalten

    Die Teilnahme an den Protesten wird in Belarus zum Verbrechen, sobald man während der Aktionen eine Straßenspur betreten hat. Dann greift nämlich Artikel 342 der Strafprozessordnung, „Organisation, Vorbereitung oder aktive Teilnahme an Handlungen, die die gesellschaftliche Ordnung stören“. Dieser Artikel wird inzwischen aufgrund der großen Zahl von Menschen, die nach ihm verurteilt werden, „Volksartikel“ genannt. Es genügt, in Minsk oder einer anderen Stadt, an einem der großen Sonntagsmärsche 2020 teilgenommen zu haben, um bis zu vier Jahr Gefängnisstrafe zu erhalten. Bis heute werden nach diesem Paragrafen Verhaftungen vorgenommen: Die Silowiki finden immer neue Fotos von diesen Märschen und identifizieren die Menschen, die teilweise schon vergessen haben, dass sie überhaupt auf der Straße waren. 

    Ähnlich wie in Russland, doch in weit größerem Ausmaß, nutzen die belarussischen Machthaber die Extremismusgesetze zur Repression. Fast alle nichtstaatlichen Medienunternehmen sind bereits als „extremistisch“ eingestuft (zum Beispiel Zerkalo.io, Nasha Niva, Radio Svaboda, Belsat), ebenso populäre Telegramkanäle (Nexta, Belarus golownogo mosga), Blogs (zum Beispiel die der Oppositionspolitiker Swetlana Tichanowskaja und Waleri Zepkalo) und selbst einzelne Chatgruppen, darunter Nachbarschafts-Chats in Wohngebieten, wenn darin irgendwann Protestaktivitäten besprochen wurden. 

    Ein Ehepaar saß mehr als 200 Tage in Haft, weil sie einander in einem privaten Chat Nachrichtenartikel weitergeleitet haben

    Das Abonnement einer „extremistischen“ Quelle auf Telegram ist ein Straftatbestand. Um das nachzuweisen, fordern die Silowiki bei der Festnahme meist die Entsperrung des Mobiltelefons, überprüfen die Abonnements in den Messenger-Apps und versuchen, gelöschte Daten wiederherzustellen. 2021 saß ein Ehepaar insgesamt mehr als 200 Tage in Haft, weil sie einander in einem privaten Chat Nachrichtenartikel weitergeleitet hatten. 

    Noch schlimmer ist dran, wer Gemeinschaften oder Organisationen angehörte, die als „extremistisch“ gelten, oder mit ihnen zusammenarbeitete. Das betrifft auch Personen, die unabhängigen Medien Kommentare oder Informationen lieferten, selbst wenn es nur ein Foto von einer Schlange vor einem Geschäft ist. Ein führender Militärexperte, Jegor Lebedok, sitzt eine fünfjährige Haftstrafe ab, weil er dem „extremistischen“ Euroradio einige Interviews gab. Die Ehefrau des (zu 15 Jahren verurteilten) Bloggers Igor Lossik, Darija Lossik, wurde zu zwei Jahren Straflager verurteilt, weil sie dem Fernsehsender Belsat über ihren Mann berichtete. Die vierjährige Tochter der beiden blieb dadurch ohne Eltern zurück und lebt nun bei den Großeltern. 

    Für „extremistisch“ hält die belarussische Regierung auch Solidaritätsfonds wie BySOL und ByHelp, die Spenden zur Unterstützung der Repressionsopfer von 2020 sammeln. Damit wird jede Spende auch im Nachhinein zum Verbrechen, auch wenn der „Extremismus“ dieser Fonds erst 2021 festgestellt wurde, nachdem ein Großteil der Spenden schon eingegangen war. Doch da Zehntausende gespendet haben und viele von ihnen aus der IT-Branche kommen, also im Falle einer Verhaftungswelle das Land schnell verlassen würden, verzichten die Machthaber auf Strafverfahren und ziehen ihnen lieber Geld aus den Taschen. Personen, deren Bankdaten bei Spendenüberweisungen genutzt werden, erhalten systematisch Besuch vom KGB und werden aufgefordert, für die staatliche Wohltätigkeit zu  „spenden”. Dabei werden weit höhere Summen verlangt, als die Repressionsopfer empfingen. Wer ein Geständnis unterschreibt, entkommt einem Strafverfahren, aber das Geständnis eines begangenen „Verbrechens“ bleibt für die Silowiki ein praktisches Druckmittel für die Zukunft.

    Sie liquidieren Vereine von Umweltschützern, Menschen mit Behinderungen, Vogelkundlern und Fahrradfahrern

    Ein weiterer Hebel zur Vernichtung des Dritten Sektors ist, neben den Extremismusparagrafen, die banale Zerstörung der nichtstaatlichen Strukturen. Die belarussischen Machthaber gehen diese Frage nicht gezielt an und spielen auch nicht mit hybriden Formen der Repression, wie etwa der Erklärung von Personen zu „ausländischen Agenten“. Vielmehr liquidieren die Silowiki seit Juni 2021, als die EU ein weiteres Sanktionspaket verabschiedete, hunderte NGOs, selbst solche, die weit abseits aller „politischen“ Strukturen agieren. Zum Beispiel Vereine von Umweltschützern und Historikern, Kulturorganisationen und wohltätige Stiftungen, Vereine von Menschen mit Behinderungen, Vereinigungen von Polen und Litauern in Belarus, Vereinigungen von Stadtforschern, Vogelkundlern und Fahrradfahrern. Die Tätigkeit im Namen einer nichtregistrierten Organisation ist ebenfalls eine Straftat. 

    Das Regime der Stille

    Alle genannten repressiven Praktiken sind auch in Russland bekannt – wenngleich nicht im selben Ausmaß. Doch das belarussische Regime ergreift oft eine Reihe weiterer Maßnahmen, die in Russland bislang nicht regelmäßig angewandt werden. 

    Viele aufsehenerregende Gerichtsprozesse werden in den letzten Jahren in Belarus unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt – nicht einmal die Verwandten der Angeklagten sind zugelassen. Dadurch ist es unmöglich, Näheres über die Anklage zu erfahren, selbst die Namen politischer Häftlinge bleiben manchmal unbekannt. In öffentlichen Gerichtsverhandlungen ist es Polizisten, die oft typisierte Zeugenaussagen vorlesen (der Angeklagte sei „die Straße entlanggelaufen, habe geflucht und sich der Festnahme widersetzt“), häufig erlaubt, ihre Aussage unter Pseudonym und mit Maske zu machen, damit sie nicht identifiziert werden. 

    In einem „Regime der Stille“ versucht man auch bekannte politische Gefangene, Oppositionsführer, zu versenken. Häufig wird ihren Anwälten die Lizenz entzogen oder sie werden selbst festgenommen. Regelmäßige Twitter-Nachrichten, wie bei Alexej Nawalny, sind in Belarus undenkbar: Für den Versuch, eine politische Botschaft aus dem Straflager zu schmuggeln, kann ein Anwalt seine Zulassung verlieren oder selbst hinter Gitter kommen. 

    Eine weitere belarussische Eigenheit ist die Todesstrafe, die in Russland aktuell mit einem Moratorium belegt ist. Im Frühling 2022 wurde in Minsk entschieden, ihren Anwendungsbereich auszuweiten. Jetzt kann die Höchststrafe nicht nur für brutale Morde, sondern auch für den „Versuch eines Terroranschlags“ verhängt werden, seit März 2023 zusätzlich auch für „Staatsverrat“. Bislang gibt es aber keine Fälle, in denen diese Strafe verhängt wurde. 

    Anfang 2023 nahm Minsk die sowjetische Praxis wieder auf, politischen Emigranten die belarussische Staatsbürgerschaft zu entziehen, die sie von Geburt an hatten. Das Gesetz tritt im Juli 2023 in Kraft. Voraussichtlich wird es auf führende Oppositionspolitiker im Exil angewandt, die zur Einleitung dieser Prozedur bereits in Abwesenheit zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. 

    Angeblich politisch Illoyale werden systematisch aus staatlichen Beschäftigungsverhältnissen entlassen

    Bei einigen weniger brutalen Formen der Repression zeichnen sich die belarussischen Silowiki durch Akribie und eine totalitäre Herangehensweise aus. Beispielsweise haben sie ein Register von hunderttausenden Belarussen angelegt, die irgendwann einmal wegen angeblicher politischer Illoyalität auf den Radar gekommen sind, ob sie nun an den Protesten teilgenommen und dafür eine Nacht gesessen oder einfach vor den Wahlen 2020 für einen alternativen Präsidentschaftskandidaten unterzeichnet haben. Seit 2021 werden diese Menschen, je nach Schwere ihrer „Sünde“, systematisch aus staatlichen Beschäftigungsverhältnissen entlassen, aus Banken, Staatsunternehmen, medizinischen, Kultur- und Bildungseinrichtungen, inklusive dem Verbot, je wieder im staatlichen Sektor Anstellung zu bekommen. 

    Auch ethnische Gruppen werden vermehrt ins Visier genommen. Ukrainer, die in staatlichen Organisationen arbeiten oder einfach schon länger in Belarus leben, berichteten von Befragungen beim KGB, zum Teil unter Einsatz von Lügendetektoren – damit sollen potentielle Informanten der ukrainischen Geheimdienste aufgespürt werden. Angestellte staatlicher Institutionen mit polnischen Wurzeln, die über eine Karta Polaka verfügen (ein Dokument, das Vereinfachungen bei der Einreise nach Polen gewährt), berichten, dass sie auf diese Karte verzichten müssen, um ihre Arbeit zu behalten. 

    Der Abgrund ist endlos

    Ob Putins Regime exakt den Weg des belarussischen Systems einschlagen wird, ist unvorhersehbar. In Belarus gab es einen nachvollziehbaren Auslöser für den Ausbruch der Repressionen – den Revolutionsversuch von 2020. In Russland wurden die Repressionen im Kontext des Kriegs verschärft. Doch es besteht ein reales Risiko, dass den Russen eine viel breitere Eskalation der inneren Repressionen erwartet, sobald der Kreml sein Potential auf dem ukrainischen Schlachtfeld als erschöpft betrachtet und die Frustration über diesen Misserfolg irgendwohin kanalisiert werden muss. Zum Beispiel auf die verstärkte Säuberung des Landes von „Verrätern“ und „inneren Feinden“, die dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und dem Sieg der Armee im Wege stehen. 

    Die wichtigste belarussische Lektion ist, dass der Abgrund bodenlos ist. Die „roten Linien“ von gestern haben heute keinen Bestand mehr, einzelne Exzesse der Exekutive werden zur Norm. Die Gesellschaft passt sich an die Brutalität des Regimes an, und unter der Last der täglichen Nachrichten ertappen sich die Menschen bei einer erschreckenden Erleichterung, wenn jemand statt zehn Jahren Haft nur zwei bekommen hat. 

    Repressionen verhalten sich wie ein Gas. Wenn es Raum für Ausdehnung gibt, erreicht es jeden Winkel

    Das Regime weiß vielleicht selber nicht immer, wie weit es die Schrauben anziehen kann, aber es wird die Grenzen des Erlaubten nach und nach verschieben. Repressionen verhalten sich wie ein Gas. Wenn es Raum für eine Ausdehnung gibt, erreicht es jeden Winkel, bis die herrschenden Eliten oder die Gesellschaft Widerstand leisten.  

    Und das geschieht nicht immer, weil ein konkreter Verbrecher beschlossen hat, den Terror auf die Spitze zu treiben. Repressionen sind ein sich selbst erzeugender Mechanismus. Sie bringen die Klasse ihrer Profiteure hervor – der karriereversessenen Silowiki, für die der Kampf gegen die „Feinde“ zum Karrierebooster und zum Stachanow-Wettbewerb untereinander wird. Wenn solche Stimuli erst im System wirken, braucht es keine Kommandos von oben mehr, um neue Formen der Gewalt zu entwickeln. 

    Die menschliche Psyche hält sich an den üblichen, wenn auch informellen Normen der Koexistenz mit dem Staat fest. Doch die belarussische Erfahrung lehrt, dass diese Normen äußerst labil sind, wenn die Machthaber in den Abgrund der Reaktionen rollen, die Gesellschaft aber zu atomisiert und zu verängstigt ist, um Widerstand zu leisten. Die Unfähigkeit, rechtzeitig zu begreifen, dass frühere Tabus nicht mehr aktuell sind, hat viele Belarussen die Freiheit gekostet. Sie konnten nicht rechtzeitig vor der Bedrohung fliehen, weil sie es einfach nicht für möglich hielten, dass es so etwas geben kann.

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  • In einem Land zwischen Wald und Fluss

    In einem Land zwischen Wald und Fluss

    „Die meisten der heute verschwundenen belarussischen Dörfer liegen wunderschön in der Nähe von Wäldern und Flüssen, und ihre über 200 Jahre alten Namen sind von den Wörtern für Fluss, Sumpf oder Wald abgeleitet.“ So heißt es in einem Text für eine Ausstellung zu dem Fotoprojekt Zwischen Wald und Fluss, das die belarussische Fotografin Svetlana Yerkovich entwickelt und umgesetzt hat.

    Das Werk sei ein symbolisches Denkmal für ein figuratives Dorf mit seiner einzigartigen räumlichen Ausstrahlung, sagt Yerkovich, die heute in Schweden lebt. „Es ist ein Versuch, die für immer verlorene innere Landschaft meiner Kindheit wiederzugeben.“ Wir haben mit der Fotografin gesprochen und zeigen eine Auswahl an Bildern aus dem Projekt.

    Oblast Gomel, Januar 2016: „Walera lebt allein mit nur einem Nachbarn in einem Dorf. Er gibt zu, dass seine Trinkgewohnheiten sein Untergang sein werden. Weil er schon vor langer Zeit aufgehört hat, dafür zu bezahlen, ist sein Haus ohne Strom. Im Januar 2016 posiert er für mich in seinem Garten.“ / Foto © Svetlana Yerkovich

    dekoder: Wie ist das Fotoprojekt Between Forest and River entstanden?

    Svetlana Yerkovich: Einen großen und wichtigen Teil meiner Kindheit habe ich selbst sozusagen „zwischen Wald und Fluss“ verbracht, in einem kleinen Dorf im Nordosten von Belarus. Dieses Dorf lag mit seiner einzigen Straße tatsächlich zwischen einem Wald und einem Fluss. Aus dem Kosmos dieses Dorfes und der umliegenden Landschaft sind meine Wurzeln erwachsen. Dort habe ich als Kind Leben und Tod kennengelernt, den Kreislauf allen Lebens, die Schönheit der Natur und die Unergründlichkeit eines tiefhängenden Sternenhimmels. 

    Während ich aufwuchs, starben die Menschen oder zogen in die Stadt, am Ende war im Dorf fast niemand mehr übrig. Die Gemüsegärten überwucherten Unkraut und Bärenklau, die Apfelbäume alterten und Moos legte sich auf sie, die Häuser blickten mit leeren, zahnlosen Fenstern. 2010 machte ich einige Porträtaufnahmen von Menschen in diesem Dorf, dann zog ich nach Moskau. Und als ich 2012 beschloss, in ein anderes Land zu ziehen und dort wohl dauerhaft zu bleiben, wollte ich noch dieses Erinnerungsstück anfertigen, noch einmal diese Bilder sehen und festhalten, die eine derartige Bedeutung für mich haben. Daraus ist schließlich das Projekt entstanden.

    Wie lässt sich die kulturelle Bedeutung des Dorfes für Belarus erklären?

    Die Besonderheit der belarussischen Dörfer im Vergleich zu anderen europäischen Ländern liegt in der Abwesenheit von Infrastruktur, in der stehengebliebenen Zeit, in der spürbaren Isolation von den Städten. Aus diesem Grund verlässt die Jugend diese wunderschönen Orte, zieht auf der Suche nach einem besseren Leben in die düsteren Städte, und es bleiben nur die Alten zurück, und jene, die es in der Stadt nicht geschafft haben. Oft kehren die Kinder in die verlassenen Elternhäuser zurück, wenn sie in der Stadt kein Glück hatten. Doch auch das ändert sich heute. Teilweise entstehen Wochenendhäuser mit hohen Zäunen, für diese neue Generation der Konsumenten und Anleger. Schaut man hinter einen solchen Zaun, sieht man gerade, rechtwinklig gepflasterte Wege, wie in der Stadt, Dekorationen aus Plastikflaschen, symmetrisch angeordnete Sträucher und Blumen. 

    Auf der anderen Seite findet man in der Nachbarschaft langsam verfallende Häuser, einsame alte Menschen, Plumpsklos, und zwei bis drei Mal in der Woche das begrenzte Angebot im Lebensmittelgeschäft auf Rädern. Und es gibt auch die Jugend, die das Dorf als Ort der Freiheit wählt, um größtmöglichen Abstand vom System zu finden. 

    Mir persönlich sind die zugewucherten, fast menschenleeren Fleckchen am nächsten, an denen die Menschen noch in enger Verbindung zur Natur leben. Manchmal trifft man noch auf heidnisch-christliche Bräuche, Volksmärchen und Lieder. Sie können völlig seltsam und einzigartig wirken, wie aus einer anderen Dimension.

    Wie lange haben Sie für das Projekt recherchiert?

    Im September 2012 unternahm ich die erste zielgerichtete Reise durch die Dörfer meiner Kindheit. Es wurde schnell klar, dass es in ganz Belarus eine Menge dieser Dörfer gibt – aussterbend, ohne einen einzigen Bewohner. Und dass diese in Dickicht und Gestrüpp versunkenen Dörfer tatsächlich die schönsten Orte des Landes sind. Also machte ich weiter, setzte meine Reisen fort, bis 2016. Ich war in allen sechs Gebieten des Landes unterwegs, orientierte mich zumeist an der Karte und wählte die kleinsten Straßen, die in Wäldern und Feldern endeten. Die genaue Anzahl der Dörfer, die ich besucht habe, kann ich nicht benennen, aber es waren sicher mehr als 50. Doch das spielt keine Rolle; viele sagen ohnehin, dass die Fotografien wie aus ein und demselben Dorf wirken, eine Art Collage. 

    Wie haben die Dorfbewohner auf Ihre Arbeit reagiert?

    Die Leute fragten natürlich, warum ich fotografiere. Und ich antwortete stets ehrlich und ernsthaft, erzählte von meinen Gefühlen und dass ich davon träume, ein Buch zu machen, um es meinen Großeltern zu widmen, und allen, die im Buch abgebildet sind. Mit einigen Leuten sprach ich viel, mit anderen nur wenig. Und einem alten Mann, der gerade Schnee von der Straße schaufelte, sagte ich nur, dass ich ihn sehr gern in dem tiefen Schnee mit der Schippe fotografieren würde, woraufhin er zustimmend nickte, sich bereitwillig und ernst in Pose stellte, ohne nur ein Wort zu erwidern.

    Manche leben ganz allein in ihrem Dorf und freuen sich einfach, dass sie mit jemandem sprechen können. Mir war es wichtig, nicht als „Mädchen aus der Stadt“ wahrgenommen zu werden, das eine Safari oder ethnografische Exkursion unternimmt. Ich kannte mich ja im dörflichen Umfeld bis ins kleinste Detail aus. Wir sprachen über Dinge, die uns gleichsam nah waren. Gleichzeitig teilte ich auch ehrlich meine Wahrnehmung von Schönheit und erzählte, warum mir gerade diese alte, zerrissene Strickjacke oder jenes Brennesseldickicht interessant, bedeutsam und schön vorkamen. So entstand auf Seiten der Fotografierten nicht nur Nähe, sondern auch Neugier. Das Gespräch gewann dadurch ein gutes Gleichgewicht zwischen Vertrauen und Geheimnis. Und das ist unabdingbar für ernsthaftes, konzentriertes Arbeiten, für meine Fotografien. 

    Wie sind Sie künstlerisch an das Projekt herangegangen?

    Am Anfang konnte ich nur schwerlich beschreiben, was ich eigentlich genau suche. Doch ich war überzeugt davon, dass alles in mir vibrieren würde, wenn ich das gesuchte Motiv schließlich erblicke, dass es mir nicht entgehen würde. Auf einigen Reisen begleitete mich mein jetziger Ehemann als Fahrer und Assistent, er ist ebenfalls Fotograf, aber unsere Arbeitsstile unterscheiden sich stark. Er stellte mir immer wieder dieselben Fragen: Warum fotografierst du diesen Menschen, den anderen aber nicht? Warum biegen wir hier ab, dort aber nicht? Genau erklären konnte ich das nicht, es war immer eine Reaktion auf bestimmte Merkmale des Menschen oder der Landschaft, die ich wahrnahm, es war Intuition. Nur auf diese Weise, intensiv meditierend, konnte ich dieses Bild, das ich schon so lange vor meinem inneren Auge hatte, erkennen und einfangen. Es ist nicht wirklich eine dokumentarische Geschichte, eher ein Kunstbild, das auf sorgfältig ausgewählten realen Begebenheiten beruht.

    Man könnte sagen, „Zwischen Wald und Fluss“ ist ein Zustand zwischen Himmel und Erde, in dem der Mensch in enger Beziehung mit der Natur lebt, die für viele der Porträtierten zudem die einzige Bezugsperson in ihrem Umfeld ist. Und in dieser Beziehung liegen Tiefe und Schönheit, Mystik, Freiheit und Kraft. Die abgebildete Zeit wiederum ist als Kategorie nicht so wichtig, deshalb habe ich mich dafür entschieden, mit einer Kombination aus Schwarzweiß und Farbe zu spielen. Außerdem hatte ich immer einen dünnen, weißen Vorhang dabei, den ich bei manchen Aufnahmen eingesetzt habe, was der Betrachter für sich nach Belieben interpretieren kann. 

    Mit den Fotos können sich sicher auch Menschen außerhalb von Belarus identifizieren?

    „Zwischen Wald und Fluss“ kann man sowohl in Belarus, als auch überall anders finden. Es ist ein Ort an einem Fluss, umgeben von schönem Dickicht, an dem ein Mensch ganz allein in seiner Stille mit den ewig existenziellen Fragen lebt, haust, hadert. So eine Gegend ist vielen Betrachtern in allen möglichen Ländern vertraut und nah, wie irgendeine verlassene Gegend an einem gegenüberliegenden Ufer, zu dem keine Brücke oder Fähre führt, und von dem alle Fragen als Echo zurückschallen.

    Oblast Grodno, Januar 2016 / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Mogiljow, Juli 2014: „Sina posiert in ihrem Haus, das buchstäblich auseinanderfällt. Als ich sie besuchte, säuberte sie gerade ihr Lieblingsessen – kleine, günstige Fische. Sie mag es, allein zu leben, und hat sich geweigert, zur Familie ihres Sohnes in einen größeren Ort zu ziehen. Ihr Sohn drohte ihr schließlich, dass er kommen und das Haus zerstören würde. Schlussendlich zog sie doch um.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Grodno, Januar 2016: „Michail lebt mit seiner Frau in einem Dorf im Wald westlich des Flusses Beresina in der Oblast Grodno. Die meisten anderen Häuser im Dorf stehen leer. Im Januar 2016 ist er unterwegs auf einem Spaziergang abseits des Dorfes entlang der nächsten Straße, was er tut, wenn er besonders unruhig oder gelangweilt ist. Es posiert auf einer Bank am Straßenrand, die er selbst gebaut hat.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Gomel, September 2012 / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Mogiljow, Juli 2012: „Wassili posiert im Sommer 2012 mit seinem Hund nahe seines Hauses in der Oblast Mogiljow. Sein Haus hat keine Fenster. Er sagt, die Tür sei gleichzeitig sein Fenster. Wassili lebt allein.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Grodno, Januar 2016: „Swetlana hat eine psychische Störung, ihre Schwester kümmert sich um sie. Sie leben allein in einem chutar (so nennt man ein alleinstehendes Haus, das nicht zu einem Dorf gehört) in der Oblast Grodno. Im Januar 2016 posiert sie mit ihrer geliebten Katze Lussja gegenüber ihres Hauses.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Witebsk, Dezember 2015: „Ein verlassenes Haus in einem verlassenen Dorf in der Oblast Witebsk zerfällt in der Landschaft, die schnell überwuchert wird von unkontrolliert wachsendem giftigem Bärenklau. In Kontakt mit menschlicher Haut verursacht der Pflanzensaft in der Sonne schwere Verbrennungen.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Witebsk, März 2013 / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Mogiljow, September 2012: „Wladimir posiert vor einem verlassenen Haus in seinem Dorf in der Oblast Mogiljow. Für einen besonderen Anlass trägt er seine Anzughose. Heute ist der Tag, an dem er mehrere Kilometer zum nächsten Dorf läuft, um seine Rente abzuholen. Er lebt allein in seinem Elternhaus, in dem er aufgewachsen ist, bevor er in die Stadt zog und dort heiratete. Er sagt, beides, seine Hochzeit und sein Leben in der Stadt, sei gescheitert, und schließlich konnte er nirgendwo mehr hin, außer in sein Elternhaus, das nach deren Tod verlassen war. Es gibt nur einen weiteren Einwohner im Dorf.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Witebsk, März 2013 / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Witebsk, September 2012: „Alexander lebt allein in dem Dorf Serp (dt. Sichel) in der Oblast Witebsk. Die beiden benachbarten Dörfer Serp und Molot (dt. Hammer) tragen die Namen dieser bedeutenden Sowjet-Symbole, die man mit harter Arbeit und guter Erne verbindet. Die Dörfer waren bis in die 1990er Jahre groß und lebendig. Heute leben dort nur noch ein paar Menschen und die Flächen zwischen den Häusern sind mit hohem Gras überwuchert.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Gomel, Januar 2016: Die beiden einzigen Nachbarn in einem Dorf in der Oblast Gomel / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Minsk, März 2014: „Frühling. Ein Baum, der vor einem verlassenen Haus umgestürzt ist, ringt um Leben und treibt aus in der warmen Frühlingssonne.“ Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Witebsk, Dezember 2015: „Anatoli posiert vor seinem alten Holzhaus, das er versucht, vor Wind und Kälte zu schützen, indem er Ziegenhaut überall an die Außenwände nagelt. Anatoli lebt allein und hat viele Ziegen, die er nur Menschen zeigt, die nicht kleinlich sind. Ich habe seine Ziegen gesehen.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
     
    Oblast Mogiljow, September 2012 / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Witebsk, Dezember 2015: „38 Prozent der Fläche von Belarus sind mit Wäldern bedeckt, und 14 Prozent sind Sümpfe. Sie sind die Lungen des Landes und wichtige Wasserressourcen, die die Flüsse speisen. Viele der verschwindenden belarussischen Dörfer liegen in Gebieten nahe Wäldern und Flüssen. Viele von ihnen haben über 200 Jahre alte Namen, die von den Worten ‚Fluss‘, ‚Sumpf‘ oder ‚Wald‘ abgeleitet sind. Es gibt mindestens 64 Sabolotje (dt. hinter dem Sumpf), 60 Salesje (dt. hinter dem Wald) und 61 Saretschje (dt. hinter dem Fluss).“ / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Witebsk, März 2013: Radio- und Strommasten in der Oblast Witebsk / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Witebsk, März 2013 / Foto © Svetlana Yerkovich
     
    Oblast Gomel, September 2012: „Ein verlassenes Haus in einem verlassenen Dorf in der Region Polesien verfällt. Es ist bis zu seinem zerstörten Dach überwuchert von Trauben. Im September 2012 schmeckten die Trauben reif und gut. Die Pflanze muss sorgfältig ausgewählt worden sein, um im belarussischen Klima wachsen zu können, das sich für den Anbau von Wein nicht eignet. Die Gegend ist heute ein Jagdrevier für Touristen und Reiche.“ / Foto © Svetlana Yerkovich
    Oblast Witebsk, März 2014: „Viktor lebt allein in seinem Haus in einem verschwindenden Dorf in der Oblast Witebsk. Er passt gut auf sein Haus auf, und er hat Hühner und einen Hahn. Im Frühling 2014 posiert er außerhalb seines Hauses neben dem Auto, von dem er noch hofft, es verkaufen zu können. Viktor ist überzeugt, dass die Bank, bei der er seit der Sowjetzeit seine Ersparnisse hat, ihn beklaut hat. Er schreibt erfolglos Beschwerden an unterschiedliche Behörden und Ministerien. Seine Nachbarn sagen, er erfinde Geschichten.“

    Fotografie: Svetlana Yerkovich
    Bildredaktion: Andy Heller

    Übersetzung: Tina Wünschmann
    Interview: ingo Petz
    Veröffentlicht am 19.05.2023

     

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  • Zukunftsflimmern in Belarus

    Zukunftsflimmern in Belarus

    Laut Verfassung steht in Belarus 2025 die nächste Präsidentschaftswahl an. Angesichts der Proteste nach der Wahl 2020 und der anschließenden Radikalisierung des Systems von Alexander Lukaschenko lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt allerdings nur schwer eine wirkliche Wahl vorstellen. Schließlich sind mittlerweile auch alle Oppositionsparteien in Belarus verboten, die Repressionen gehen ungebremst weiter. 

    Für die Machthaber könnte eine Wahlinszenierung allerdings ein Mittel sein, der Exil-Opposition um Swetlana Tichanowskaja einen Bedeutungsverlust zuzufügen. Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski schaut für das Telegram-Medium Pozirk in die Zukunft und analysiert auch vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine, welche Rolle die Opposition bei der Wahl spielen könnte.

    Bereits 2020 hatte Alexander Lukaschenko herablassend erklärt, die „äußeren Feinde“ hätten nach „venezolanischem Szenario eine belarussische Guaidó gefunden“. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa sagte voraus, dass die Vereinigten Staaten genau wie Juan Guaidó auch Tichanowskaja „fallen lassen“ würden.

    Der Vergleich hinkt natürlich. Guaidó hat ein totales Fiasko erlebt. Die venezolanische Opposition hat ihre Übergangsregierung Ende letzten Jahres selbst beseitigt. Swetlana Tichanowskaja wird zwar von anderen Oppositionellen kritisiert (wobei Senon Posnjak ihr „im neuen Belarus“ gar Gefängnis prophezeit), doch sie können sie nicht vom Podest stoßen. Ihre persönliche Lage und die ihres Büros in Litauen stellt sich als recht stabil dar, niemand will sie von dort fortjagen.

    Die Kritiker Tichanowskajas sind zahlreich. In den unabhängigen Medien und den sozialen Netzwerken wird zu allem Überfluss jetzt auch noch die Frage breitgetreten, wie es mit ihrer Legitimität nach den Präsidentschaftswahlen 2025 aussehen wird.

    Der Herrscher will am Ruder bleiben, um seine Feinde zu ärgern

    Legitimität ist eine heikle Angelegenheit. Längst nicht jeder, der darüber streitet, versteht den Sinn dieses Begriffs. Kurz gefasst geht es um die freiwillige Anerkennung des Rechts auf Herrschaft einer Person durch die Bevölkerungsmehrheit. Im Falle von externer Legitimität wird dieses Recht durch das Ausland anerkannt.

    Nach den Wahlen von 2020 hat Lukaschenko, dem Wahlfälschungen vorgeworfen wurden, sowohl aus Sicht von Regimegegnern als auch aus Sicht des Westens seine Legitimität verloren. Tichanowskaja hingegen, die Daten der Plattform Golos zufolge mindestens drei Millionen beziehungsweise 56 Prozent der Stimmen errang, also de facto siegte, sahen viele im demokratischen Lager als legitime Anführerin des belarussischen Volkes. Die westlichen Staaten hatten es allerdings nicht eilig mit ihrer Anerkennung als legitim gewählte Präsidentin.

    Nach der Wahl im Jahr 2020 sahen viele im demokratischen Lager Swetlana Tichanowskaja als legitime Anführerin des belarussischen Volkes / Foto © Jakub Porzycki/NurPhoto/imago images
    Nach der Wahl im Jahr 2020 sahen viele im demokratischen Lager Swetlana Tichanowskaja als legitime Anführerin des belarussischen Volkes / Foto © Jakub Porzycki/NurPhoto/imago images

    Dabei wuchs in dem Maße, in dem die Niederlage des friedlichen Aufstands immer offensichtlicher wurde, unter den politisch aktiven Belarussen die Enttäuschung über Tichanowskaja und ihr Team, also gewissermaßen die Opposition 2.0 (die alte Opposition war schon 2020 kaum in Erscheinung getreten). In einer Umfrage von Chatham House aus dem Juli und August 2021 gaben nur 13 Prozent an, dass sie Tichanowskaja für würdig hielten, die belarussische Präsidentin zu werden (dabei konnten die Befragten zwischen verschiedenen Personen wählen: für Viktor Babariko sprachen sich 33 Prozent aus, für Lukaschenko 28 Prozent).

    Lukaschenko konnte zwar die Proteste zerschlagen, gewann dadurch aber nicht an Legitimität. Für den Westen ist er eine toxische Figur, ein Usurpator. Und jetzt ist er nach Ansicht vieler zudem noch jemand, der kein politisches Subjekt, sondern nur mehr eine Marionette Putins darstellt.

    Unabhängige Meinungsforscher (wie etwa im Rahmen von BEROC) stellen zwar einen gewissen Anstieg des Vertrauens in die Regierung fest. Doch betonen die Soziologen, dass bei den Umfrageergebnissen der Faktor Angst nicht zu unterschätzen sei. Also könnte es in Wirklichkeit sehr viel mehr Gegner des Regimes geben. Dabei zeigen die Umfragen zugleich, dass die Kernwählerschaft Lukaschenkos (die ja keine Angst haben muss, sich zu ihrer Loyalität zu bekennen) deutlich in der Minderheit ist.

    Die Gruppe der Unentschlossenen ist also größer geworden, doch sind das wohl eher Menschen, die sich in ihrem Schneckenhaus verkriechen, als solche, die mit der politischen Realität zufrieden sind. Die überzeugten Gegner des Regimes beißen sich derweil auf die Lippen und warten auf bessere Zeiten, ohne dabei freilich Lukaschenkos Recht zu regieren anzuerkennen.

    Um die Legitimität ist es für den Herrscher also schlecht bestellt. Was ihn jedoch nicht daran hinderte, bei seiner Rede zur Lage der Nation am 31. März Ansprüche auf eine weitere Amtszeit anzumelden: „Viele würden es gern sehen, wenn es Lukaschenko nicht mehr gibt. Und weil sie wollen, dass ich weg bin, werde ich das Gegenteil tun […]. Ich werde niemals eine lahme Ente sein …“

    Das Risiko, außen vor zu bleiben

    Es ist durchaus möglich, dass Lukaschenkos Gegner im Kontext des „Wahlkampfes“ 2025 de facto außen vor bleiben werden und ihn nicht daran hindern, eine weitere Amtszeit zu besiegeln. Ein Boykott wäre lediglich Ausdruck einer Position, dürfte das Regime aber nicht zu Fall bringen.

    Was wird dann aus Tichanowskajas Legitimität, die bereits heute für einen Teil des politisch aktiven Publikums nicht unumstritten ist? Tichanowskaja und ihr Berater Franak Wjatschorka sagen sinngemäß, wir Belarussen hätten 2020 den Zyklus der Wahlen verlassen, wodurch es keinen Sinn mehr habe, sich daran gebunden zu fühlen. Dahinter steht der Gedanke, dass ihre Mission erst mit einem Sieg der Demokratie in Belarus beendet sein wird.

    Es ist in der Tat unangemessen, das Problem von Tichanowskajas Legitimität mit den Wahlen 2025 in Verbindung zu bringen, sofern das Regime nicht fällt und im gleichen Geiste weitermacht. Ja, für einen Teil der Belarussen und der westlichen Politiker könnte das Jahr 2025 zu einer psychologischen Schwelle werden, was das Verhältnis zu Tichanowskaja angeht. Aber im Kern geht es um etwas anderes.

    Wenn im Kampf gegen die Diktatur Erfolge ausbleiben, dürften die Hoffnungen auf eine „Präsidentin Sweta“ und ihr Team in jedem Fall schwächer werden. Auf gleiche Weise war seinerzeit das Interesse an dem oppositionellen Teil des Obersten Sowjets erloschen, der Legitimität für sich beanspruchte und 1996 von Lukaschenko aufgelöst wurde. Jene Gruppe geächteter Abgeordneter wurde schlichtweg an den Rand gedrängt und übte keinen Einfluss mehr auf die Politik aus.

    Ein anderes Beispiel, das Pessimisten gerne anführen, ist das historische Schicksal der Rada der Belarussischen Volksrepublik (BNR), die zu einer rein symbolischen Instanz verkam. Und die erklärten Gegner beschwören eben Parallelen zu Guaidó herauf.

    Falls die Opposition 2.0 es nicht schafft

    Tichanowskaja und ihre Anhänger befinden sich allerdings in einer grundsätzlich anderen Lage als die Rada der BNR. Und auch der Vergleich mit Venezuela hinkt. In unserem Teil des Planeten entfaltet sich ein eigenes Szenario: Putin und Lukaschenko haben die zivilisierte demokratische Welt allzu dreist herausgefordert. Und jetzt werden sie vorsichtig, aber langsam, aber sicher von ihr erwürgt.

    Kyjiws Erfolge auf dem Schlachtfeld sind in der Lage, die Macht dieser beiden verhassten Regime zu unterwandern. Viele der Belarussen, die 2020 an den Protesten beteiligt waren, haben sich mit dem Triumph des Bösen nicht abgefunden und warten auf eine Gelegenheit, um wieder auf die Straße zu gehen. Diese Revolution könnte sehr viel weniger samten ausfallen. Mitunter fallen grausame Diktaturen augenblicklich.

    Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass es eine relativ lange Transformationsphase geben wird. Wie bei der nordkoreanischen Variante, wo die Zeit auf Jahrzehnte stillsteht. Und selbst die Variante, bei der Belarus von Russland geschluckt wird, ist heute keine unwahrscheinliche Wendung des Szenarios.

    Von Tichanowskaja und ihrem Team wird, wenn wir ehrlich sind, in diesem Strudel von globalen historischen Ereignissen nicht allzu viel abhängen. Das bedeutet jedoch nicht, dass es das Beste wäre, sich entspannt zurückzulehnen und abzuwarten, bis die Leiche des Feindes vorbeischwimmt. Im Grunde hängt der Lauf der Geschichte von jedem einzelnen Menschen ab. Tichanowskaja wurde durch einen historischen Moment in riesige Höhen gehoben. Gleichzeitig ist sie aber auch nicht in der Situation, sich auf ihren Lorbeeren ausruhen zu können. Im demokratischen Milieu sollte es Konkurrenz geben. Es wäre allerdings unvernünftig, sich in innere Fehden zu verstricken und das zu zerstören, was Tichanowskaja und ihre Mitstreiter erreicht haben, und was heute das gemeinsame Kapital der demokratischen Bewegung ist.

    Dabei wage ich zu behaupten, dass es denen, die einen Fall des Regimes herbeisehnen, relativ egal sein dürfte, wer nun triumphierend in Minsk einzieht, Tichanowskaja im weißen Jeep oder, sagen wir, das Kalinouski-Regiment in schlammverdreckten Militärfahrzeugen.

    Die Zukunft liegt im Dunkeln und entspricht oft, allzu oft nicht den Erwartungen. Wenn die Opposition 2.0 scheitert, dann könnten im entscheidenden historischen Moment ganz andere Figuren an die Spitze katapultiert werden – Akteure, die wir jetzt noch gar nicht kennen. Ganz wie wir vor 2020 Tichanowskaja nicht kannten.

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  • Bystro #43: Wird Belaja Rus zur Einheitspartei im System Lukaschenko?

    Bystro #43: Wird Belaja Rus zur Einheitspartei im System Lukaschenko?

    Belaja Rus, deren Name sich auf die historische Bezeichnung belarussischer Gebiete bezieht, war ursprünglich als eine angebliche soziale Bewegung für die Staatspolitik Alexander Lukaschenkos gegründet worden. Nun hat sie sich als Partei konstituiert. 

    Warum dieser Schritt, ausgerechnet in diesem Jahr? Soll sie als Einheitspartei eine Rolle in der Umstrukturierung des belarussischen politischen Systems spielen? Wer ist ihr Vorsitzender? Und ist Lukaschenko wirklich daran interessiert, seine Macht zu teilen? Diese und weitere Fragen beantwortet der Politikwissenschaftler Kamil Kłysiński.

    1. Wie kam es zur Gründung von Belaja Rus?

    Im Unterschied zu vielen anderen undemokratischen Machtapparaten stützt sich das belarussische Modell nicht auf eine Partei. Die Entwicklung eines Parteiensystems hat Alexander Lukaschenko in den 1990er Jahren bewusst unterbunden. Er fürchtete, ein solches System könnte die Position der belarussischen Nomenklatura zu sehr stärken, vor allem die mittleren und hohen Beamten in zentralen Regierungsbehörden und die lokalen Führungskräfte. Da die staatlichen Funktionäre ohne institutionelle Repräsentation ihre (Gruppen)Interessen nicht artikulieren und schon gar nicht voranbringen konnten, blieben sie vom Präsidenten als faktisch einzigem Machtzentrum im Staat abhängig. Im Bewusstsein ihrer schwachen Stellung gründete die belarussische Beamtenschaft 2004 in Grodno die Bewegung Belaja Rus. Nachdem sie überall im Land Strukturen aufgebaut hatte, wurde sie 2007 schließlich als gesellschaftliche Organisation registriert. Dabei machten ihre Gründer von Anfang an keinen Hehl daraus, dass sie letztlich eine politische Partei etablieren wollten, die den Präsidenten und seine Politik bedingungslos unterstützt.

    2. Welche Rolle spielt die Organisation im politischen System von Belarus?

    Die Belaja Rus entwickelte sich rasch zur größten und am stärksten verankerten gesellschaftlichen Organisation der belarussischen Nomenklatura. Damit war und ist sie eine Stütze des belarussischen Herrschaftssystems. Ihre circa 200.000 Mitglieder werden in sämtliche Wahlkommissionen berufen, von den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen bis hin zu den Kommunalwahlen. Zugleich werden die personellen Ressourcen und die Büroräume der Organisation für die Wahlkampagnen regimetreuer Kandidaten genutzt, insbesondere zur regelmäßigen Wiederwahl Lukaschenkos. Ein erheblicher Teil der Abgeordneten des belarussischen Parlaments gehört außerdem der Belaja Rus an, auch wenn dies nicht offiziell bekanntgemacht wird. Zudem haben die meisten Mitglieder gleichzeitig Staatsämter inne, was das Potenzial der Organisation noch weiter stärkt. Da auch regierungstreue Künstler und Wissenschaftler dazu gehören, kann sie viele soziale Projekte umsetzen, die in den staatlichen Medien beworben werden. Sie zielen vor allem auf gesellschaftliche Gruppen ab, die der Regierung besonders wichtig sind, etwa Veteranen des Zweiten Weltkriegs, Kinder und Jugendliche oder Bauern.

    3. Wer ist Oleg Romanow, der Vorsitzende von Belaja Rus?

    Oleg Romanow wurde im Juni 2022 zum Vorsitzenden von Belaja Rus ernannt und ist bereits der dritte Leiter seit der Gründung. Anders als seine Vorgänger Alexander Radkow und Gennadi Dawydko hat Romanow bis dahin keine hohe Position in der Machthierarchie innegehabt. Er ist Professor für Philosophie und war Rektor der Universität Polazk, die nicht zu den führenden belarussischen Hochschulen gehört. In Polazk blieb er als radikaler Vertreter der imperialen russischen Ideologie der Russki Mir im Gedächtnis, der hart gegen die meisten pro-belarussischen Hochschullehrer vorging. Er sorgte persönlich für die Entlassung regimekritischer Beschäftigter und bevorzugte diejenigen, die sich nach Russland orientierten und sogar die kulturelle und nationale Identität der Belarussen leugneten. Dass ein so rückhaltloser Befürworter der Annäherung an Russland zum Vorsitzenden der Belaja Rus aufsteigen konnte, hat vor allem mit der politischen Gesamtkonstellation zu tun, in der sich Belarus seit 2020 befindet. In diesem Jahr kam der Dialog mit dem Westen völlig zum Erliegen. Einzig von Russland, seinem zentralen Wirtschafts- und Handelspartner und politischen wie militärischen Verbündeten, wurde Lukaschenko weiterhin unterstützt.

    4. Warum hat Lukaschenko eine Einheitspartei immer abgelehnt?

    Es kennzeichnet Lukaschenkos Regierungsstil, dass er den Anspruch der Nomenklatura auf institutionelle Repräsentation abblockt. Seit seinem Amtsantritt als Präsident 1994 hat er immer wieder betont, er wolle direkt mit den Bürgern kommunizieren, ohne politische Parteien als seiner Ansicht nach unnötige „Zwischenglieder“. Dies ist ein ideologisches Grundmerkmal des belarussischen Autoritarismus, in dem der Präsident als wichtigster (wenn nicht einziger) Garant für die Sicherheit der Bürger gilt. Nichts fürchtet Lukaschenko mehr als den Aufstieg einer im Staatsapparat verankerten Herrschaftspartei, die in der Lage wäre, die Interessen der Elite zu artikulieren und zu fördern. Denn eine solche Partei könnte seine Position im Staatsgefüge auf lange Sicht schwächen. Deshalb hat sich in Belarus während Lukaschenkos fast dreißigjähriger, ununterbrochener Regierungszeit kein Parteiensystem entwickelt. Die meisten Abgeordneten im – ohnehin unbedeutenden – Parlament sind parteilose Vertreter gesellschaftlicher Organisationen. Auch die Belaja Rus trat als solche auf.

    5. Warum fand die Transformation von Belaja Rus in eine Partei ausgerechnet in diesem Jahr statt?

    Die Belaja Rus hat wiederholt versucht, sich als politische Partei aufzustellen, stieß dabei aber jedes Mal auf Lukaschenkos Widerstand. Der Gründungskongress am 18. März 2023 war nun offenbar der entscheidende Wendepunkt in ihrer fast sechzehnjährigen Geschichte. Im Zuge der laufenden Rekonstruktion des belarussischen politischen Systems konnte sich Belaja Rus als Partei konstituieren. Ende 2022 sorgte Lukaschenko dafür, dass nur mehr Parteien anerkannt werden, die die politische Strategie des Regimes akzeptieren und kündigte die Auflösung aller noch zugelassenen Oppositionsparteien an. Im Februar 2023 wurde dann ein Verifikationsverfahren auf Basis der neuen Gesetze initiiert. Für den Frühling 2024 ist der erste Kongress der Allbelarussischen Volksversammlung angesetzt, die im Zuge der Verfassungsänderung von 2022 als neues Regierungsorgan eingeführt wurde. Diese Pseudo-Volksvertretung soll aus Abgeordneten bestehen, die unter anderem von einzelnen politischen Gruppierungen ernannt werden. Daraus erklärt sich die Notwendigkeit, ein der Regierung bedingungslos untergeordnetes Parteiensystem zu schaffen.

    6. Welche Rolle wird die Partei im Machtgefüge von Belarus spielen?

    In den letzten zwei Jahren hat Lukaschenko mehrfach öffentlich angedeutet, dass er das chinesische Modell bevorzugen würde, bei dem der Präsident nicht vom Volk, sondern von einer Delegiertenversammlung gewählt wird. Dies ist offenbar die Folge der Massenproteste gegen die abermalige Fälschung der Ergebnisse nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020, die er zweifellos als traumatisch erlebt hat. Bislang versichert die Regierung, das gegenwärtige Verfahren zur Wahl des Staatsoberhaupts werde beibehalten. Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass es irgendwann zu einer weiteren Verfassungsänderung kommt, bei der die Allbelarussische Volksversammlung mit zusätzlichen, entscheidenden Vollmachten ausgestattet wird. Allerdings hat Lukaschenkos Begeisterung für das chinesische Modell ihre Grenzen. Er möchte nach wie vor keine politische Partei hochkommen lassen, die ähnlich erfolgreich agieren könnte wie in China und in anderen autoritären Systemen, etwa im Nachbarland Russland. Bei seiner jährlichen Rede zur Nation am 31. März 2023 hat er solchen Bestrebungen eine entschiedene Absage erteilt. Die Belaja Rus wird somit – trotz der Ambitionen ihrer Vertreter – im sterilen neuen System nur eine regimetreue Partei unter mehreren sein.  

     

    Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Kamil Kłysiński
    Übersetzung: Anselm Bühling

    Veröffentlicht am 02.05.2023

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