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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Ein Akt der Rache

    Ein Akt der Rache

    Der neue Präsidialerlass mit der Nummer 278 hat es in sich: Belarussen, die im Ausland leben, erhalten an den diplomatischen Vertretungen ihrer Länder keine Ausweisdokumente mehr, können ihre Pässe nicht mehr verlängern, zudem sind auch Eigentumsgeschäfte von der neuen Regelung betroffen. Für all das müssen sie nun nach Belarus reisen, wovor sich viele Belarussen scheuen. Vor allem die rund 170.000, die nach den Protesten von 2020 ins Ausland geflohen sind. 

    Andrej Strishak von BYPOL sieht den neuen Präsidialerlass in einer langen Kette von Maßnahmen: „Das belarussische Regime beschneidet seit 2020 konsequent die Möglichkeiten für Diaspora und Emigranten. Zunächst wurde angekündigt, dass man im Ausland nicht mehr an Wahlen teilnehmen kann. Der zweite Schritt besteht darin, Menschen die Staatsbürgerschaft zu entziehen, weil sie in ,extremistischen Formationen‘ mitwirken oder unter ,extremistischen‘ oder ,terroristischen‘ Paragraphen vorbestraft sind. Und jetzt kommt diese Geschichte mit den Pässen.“ Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja warnt ihre Mitbürger vor einer Rückkehr nach Belarus: „Selbst wenn Ihr Pass abläuft, sollten Sie nicht in Ihr Heimatland zurückkehren, wenn Sie Verfolgung riskieren.“

    Das Online-Medium Reform.by hat sich den Präsidialerlass genauer angeschaut und analysiert mögliche Beweggründe der belarussischen Machthaber für diesen Schritt, der die Exilbelarussen aufwühlt. 

    Einfach ausgedrückt, beim Verkauf von Eigentum werden keine Vollmachten mehr akzeptiert, die von Notaren im Ausland beglaubigt wurden. Ebenso können laut dem neuen Erlass keine Vollmachten in der belarussischen Botschaft des Aufenthaltslandes ausgefertigt werden. Dasselbe gilt für eine Vielzahl anderer Dokumente, die belarussische Staatsbürger bislang in den diplomatischen Vertretungen und Konsulaten im Ausland neu beantragen oder verlängern konnten.

    Der Erlass tritt mit dem Zeitpunkt seiner offiziellen Bekanntmachung in Kraft. Aus dem Text des Dokumentes geht hervor, dass Immobiliengeschäfte nur noch persönlich oder auf Grundlage einer Vollmacht getätigt werden können, die auf dem Gebiet von Belarus beglaubigt wurde. Auch eine Reihe weiterer sensibler bürokratischer Anliegen fallen unter diese Beschränkung. Dazu gehören standesamtliche Urkunden und Bescheinigungen, die für die Eheschließung notwendig sind, die Ausstellung von Zeugniskopien, die Beglaubigung offizieller Dokumente und vieles mehr. 

    Auch die Beantragung eines neuen Passes oder die Verlängerung seiner Gültigkeitsdauer wird nicht mehr ohne einen Besuch in der Heimat möglich sein. Im Erlass heißt es, dass Reisepässe an Staatsbürger, die dauerhaft im Ausland leben und beim zuständigen Konsulat gemeldet sind, nur von den Meldebehörden am Ort der letzten Meldeadresse im Inland ausgestellt werden können. Alle Dokumente, die bis zum Inkrafttreten des Erlasses beantragt wurden, werden noch nach dem bislang geltenden Verfahren bearbeitet. Doch wer das nicht geschafft hat, steht über kurz oder lang vor dem Problem eines abgelaufenen oder, schlimmer noch, verlorenen Passes. 

    Mehr als nur Rache

    Das Ziel, das die Auftraggeber und Verfasser dieses Erlasses verfolgen, ist klar: Den Belarussen, die das Land aus Sicherheitsgründen verlassen haben, soll das Leben so schwer wie möglich gemacht werden. Rache an den Emigranten – eine weitere Form der Repression. Auf die ein oder andere Weise trifft der Erlass alle Staatsbürger unseres Landes, die im Ausland leben. Doch während die neuen Regelungen für diejenigen, die in der Heimat keine Festnahme aus politischen Gründen fürchten müssen, nur einen Verlust an Zeit und Geld für die Fahrt bedeuten, stellen sie die politischen Emigranten vor reale Probleme. Und im Moment ist noch nicht absehbar, wie diese gelöst werden können. 

    Mit dem Erlass erkennt die Regierung indirekt das Problem und den Umfang der Emigration aus Belarus seit 2020 an. Entsprechende Beschränkungen ausschließlich für öffentliche Vertreter und Aktivisten der Demokratiebewegung einzuführen, hätte keinen besonderen Sinn gemacht. Für diese Gruppe gibt es andere Gesetzesartikel, die unter anderem die Konfiszierung des Eigentums und die Aberkennung der Staatsangehörigkeit vorsehen. Daher sind die im Erlass verankerten Regelungen gegen die Mehrheit der Emigranten gerichtet. Sie entziehen faktisch allen, die in Belarus mit Verfolgung rechnen müssen, die Möglichkeit, in der Heimat befindliches Eigentum zu verkaufen oder zu überschreiben. Zudem erschweren sie die Legalisierung des Aufenthaltes im Zufluchtsland. 

    Der Beschluss ist ein empfindlicher Schlag für alle Emigranten, die bislang noch unentschlossen waren, ob sie ihr Eigentum in der Heimat verkaufen oder lieber abwarten sollten. Für alle also, die auf eine baldige Rückkehr und eine perspektivische Änderung der Situation hofften. Einerseits hat die Regierung nach den Ereignissen von 2020 den Menschen drei Jahre Zeit gegeben, um Eigentumsangelegenheiten und Dokumente in Ordnung zu bringen. Doch viele Menschen wollten oder konnten aus verschiedenen Gründen nicht alles aufgeben, was ihnen in der Heimat geblieben war. Nun werden solche Rechtsgeschäfte unmöglich, es sei denn, man geht ein Risiko ein, das längst nicht alle auf sich nehmen werden. 

    Der Erlass wird auch jene beeinflussen, die bislang über eine Emigration nachdenken. In Anbetracht der Probleme, die sich perspektivisch daraus ergeben und der Notwendigkeit, vor der Ausreise alle Brücken abzubrechen, indem man allen Besitz verkauft, könnten einige ihre Emigrationspläne gezwungenermaßen durchaus aufgeben. 

    Die Verfasser des Erlasses verfolgen vermutlich noch ein weiteres Ziel: Wenigstens diejenigen zur Rückkehr ins Land zu zwingen, die unverzüglich Eigentums- oder Passangelegenheiten erledigen müssen. Wahrscheinlich werden sie möglichst vielen, die ein Risiko eingehen, Strafverfahren anhängen. Da die vom Regime geschaffene Rückkehrerkommission keine Ergebnisse brachte, mussten andere Methoden gefunden werden, um die Emigranten zur Rückkehr zu zwingen. 
     
    Natürlich steht es jedem frei, das selbst zu entscheiden. Doch zuvor sollten alle Faktoren sehr genau gegeneinander abgewogen werden. Wenn das Eigentum schon mehrere Jahre ohne seinen Besitzer überstanden hat, kann das vielleicht auch noch eine Weile so bleiben. Nichts währt letztlich ewig. Ist der Verkauf einer Wohnung oder eines Autos das Risiko des Freiheitsverlustes wert? Das entscheidet jeder selbst. Doch die vom Regime eingeführten Beschränkungen der Verfügungsgewalt über Eigentum sind ein Verstoß gegen die Grundrechte und eine Weigerung des Staates, seinen grundlegenden Verpflichtungen gegenüber den Staatsbürgern nachzukommen – und das ist den belarussischen Machthabern offenbar auch vollkommen bewusst. Doch der Wunsch nach Rache und Schwierigkeiten für die verhassten „Geflohenen“ überwiegt. 

    Ein weiterer Spaltungsversuch

    Der unterzeichnete Erlass ist auch ein Versuch, einen Keil in die Diaspora zu treiben. Die Perspektiven auf einen kürzlich vom Vereinten Übergangskabinett präsentierten neuen belarussischen Pass sind bislang nur vage. Das liegt vor allem daran, dass völlig unklar ist, welche Staaten ihn anerkennen werden, wann das passieren wird und ob überhaupt. Swetlana Tichanowskaja versicherte heute, dass ihr Team daran arbeite, dass die Staatsbürger nicht ohne Pässe blieben. Ihr zufolge werden im September Beratungen mit der EU-Kommission stattfinden, ebenso werde das Thema in der UN-Generalversammlung besprochen. Doch in jedem Fall nehmen diese Abstimmungsprozesse einige Zeit in Anspruch, unterdessen werden viele Belarussen bereits mit dem Ablauf der Gültigkeit ihres wichtigsten Personaldokumentes konfrontiert sein. Die daraus entstehenden Probleme wird manch einer wohl auch den Demokratischen Kräften anlasten, die ihre Mitbürger nicht ausreichend schützen. Das kann wiederum zu Konflikten zwischen Vertretern der Diaspora und der Führung der Demokratischen Kräfte führen, worauf es das Regime auch angelegt hat. 

    Und in der Zwischenzeit?

    Vieles wird davon abhängen, wie sich die Regierungen der Staaten positionieren, in denen heute viele Belarussen leben. Sie könnten zum Beispiel beschließen, die Gültigkeitsdauer belarussischer Pässe zu verlängern. Oder bei abgelaufenen Dokumenten einfach „nicht genau hingucken“. Dabei hängt auch viel von den belarussischen Demokratischen Kräften ab, die entsprechende Verhandlungen führen müssen, immer unter Berücksichtigung der schwierigen Situation, in der sich viele Belarussen auf absehbare Zeit befinden werden. Und es gibt Präzedenzfälle. In Polen können belarussische Staatsbürger beispielsweise seit dem 1. Juli in vereinfachtem Verfahren ein sogenanntes polnisches Ersatzreisedokument erhalten, das einen verlorenen oder abgelaufenen Reisepass ersetzt. Es ermöglicht die Aus- und Einreise nach bzw. aus Polen. Bislang gilt diese Regelung temporär bis Ende 2023. Doch in Anbetracht der neuen Situation nach Lukaschenkos Erlass ist es durchaus möglich, dass die polnische Regierung dieses Verfahren fortsetzt. Auch hier wird viel von den Kontakten zur polnischen Seite und den Bemühungen des Vereinten Übergangskabinetts abhängen. 

    Doch die Diaspora sollte nicht nur auf die Demokratischen Kräfte hoffen. Die Belarussen in der Emigration stehen tatsächlich vor ernstzunehmenden Herausforderungen. Aber ihre Anzahl ist groß genug, um sich gemeinsam an die Regierungen der Aufnahmestaaten zu wenden. Diese Regierungen haben zwar keinen Einfluss auf das Problem der Eigentumsgeschäfte in Belarus, doch sie können den in ihrem Land lebenden Belarussen zuhören und durchaus dabei helfen, die Probleme mit den Dokumenten zu lösen. Das Wichtigste ist also, nicht passiv zu bleiben. So ist es nunmal mittlerweile: Das Regime handelt garstig, die Belarussen suchen einen Ausweg. Und der wird sich finden. Und die Garstigkeiten werden früher oder später ein Ende finden.

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  • Diktatoren unter sich

    Diktatoren unter sich

    Die zwei Diktaturen Russland und Belarus sind eng miteinander verwoben. Nicht nur ist Putins Russland der Garant für Lukaschenkos Herrschaft in Belarus. Auch der kleinere Nachbar kann dem großen Kriegsherren noch innenpolitisches Vorbild sein. 

    Die Strategien des Machterhalts moderner Diktaturen setzen weniger auf Unterdrückung als auf eine Imitation von Demokratie. Manche Experten bezeichnen diesen Ansatz als Smart Authoritarianism. Der oppositionelle russische Ökonom Sergej Gurijew schlägt den Begriff der Spin Dictatorship vor. Demgegenüber stehen Diktaturen, die sich auf bloße Gewalt und Angst stützen.

    In der belarussischen Morgen-Talkshow Obytschnoje Utro verortet Gurijew das Machthaber-Gespann Putin und Lukaschenko in diesem Konzept und skizziert Szenarien für ihr Ende.

    Die zwei Diktaturen Russland und Belarus sind eng miteinander verwoben. Der russische oppositionelle Ökonom Sergej Gurijew verortet im Interview das Machthaber-Gespann Putin und Lukaschenko in seinem Konzept des Spin Dictatorship / Foto © Gavriil Grigorow/SNA/imago images

    Sergej Gurijew: Wir haben Lukaschenko von Anfang an als Diktator der Angst eingestuft. Natürlich waren die Repressionen vor 2020 nicht so heftig, aber es gab sie von Beginn [seiner Herrschaft − dek] an, und zwar offen: Oppositionelle Politiker sind nicht erst vor der Wahl 2020 verschwunden, sondern auch schon zehn Jahre davor. Präsidentschaftskandidaten wurden inhaftiert. Das waren offene Repressionen. 
    Und erinnern Sie sich, wie Lukaschenko 2020 begann, über Propaganda nachzudenken – dazu musste er Experten aus Russland einladen. Da kamen Flugzeuge voller Propagandisten an, die ihm halfen, seine Propaganda in Schwung zu bringen. Bis dahin hatte Lukaschenko nie wirklich darüber nachgedacht, dass er irgendwelche Medienmechanismen brauchen könnte. Er hatte sich einfach auf Gewalt verlassen. 

    Obytschnoje Utro: Er ist also von Anfang an ein Diktator der Angst, interessant. Können Sie sich an diesen Wettlauf von Lukaschenko und Putin ab etwa 2000 erinnern: „Wer von beiden ist der größere Diktator?“ In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Putin eher ein Diktator der Täuschung ist.

    Ja, jedenfalls was die Anwendung von Gewalt anging, lag Putin hinter Lukaschenko zurück. In Russland hieß es immer, man müsse nach Belarus schauen, weil das, was in Belarus jetzt passiere, Russland ein paar Jahre später erreiche. Aber wir sehen Putin bis 2021/2022 wirklich als einen Diktator der Täuschung. 

    Die erste Auflage unseres Buchs erschien 2022 auf Englisch. Das Manuskript war im Frühjahr 2021 fertig. Damals sagten wir, dass sich Putin anscheinend bereits in diese Richtung bewegte. Abgeschlossen war diese Transformation in der ersten Woche nach Beginn des großen Angriffs auf die Ukraine 2022, als alle unabhängigen Medien geschlossen, Facebook, Twitter und Instagram blockiert wurden und Putin eine offizielle Zensur installierte, sodass man für solche Gespräche, wie wir sie gerade führen, für viele Jahre im Gefängnis landen kann. Das ist etwas, was es in Russland in den Jahren davor noch nicht gab. Aber diesen Wettlauf, den gab es tatsächlich. 

    Insgesamt bewegt sich das russische Regime auf eine Ausweitung der Repressionen zu

    Wir beschreiben auch, wie Diktatoren voneinander lernen. Diktatoren der Täuschung lernen voneinander, wie man Propaganda und Zensur am besten einsetzt. Diktatoren der Angst wiederum bilden andere Diktatoren der Angst sowie Diktatoren der Täuschung weiter. Insofern studieren nicht nur wir die Diktatoren, sondern auch sie tauschen untereinander ihre Erfahrungen aus. 

    Seit Beginn des großangelegten Angriffskriegs 2022 wetteifern sie jetzt, wer der Abgebrühtere ist? Zum Beispiel, wenn es um das Foltern der Bevölkerung geht? Oder wer die meisten politischen Gefangenen hat? Wer ist denn der größere Herodes, wie sehen Sie das?

    Na ja, so weit wie Lukaschenko geht Putin definitiv noch nicht. Russische Oppositionelle haben noch Kontakt zur Außenwelt, wenn auch sehr beschränkt. Sogar Alexej Nawalny kann aus dem Gefängnis heraus Botschaften schicken und mit seinem Anwalt reden. Von den belarussischen Oppositionellen hört man seit Monaten gar nichts mehr. Putin macht nicht, was Lukaschenko macht: Aufnahmen aus dem Jahr 2020 durch Gesichtserkennungsprogramme jagen und die Protestierenden von damals verhaften und foltern lassen. So etwas gibt es in Russland bisher nicht. Aber insgesamt bewegt sich auch das russische Regime auf eine Ausweitung der Repressionen zu.

    Einige Politologen, wie zum Beispiel der Belarusse Waleri Karbalewitsch, der häufig bei uns zu Gast ist, sind der Meinung, dass Lukaschenko heute sehr fest auf seinem Thron sitzt und nicht vor hat abzudanken. Gleichzeitig werden die Schrauben [der Repressionen − dek] von Tag zu Tag fester angezogen. Sie aber schreiben im Vorwort zu Ihrem Buch, dass Einschüchterung immer ein Zeichen von Verzweiflung ist, das eher auf Schwäche als auf Stärke hindeutet. Je mehr Belarus zu einem Konzentrationslager werde, desto sicherer könne man davon ausgehen, dass Lukaschenkos Kräfte mit jedem Tag schwinden.

     Ja, weil es eine Sackgasse ist. Man kann nicht mehr dahin zurückkehren, wo Belarus noch vor 2020 stand. Trotz aller Unzulänglichkeiten des Wirtschaftsmodells gab es doch einen Sektor für Spitzentechnologie, der Dienstleistungen in die ganze Welt exportierte. Belarus hatte trotz aller Probleme einen konkurrenzfähigen Wirtschaftszweig. Natürlich war das Land abhängig von Hilfe aus Russland, aber trotzdem − das, was früher war, wird nicht mehr wiederkommen. 
    Und jetzt, wo im Land russische Truppen stehen, hat Belarus natürlich seine Souveränität verloren. Putin kann, wann immer er will, den Staatschef austauschen. Auch in diesem Sinne führt das, was Lukaschenko macht, sein eigenes Regime in die Katastrophe. Er hat keine wirkliche Wahl mehr, er ist direkt von Putin abhängig, nicht nur von Putins Geld, sondern auch von Putins Soldaten. Das ist ein klares Zeichen dafür, dass sein Modell gescheitert ist. 

    Apropos scheitern, nicht nur sein Regime scheitert, er stürzt auch uns ins Verderben, nicht wahr? Er ist schon seit fast 30 Jahren an der Macht. Dass er seit 2020 nicht mehr abdanken kann, ist klar. Aus Ihrer Sicht als Wirtschaftswissenschaftler, wie teuer kommt uns Lukaschenkos Wunsch zu stehen, bis zu seinem Tod an der Macht zu bleiben? Kann man sagen, je länger er auf dem Thron sitzt, desto weiter wird er Belarus herunterwirtschaften?

    Das sowieso, mit Sicherheit. Das haben wir auch 2011 und 2012 gesehen, als die Regime in Nordafrika und im Nahen Osten gestürzt wurden. Wir haben gesehen, dass es in einem Land, in dem jahrzehntelang ein brutaler Diktator an der Macht war, weder eine Zivilgesellschaft noch eine Opposition gibt. Und je länger der Diktator an der Macht war, desto schwieriger ist das Schicksal des betreffenden Landes nach seinem Ende. 
    Das heißt nicht, dass die Demokratisierung schädlich ist. Das bedeutet, dass die Perspektive eines Landes schlechter wird, je länger ein Diktator an der Macht ist. Und die Schuld daran liegt nicht bei jenen Menschen, die nach dem Diktator kommen, sondern beim Diktator, der die Zivilgesellschaft zertrampelt und ausmerzt und die Wirtschaft ruiniert. Daher ist in einem Land, in dem ein brutaler Diktator jahrzehntelang alles Lebendige und Unabhängige im Keim erstickt hat, nichts Gutes zu erwarten. 

    Was könnten wir der Welt anbieten, sagen wir mal, wenn Lukaschenko nicht mehr wäre? Landwirtschaft? Also, wenn zum Beispiel die Schweiz für Käse und Schokolade steht und Belgien für Bier und Schokolade, womit könnte Belarus sich nützlich machen für die normale Welt? 

    Wie gesagt, Belarus hatte eine konkurrenzfähige Branche, nämlich die Programmierung. Aber generell ist Belarus ein ganz normales europäisches Land. Man kann sich ansehen, was in Polen oder den baltischen Nachbarländern von Belarus in diesen besagten 30 Jahren passiert ist. Das sind Länder mit hohen Einkünften geworden. Zwar jammern viele Leute, sie hätten Probleme, die Jugend wandere ab, die Wirtschaft bleibe immer noch hinter der deutschen zurück. Das stimmt alles. Aber welchen Weg zum Beispiel Polen in diesen 30 Jahren zurückgelegt hat, zeigt, um wieviel reicher Belarus sein könnte. Polens Pro-Kopf-Einkommen lag vor 30 Jahren auf demselben Niveau wie das der Ukraine vor dem Krieg. Heute ist es dreimal höher. Und Polens Beitritt zur EU und dass es trotz aller Probleme irgendwie die Korruption in den Griff bekommen und demokratische Institutionen geschaffen hat, zeigt, wie viel auch ein Land wie Belarus gewinnen könnte, wenn es den demokratischen europäischen Weg einschlagen würde. 

    Könnte da sozusagen die Export-Marke des „belarussischen IT-Fachmanns“ entstehen, die man auf der ganzen Welt kennt, oder … 

    Diese Marke gab es ja schon, nämlich bis 2020. Der High-Tech-Park war tatsächlich eine Marke, da gab es Firmen auf globalem Spitzenniveau, darunter natürlich EPAM, das man auf der ganzen Welt kennt. Natürlich litt die belarussische Wirtschaft unter der staatlichen Dominanz, aber gerade der High-Tech-Park war so eine Insel der Freiheit und der Orientierung am Weltmarkt. 
    Aber der Gedanke, dass Belarus nur ein einziges Produkt liefern soll, ist ja eigentlich Unsinn. Belarus ist ein ganz normales europäisches Land und könnte Teil der Weltwirtschaft werden. Daran ist nichts Übernatürliches. Wir haben gesehen, wie verschiedene Länder in der globalen Arbeitsteilung ihren Platz gefunden haben. Die Slowakei zum Beispiel produziert Autos. Hätte man vor 30 oder 40 Jahren ahnen können, dass die Slowakei einer der führenden Autoproduzenten der Welt sein wird? Ja, da wurde der Tatra hergestellt, aber der war ja, wie Sie wissen, nicht das qualitativ beste Auto der Welt. Und trotzdem werden heute in der Slowakei alle möglichen Marken hergestellt. Belarus war, wie gesagt, ein Exporteur von Spitzentechnologien und hochqualifizierten IT-Dienstleistungen. Und man kann davon ausgehen, dass Belarus auch andere Sachen produzieren könnte. 

    In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie wichtig die Unterstützung durch echte demokratische World Leader für Länder ist, die diesen Weg erst noch beschreiten wollen. Wir Belarussen haben große Angst, dass es Lukaschenko nach Russlands Niederlage im Krieg, wenn es denn eine geben wird, gelingen wird, trocken aus dem Wasser zu steigen. Kürzlich hatten wir Ekaterina Schulmann in der Sendung, die mutmaßte: „So schlau, wie er ist, könnte er es durchaus schaffen, mit den Ländern des Westens in eine Art Dialog zu treten.“ Gleichzeitig finden wir in Ihrem Buch den Satz: „Wenn der Mythos der Diktatur einmal entlarvt ist, kann man ihn nicht mehr wiederherstellen.“ Wie sehen Sie das, wie wahrscheinlich ist ein Szenario, in dem Lukaschenko unbescholten bleibt und obendrein vielleicht sogar noch als Friedensstifter wahrgenommen wird?

    Ja, das ist eine berechtigte Frage. Das hatten wir 2015 schon, als er sich freute: „Ich bin nicht mehr Europas letzter Diktator.“ Da gab es die Minsker Abkommen, und Lukaschenko sagte: „Der Westen braucht mich, weil ich nicht ganz so übel bin wie Putin.“ 
    Ich habe den Eindruck, dass so etwas seit 2020 nicht mehr möglich ist. Nach den Massenrepressionen, die wir gesehen haben, nach der Folter, nach Lukaschenkos Beteiligung an dem Großangriff auf die Ukraine 2022 sehe ich keinen Weg zurück mehr. Obwohl wir auf der Welt auch schon alles Mögliche gesehen haben. 

    Lukaschenkos Schicksal hängt von Putins Schicksal ab

    Insofern, wenn es ein größeres Übel als Lukaschenko gibt, nämlich Putin, dann kann es durchaus passieren, dass der Westen wieder nach Abstufungen von Irrsinn und Brutalität unterscheidet. Aber ich glaube nicht, dass Lukaschenko in den Klub der Zivilisierten zurückkehren kann, weil die Welt die Folter gesehen hat, weil die Welt die Misshandlungen gesehen hat, weil die Welt die gestohlenen Wahlen gesehen hat. 
    In dieser Hinsicht unterscheidet sich Belarus von Russland: Denn in Russland gibt es keine legitimen Politiker, die eine Wahl gegen Putin gewonnen hätten. Aber in Belarus gibt es sie. Und es hat natürlich seinen Grund, warum 2022 nicht nur gegen das Putin-Regime Sanktionen verhängt wurden, sondern auch gegen Lukaschenkos Regime. Dann war da noch die Flugzeugentführung. Da macht es schon nochmal einen Unterschied, ob man die eigene Bevölkerung foltert oder Staatsbürger westlicher Länder in Gefahr bringt. Also, ich glaube, für Lukaschenko gibt es keinen Weg zurück. 

    Wie stellen Sie sich dann sein Ende vor? Muss er vielleicht doch nach Den Haag? Oder gibt es ein anderes Szenario? In Belarus gibt es ja genug Menschen, die gern Gaddafis Schicksal für Lukaschenko sehen würden. 

    Ich glaube nicht, dass in Belarus dasselbe passieren wird wie in Libyen. Ich glaube, dass irgendwann ein Haftbefehl gegen Lukaschenko erlassen wird. Doch das Ende des Regimes wird davon abhängen, wie es in Russland weitergeht. Ein mögliches Szenario ist, dass Putin und Lukaschenko sich überwerfen. Aber ich halte es für wahrscheinlicher, dass Putin Lukaschenko an der Macht lässt und Lukaschenko ab dem Moment, da Putin weg ist, weder Soldaten noch Geld haben wird, um sich im Sattel zu halten. Dann wird er sich irgendwohin nach Dubai oder Venezuela absetzen und das Regime in sich zusammenbrechen. 

    Ich glaube nicht, dass er festgenommen und umgebracht wird. Ich glaube, dass er versuchen wird zu flüchten. Jedenfalls wurde bereits 2020 deutlich, dass dieses Regime ohne Putins Unterstützung nicht lebensfähig ist. Für Russland sind das keine hohen Geldbeträge, mit denen es Lukaschenko stützt, das könnte es sich bis in die Ewigkeit leisten. Aber für Belarus ist die Unterstützung durch Russland entscheidend. Also hängt Lukaschenkos Schicksal von Putins Schicksal ab. 

    Auf diese Ewigkeit möchte ich genauer eingehen. Was passiert momentan mit Russlands Wirtschaft? Seit Kriegsbeginn sind schon eineinhalb Jahre vergangen … Mein Gott, seit 2014! Und dann kamen Sanktionen und nochmal Sanktionen, immer mit der Erwartung, gleich ist es mit der russischen Wirtschaft aus und vorbei – aber es geht immer weiter. Was hat Russland da zum heutigen Tag für eine Knautschzone? 

    Die Wirtschaft in Russland durchläuft keine Krise, sie steht nicht vor dem Untergang, aber sie wächst auch nicht, und Putin geht langsam das Geld aus. Wenn die Sanktionen weiter verschärft werden, wird er noch weniger Geld haben. Das wirkt sich unmittelbar auf das Geschehen auf dem Schlachtfeld aus. Putin hat nicht Geld und Munition ohne Ende, daher kann er auch nicht immer wieder neue Gebiete erobern. Andererseits sehen wir, dass die Menge an Soldaten und Munition, die Putin zur Verfügung hat, ausreicht, um die aktuelle Frontlinie zu halten. Deswegen muss der Westen, wenn er Putin wirklich auf dem Schlachtfeld besiegen will, auch mehr liefern − mehr Waffen an die Ukraine liefern, die Sanktionen verschärfen und auch die Schlupflöcher stopfen und den Preisdeckel für den Export russischen Erdöls senken. 

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  • Verbot eines Klassikers

    Verbot eines Klassikers

    Noch im September 2016 wurde für den Dramatiker und Mitbegründer der belarussischen Oper Winzent Dunin-Marzinkewitsch und den Komponisten Stanislaw Monjuschko ein Denkmal im Zentrum von Minsk enthüllt. Damals betonte der stellvertretende Vorsitzende des Exekutivkomitees der Stadt Minsk, Igor Karpenko, in seiner Rede die Bedeutung dieses Ereignisses, das am Tag der Stadt Minsk stattfand: „Am Geburtstag unserer Hauptstadt sind wir stolz darauf, dass es in der Geschichte unseres Landes so große Namen wie Stanislaw Monjuschko und Winzent Dunin-Marzinkewitsch gibt.“ Fast sieben Jahre später gilt Dunin-Marzinkewitsch, nach dem auch zahlreiche Straßen in ganz Belarus benannt sind, als „Extremist“, zwei seiner Gedichte und das Vorwort zur Gesamtausgabe des Schriftstellers wurden im August 2023 von den belarussischen Behörden als „extremistisch“ eingestuft.

    Er ist damit der erste belarussische Literaturklassiker, dessen Werke im Zuge der Repressionen nach den Protesten von 2020 de facto verboten wurden, neben dutzenden Medien, Telegramkanälen, Webseiten, Publikationen oder Büchern. Was könnten die Gründe für diese Entscheidung sein? Hat das Verbot möglicherweise mit der generellen Angst der belarussischen Machthaber vor Aufständen gegen das herrschende System zu tun? Schließlich soll Dunin-Marzinkewitsch auch an den Aufständen von 1863–1864 gegen das Zarenreich beteiligt gewesen sein. Mit diesen Fragen und mit den historischen und möglichen aktuellen politischen Hintergründen des Verbots beschäftigt sich das Online-Medium Reform.by

    Die belarussischen Gesetzeshüter graben nun in den Tiefen der Jahrhunderte und befassen sich mit den Klassikern der Nationalliteratur. Wie die Staatsanwaltschaft der Oblast Minsk mitteilte, wurden das Vorwort zur Werkausgabe sowie zwei Gedichte von Winzent Dunin-Marzinkewitsch für extremistisch erklärt. Was haben Generalstaatsanwalt Schwed und seine Mitstreiter damit im Sinn? Und warum riecht dieser Vorgang verdächtig nach dem fragwürdigen russischen Pseudohistoriker Alexander Djukow, der seine Ohren überall hat?

    Ein unbelehrbarer „Extremist“ 

    Foto © Anton Prušynski/Public Domain
    Foto © Anton Prušynski/Public Domain

    Den „Krawall“ fand die Staatsanwaltschaft in den zwei Texten Es wehen die Winde [Płynuć wietry] und Rede eines alten Mannes [Hutarka staroha dzieda]. Schon zu Lebzeiten war Dunin-Marzinkewitsch dafür vom Zarenregime abgestraft worden. Im März 1862 sandte Generalmajor Kuschaljow, interimistischer Militärgouverneur in Minsk, ein Rundschreiben aus, in dem es hieß: „Es sind mir glaubhafte Hinweise zugegangen, denen zufolge der Gutsbesitzer Marzinkewitsch in der belarussischen Volkssprache ein empörendes Gedicht schrieb, namentlich ‚Rede eines alten Mannes‘, das darauf abzielt, die Bauern der westlichen Gubernien gegen die Regierung aufzuwiegeln … und dass der Herr Marzinkewitsch versucht, sein Werk unter dem einfachen Volk zu verbreiten“.

    Dunin-Marzinkewitschs Werk erzürnte die russischen Machthaber in jeder Hinsicht, zum einen die belarussische „Volks“-Sprache, in der der Autor nicht nur schrieb, sondern sogar ein Theaterstück zur Aufführung brachte, das natürlich umgehend verboten wurde. Zum anderen stellten die Gedanken des „alten Mannes“ einen „Krawall“ auf ganzer Linie dar, einen direkten Aufruf an die Bauern, nicht dem russischen Väterchen Zar zu glauben, sondern den in Vorbereitung befindlichen Januaraufstand unter Führung Kastus Kalinouskis zu unterstützen:

    Sie sagen, die Moskalen wollen
    unser Los zum Bess’ren drehen.
    Oje! Glaubt nicht daran, ihr Leute, 
    nichts davon werden wir sehen.
    Wenn sie es denn wirklich wollten, 
    wär’s schon lange so geschehen.

    Dieses Werk entstand vermutlich Anfang 1861, wurde in der Latinica [Łacinka, auf Belarussisch in lateinischer Schrift – dek] gedruckt und im Vorfeld des Aufstands von 1863–1864 in Form eines Flugblatts unter der Bauernschaft verteilt. Dieselben Zeilen rufen offensichtlich auch heute noch Zorn in der mittlerweile belarussischen Staatsanwaltschaft hervor, die sie zu extremistischem Material erklärt. Der Kreis hat sich geschlossen – anderthalb Jahrhunderte später solidarisieren sich die hiesigen Staatsanwälte wieder mit dem russischen imperialen Regime und unterstellen demselben Schriftsteller wieder Umsturzgedanken. Ein wohl anerkannter Klassiker der belarussischen Literatur ist also ein unbelehrbarer „Extremist“. 

    Es sagt viel aus, dass auf der heute veröffentlichten Liste der extremistischen Materialien neben Dunin-Marzinkewitsch auch Bücher von Laryssa Henijusch, Natallja Arsennewa, Lidsija Arabei und Uladsimir Njakljajeu stehen. Es ist ganz klar der Versuch, eine Brücke zu schlagen von den „Extremisten“ des 19. Jahrhunderts über die „Extremisten“ des Zweiten Weltkriegs bis in unsere Zeit und über die Epochen hinweg einen „roten Faden des Hasses“ zu spannen – vom Kalinouski-Aufstand bis hin zu den Protesten von 2020.

    Wonach suchen sie eigentlich?

    Was hat die Staatsanwaltschaft vor? Und warum kommen sie plötzlich auf Dunin-Marzinkewitsch? Vielleicht steckt wirklich die Tatsache dahinter, dass der Schriftsteller eng mit dem Aufstand von 1863–1864 verbunden ist. Nach dessen Niederschlagung wurde der Poet verhaftet und saß mehr als ein Jahr in der zu trauriger Berühmtheit gelangten Pischtschalauski-Burg [dem heutigen Minsker KGB-Untersuchungsgefängnis –dek]. Eine Schuld konnten ihm die Ermittler des Zaren jedoch nicht nachweisen. Der Schriftsteller wurde freigelassen, lebte danach aber noch viele Jahre unter Überwachung der russischen Polizei. Seine Tochter Kamilla verbannten die Zaristen in den Ural, der Vorwurf lautete, in der von ihr gegründeten Schule sei Agitationsarbeit unter Soldaten und Bevölkerung geleistet worden.

    Die Angriffe auf Dunin-Marzinkewitschs Werk zeugen also davon, dass das belarussische Regime bereit ist, sich intensiv mit einer Umschreibung der Geschichte des Aufstands von 1863–1864 und seiner Teilnehmer zu beschäftigen. Dunin-Marzinkewitsch des „Extremismus“ zu bezichtigen, ist erst der erste Schritt in diese Richtung. 

    Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft kann weiterreichende Folgen haben. Heute gibt es zum Beispiel in vielen belarussischen Städten, darunter auch in Minsk, nach dem Schriftsteller benannte Straßen. Doch wie sieht das aus, wenn Straßen nach Autoren „extremistischen Materials“ benannt sind? Ist die Umbenennung der nächste Schritt?

    Danach kann man sich daran machen, die Rolle und Bedeutung des Aufstands neu zu bewerten. Da daran durch die Bank weg „Extremisten“ teilgenommen haben, kann man auch die Befreiungsbewegung insgesamt so bezeichnen. Erst die Ereignisse negativ konnotieren, um sie dann vollständig aus dem Gedächtnis der Belarussen zu streichen. Allen Helden ihren Status nehmen, bis zum Schluss auch Kastus Kalinouski an die Reihe kommt. 

    Damit wird endlich auch ein langjähriger Traum der russischen Imperialisten erfüllt, bei denen allein die Erwähnung des Aufstandes und des Namens Kalinouski abgrundtiefen Hass hervorruft. In wessen Auftrag handelt die belarussische Staatsanwaltschaft also heute?

    Imperiale Intrigen und der „Terrorist“ Kalinouski

    Den Aufstand von 1863–1864 instrumentalisieren die russischen Imperialisten schon lange und intensiv. 2020 veröffentlichte Alexander Djukow, Direktor der Stiftung Istoritscheskaja pamjat [dt. Historisches Gedächtnis], eine Liste von einfachen Menschen, die auf dem Territorium des heutigen Belarus, Litauen und Lettland von den Aufständischen ermordet wurden. Derselbe Djukow gab auch ein Buch heraus mit dem Titel Neiswestny Kalinowski. Propaganda nenawisti i powstantscheski terror na belarusskich semljach, 1862–1864 gody [dt. Der unbekannte Kalinowski. Hasspropaganda und aufständischer Terror auf dem Gebiet Belarus‘, 1862–1864].

    Die Diskreditierung historischer Ereignisse und Persönlichkeiten, die der russischen Geschichtsversion widersprechen oder nicht genehm sind, ist eine der zentralen Stoßrichtungen der von Djukow geleiteten Stiftung Historisches Gedächtnis. Eine der Hauptaufgaben dieser Organisation ist die „Entwicklung von Vorstellungen, die Russlands Interessen entsprechen und die gemeinsame Geschichte beider Staaten wissenschaftlich korrekt darstellen“. Die gesamte Tätigkeit der Stiftung kann man charakterisieren als „aktive Maßnahmen“, um den russischen Einfluss in unserem Land zu verstärken. 
     
    Djukow beschreibt Kastus Kalinouski als einen Menschen, der eine Agenda des Terrors verfolgt habe und in seinen Veröffentlichungen „zielstrebig Hass säte“. Laut Djukow sieht die „Stilisierung dieses Menschen zum Helden, die sich in der Sowjetzeit vollzog und sich jetzt fortsetzt, einigermaßen seltsam aus und sollte überprüft werden“. Djukows Thesen werden sehr gern von russischen, und mittlerweile auch von belarussischen staatlichen Medien übernommen und verbreitet. 

    Man sollte meinen, dass unwissenschaftliche Thesen zur Geschichte nur von wenigen Menschen auf der Welt vertreten werden? Doch Alexander Djukows Position findet heute Unterstützung in den oberen Etagen des belarussischen Regimes und die belarussische Vereinigung Snanije [dt. Wissen] unterzeichnete einen Kooperationsvertrag mit Djukows Stiftung Historisches Gedächtnis. Eine ebensolche Vereinbarung schloss auch das Forschungspraktische Zentrum zur Stärkung von Recht und Ordnung der belarussischen Generalstaatsanwaltschaft. Wundert man sich da immer noch, dass die Werke von Dunin-Marzinkewitschs als „extremistisches Material“ eingestuft werden? 

    Djukows Thesen wiederholt auch Igor Sergejenko, der Vorsitzende der Präsidialadministration Lukaschenkos. Der ist nebenbei auch der Vorsitzende des Republikanischen Rates für Geschichtspolitik bei der Präsidialadministration. Bei ihm finden sich „der in der sowjetischen Historiographie geschaffene Mythos von Kalinowski“ und die Beschuldigung des Aufstandsanführers der „grausamen Abrechnung mit der belarussischen orthodoxen Bevölkerung“. Die Krone des Ganzen – der Vergleich Kalinouskis mit Bandera, Schuchewitsch und Romuald „Bury“ Rajs

    Das Regime bereitet den Boden, um den Aufstand und seine Anführer von verschiedenen Seiten anzugreifen. Mithilfe der Djukow‘schen „Forschungsergebnisse“ und mit Hilfe der Diskreditierung der bekannten Aufständischen als „Extremisten“. Damit werden die Voraussetzungen geschaffen, um am Ende den Aufstand selbst für „gesetzeswidrig“ zu erklären und seine Anführer damit post mortem wegen Terrorismus, Extremismus und Genozid an der Zivilbevölkerung anklagen zu können. Bislang gibt es keine Gesetze, die das zulassen, aber wer hindert sie daran, sich neue auszudenken? Ich fürchte, Winzent Dunin-Marzinkewitsch wird zwar der erste, aber nicht der letzte „Extremist“ unter den historischen Persönlichkeiten bleiben. Der Kampf um die belarussische Geschichte hat das nächste Level erreicht. 

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  • Menschen im Sumpf

    Menschen im Sumpf

    Es sind Bilder von Szenen und Menschen, die aus der Zeit gefallen scheinen. Pferdekarren, hölzerne Kanus als Transportmittel, unbefestigte Straßen, Frauen, die Flachs schlagen. Vielleicht stellte sich auch bei Louise Arner Boyd (1887–1972) dieser Eindruck ein, als die berühmte Forscherin 1934 das südliche Belarus mit seinen wilden Sümpfen und Wasserwegen bereiste. Schließlich kam sie aus den damals vergleichsweise hochmodernen USA in diese archaisch wirkende Region, die in Belarus von einem nahezu mystischen Faszinosum umweht ist und der der Schriftsteller Iwan Melesh (1921–1976) mit seinem Epos Menschen im Sumpf (1962) ein literarisches Denkmal setzte. 

    „In der literaturwissenschaftlichen Forschung wird Melesch oft als Beispiel für ein sakralisiertes Raumverständnis herangezogen“, schreibt die Slawistin Nina Weller in einem Feature für Deutschlandfunk. „Das Bild des Menschen im Sumpf steht demnach für einen belarussischen Menschentypus, der sich durch die Erfahrung des Überlebens unter widrigen Bedingungen, aber auch durch die unbeirrte Wiederaneignung des fremdbestimmten Raums auszeichnet. Der Mensch im Sumpf verharrt eher passiv in seinem kleinen Kosmos, passt sich dem aufgezwungenen Schicksal an, doch nutzt er die Situation gewitzt auch zum eigenen Vorteil.“

    Die Fotos, die Louise Arner Boyd auf ihrer Reise durch die Sümpfe machte, geben auch einen Eindruck von dieser kulturellen Mystik. Das belarussische Online-Medium Zerkalo hat sie für seine Leser wiederentdeckt. Die einzigartigen Bilder stammen aus der Sammlung der American Geographical Society Library, die an den University of Wisconsin-Milwaukee Libraries aufbewahrt wird. Wir zeigen eine Auswahl.

    Vor fast 90 Jahren, im Jahr 1934, unternahm die berühmte US-amerikanische Forscherin und Reisende Louise Arner Boyd nach der Teilnahme an einem internationalen Geographenkongress in Warschau eine dreimonatige Reise durch die Länder der sogenannten Kresy. Sie reiste mit dem Auto von Przemyśl in Polen über Lwiw, Kowel, Kobrin, Pinsk, Kletsk, Njaswish und Slonim nach Wilna. Ihre Fotos und Notizen über die Länder des heutigen Belarus, Polens, der Ukraine und Litauens können uns viel über das Leben der Menschen erzählen, die in der Zwischenkriegszeit in dieser Region lebten. Dabei schenkte die Reisende dem belarussischen Polesien, dem Fluss Prypjat und seinen Nebenflüssen sowie der Hauptstadt der Region – Pinsk – besondere Aufmerksamkeit. 

    Wir bieten einen Blick in das Alltagsleben der Bewohner von Polesien in der Zwischenkriegszeit, das die Reisende in ihren Fotos festgehalten hat, begleitet von ihren ureigenen Bildunterschriften bzw. Anmerkungen.

    Ein Bauer mit Pflug und Pferd in einem Boot in den Prypjatsümpfen, 1. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Eine Familie steht am späten Nachmittag am Ufer der Prypjatsümpfe, dahinter ihr Haus. Links eine Frau beim Wäschewaschen, 1. Oktober 1934
    „Die Menschen hier besitzen ihr eigenes Grundstück, und die Grundstücksgrenzen sind entlang der Uferpromenade durch Markierungen gekennzeichnet. Sie bemessen ihr Eigentum nach Sznwry, was Seil bedeutet. Sie sagen: ,Ich habe so viele Sznwry‘, anstatt in Hektar zu messen.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Mann fischt von einem Kanu aus, Prypjatsümpfe, 1. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Zwei Frauen stehen in einem Kanu und waschen Wäsche, 2. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Segelboot auf dem Fluss Pina in der Nähe von Pinsk, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Männer beim Abladen von Heu von Lastkähnen am Markt von Pinsk, 30. September 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Lastkahn, beladen mit Holz, nähert sich Pinsk, 30. September 1934
    „Viele dieser Lastkähne kommen aus der Nähe der Grenze zu Russland.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Passagierschiff legt am Ufer in Pinsk an, 30. September 1934
    „Dies ist die Art von Seitenrad-Dampfer, wie sie auf dem Prypjat und seinen Nebenflüssen verwendet werden.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Menschen in einem mit Baumstämmen beladenen Kanu vor Pinsk, 2. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Menschen sitzen in Kanus am Pinsker Markt, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Markt von Pinsk: Karren mit Heu und Birkenrinde, die für die Herstellung von Sandalen genutzt wird, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Stand mit Stiefeln auf dem Markt in Pinsk, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Eine Pferdekutsche auf der Hauptstraße in Pinsk am Markttag, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Verkaufsstände auf dem Pinsker Marktplatz, 3. Oktober 1934
    „Stände auf dem Marktplatz oberhalb der Uferpromenade. Töpferwaren, Holzwaren, Eisenwaren und so weiter auf Gehweg und Straße.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Mutter und Kind stehen neben einem strohgedeckten Gebäude, 1. Oktober 1934
    „Im Vordergrund rechts steht ein hölzernes Instrument zum Tragen von Flachs. Das Gebäude verfügt über gewebte Seitenwände, um eine Belüftung zu ermöglichen, und ist mit Stroh aus Riedgras gedeckt. Im Hintergrund stehen aufrecht am Zaun zwei Stangen zum Löschen von Dachbränden. An einem Ende befindet sich eine Bürste zum Ausschlagen der Funken und am anderen Ende ein Eisenhaken zum Abziehen des brennenden Strohs.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Automobil auf einer unbefestigten Straße östlich von Kobryn, 29. September 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Frauen dreschen Flachs, 2. Oktober 1934
    „Scheune und Getreidespeicher. Links bearbeiten zwei Frauen Flachs. Rechts eine hölzerne Egge. Ein Bündel Roggen. Diesen Leuten ging es gut. Sie waren sauber und die Kinder trugen gute Kleidung. Sie waren orthodox-griechische Katholiken, und ihre Kirche befand sich zwischen den Kiefern.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Drei Dorfbewohner sitzen zusammen, 7. Oktober 1934
    „Nahaufnahme von Männern in einem Dorf. Links: langer Bart, in der Mitte Schnauzer, rechts: glatt rasiert.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd/ Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Pferd zieht große Baumstämme, östlich von Iwazewitschy, 8. Oktober 1934
    „42 Meilen östlich von Iwazewitschy. Wagen mit Holzstangen, die die Hinterräder verbinden und dazu dienen, das hintere Ende der langen Baumstämme zu lenken. Form einer Wünschelrute. Links die Vorderseite eines weiteren Wagens.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd“/ Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Kreuze auf einem Dorffriedhof, 5. Oktober 1934
    „Friedhof. Hohe unbemalte Kreuze ohne Namen oder Erkennungszeichen. Pflöcke markieren, wo die Toten begraben sind. Moos auf den Kreuzen.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

    Im Original erschienen bei Zerkalo
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: dekoder-Redaktion

    Mit freundlicher Genehmigung der The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

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  • Auf der Schattenseite der Geschichte

    Auf der Schattenseite der Geschichte

    Sviatlana Kurs, geboren 1972, hat als Schriftstellerin zuletzt auch international mit ihrem Roman Was suchst du, Wolf? für Aufsehen gesorgt, den sie unter ihrem Pseudonym Eva Viežnaviec veröffentlichte. Das Buch erzählt die gewaltvolle und düstere Geschichte der Menschen und vor allem der Frauen in der Region, aus der Kurs’ Familie selbst stammt: Polessje, diese mystische Sumpflandschaft im Süden von Belarus. Für den Roman erhielt sie 2021 den renommierten belarussischen Jerzy-Giedroyc-Preis, als erste Frau. 

    Auch in ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft mit der S. Fischer Stiftung geht es um die gewaltvolle Geschichte von Belarus und letztlich um die Frage, wie die Belarussen ihre Identität und damit ihre Zukunft bewahren können. In einer Zeit, in der Russland einen grausamen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, der auch Auswirkungen auf Belarus selbst hat. Kurs´ Argumentation erinnert in mancher Hinsicht auch an die Narrative der nationalen Wiedergeburtsbewegung, für die sich die Belarussische Volksfront seit Ende der 1980er Jahre einsetzte.

    Belarussisches Original

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Man nennt uns eine Nation mit weitgehend ausgelöschter Identität, denn wir haben unsere Sprache und Kultur, unsere Architektur und das bauliche Erbe unserer Städte fast verloren. Selbst unsere Gotteshäuser wurden nach russischer Art umgebaut, statt Kreuzen tragen sie russische Kuppeln, im Volksmund Zwiebeltürme genannt. Seit 229 Jahren leben wir Belarussen unter russischer Besatzung. Von uns selbst ist hier bei uns kaum etwas übriggeblieben. 

    Auch ich dachte so, bis sich im Jahr 2020 die Schlinge um den Hals ein wenig lockerte, als die Belarussen in Millionenstärke demonstrierten und zeigten, was sie wollen. Selbst in kleinen Städtchen und Dörfern, wo man keine lebendigen Menschen mehr vermutet hätte, fanden Kundgebungen und Märsche statt.

    Doch dann erklärte Putin, er würde die Armee schicken, und mit dieser Unterstützung und hunderttausenden Silowiki erstickte Lukaschenka den Protest, indem er Menschen einfach auf der Straße erschießen ließ.

    Seit 2020 dauern die gnadenlosen Repressionen nun schon an, schon drei Jahre. Im Land wurde ein Gefängnissystem geschaffen, das in seiner Brutalität den Lagern Stalins und Hitlers in nichts nachsteht, abgesehen von den Massenmorden. 

    Schon seit über drei Monaten erhalten die Angehörigen der politischen Gefangenen keine Nachrichten mehr von ihnen. Bekannt ist, dass einige, wie Ihar Lossik, Selbstmordversuche verübt haben. Andere wie der herzkranke 61-jährige Iwan Klimowitsch starben, weil ihnen die medizinische Versorgung verwehrt wurde. 

    Iwan war für eine Lukaschenka-Karikatur in den sozialen Netzwerken inhaftiert worden. Vor Gericht sagte der ältere Mann dem Staatsanwalt und dem Richter, zwei pausbäckigen Mittdreißigern: „Sperren Sie mich nicht ein, die Ärzte sagen, in Haft werde ich sterben.“ Und doch steckten sie ihn ins Gefängnis. 

    Den 50-jährigen Witold Aschurak brachten sie einfach um, indem sie ihm alle Knochen brachen und ihn der Familie mit folgenden Worten übergaben: „Er ist unglücklich gestürzt.“

    Der 11. Juli 2023 war wieder ein tiefschwarzer Tag für Belarus: Während der Verbüßung seiner fünfjährigen Haftstrafe kam Ales Puschkin zu Tode. Er war nicht nur ein politischer Gefangener, er war ein Künstler, der uns das Land so malte, wie wir es uns träumten  mit einer schönen Vergangenheit und einer lichten Zukunft. Mit ihm raubten sie uns die Träume. 

    Zehntausende solcher Geschichten sind uns bekannt. Ihre Dokumentation ist kompliziert, da auch Menschenrechtler und Anwälte zu zigdutzend Jahren Haftstrafen verurteilt wurden und hinter Schloss und Riegel verschwunden sind. 

    Das wirft die Frage auf: Sind nur die Russen an dem Schuld, was bei uns vor sich geht?

    Um zehntausende Menschen zu erschießen, zu unterdrücken und zu töten, braucht man zehntausende andere Menschen, Landsleute, die bereit sind, ihre Mitmenschen brutal zu bestrafen. Woher kommen diese Menschen, wer sind sie?

    Ethnozid als Form des Genozids

    Das 500-jährige Russische Imperium, das in unterschiedlicher Gestalt auftritt (mal als Zarenreich, mal als UdSSR, mal als Putins Monster), verfügt über ein effizientes Instrumentarium zur Eroberung fremder Gebiete. Deshalb nimmt es auch ein Siebtel der Erdoberfläche ein. Die angewandten Methoden sind eine Kombination aus physischer Vernichtung der Eliten des eroberten Gebietes und der Auslöschung der Identität der anderen, ihrer Umerziehung zu Russen. Diese Taktik kann man hervorragend in der Ukraine beobachten: Die Eltern werden ermordet, zehntausende Kinder in die Tiefen Russlands gebracht, in Waisenlager oder Familien, wo sie indoktriniert werden, die eigene Heimat und Familie zu hassen. 

    Dasselbe ist in den vergangenen 229 Jahren mit den Belarussen passiert. Ihren Gipfel erreichte diese Politik im Jahr 1937, als die belarussische intellektuelle Elite ermordet wurde: Wissenschaftler, Künstler, Ärzte, Ingenieure. Allein am 29. Oktober 1937 wurden mehr als 100 Schriftsteller, Dichter und Wissenschaftler erschossen. Man verscharrte sie in Wäldern. Neben jedem Städtchen in Belarus gab es einen Erschießungsplatz, die Namen dieser Orte sind bekannt, die Erinnerung wird von der lokalen Bevölkerung und Aktivisten bewahrt. Erde vergisst nicht. 

    Der zweite Schritt des Genozids war die Zerstörung der belarussischen Sprache, Kultur und Bildung. Heute lernen Kinder in Belarus Russisch, belarussische Sprache und Literatur wird in einer Reihe von Fällen nur eine Stunde pro Woche unterrichtet. Auch eine belarussischsprachige Hochschulbildung ist nicht möglich, alle Universitäten sind russischsprachig. Menschen, die im Schoß der russischen Mentalität aufgewachsen sind, nehmen alles Belarussische als rückständige Dorfmacke oder feindseliges Attribut wahr.

    Wie in den besetzten Gebieten der Ukraine, so ist auch bei uns eine Quasi-Besatzerverwaltung damit beschäftigt, die nationale Selbstidentifikation durch Beeinflussung ihrer Träger zu zerschlagen und zu zermalmen. Wer nicht aus dem Land geflüchtet ist, wird im Gefängnis sitzen. Und wer nicht im Gefängnis sitzt, wird stillhalten, aus Angst, seinen Besitz, die Kinder und die Arbeit zu verlieren. Denn das sind die Methoden. Die Kinder kommen in Heime oder Pflegefamilien, der Besitz wird durch die Forderung horrender Strafzahlungen aufgezehrt. So zwingt man die Menschen zu werden, wie Russland sie sehen will: Zu Menschen, wie sie in Luhansk, Donezk, in allen besetzten Gebieten leben. Zu einer Art Als-ob-Russen, zu Trägern der russischen Idee, aber in der Metropole doch nicht ganz akzeptiert. Die etwas schlechteren Russen, um die es nicht schade ist, aber die dennoch die Russische Welt vertreten, die den Zweck einer Pufferzone zwischen dem russischen Stammland und dem „verdammten Westen“ erfüllen. 

    Zu solchen wollen sie uns machen, wenn sie aktiv die ukrainische und die belarussische Identität vernichten. Bei uns ist derzeit ein so genannter „kalter Genozid“ im Gange – durch Druck und Repression–, bei den Ukrainern ein „heißer“, durch physische Vernichtung in ihren eigenen Häusern. Dieser Ethnozid ist mal kühl und berechnend, mal karikaturartig und dumm. Doch der Prozess unserer Ausradierung von der Erdoberfläche ist im Gange. 

    Wie leisten wir Widerstand?

    Aktive und sichtbare Formen des Widerstandes sind im Moment nur in der Diaspora möglich. Die Belarussen bilden Militäreinheiten, um auf der Seite der Ukraine zu kämpfen. Sehr bekannte Formationen sind das Kalinouski-Regiment, das Belarussische Freiwilligenkorps Pahonja. Unsere Bücher und Lehrbücher verlegen wir im Ausland, bilden dort unsere Kinder aus, sammeln Spenden für die Familien der politischen Gefangenen, die ohne Existenzgrundlage zurückgeblieben sind, ohne Einkommen droht ihnen der Entzug der Kinder. Wir sammeln Geld für diejenigen, die während der Proteste oder im Krieg verkrüppelt wurden. Wir haben unsere eigene Exil-Regierung und Strukturen in der Emigration. 

    Doch wie sieht es zu Hause aus? Durch die präzedenzlosen Repressionen ist offener Protest dort unmöglich. Für ein Like auf Facebook wird man zu mehreren Jahren Haft verurteilt, für das Abonnement eines Telegramkanals, für ein einzelnes Wort, oder auch einfach so, auf Basis einer Verleumdung. 

    Doch die Menschen haben verstanden, dass sie sich unter diesen Bedingungen vereinen müssen, zusammenstehen, einander helfen. Egal, in welcher Form. Es gibt Lesetreffs, Handarbeitsklubs, Vereinigungen junger Eltern, Gruppen von Tierfreunden oder Sportlern. Die Gesellschaft trägt die Erinnerung an 2020 in sich und strebt danach, sie zu bewahren. Die Menschen sind sich bewusst, dass wir an einem Wendepunkt der Geschichte stehen, und sind jederzeit bereit, wieder auszubrechen, um uns unser Land und unser Leben zurückzuholen. 

    Das Gericht der Zukunft

    Und eine weitere äußerst wichtige Arbeit ist im Gange: Für die Gerichte der Zukunft, zum Zweck der Lustrationsprozesse, werden die Namen der Richter, Staatsanwälte, Polizisten, Geheimdienstmitarbeiter, Gefängnisaufseher, Lehrer, Propagandisten und Denunzianten gesammelt, die die Schicksale von Menschen gebrochen, sie getötet, gepeinigt, erniedrigt und die Wahlen gefälscht haben. Nach der Befreiung von Belarus wird es einen großen Prozess zur Bestrafung des Bösen geben, wozu wir nach dem Zerfall der Sowjetunion weder die historische Zeit noch die historische Chance hatten. 

    Im Untergrund und in der Emigration wird an Gesetzen gearbeitet, auf deren Grundlage das prorussische, quasibesatzerische Regime Aljaxandr Lukaschenkas, die Autoren und Ausführenden der verbrecherischen Befehle, verurteilt werden. Auch für die Normalisierung des Lebens im Land werden Gesetze geschrieben: für ein repressionsfreies, weltliches Bildungssystem, für die Belarusifizierung des Bildungswesens und der öffentlichen Verwaltung, für normale Bedingungen der Presse- und Unternehmerfreiheit.


    In der kurzen Zeit der Freiheit von 1991 bis 1994, als nach dem Zusammenbruch der UdSSR das unabhängige Belarus entstand und der prorussische Diktator Aljaxandr Lukaschenka noch nicht an die Macht gekommen war, machte Belarus einen solchen Sprung nach vorn zur Freiheit, dass wir selbst aus dem Wundern nicht mehr herauskamen. Damals traten die jungen, hellgrünen Triebe unserer zukünftigen Freiheit und Blüte hervor. Vor unseren Augen entwickelten sich Kultur, Unternehmertum, freie Presse, eine gesunde Wirtschaft und Bildung. Jeder Mensch erkannte plötzlich für sich selbst die Möglichkeit und die Chance, das Leben nicht so zu leben, wie es Partei, Staat und Ideologie vorgaben, sondern so, wie man es selbst will. 

    Warum wählte die Gesellschaft damals Aljaxandr Lukaschenka?

    Es gibt ein Sprichwort: Der erste Blin misslingt. Und das war der erste und der letzte Blin, den wir selbständig einrühren und backen durften. In den rund 200 Jahren russischer Besatzung (mit kurzen Unterbrechungen durch andere Okkupanten, die Deutschen und die Polen) kannten die Belarussen weder freie Wahlen noch freie Presse. Es ist schlicht ein Wunder, dass wir überhaupt noch irgendetwas wollen, einen eigenen Lebenswillen und Wünsche haben, und uns selber Bliny backen wollen, anstatt aus fremden Händen gefüttert zu werden. 

    Im Jahr 1994, als bei den einzigen freien Wahlen Aljaxandr Lukaschenka an die Macht kam, herrschte in Belarus noch eine schwere Wirtschaftskrise, die Bevölkerung bestand zu 25 Prozent aus alten Menschen, denen keine Rente mehr ausbezahlt wurde. Der Staat hielt über 90 Prozent der Arbeitsplätze im Land und konnte die Löhne nicht mehr bezahlen. Und das, was noch ausgezahlt wurde, fraß die Inflation auf. Es war absehbar, dass die Krise in kurzer Zeit durch unternehmerische Initiative und kreative Arbeit der Menschen überwunden werden könnte. Doch die älteren und armen Wähler konnten nicht so lange warten. Als dann der Kandidat Lukaschenka auftauchte, der versprach, die postsowjetische Korruption zu besiegen, die Betrüger hinter Gitter zu bringen, die gigantischen sowjetischen Betriebe wiederzubeleben, Arbeitsplätze, Ordnung und Stabilität zu schaffen, stimmten sie begeistert für ihn. Den Menschen gefiel die Idee der starken Hand, die alles im Land für sie übernimmt und Ordnung schafft. Sie wussten noch nicht, dass ihnen die starke Hand mit der Zeit auch an die Kehle gehen würde. 

    Wie wir uns in einem totalitären Staat wiederfanden

    Lukaschenka erfüllte sein Versprechen, den Hungrigen Essen zu geben. Er ging sofort eine Union mit Russland ein, deren Bedingungen im Großen und Ganzen so aussahen: Belarus wird zum Vasallen Russlands, zum Bestandteil des Russki Mir, mit einer Dominanz der russischen Ideologie und Kultur, und Russland bezahlt den ganzen Spaß. Lukaschenka erhält dafür die uneingeschränkte Macht. So funktioniert es seit 1994. Bald 30 Jahre also. 

    Alle paar Jahre standen die Belarussen gegen das Regime auf, wofür es Zeugen und Belege gibt, Chroniken wurden geschrieben, Monitorings durchgeführt. Unermüdlich führten sie den täglichen Kampf. Doch es gelang nicht, das Regime loszuwerden oder wenigstens ins Schwanken zu bringen.

    Einige beschuldigen die freie Welt, die internationale Gemeinschaft, sie habe uns nicht genügend unterstützt. Diesen Gedanken teile ich nicht. Die westlichen Länder unterstützten unsere Opposition und unsere Kulturarbeit mit Geld, Beratung, Bildung und Öffentlichkeit. Diese Unterstützung war riesig.

    Gegen unsere Freiheit aber stand Russland, das all die Jahre, in denen seine Rohstoffe Hochkonjunktur hatten, darauf verwendete, in allen Teilen der Welt seine imperialen Projekte zu finanzieren. Allein in den letzten 29 Jahren gab Russland für die Unterstützung des belarussischen Regimes viele Milliarden Euro aus. Riesige Summen flossen in die Bestechung der politischen und wirtschaftlichen Eliten im Westen – zum Beispiel für bekannte Agenten des russischen Einflusses in London, Berlin, Paris, Warschau, Prag oder in den Hauptstädten der Balkanstaaten. Diese Menschen und Organisationen sind öffentlich sichtbar und laut zu vernehmen. Darüber hinaus wurde russisches Geld zur Anwerbung von Agenten auf der ganzen Welt über die gewaltige und einflussreiche Struktur Rossotrudnitschestwo umgesetzt.

    All das hätte man vermutlich irgendwie überwinden können, wäre es nicht auch innerhalb der belarussischen Nation zu einer Spaltung gekommen. Denn während der Jahrhunderte der militärischen, kulturellen, wirtschaftlichen, mentalen und ideologischen Dominanz hat ein großer Teil unserer Nation die Mentalität des Russki Mir angenommen. Tatsächlich gibt es viele, denen es gefällt, in einem Imperium unmenschlicher Größe und alltäglicher Gewalt, Feindseligkeit und Bosheit zu leben.

    Deshalb haben wir verloren. Und für diese Niederlage haben wir mit dem abrupten Übergang vom autoritären zum totalitären Staat bezahlt.

    Der Unterschied zwischen einem autoritären und einem totalitären Regime ist bekanntermaßen kolossal. Während das autoritäre Regime seinen Untertanen sagt: „Macht in eurem Privatleben, was ihr wollt, Hauptsache, ihr mischt euch nicht in die Politik ein“, kriecht das totalitäre Regime den Menschen ins Bett, an den Tisch, ins Badezimmer. Wenn nötig, entzieht es dem Menschen den letzten Zipfel Privatheit und Intimität, um ihn am Ende auch um das Recht am eigenen Körper zu bringen. Den Tiefpunkt markierte wohl das totalitäre Kambodscha, in dessen Gefängnissen den Menschen verboten war, sich ohne Erlaubnis zu bewegen. Für eine unerlaubte Bewegung wurde man sofort getötet. Von zehntausenden Inhaftierten überlebten nur zwei Menschen diese Gefängnisse.

    Die belarussische Gesellschaft ist am letzten Ende des Totalitarismus angekommen, mit seinen höllischen Bedingungen. 

    Doch uns steht noch ein kleines Schlupfloch offen: Wir können in die Freie Welt fliehen. Natürlich nicht alle. Manche sind krank oder arm, manche in Haft, manche haben alte Eltern. Doch die Regierungen Litauens und Polens – Länder, die uns kulturell und historisch nahestehen – bestätigen, dass die Immigration aus Belarus seit 2020 um ein Mehrfaches angestiegen ist und weiterhin steigt. 

    Die belarussischen Machthaber schauten dabei bewusst weg und hofften, die aktiven, oppositionell eingestellten Menschen loszuwerden, den Gärstoff potenziellen Aufruhrs. Doch auch Fachleute, ohne die der Staat nicht mehr funktionieren konnte, begannen das Land zu verlassen. Einige Tausend Ärzte sind geflohen, ebenso Techniker und Wissenschaftler. Gestern traf ich in Warschau einen jungen Ingenieur, den sein Betriebsleiter nicht gehen lassen wollte. Man sagte ihm: Nein, du wirst hier arbeiten, nicht in Polen. Er ließ seine Dokumente zurück, wurde auf Grundlage des Arbeitsrechtskodex entlassen (was ihm einen Aktenvermerk einbringt, mit dem er in Belarus nie wieder in seinem Beruf eingestellt werden kann). Er sagte mir: „Ich will zum Fernfahrer umschulen und meine Familie herholen. In fünf Jahren bin ich schon zu alt, die Gesundheit lässt nach und ich komme nicht mehr weg, und die Kinder auch nicht.“

    Auch Programmierer verlassen das Land, auf die das belarussische Regime so stolz war, ihnen einen Technologiepark gebaut und vor der ganzen Welt mit ihrer Innovationskraft geprahlt hatte. Einer von ihnen kehrte nach Belarus zurück, um seinen Vater zu beerdigen. Er wurde an der Grenze festgehalten, sein Reisepass, die Karta Polaka und die Arbeitsgenehmigung geschreddert, damit er Belarus nicht mehr verlassen konnte. 

    Wird ein neuer Eiserner Vorhang an der Grenze zum Westen entstehen?

    Elemente davon gibt es bereits. Die Machthaber schaffen künstlich eine mentale und physische Kluft zwischen uns und unseren nächsten Nachbarn – den Polen, mit denen wir einige Jahrhunderte in einem Staat gelebt haben. Um nach Polen zu gelangen, warten die Menschen 8 bis 24 Stunden an den Grenzübergängen, ihre Arbeitserlaubnis wird überprüft, oft wird ihnen die Ausreise verweigert. Selbst die Uhrzeit wurde auf die Moskauer Zeitzone umgestellt, der Unterschied zu Polen beträgt nun zwei Stunden. Wenn es zum Beispiel in Brest 11 Uhr morgens ist, dann ist es in Terespol nach 15-minütiger Fahrt entfernt, erst 9 Uhr. 

    Der gekochte Frosch

    Zu den Folgen des Lebens in einem totalitären Staat gehört nicht nur erlernte Hilflosigkeit, sondern auch Deprivation, die Verkümmerung der Fähigkeit, die psychischen, physischen und sozialen Grundbedürfnisse zu befriedigen. Der Mensch verliert das Gefühl für sich selbst, für seine Bedürfnisse. Wie in dem russischen Märchenfilm, den sie uns jahrzehntelang im Fernsehen gezeigt haben: „Frei oder nicht frei – ist doch einerlei“. Selbst die mutigsten, energischsten und brilliantesten Menschen lassen den Kopf hängen, kehren dem Engagement den Rücken, wenden sich ins Private, in eine andere Kultur oder versinken in Depression und Alkohol. 

    Ein Sänger, der während der Proteste in Belarus öffentliche Chorgesänge mit tausenden Menschen organisierte, sagte mir am 7. Mai 2023 in Warschau: „Ich organisiere keine Straßenchöre mehr. Es ist sinnlos. Unser Gesang hat überhaupt nichts gebracht.“ Dieser aufrechte, motivierte, starke Mensch hat sich nicht unterkriegen lassen, er hilft heute dutzenden belarussischen politischen Flüchtlingen, in Polen Fuß zu fassen. Ohne ihn wüssten ganze Familien nicht, an wen sie sich wenden können, wie sie eine Wohnung, eine Beschäftigung, eine Schule für die Kinder finden. Doch manche Menschen ziehen sich in sich selbst zurück, essen und trinken viel, als wollten sie ihr Leben mit einem schleichenden Selbstmord beenden. Das tun viele, die die Hoffnung verloren haben oder sie Schritt für Schritt verlieren.

    Ich schreibe diesen Text im Wissen darum, dass Pawel Belawus, Inhaber eines auf die Nationalsymbolik ausgerichteten Souvenir- und Buchshops, der lange in Untersuchungshaft saß und auf seine Anklage wartete, schließlich beschuldigt wurde wegen „Verbreitung belarussischen Nationalismus“. Der Staat hat damit unterschrieben, dass er schon lange kein Staat mehr ist. Er ist eine antibelarussische, antinationale Besatzerverwaltung. 

    Ist das das Ende? Nein.

    Was kann uns also retten, abgesehen von den ukrainischen Streitkräften und ihren belarussischen Einheiten, die unseren gemeinsamen Feind vernichten, der seit Jahrhunderten unser Leben, unsere Freiheit und unser Glück vernichtet? 

    Einzig die Liebe. Es liegt in unserer Macht, unsere Identität zu bewahren. Wer keine Kraft hat, etwas zu tun, sich mit anderen Menschen zusammenzuschließen, kann sie einfach in sich selbst erhalten, wie eine Flamme – die Liebe zu sich selbst, die Liebe zu den eigenen Leuten. Aus diesem Flämmchen kann bei günstigen Bedingungen ein hohes, gleichmäßiges und starkes Feuer bis zum Himmel entbrennen – so, wie wir es 2020 gesehen haben, als sich zeigte, dass jedes Haus, jede Familie eine weiß-rot-weiße Flagge besitzt, für die man nun im Gefängnis landet, aus dem man vielleicht nie wieder heimkehrt. Die Liebe zur Freiheit, zum Schaffen, zur Selbstverwirklichung gibt einen starken Impuls. Wie ein belarussisches Sprichwort sagt: „Vom Geliebten bringen dich keine zehn Pferde weg.“ Wie die Seele eines Menschen zu seinem Kind fliegt, zum geliebten Menschen, zu den Eltern, zum heimatlichen Haus, so fliegt sie zum Belarussentum. Besonders, wenn es in Not und Unfreiheit ist. Das Wichtigste ist, die Hoffnung nicht zu verlieren. Und selbst in Schmerz, Deprivation, Hilflosigkeit und Leid muss man das Belarussische lieben und pflegen. Ohne groß nachzudenken, ohne Perfektionismus – denn das ist nur ein weiterer Ausdruck von Unfreiheit. „Ich werde der beste Belarusse von allen sein, ich werde alles retten, alle besiegen, ich werde ein Held und Aktivist sein, werde die Pflicht und die Erinnerung in mir tragen, und die superschwere Energie des Martyriums“ – das ist zu nichts nütze. Man muss lieben, ein fröhlicher Mensch sein. 

    Eines Tages wird es vorbei sein. Der Totalitarismus bricht immer unvermittelt zusammen, da er ein Feind der Liebe, der Freiheit, des Hedonismus und der Freude ist – all dieser leuchtenden Äußerungen der Menschlichkeit. Und dann, nach dieser schmerzhaften Impfung gegen Totalitarismus und fremde Ideologien à la Russki Mir, schaffen wir eine Partei, zum Beispiel zur Säuberung dieser ewig grauen Steinblöcke, die mit dummen Losungen bemalt wurden, renovieren in jeder Stadt die Rathäuser, die Märkte und Plätze, die unter der Moskauer Herrschaft abgetragen wurden, und kommt, lasst uns die Zwiebeln von unseren Kirchtürmen werfen. Wir machen Belarus wieder so, wie Gott es geschaffen hat, denn ohne es ist die Welt unvollkommen. Und wir nennen diese freie Partei nach Michal Aniempadystau – dem Künstler und Poeten, der Belarus wie kein anderer verstand. 

    Auch dann wird es nicht leicht werden, aber, wie ich schon weiter oben gesagt habe: Für das, was man liebt, kann man Berge versetzen und die Himmel neigen.

    Es lebe Belarus.

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  • Lukaschenko und Wagner: Wer hat das Sagen?

    Lukaschenko und Wagner: Wer hat das Sagen?

    Die Spannungen zwischen Polen und der belarussischen Führung steigen, seitdem Alexander Lukaschenko Wagner-Söldnern in Belarus Unterschlupf gewährt hat. Was die polnische Regierung als Bedrohung empfindet. Zudem kam es kürzlich zu einer Verletzung des polnischen Luftraums durch belarussische Militärhubschrauber. Und seit Herbst 2021 schwelt ein massiver Konflikt aufgrund von Migranten an der polnisch-belarussischen Grenze.

    Polen hat mittlerweile seine Truppenpräsenz an der Grenze zu Belarus verstärkt, was wiederum Wladimir Putin zu Drohungen veranlasste. Und zu einer Aussage, die in Polen als Affront aufgefasst wurde. Der russische Präsident meinte, dass die Polen nicht vergessen sollten, dass der Zugewinn vormals deutscher Gebiete im Westen infolge des Zweiten Weltkrieges „ein Geschenk Stalins“ gewesen sei. Dabei unterschlug Putin den Hitler-Stalin-Pakt, in dessen Folge die Sowjetunion 1939 die östlichen Gebiete der Zweiten Polnischen Republik besetzte.

    Ist es wirklich denkbar, dass die Wagner-Truppen gegen ein NATO-Mitglied wie Polen eingesetzt werden könnten? Was steckt hinter den Drohungen und Aussagen Lukaschenkos, die wie gewohnt paradox sind? Alexander Klaskowski geht diesen Fragen in seiner Analyse für das belarussische Online-Medium Pozirk auf den Grund und sucht dabei nach einer stringenten Logik in den jüngsten Entwicklungen.

    Bei einem Treffen mit Wladimir Putin am 23. Juli in Sankt Petersburg erklärte Lukaschenko, die nach Belarus verlegten Wagner-Einheiten würden ihn „langsam belasten“ und angeblich einen „Ausflug nach Warschau und Rzeszów“ planen / Foto © president.gov.by
    Bei einem Treffen mit Wladimir Putin am 23. Juli in Sankt Petersburg erklärte Lukaschenko, die nach Belarus verlegten Wagner-Einheiten würden ihn „langsam belasten“ und angeblich einen „Ausflug nach Warschau und Rzeszów“ planen / Foto © president.gov.by

    Nachdem Alexander Lukaschenko Polen mit der Wagner-Gruppe gedroht hatte, ruderte er nun zurück. Er betonte, Prigoshins Leute seien in Belarus unter Kontrolle, und den Suwałki-Korridor hätte Minsk „seit tausend Jahren nicht gebraucht“.

    Diese neuen Erkenntnisse verlautbarte er am 1. August anlässlich eines Treffens mit Bewohnern des Agrostädtchens Beloweshski im Rajon Kamenez. Lukaschenko hielt sich dennoch nicht mit Drohgebärden zurück – die Rede war sowohl von den Wagner-Truppen als auch von Atomwaffen und sogar dem „friedlichen Atom“, einer möglichen Beschädigung des Belarussischen Kernkraftwerks (BelAES).

    Wird der belarussische Führer zum Sündenbock gemacht?

    Bei einem Treffen mit Wladimir Putin am 23. Juli in Sankt Petersburg hatte Lukaschenko ein breites Publikum, vor allem in Polen und Litauen, mit der Äußerung in Aufruhr versetzt, die nach Belarus verlegten Wagner-Einheiten würden ihn „langsam belasten“ und angeblich einen „Ausflug nach Warschau und Rzeszów“ planen. (In Rzeszów befindet sich ein wichtiger Umschlagplatz für Militärlieferungen in die Ukraine). 

    Offensichtlich wollte der belarussische Gast dem „großen Bruder“ in die Hände spielen, indem er eine psychologische Attacke an das ihm verhasste Warschau richtete, das Kyjiw aktiv unterstützt. Doch die Polen ließen sich nicht einschüchtern und drohten stattdessen damit, in Absprache mit Litauen und Lettland endgültig die Grenze zu Belarus zu schließen. Das wäre für das Regime kein unbedeutendes wirtschaftliches Risiko. 

    Unterdessen diskutierten unabhängige Analytiker, aber auch Politiker und Militär in den NATO-Staaten, ob Putin die nach Belarus verlegten Wagner-Gruppe dazu einsetzen könnte, einen wenn nicht offenen, so doch hybriden Krieg gegen Europa zu entfesseln. Um sich danach auf seine Tschekistenart die Hände in Unschuld zu waschen, indem er beteuert: Diese  „Wildgänse“ unterstehen mir nicht, sie haben unlängst sogar einen Putsch angezettelt, weil sie keine Verträge mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu schließen wollten. Deshalb hätte man sie auch zum „kleinen Bruder“ geschickt. Und die Waffen für ihren Feldzug auf Rzeszów hätten sie bestimmt auf dem belarussischen Waffenmarkt gekauft. 

    Natürlich weiß jedes Kind, dass es in Belarus keinen unkontrollierten Waffenmarkt gibt und geben kann, solange alles unter Lukaschenkos Fuchtel steht. Seine Weste würde also im Falle eines Wagner-Feldzugs gegen die NATO-Nachbarstaaten keinesfalls weiß bleiben. 
    Bereits 2021 hatte er vorgegeben, nichts mit dem Massenandrang von Geflohenen an der belarussischen Grenze zur EU zu tun zu haben, was ihn jedoch nicht vor Sanktionen gerettet hat. Wenn also jetzt Diversions- und Spionagegruppen (DRG) der Wagner-Armee von belarussischem Boden aus in Polen oder Litauen eindringen, dürfte die Reaktion um einiges härter ausfallen. 

    Denn für die Nachbarländer und den gesamten Westen wird absolut klar sein, dass diese Gruppen ihre Ausrüstung per Handschlag vom belarussischen Oberbefehlshaber bekommen haben, und dass es Prigoshins Truppen nur mithilfe des belarussischen Militärs, des Grenzschutzes und der Geheimdienste möglich gewesen sein kann, auf fremdes Territorium vorzudringen. So zu tun, als hätte man nichts damit zu tun, wäre vollkommen sinnlos. Mehr noch, Lukaschenko wäre der Sündenbock, während Putin tatsächlich den Ahnungslosen spielen könnte. 

    Derweil hat der belarussische Regent höchstwahrscheinlich keine Lust, die Folgen der Scharmützel seiner aggressiven Gäste mit der NATO auszubaden. Während der Kreml an imperialem Phantomschmerz leidet und globale Ambitionen hegt, will Lukaschenko vor allem, dass seine Alleinherrschaft auf seinem „Fleckchen Erde“, wie er Belarus nennt, unangetastet bleibt. Also versucht der belarussische Führer, die Atmosphäre auf seine Art ein wenig zu entschärfen und seine politische Eigenständigkeit zu demonstrieren. 

    „Sie sind es gewohnt, Befehle auszuführen“ – bloß wessen Befehle?

    Lukaschenko entpuppte sich als großer Humorist. Am 1. August sagte er im Kreis Kamenez: „Das war ein Scherz, dass die Wagner-Leute untereinander tuscheln: Wir machen einen Ausflug nach Rzeszów.“ Dann gab er wiederum zu verstehen – in dem ihm eigenen paradoxen Stil – Prigoshins Leute seien wirklich kriegerisch eingestellt und führten gegen Polen Böses im Schilde. Dort solle man, so sagte er, „ruhig beten“, dass Belarus sie „aufhält und versorgt“. Andernfalls wären sie längst in Warschau und Rzeszów eingefallen, und die Polen hätten „ihr blaues Wunder erlebt“.

    Was für eine Logik: „Ich habe diese terroristische Organisation an eure Grenzen geholt, und ihr sollt mir gefälligst dankbar sein“. 

    Lukaschenko ließ sich natürlich auch den Trumpf mit den Atomwaffen nicht nehmen und sagte beiläufig, mehr als die Hälfte der von Russland zugesagten Menge sei bereits geliefert und im Land verteilt („Guckt ruhig nach“). Darüber hinaus sei das Kernkraftwerk von Astrawez ein großer Sicherheitsfaktor: „Sollte es, Gott bewahre, beschädigt werden, dann wird das auch dort [in den NATO-Nachbarstaaten] schlimme Folgen haben“, sagte Lukaschenko.

    Lukaschenko hat also wie immer nicht mit Drohungen gespart, diesmal aber die Akzente anders verteilt: Anstatt auf Angriff setzte er auf Verteidigung: „Wir steigen niemandem in den Garten, also klettert gefälligst auch nicht über unseren Zaun“. Mit anderen Worten: „Lasst mein Regime in Ruhe!“

    Lukaschenko hat außerdem davon abgesehen, die westlichen Nachbarn übermäßig zu verteufeln: „Die Polen sind nicht dumm, diese Leute sind uns ähnlich, sie nehmen ihre Regierung gerade schon in die Mangel …“ Die Verlegung polnischer Truppeneinheiten an die belarussische Grenze bezeichnete er verächtlich als „Ränkespiel“. „500 Soldaten hier abgezogen, 500 Soldaten dort […]. Ich glaube nicht, dass sie uns wirklich einschüchtern wollen.“

    Das steht einerseits im Widerspruch zum Mantra der belarussischen Generäle von der wachsenden Bedrohung durch die NATO und andererseits zu früheren Äußerungen Lukaschenkos, die polnischen Militaristen würden schon mit ihren Kettenraupen rasseln und nur darauf warten, halb Belarus einzukassieren.

    In der Geschichte um Wagner stellte sich Lukaschenko nun als absoluter Herr der Lage dar und hob hervor, dass er die Situation unter Kontrolle habe: „Die Truppe befindet sich in Ossipowitschi, mitten in Belarus, und ist nirgendwohin unterwegs. Die Jungs sind es gewohnt, Befehle auszuführen.“

    Die Frage ist nur, wessen Befehle sie ausführen werden, wenn der Tag X eintritt.   

    Wie eigenständig sind Prigoshin und Lukaschenko?

    Es war kein anderer als der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der russischen Duma, General a. D. Andrej Kartopolow, der die Schließung des Suwałki-Korridors (der in Moskau als Achillesferse der NATO betrachtet wird) im passenden Moment als Mission der in Belarus abgestellten Wagner-Truppen benannte. 

    Wenn Lukaschenko jetzt also hervorhebt, dass er diesen Korridor eintausend Jahre lang nicht gebraucht hätte, dann tritt er in einen offenen Meinungsstreit mit den Moskauer Kriegstreibern, um seine politische Eigenständigkeit zu behaupten. Diejenigen, die eine Anti-NATO-Mission der Prigoshin-Truppe in Belarus postulieren, lassen diese Eigenständigkeit Lukaschenkos praktisch völlig außer Acht. 

    Diese Hypothesen weisen einige Schwachstellen auf. Erstens ist es zweifelhaft, ob Jewgeni Prigoshins Putschversuch eine scharfsinnige Inszenierung war, mit dem Ziel, die Wagner-Truppen nach Belarus zu verlagern, um dann einen Angriff oder Sabotageaktionen gegen die NATO-Länder durchführen zu können. Wie es in einem alten Witz treffend heißt: „Das ist zu subtil für unseren Zirkus“. 

    Eine ganze Reihe von Fakten, Anzeichen und Informationsleaks sprechen dafür, dass der russische Präsident während des Putschversuchs tatsächlich erschrocken und irritiert war. Infolgedessen trug er einen riesigen Imageverlust davon. Das wäre schon eine sehr subtile Inszenierung. Zur Vergeltung und um eine Wiederholung zu vermeiden, schwächt der Kreml offen Prigoshins Wirtschaftsimperium. Zudem ist unklar, inwieweit Putin seinem ehemaligen Koch aktuell überhaupt Befehle erteilen kann. Prigoshins Eigenständigkeit sollte keinesfalls schon abgeschrieben werden.

    Er und der russische Machthaber versuchen zwar, ihren Konflikt auf ihre Weise aus der Welt zu schaffen, aber aller Voraussicht nach werden sie Feinde bleiben. Und welches Interesse sollte Prigoshin haben, seine Kämpfer in einen wahnwitzigen Sturm des Suwałki-Korridors oder in einen tödlichen Feldzug nach Warschau und Rzeszów zu schicken? Wenn unerwünschte Gäste so weit auf fremdes Territorium vordringen, wird aus ihnen sehr schnell Hackfleisch gemacht. 

    Schon eher möglich wären schnelle hybride Operationen im feindlichen Grenzgebiet (zum Beispiel ein wenig Unruhe in Terespol stiften), mit guten Überlebens- und Rückkehrchancen, doch welchen Nutzen hätten sie? Schließlich geht es hier um Söldner, die für ihre sehr spezielle Arbeit sehr gutes Geld gewöhnt sind. Auch Prigoshin selbst ist in erster Linie ein Geschäftsmann, keinesfalls ein Kamikaze. Für ihn ist es günstiger, seine „Adler“ ​ für Projekte in Afrika zu schonen (wo alle möglichen Goldminen und Diamanten zu bewachen sind). Dass Afrika Priorität hat, sagte er selbst bei seiner berühmten Ansprache im Lager bei Ossipowitschi.

    Lukaschenko sagte heute nun, er wolle einen Teil „dieser Jungs“ im belarussischen Militär behalten und „mit ihrer Unterstützung eine Vertragsarmee aufbauen“. Die belarussische Staatskasse ist jedoch kaum üppig genug, um die Wagner-Söldner nach deren üblichen Sätzen zu vergüten. Nehmen wir trotzdem einmal an, dass einige Söldner als Berufssoldaten in die belarussische Armee wechseln würden. Sich mit dem Rest der Gruppe aber die Anarchie ins Haus zu holen, die Wagner-Gruppe zu einer (wilden?) Raubkatze zu machen, die frei durch Belarus spaziert, und darüber hinaus noch die Schließung des Suwałki-Korridors zu bezahlen (plus im Nachhinein die Folgen dieses Abenteuers zu verantworten), das will Lukaschenko ganz sicher nicht. Putin teilte unterdessen mit, dass Prigoshins Gruppe in Russland keine Zuwendungen mehr erhalten würde. Wer trägt also eigentlich die Kosten für dieses Theater?

    Sollten die Wagner-Truppen also wirklich in Polen und Litauen einmarschieren, dann würde das erstens bedeuten, dass der Kreml sie vollständig kontrolliert, zweitens, dass er ihre Aktionen bezahlt, und drittens, dass er Lukaschenko tatsächlich zu einem Diener ohne jegliche Entscheidungsgewalt gemacht hat.

    Es bleibt spannend.

  • „Ich werde leben, es wird mich doch niemand umbringen“

    „Ich werde leben, es wird mich doch niemand umbringen“

    In der Nacht zum 11. Juli 2023 verstarb der belarussische Künstler und Aktivist Ales Puschkin auf der Intensivstation des Krankenhauses in der westbelarussischen Stadt Hrodna. Dorthin war er bewusstlos aus dem städtischen Gefängnis gebracht worden. Wie Medien später berichteten, soll ein Geschwür zum Durchbruch der Magenwand geführt haben. 

    Der Aufschrei nach Bekanntwerden seines Todes in der belarussischen Zivilgesellschaft und Kulturlandschaft war groß. In vielen europäischen Städten organisierte die belarussische Diaspora Gedenkveranstaltungen für den beliebten Künstler. 

    Warum Puschkin in Haft war, was ihn über die Jahrzehnte zu einem der prägendsten Künstler und Aktivisten in Belarus hat werden lassen – das erzählen die Journalisten Smizer Pankawez und Wassil Harbazjuk für das belarussische Online-Medium Nasha Niva.

    „Das Kreuz, das ich mir aufbürde, muss ich tragen, so schwer es auch sein mag. Was droht mir hier schon? Vielleicht sperren sie mich für fünf bis zwölf Jahre ein, aber ich werde leben, es wird mich doch niemand umbringen.“ Heute klingen diese Worte Ales Puschkins furchtbar. Er sagte sie 2021 in einem Interview mit Nasha Niva, nachdem er nach Belarus zurückgekehrt war, obwohl dort ein Strafverfahren auf ihn wartete. Er war aus Prinzip zurückgekehrt. Am nächsten Tag wurde er festgenommen. Ales Puschkin war einer der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler und Ikonenmaler in Belarus. Seine ereignisreiche Biografie umfasst sowohl den Afghanistan-Krieg als auch ein unkonventionelles Privatleben. Wir haben zusammengetragen, was über ihn bekannt ist.

    Ales Puschkin im Selbstporträt / Bild © Privatarchiv Ales Puschkin
    Ales Puschkin im Selbstporträt / Bild © Privatarchiv Ales Puschkin

    Am 30. März 2021 wurde Puschkin an seinem Arbeitsort in Shylitschy im Kreis Kirau, wo er an der Restaurierung des Bulhakau-Palais arbeitete, abgeholt und ins Gefängnis von Hrodna gebracht. Genau ein Jahr später wurde er auf Grundlage von Artikel 130 Absatz 3 wegen „Anstiftung zu Rassen-, nationalem oder religiösem Hass“ verurteilt.

    Die Staatsmacht zog gegen ein von Puschkin gemaltes Porträt des Partisanen Auhen Shychar zu Felde, der in der Zwischenkriegszeit im Gebiet Wizebsk aktiv gewesen war. Man beschuldigte Puschkin, mit dem Gemälde den Nazismus zu rehabilitieren. Puschkin selbst bestritt das.

    Als das Strafverfahren angestrengt wurde, hielt Puschkin sich gerade in Kyjiw auf, das war noch lange vor Kriegsbeginn. Puschkin kehrte umgehend nach Belarus zurück, obwohl er wusste, dass ihm zu Hause eine Gefängnisstrafe drohte. Im Gespräch mit Nasha Niva sagte er damals, er sei bereit für einen echten Kampf, nicht für einen virtuellen. Das war nicht der erste Fall, in dem gegen den Künstler ermittelt wurde. Puschkin beteiligte sich erst am Kampf für die Unabhängigkeit von Belarus von der Sowjetunion, später ging er gegen das prorussische Regime Aljaxandr Lukaschenkas vor. 

    Sein Lebensweg endete am 11. Juli 2023 auf der Intensivstation der Notfallambulanz von Hrodna, wohin er aus unbekannten Gründen und in unbekanntem Zustand aus dem Hrodnaer Gefängnis überstellt worden war.

    Benannt nach seinem toten Bruder

    Puschkin wurde 1965 in der Kleinstadt Bobr im Kreis Krupki geboren. Sein Vater Mikalaj war Elektriker im örtlichen Sägewerk. Seine Mutter war aufgrund einer Behinderung kaum arbeitstätig.

    Der Vater wurde in der Sowjetzeit nach Tschita verbannt, später nach Sachalin. Zu Beginn der 1990er Jahre wurde Mikalaj Iwanawitsch rehabilitiert. Puschkin war stolz darauf, dass seine Familie seit mindestens fünf Generationen in der Kleinstadt Bobr ansässig war und den Ort nie verlassen hatte. 

    Auch seine ältere Schwester Swjatlana lebt in Bobr. In der Familie hatte es bereits einen Aljaxandr Puschkin gegeben [Ales ist die belarussische Kurzform von Aljaxandr – dek], er war jedoch nur ein Jahr alt geworden. Vier Jahre später gaben die Eltern dem nächsten Sohn noch einmal denselben Namen. 

    Kriegsdienst in Afghanistan

    Im Alter von sechs Jahren begann Ales zu malen. Als er dreizehn Jahre alt war, kamen Talentsucher der Achremtschyk-Internatsschule für Musik und Bildende Kunst in den Ort. Die Schule nahm talentierte Kinder aus der ganzen BSSR auf. Der Vater beschloss, den Jungen zur Ausbildung nach Minsk zu schicken. Die Schule war ein geschlossener Ort, den die Schüler kaum verlassen durften. Ales lernte dort acht Jahre lang. 

    Anschließend begann er ein Studium am Belarussischen Staatlichen Institut für Theater und Kunst, das er für den Militärdienst unterbrechen musste. Das erste Diensthalbjahr leistete Ales in Kamyschyn, wo er gemeinsam mit Jaraslaw Ramantschuk diente; das darauffolgende halbe Jahr verbrachte er in Afghanistan, wo er als Mechaniker in einer Hubschrauberstaffel diente. Ales berichtete später, er habe in der Armee niemanden so gehorsam erlebt wie die Belarussen. 

    Er erzählte, dass der Vorsteher der Arrestzelle, Fähnrich Belski, sein in belarussischer Sprache verfasstes Tagebuch las und ihn daraufhin beim Vorgesetzten verpfiff. Der bestrafte Puschkin mit zehn Tagen Arrest. Insgesamt verbrachte Ales 28 Tage seines Kriegsdienstes unter Arrest.

    Einer der ersten politischen Gefangenen

    Zurück in Belarus schloss Ales sich der Talaka-Bewegung an, später der Belarussischen Volksfront. Im Vorfeld der legendären Aktion an Allerheiligen (Dsjady) 1988 verbreitete Puschkin Flugblätter mit dem Aufruf zur Teilnahme an der Veranstaltung. Er wurde noch vor der Aktion festgenommen und zu fünf Tagen Freiheitsentzug verurteilt, die er in Einzelhaft im Akreszina-Untersuchungsgefängnis verbrachte. 

    Am 25. März 1989 ging Ales Puschkin auf die Straße. Er hatte eine durchgestrichene Flagge der BSSR und ein Plakat mit der Aufschrift: „Nieder mit der sozialistischen Republik, lassen wir das unabhängige Belarus auferstehen!“ dabei. Damit wollte er den gesamten heutigen Prospekt der Unabhängigkeit entlanglaufen, bis zum Regierungsgebäude, doch schon bei der Akademie der Wissenschaften wurde er festgenommen. 

    Das Gericht verurteilte den Künstler zu zwei Jahren auf Bewährung und entzog ihm für fünf Jahre das Wahlrecht. Allerdings wurde er nicht vom Studium ausgeschlossen. Zur Verhandlung erschien der Künstler im traditionell bestickten Hemd (Wyschywanka) und antwortete auf Belarussisch, was damals einer Kampfansage an das sowjetische System gleichkam. 

    Noch im selben Jahr ging die Staatspresse zu einer Hetzjagd auf Ales Puschkin über. Die Zeitungen schrieben, er träume von „einem Belarus ohne Juden und Kommunisten“. Zehn Jahre später sagte Ales, er wolle ein Belarus sowohl mit Juden als auch mit Kommunisten, im Land solle Platz für alle sein. 

    Die Galerie U Puschkina

    Nach dem Studium ging Ales nach Wizebsk. Er sagte, er habe sich diese Stadt selbst ausgesucht, da seine Geschichte mit der Malerei, Chagall und Malewitsch, verbunden sei. Er arbeitete in einem Betrieb für Kunsthandwerk und hatte einen Wohnheimplatz. Doch das genügte Ales nicht, und so eröffnete er bald die seinerzeit erste private Kunstgalerie des Landes, die er ganz bescheiden U Puschkina [dt. Bei Puschkin] nannte. 

    An diesem Ort fand der erste Kongress der belarussischen Nationalisten statt, initiiert von Puschkin und Slawamir Adamowitsch. Die Veranstaltung wurde von der Polizei aufgelöst. 1997 musste die Galerie schließen. Im November 1994 führte Ales eine seiner schillerndsten Performances auf: Barfuß lief er durch die vom ersten Schnee bedeckten Straßen der Stadt Wizebsk, um den Leidensweg des unierten Metropoliten Josaphat Kunzewitsch nachzuvollziehen. Danach setzte er sich in ein Boot ohne Ruder und ließ sich die Dswina (Düna) hinuntertreiben. 

    Zwei außereheliche Töchter, zwei eheliche Kinder

    Politik stand für Puschkin jedoch nie im Vordergrund. Er lebte für die Kunst; um sein Privatleben ranken sich Legenden. In seiner Jugendzeit hatte Ales eine Romanze mit einer russischen Geschäftsfrau aus Tambow. Er war 24, sie 39 Jahre alt. Aus der Beziehung stammt seine Tochter Hanna.

    Später erregte Ales Aufmerksamkeit mit der Aussage, er würde nie eine Frau heiraten, die nicht Belarussisch spricht. In seiner Zeit in Wizebsk hatte er eine weitere Affäre, aus der seine Tochter Dascha hervorging. Lange Zeit wusste der Künstler nichts von ihrer Existenz; er lernte sie erst kennen, als sie schon 17 Jahre alt war. Beide Töchter sprechen Belarussisch. 

    1997 heiratete Puschkin schließlich. Seine Auserwählte war eine junge Frau, die weit von dem Leben der Bohème entfernt war – eine Lehrerin aus dem Kreis Staubzy namens Janina Demuch. Sie hatten sich in Mahiljou kennengelernt, wo Ales als Restaurator der Kathedrale des Heiligen Stanislaus arbeitete. Über die Jahre war aus dem provokanten Performance-Künstler Puschkin ein Restaurator und Ikonenmaler geworden. 

    Alles in allem war Puschkin ein Mensch, der eine gewaltige Transformation durchlebt hatte und nach wie vor durchlebte, sowohl in künstlerischer als auch in ideologischer Hinsicht. Janina war katholisch, Ales orthodox. Die Ehe brachte zwei Kinder hervor, Mikola und Marylja. Auf das erste Kind mussten die beiden sechs Jahre lang warten, in diese Zeit fielen zwei Fehlgeburten. Die Eltern setzten durch, dass ihr Sohn in der Schule auf Belarussisch unterrichtet wurde.

    Wandmalerei in der Kirche von Bobr

    Die Wandmalerei in der orthodoxen Kirche seiner Heimatstadt Bobr bezeichnete Ales als eine der wichtigsten Arbeiten seines Lebens. Das berühmteste Motiv zeigte Sünder vor dem Jüngsten Gericht, und in ihrer Mitte einen Mann, der Ähnlichkeit mit dem belarussischen Diktator hatte. Zudem waren auf dem Gemälde OMON-Leute und hohe orthodoxe Würdenträger abgebildet. 

    Dieses Bild musste Ales später übermalen, dennoch blieb seine Gesamtgestaltung der Kirche erhalten. Sonntags läutete Puschkin die Glocken in der Kirche. 2011 brannte die Kirche aus ungeklärten Gründen vollständig ab und musste von Grund auf neu erbaut werden. 

    Mist für Lukaschenka

    Die berühmteste Performance Puschkins ist zweifelsfrei der Mistkarren, den er im Juli 1999 vor Lukaschenkas Präsidialverwaltung schob. Ein roter Karren; weiße Handschuhe. Ales kippte den Mist aus, darüber warf er wertlose Rubelscheine und die Verfassung. Dann durchbohrte er diesen Haufen mit einer Mistgabel. Er wurde von Polizisten festgenommen, im Verhör weigerte er sich, seinen Namen zu nennen, und sagte, er sei „ein Mann aus dem Volk“. Man ließ ihn unter Auflagen laufen, aber einige Zeit später wurde er wegen Rowdytum zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.


    Ales Pushkin und seine berühmteste Performance „Ein Geschenk für den Präsidenten“ am 21. Juli 1999

    2015 sagte Puschkin, er würde im Jahr 2020 eine Schubkarre voll Rosen zur Präsidialverwaltung bringen, sollte Belarus dann noch ein unabhängiger Staat sein. Doch dann kam alles ganz anders. Ein weiteres Strafverfahren gegen Puschkin wäre beinahe im September 2007 eröffnet worden, als er nach dem Festival Schlacht bei Orscha gemeinsam mit Aktivisten der Malady Front [dt. Junge Front] aufs Polizeirevier gebracht wurde, wo er in einem unbeobachteten Moment die Staatsflagge nahm und sie aus dem Fenster des zweiten Stocks warf. Der Künstler sollte daraufhin wegen „geringfügigen Diebstahls“ angeklagt werden, aber vor Gericht sagte er, er wolle nicht mit solchen Formulierungen behelligt werden und lieber gleich ein ordentliches Strafverfahren bekommen. Letztlich blieb es dann bei zehn Tagen Untersuchungshaft. 

    Foto © AP/picture alliance
    Foto © AP/picture alliance

    Das sind bei Weitem noch nicht alle Abenteuer, die der Künstler erleben durfte. Er wurde dafür festgenommen, dass er sich in einem Telefongespräch negativ über den KGB-Chef Szjapan Sucharenka äußerte, und er sollte für eine Explosion zur Verantwortung gezogen werden, die am Kupalje-Fest 2013 auf seinem Grundstück passierte, als er Graupensuppe kochte. Mit den Geschichten, die sich um Puschkin ereigneten, könnte man wohl ein Buch füllen.

    Puschkin war dieser Typ Künstler, dessen Leben gern verfilmt oder in Romanen festgehalten wird. 

    2020 wurde Puschkin während der Proteste um die Wahlen verprügelt, und auch daraus machte er eine Performance, indem er die blauen Flecken an Bauch, Rücken und Hintern öffentlich zur Schau stellte. Der Künstler hatte zuvor drei Tage im Akreszina-Gefängnis verbracht. Er nahm an fast allen Sonntagsmärschen und auch anderen Aktionen teil, wobei er eine Ikone bei sich trug.

    Am 26. März 2021 eröffnete das Lukaschenka-Regime das Strafverfahren gegen ihn wegen des Auhen Shychar-Porträts. Am 30. März wurde Puschkin nach seiner Rückkehr aus dem Ausland festgenommen. Ein Jahr verbrachte der Künstler in Einzelzellen in Untersuchungshaft. Während einer Gerichtsverhandlung am 25. März 2022, die wie alle politisch motivierten Prozesse unter Lukaschenka einer Inszenierung glich, schnitt Puschkin sich zum Zeichen des Protestes den Bauch auf. Zudem weigerte er sich aufzustehen und verlangte, dass man ihm die Handschellen abnimmt. Am 30. März 2022 sprach Richterin Alena Schylko das Urteil: fünf Jahre Hochsicherheitslager. Ales Puschkin war einer von tausenden Belarussen, die aus politischen Gründen ihrer Freiheit beraubt wurden. 

    Die massenhaften politischen Repressionen in Belarus halten seit 2020 an, als Aljaxandr Lukaschenka – legt man die Ergebnisse der Wahllokale zugrunde, bei denen unabhängige Beobachter zugelassen waren – die Präsidentschaftswahl an Swjatlana Zichanouskaja verlor, sein Amt aber nicht abtrat. 

    Seit dem großangelegten Angriff Russlands auf die Ukraine im Jahr 2022 werden Belarussen auch für Meinungsäußerungen verfolgt, die sich gegen den Krieg richten und Sympathie mit der Ukraine bekunden. Seit 2020 gab es in Belarus mehr als 50.000 politisch motivierte Festnahmen; über 12.000 politische Strafverfahren wurden eröffnet. Zu manchen politischen Gefangenen besteht seit Monaten kein Kontakt mehr. 

    Ales Puschkin wurde im August 2022 von der Verwaltung des Lagers Nr. 22 mit fünf Monaten Isolationshaft bestraft. Im Frühjahr 2023 wurde er schließlich ins Gefängnis in Hrodna überstellt. In der Gefangenschaft malte Puschkin weiter, auf alles, was ihm in die Hände kam. Seine letzten Werke verbleiben bei den Lagerhäftlingen und Gefängnisinsassen, denen es gelang, sie zu bewahren. 

    Auf Anfrage teilte das Gefängnis in Hrodna Nasha Niva mit, dass Puschkin in die Notfallambulanz eingeliefert worden sei. Das Krankenhaus wiederum bestätigte, der inhaftierte Künstler sei mit Wachschutz in der Notaufnahme gewesen. Seine Familie wusste nichts davon. 

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    Verboten in Belarus: Literatur und Autoren

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    Verboten in Belarus: Literatur und Autoren

    „Leser schreiben, dass sie meine Bücher aus Bibliotheken retten, damit sie nicht vernichtet werden. Sie bewahren sie bis zu besseren Zeiten auf. Wir schreiben das 21. Jahrhundert in Belarus: Bücher müssen aus Bibliotheken gerettet werden.“ Dies sagte Alhierd Bacharevič in einem Interview mit dem Online-Medium Zerkalo. Gleich zwei Romane des belarussischen Schriftstellers wurden von den Behörden in Belarus für „extremistisch“ erklärt. So gehen die Machthaber um Alexander Lukaschenko seit den Protesten von 2020 nicht nur gegen Oppositionelle, Aktivisten, Journalisten, Medien oder NGOs vor, sondern eben auch gegen Literatur. 

    Das Online-Medium Mediazona Belarus stellt Bücher und ihre Autoren vor, die auf der Liste „extremistischer Materialien“ gelandet sind, auf der sich das Medium seit 2022 selbst befindet. 

    Illustration © Taja L./Mediazona
    Illustration © Taja L./Mediazona

    Die im Folgenden vorgestellten Bücher wurden vom belarussischen Regime als „extremistisch“ eingestuft. Wer sie besitzt oder verbreitet, kann in Belarus mit Geld- oder Freiheitsstrafen geahndet werden.

    Alhierd Bacharevič: Sabaki Europy (Die Hunde Europas)

    Worum es geht: Die Hunde Europas – eine Antiutopie in sechs Einzelgeschichten. In einem der Handlungsstränge hat Belarus längst seine Souveränität verloren und gehört zu Russland.

    „Mir gefällt die Idee, dass die Hunde Europas die Belarussen sind. Der Hund ist ein Wesen, das stets in der Nähe des Menschen lebt, er hat seine eigene Sprache, seine Weltsicht. Der Hund ist scheinbar immer in unserer Nähe. Er versucht uns etwas zu sagen, aber wir verstehen es nicht“, erzählt der Autor über sein Buch.

    Der Autor: Der Schriftsteller Alhierd Bacharevič lebte in Deutschland, kehrte dann nach Belarus zurück und hat das Land nach den Protesten von 2020 erneut verlassen. Das Buch erschien erstmals 2017 im Verlag Lohvinau, 2021 wurde es im Verlag Januškievič neu aufgelegt. Die in Litauen gedruckte Auflage der Hunde wurde an der Grenze vom belarussischen Zoll beschlagnahmt, um eine Expertise „bezüglich Extremismus“ vorzunehmen. Am 17. Mai 2022 wurde der Roman per Gerichtsbeschluss in die Liste der extremistischen Materialien aufgenommen. 

    Der Verlag Januškievič musste seine Arbeit in Belarus nach einer Razzia in der gerade erst eröffneten Buchhandlung Knihauka einstellen. Zuerst waren Mitarbeiter der Propagandaabteilung dort aufgetaucht, später Silowiki. Die Bücher wurden mitgenommen, der Verlagsgründer und eine Mitarbeiterin wurden mehrfach wegen Ordnungswidrigkeiten bestraft. Heute führt der Verlag Januškievič seine Arbeit im Ausland fort.

    Alhierd Bacharevič schrieb, die beschlagnahmte Auflage der Hunde sei „mit Traktoren in die Erde gemalmt“ worden.


    Alhierd Bacharevič: Aposchnjaja kniha pana A (Das letzte Buch von Herrn A.)

    Das Buch wurde 2020 von den Verlagen Januškievič und Vesna gemeinsam herausgegeben. 

    Worum es geht: Der Protagonist des Buches, Herr A., muss zur Begleichung einer Schuld Märchen erzählen – aus denen dieses Buch besteht. Währenddessen wird die Welt von einer Epidemie heimgesucht.

    Bacharevič erläuterte, dass die Handlung erdacht wurde, „lange bevor das Wort Coronavirus auf der Welt auftauchte“. „Eine Gruppe von Intellektuellen versammelt sich in einem Minsker Haus, lauscht jeden Abend Märchen, während sich draußen etwas Unglaubliches abspielt, eine Epidemie, die Pest des 21. Jahrhunderts.“

    Das Buch wurde am 6. März 2023 für extremistisch erklärt. Eine Überprüfung des Buches auf „Extremismus“ befand die Spezialkommission für „nicht zielführend, da die Formulierungen offensichtlich sind“. Der Extremismus sei offensichtlich!

    Der Autor äußerte sich dazu in einem Interview mit Zerkalo: „In dunklen Zeiten ist Literatur immer auch Politik. Und so ist auch Das letzte Buch von Herrn A. keineswegs unpolitisch. Es erschien 2020. Auf der ersten Seite lesen wir: ,Es gibt kein Ziel außer dem, deine dir gegebenen Tage würdevoll und bewusst zu erleben, bis zum Ende, was auch immer die mächtigsten Mächtigen, die brutalen Spaßmacher und Blutsauger sich ausdenken‘ [hier zitiert nach der deutschen Übersetzung von Alhierd Bacharevič und Andreas Rostek, edition.fototapeta, 2023 – dek]. Herr A. erzählt im Buch verschiedene Geschichten, die meisten sind direkt mit der belarussischen Wirklichkeit verknüpft. In dem Märchen Raman Burak, der Mensch konstruieren Emigranten einen Robotermenschen. Er soll in das Land reisen, das sie verlassen haben, und den Führer der Nation töten. In dem Märchen In heitere Höhen (ein Zitat aus der Hymne der BSSR) tauscht ein Arbeiter die Staatsflagge am zentralen Fahnenmast des Landes aus und sieht, dass sie mit menschlichem Blut getränkt ist … Natürlich kann man all das als ,extremistisch‘ bezeichnen, wenn man die entstellte Sprache des Regimes verwenden möchte, die den Worten ihre ursprüngliche Bedeutung raubt.“


    Igor Iljasch, Jekaterina Andrejewa: Belorusski Donbass (Der Belarussische Donbass)

    Worum es geht: Das Buch ist der belarussischen Rolle im Krieg im Donbass gewidmet. Die Journalisten lassen Belarussen auf beiden Seiten der Front zu Wort kommen. 

    „Wir haben versucht, alle Berührungspunkte zu beleuchten: von der Beteiligung belarussischer Bürger an den Kampfhandlungen bis hin zur Rolle der Geheimdienste in diesem Prozess, vom illegalen Handel mit DNR und LNR bis hin zur Arbeit von Freiwilligen, von der politischen Konjunktur bis zur Informationsstrategie der Regierungen“, so die Autoren.

    Die Autoren: Die Journalisten Igor Iljasch und Jekaterina Andrejewa (Bachwalowa). 

    Das Buch wurde am 26. März 2021 für extremistisch erklärt. Jekaterina Andrejewa befindet sich in Haft. Zunächst wurde sie für einen Livestream vom Platz des Wandels zu zwei Jahren Straflager verurteilt, kurz vor dem Ende ihrer Haftzeit fand ein zweiter Prozess statt, in dem sie wegen „Staatsverrats“ angeklagt und zu acht Jahren und drei Monaten Straflager verurteilt wurde. 


    Anatoli Hatoutschyz: Adysseja kapitana BNR (Die Odyssee des BNR-Hauptmanns)

    Worum es geht: Das Buch handelt von Zimoch Wostrykau, einem Mitglied des Rates der Belarussischen Volksrepublik (BNR).

    „Das dramatische Schicksal eines seinem Heimatland ergebenen Belarussen unter dem Druck der bolschewistischen Kollektivierung, den Wirren der Kriegsjahre, erzwungener Emigration und schließlich der Rückkehr in die Heimat an Bord eines amerikanischen Flugzeugs, mit einem Fallschirm auf dem Rücken – zur Untermauerung der belarussischen Unabhängigkeit und Souveränität“, so heißt es im Klappentext des Buches über den Helden Zimoch Wostrykau.

    Schon Wostrykaus Vater war Repressionen ausgesetzt und starb im Gulag. Zimoch Wostrykau selbst verbrachte 23 Jahre in Straflagern und starb 2007 in Homel.

    Der Autor: Anatol Hatoutschyz ist Journalist in Homel und leitete die dortige Abteilung des Belarussischen Journalistenverbandes (BAJ). 

    Das Buch wurde am 16. März 2023 für extremistisch erklärt. Der Autor wurde mehrfach von Silowiki festgenommen, seine Wohnung wiederholt durchsucht. 


    Joseph Brodsky: Ballada pra malenki buksir (Die Ballade vom kleinen Schlepper), ein Kinderbuch, ins Belarussische übertragen von Alessja Aleinik

    Worum es geht: Ein kleines Schleppboot schuftet und schuftet, ohne je den Heimathafen zu verlassen: es schleppt Schiffe hinein in den Hafen und wieder hinaus.

    Der Autor: ist der russisch-amerikanische Schriftsteller, Dramaturg und Übersetzer Joseph Brodsky, die Übersetzerin Alessja Aleinik. 

    Das Buch erschien im Verlag Januškievič. Es wurde am 18. Oktober 2022 durch einen Beschluss des Stadtbezirksgerichtes Zentralny in Minsk für extremistisch erklärt. 

    Der Herausgeber Andrei Januschkewitsch schrieb, dass er während der Razzia in seinem Buchladen Knihauka in Minsk die Mitarbeiter der Antikorruptionsbehörde GUBOPiK fragte, was ihnen an diesem Buch Brodskys missfalle. „Ein Kindergedicht, veröffentlicht 1962, der Text ohne jeglichen Bezug zu Belarus … Zur Antwort bekam ich, dass die Farbgebung des Schleppbootes in den Illustrationen verdächtig sei (?!).“

    Illustration aus dem Buch Die Ballade vom kleinen Schlepper / Foto  © Andrei Januschkewitsch / Facebook
    Illustration aus dem Buch Die Ballade vom kleinen Schlepper / Foto © Andrei Januschkewitsch / Facebook

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    Zehntausende Belarussen hat Alexander Lukaschenko seit den Protesten 2020 mit brutalen Repressionen außer Landes getrieben. Viele gingen zunächst auch in die Ukraine, von wo sie vor dem russischen Angriffskrieg ein zweites Mal fliehen mussten. Die Eltern oder die Großeltern blieben zurück in der Heimat, Familien wurden entzweit, ohne Hoffnung, sich in naher Zukunft wiedersehen zu können. In der Fremde warten neue Herausforderungen: eine Arbeit finden, eine Wohnung, Plätze in Schulen für die Kinder, durchkommen, kämpfen. Und doch bleiben die Sorgen um die Zurückgebliebenen, um die Heimat. 

    Für die Rubrik Schmerz des belarussischen Online-Mediums KYKY hat die belarussische Autorin und Redakteurin der Plattform OstWestMonitoring Sabina Brilo aufgeschrieben, was viele Belarussen im erzwungenen Exil umtreibt. Auch sie musste Belarus verlassen und ist „seit fast zwei Jahren im Nirgendwo“, wie sie schreibt.

    Menschliche Anpassungsfähigkeit ist etwas, was mich verblüfft und bei mir fast schon so etwas wie Neid hervorruft. Sich einleben, heimisch werden, gedeihen … Ich kann das nicht.

    Fast zwei Jahre schon bin ich nicht zu Hause, und die ganze Zeit nirgendwo. Ich bin in Not, in riesiger menschlicher Not.

    Was meine ich mit der Unmöglichkeit, mich an ein Leben jenseits meines Zuhauses anzupassen? Für mich geht es weniger um Fragen der persönlichen, physischen Existenz (Wohnort, Essen, Gesundheit, Arbeit und Erholung), sondern vielmehr um eine emotionale Unstimmigkeit und mentale Dissonanzen. Die gehen einher mit einem Gefühl der Absurdität darüber, was mit uns (unseren Familien, den Völkern, der Menschheit) geschieht und sogar von uns zur Norm gemacht wird. Die vielen trostbringenden Aktionen, die Hilfe durch wohlhabende Menschen, die Industrie psychologischer Teilhabe, die Förderprogramme und Solidaritätsaktionen ermöglichen – das alles ist eher die Bestätigung eines abnormen Zustands, der jetzt die Norm ist, als dass es helfen würde, diesen Zustand zu begreifen und nach Wegen zu suchen, ihn tatsächlich und nicht nur imaginär zu überwinden.

    „Beschreibe, entwirf deine persönlichen Grenzen und gestalte deinen Raum“, sagen diplomierte Fachleute. Dieser Rat klingt (methodo)logisch, und er wird gern eingesetzt, um das Leben zu erleichtern. Ich selbst stelle mir diese Grenzen wie ein Schneckenhaus vor: Innen drin ist es wie zu Hause, draußen aber kannst du jederzeit unter einen groben Stiefel geraten.

    Der Staat, in dem ich lebte und der mich eigentlich schützen sollte, drohte mir mit einer echten Hölle

    Die Welt ist heute voller grober Stiefel, die vollkommen ungestraft (und das sogar gegen Geld!) Blumen, Sträucher und Schnecken zertrampeln, darunter solche, die wie ich ohne Haus sind. 

    Dabei hatte es ja ein Haus gegeben, aber das hat nicht geholfen. Seit über anderthalb Jahren schlafe ich in einem fremden Bett. Und zwar nicht, weil ich mein Land verlassen habe, um ein besseres Leben, ein leckeres Stück Kuchen oder einen Platz an der Sonne zu haben … Nein, ich bin ausgereist und habe alles zurückgelassen, was mir lieb und teuer war, um mich vor dem nahezu Schrecklichsten zu bewahren, was einem Menschen durch Seinesgleichen geschehen kann: einer ungerechten Gefängnishaft. 

    Der Staat, in dem ich lebte und der mich eigentlich schützen sollte, drohte mir mit einer echten Hölle, obwohl ich mir nichts hatte zu Schulden kommen lassen. Dieser Gedanke an ein Loch im Rechtssystem, ein Vakuum, das systematisch menschliche Leben aufsaugt, lässt mir auch im fremden Bett keine Ruhe. In einer Welt, in der ein gesetzestreuer Mensch nicht vor der Willkür der Machthabenden geschützt ist (sie können dich ins Gefängnis werfen, in den Krieg schicken, deine Menschenwürde im Fernsehen mit Füßen treten), kann ich nicht ruhig schlafen und nachdenken, wie ich damit umgehen soll.

    Schon lustig: Eine Schnecke ohne Haus überlegt, wie sie die Welt retten kann.

    Ich habe kaum gemerkt, wie schnell fern der Heimat anderthalb Jahre verflogen sind. Ich erinnere mich, wie ich kurz nach der Ankunft eine Bekannte aus Minsk traf. „Bist du schon lange hier?“, fragte ich. „Ja, schon ein Jahr.“ Damals kam mir das wie eine Ewigkeit vor. Innerhalb eines Jahres kann man sich einrichten, sich einleben, dachte ich damals. Und ich dachte auch, dass uns beide ein ganzes Jahr eines unterschiedlichen Lebens und vollkommen unterschiedlicher Erfahrungen trennt.

    Jetzt weiß ich, dass man auch über mich so denkt: „Du bist jetzt in Sicherheit, dich treiben jetzt ganz andere Probleme um.“ Aber nein. Meine Gedanken, meine Liebsten, meine Sorgen, all das ist immer noch mit dem verbunden, was zu Hause geblieben ist.

    Mein Gott! Der Täter verlangt vom Opfer, dass es um Entschuldigung bittet!

    Ich weiß sehr wohl, was hilft und was eine Vertriebene daran hindert, sich einzuleben. Welche Praktiken vonnöten sind und was man lieber unterlassen sollte, wenn man versucht, sein Leben zu einem vollwertigen zu machen.

    Zum Beispiel sollte man sich nicht jeden Abend, beim Versuch einzuschlafen sein Zuhause vorstellen. Wie man in die Küche geht, Geschirr spült, Staub vom Küchenschrank wischt. Und auch nicht an die alte Katze denken, die man bei Verwandten gelassen hat (meine Finger erinnern sich an jeden ihrer Knochen, an jeden Ballen ihrer Pfote).

    Stell dir lieber nicht vor, dass du jetzt die Augen öffnest und dann vor dir das Nachttischchen steht, mit den Büchern darauf und den Notizblöcken in der Schublade. Hüte dich, dir vorzustellen, wie du deine Verwandten umarmst. Und denke nicht an Großmutters Grab, wenn du Frühlingsblumen siehst.

    Aber was soll man dann tun? Viel in der Stadt herumlaufen, in der du gerade lebst, um all ihre Ecken zu entdecken. Sich leckeres Essen holen. Die Sprache lernen, Sport treiben. Sich mit Freunden treffen, Leute kennenlernen. Ins Theater oder ins Kino gehen. An die Zukunft denken … 

    Die Psychologen raten einem, das alles im Rahmen der persönlichen Grenzen zu tun. Doch an meinen Grenzen stehen irgendwelche Amateur-Grenzschützer. Mich will ein gewisser Kummer nicht verlassen, ein eigener und allgemeiner, ein anhaltender und zunehmender, weil eine Katastrophe droht.

    Mich wundert schon gar nichts mehr, aber wenn in Belarus ein Erlass ergeht, dass Geflüchtete zurückkehren können, wenn sie sich gegenüber dem Regime entschuldigen, dann stockt mir der Atem: Mein Gott! Der Täter verlangt vom Opfer, dass es um Entschuldigung bittet!

    Da gibt es folgende Geschichte: Ein Mann isst vor den Augen eines anderen ein Stück Kuchen auf und fragt ihn: „Warum hast du das Stück Kuchen aufgegessen?“ Der antwortet verwundert: „Ich war das doch gar nicht, du warst es. Du hast doch noch die Krümel auf den Lippen!“ Und der Kuchenesser wischt sich die Lippen ab, schaut seinen Kumpel in die Augen und sagt: „Was bist du nur für ein Halunke! Du hast Krümel auf den Lippen!!!“ Und da ist sie, die Linie, hinter der der gesunde Menschenverstand endet. Und was beginnt dort? Was entwickelt sich dort, wo es kein Instrument gibt, um sich zu wehren? Wo es kein Gesetz gibt? Wo es nicht einmal eine Sprache gibt, um Argumente zu formulieren, weil es niemanden gibt, für den man sie formulieren könnte – der Kuchenesser hat ja keine Ohren, um dich zu hören. Wir können das Absurde feststellen, aber nichts unternehmen. Sollen wir uns irgendwie einrichten, uns einleben?

    Hier wäre wohl am ehesten ratsam eine Strategie, mit der man „die persönlichen Grenzen ziehen“ kann. Sich dem Buddhismus zuwenden. Hygge praktizieren. Sich sagen, dass man in Sicherheit ist und dass mit der Zeit alles in Ordnung kommt.

    Ich bin aber nicht fähig zu einem solchen Selbstbetrug. Um bei Verstand zu bleiben, muss ich das, was mich umgibt, in all seinem Schrecken erfassen und in dieser Hölle einen kühlen Kopf bewahren. Mein Trauern ist ein Prozess, eine Anstrengung, eine Energieverschwendung. 

    Oh je, ich habe wohl keinerlei Instrumente, um die Situation anzufechten, in der sich Zehntausende (oder gar Hunderttausende?) meiner verurteilten, beraubten, erniedrigten und vertriebenen Landsleute befinden. Meine Empörung kann sich nirgendwo hin Luft machen, ich kann meine Wut nicht in Taten umsetzen. Es ist niemand da, bei dem ich mich beschweren könnte. Vielleicht ist das auch gut so. Ich habe nur mein Trauern, meinen persönlichen, ethischen Indikator. Solange er leuchtet, ist mit klar, dass die Welt verrückt ist, und ich noch nicht. 

    Zu Beginn von Putins Krieg in der Ukraine sagte mir eine Freundin, eine Regisseurin aus Moskau, unter Tränen am Telefon: „Ich gehe durch die Straßen und schaue mir die Leute an. Wer traurig ist, gehört zu mir.“ Auch ich erkenne meine Leute an diesem Merkmal.

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    „Wir erleben einen historischen Umbruch, dessen Epizentren die Ukraine und Belarus sind“

    Sozialer und kultureller Widerstand in Belarus – auf diese Themen hat sich Yauhen Attsetski unter anderem in seiner fotografischen Arbeit fokussiert. So ist das preisgekrönte Fotoprojekt Messed up entstanden, in dem er das Leben der Musikerinnen der gleichnachnamigen Hardcore-Punkband in der west-belarussischen Stadt Hrodna dokumentiert. Einem größeren Publikum wurde er bekannt, als er die Entstehung des Platzes des Wandels in Minsk während der Proteste 2020 begleitete. Mittlerweile lebt Attsetski mit seiner Frau Julia in Lwiw. In der Ukraine, wo er gerade seine erste Ausstellung hatte, hält er die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf das gesellschaftliche Leben fest. Wir haben mit ihm über seine Arbeit und sein Leben in der Ukraine gesprochen, zudem zeigen wir eine Auswahl seiner Bilder. 

    Nach den russischen Raketenangriffen auf das ukrainische Energie-Netz sind Teile von Lwiw ohne Strom. In den Häusern auf der linken Seite gibt es Strom, auf der rechten Seite beleuchten die Menschen ihre Wohnungen mit Taschenlampen oder Kerzen. / Foto © Yauhen Attsetski

    dekoder: Sie wohnen heute in Lwiw. Wie kam es dazu? 

    Yauhen Attsetski: Im Sommer 2021 kam der KGB zu meiner Frau Julia, Hausdurchsuchung. Nach den Ereignissen im Land im Jahr 2020 hatten wir keinerlei Illusionen auf eine faire Rechtsprechung. Es war ein Signal. Also zogen wir mit unseren beiden Katzen nach Kyjiw. Ein halbes Jahr später begann der Krieg.

    Ich gestehe, ich hatte kaum geglaubt, dass so etwas möglich ist. Wir überlegten zwei Tage lang, blieben zunächst noch in der Stadt. Doch nach einer Nacht, die wir in den Büroräumen von Julias Firma verbrachten und in der wir Salven von Maschinengewehren und wohl auch Panzerfeuer hörten, beschlossen wir weiterzuziehen. Wie durch ein Wunder fanden wir einen Bus und kamen nach Lwiw, wo wir von unserer Freundin Alina aufgenommen wurden. Für die ersten drei Monate war ihre Wohnung unser neues Zuhause. Über Alina kamen wir auch in Kontakt mit den anderen Belarussen in Lwiw. Das gemeinsame Leid einte uns, mit vielen von ihnen sind wir heute befreundet.

    Viele Belarussen sind wegen der Repressionen in die Ukraine geflohen und dann vor dem Krieg in andere Länder. Warum sind Sie geblieben?

    Zuerst wollten wir nach Polen ausreisen. Doch in den ersten Wochen war der Lwiwer Bahnhof ein einziges Chaos, in einen Zug zu kommen, war unrealistisch. Wir beschlossen, einige Zeit abzuwarten, und nach ein paar Wochen hatten wir uns schon an die Stadt gewöhnt. Uns interessierte das, was hier vor sich ging. Ich holte die Kamera hervor und begann zu fotografieren. Ich spürte, dass die Ukraine eine Chance hat standzuhalten. In diesem Moment wollte ich an der Seite der Ukrainer sein. Als Autor hielt ich die Geschehnisse fest, als Mensch half ich dem Land, so gut ich konnte. Für uns Belarussen ist es sehr wichtig zu sehen und zu erleben, dass Gerechtigkeit existiert, dass man Terror abwehren kann. Deshalb bin ich hiergeblieben, um diese Erfahrung aufzusaugen. Heute ist mein Glaube an ein gutes Ende so stark wie nie zuvor.

    Was sind das für Projekte, an denen Sie gerade arbeiten?

    Seit 2020 verlässt mich das Gefühl nicht, dass wir einen historischen Umbruch erleben, dessen Epizentren die Ukraine und Belarus sind. Als Dokumentarfotograf ist es mir wichtig, diese Zeit einzufangen und festzuhalten.

    In meinem Projekt verfolge ich gleichzeitig mehrere Stränge. Der erste sind die sozialen Prozesse in der ukrainischen Gesellschaft. Für mich ist das eine neue Kultur, zudem auch noch in einem Moment großer Herausforderung, weshalb ich das Objektiv auf die sozialen Reaktionen richte. Parallel dazu halte ich unseren Alltag fest. Das ist Tagebuchfotografie mit einer kleinen Analogkamera. Das Leben im Krieg, das sind nicht nur Explosionen, Angst und Kampf. Die Menschen im Krieg finden zusammen, stehen enger beieinander. Der dritte Strang sind Schwarzweißporträts meiner Freunde. Hauptsächlich sind das Belarussen, die wie ich beschlossen haben, in Zeiten des Krieges in der Ukraine zu bleiben.

    Belarus gilt der Ukraine als Co-Aggressor. Wie ist für Sie das Leben in der Ukraine?

    In den ganzen 15 Monaten seit dem russischen Großangriff auf die Ukraine war ich nur wenige Male mit Aggression gegenüber Belarussen aufgrund ihrer Nationalität konfrontiert. Ich denke, die Mehrheit der Menschen versteht, dass wir gute Gründe haben, noch hier zu sein. Wir alle helfen der Ukraine wie wir können – mit Taten, Informationen, Geld. Wir haben Kerzen für die Schützengräben gebastelt, Tarnnetze geflochten, manche haben auf dem Bahnhof geholfen. Als Autor habe ich meine Arbeiten bei wohltätigen Aktionen zugunsten der Unterstützung der Ukraine verkauft. Besonders möchte ich das Engagement unserer Freundin Tanya Hatsura-Yavorska hervorheben. Aktuell sammelt sie schon zum zweiten Mal Spenden für Vakuumpumpen für Unterdrucktherapie zur Behandlung von Kriegswunden. Zudem baut sie ein Rehazentrum für Soldaten, die gegen Russland kämpfen. Im November 2022 organisierte Tanja das belarussisch-ukrainische Filmfestival Na Mjashy (dt. An der Grenze), auf dem die ukrainischen Zuschauer mehr über Belarus erfuhren, und die belarussischen über die Ukraine.

    Welche künstlerische Herangehensweise ist Ihnen bei Ihrer Arbeit wichtig?

    Als ich die sozialen Reaktionen fotografierte, ging ich maximal auf Abstand. Ich fokussierte auf das Geschehen selbst, nicht auf den Menschen. Ich betrachtete die Prozesse, nicht das individuelle Heldentum. Wenn du vom Krieg weit entfernt bist, wird sein Bild oft von Bildern von der Front geprägt, von der Zone der aktiven Kampfhandlungen. Aber das Leben geht überall weiter, das ganze Land, in jedem Winkel, reagiert auf den russischen Angriff. Mir war es wichtig zu zeigen, dass das Leben im Krieg in erster Linie eben das Leben ist, in all seinen Ausprägungen, Leid, Freude, Kampf. Manchmal scheint es, dass gar nichts passiert, doch wenn du dann hinausgehst, kannst du nicht übersehen, in welchem Zustand sich das Land befindet: Plakatwände, Werbung, Radio, Fernsehen – überall Krieg; Menschen in Militäruniform, Panzerigel, mit Säcken verbarrikadierte Fenster – all das gehört gerade zum Bild einer jeden ukrainischen Stadt. All das hinterlässt ohne Frage Spuren bei den Menschen. Und bei alldem freuen wir uns, erholen wir uns, reisen wir. Dieses Gefühl wollte ich mit meinem Projekt vermitteln.

    Was planen Sie für die Zukunft?

    In Minsk hatte ich eine Schule für Fotografie, ФШ1 (FSch1). Neben der Ausbildung beschäftigten wir uns damit, ein Netzwerk aufzubauen, uns war es wichtig, junge Fotografen zu unterstützen. Wir organisierten Filmabende, gaben Fotografen eine Bühne, luden erfahrene Kollegen zu Artist Talks ein, organisierten Partys. Diese Arbeit würde ich gern wieder aufnehmen. Leider hat sich das Netzwerk seit 2020 auf verschiedene Länder verteilt. Ein Großteil der Leute war noch in Minsk und in Warschau. Ich würde die Kontakte gern wieder aufbauen. Es wäre großartig, wenn die Menschen sich wieder treffen und kreativ arbeiten könnten. Für diejenigen, die in der Heimat geblieben sind, will ich Online-Veranstaltungen organisieren, doch am wichtigsten sind persönliche Treffen. Wir haben ein solches Treffen bereits in Warschau durchgeführt, es war sehr herzlich und lebensbejahend.

     

    Julia und ihre Katze Fujuza flüchten während der Luftangriffe auf Lwiw ins Badezimmer. Das Bad ist der einzige Ort in der Wohnung, der dem Zwei Wände-Prinzip gerecht wird / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Katze Fujuza hat sich selbst in den Koffer gepackt / rechts: Oxana mit Blumenvase nach Alinas Geburtstag. Alina gehört zur belarussischen Community in Lwiw / Fotos © Yauhen Attsetski
    Julia kuschelt mit Katze Satana / Foto © Yauhen Attsetski
    Julia, Alina, Tanja und Jas arbeiten während eines Luftangriffs. In den ersten Kriegsmonaten wurde empfohlen, die Fenster zu verdunkeln, also auch das Licht auszuschalten / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Tanja und ihr Hund Kailas in ihrer Wohnung in Kyjiw / rechts: Tisch in Alinas Wohnung / Fotos © Yauhen Attsetski
    Alina umarmt Tanja bei einer Veranstaltung im Menschenrechtszentrum in Tschernihyw / Foto © Yauhen Attsetski
    Oleg ist Belarusse, er lebt in Charkiw. Im November 2022 wurde er Mitglied der belarussischen Community in Lwiw / Foto © Yauhen Attsetski
    Die Küche in Julias und Shenjas Wohnung in Lwiw nach einer Party / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Julia mit ihrer Katze Petra / rechts: Fujuza trinkt Wasser aus dem Hahn / Fotos © Yauhen Attsetski
    Ikonen in der Mietwohnung, in der Julia und Shenja leben. In Lwiwer Wohnungen sind Ikonen keine Seltenheit / Foto © Yauhen Attsetski
    Plausch auf dem Balkon: Alina, Danik, Julia, Jegor und Kätzchen Satana / Foto © Yauhen Attsetski
    Kater Uwashajemy (dt. Sehr geehrter) / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Sonniger Tag in Lwiw im Februar 2023 / rechts: Religiöse Malerei an einem Gebäude in Lwiw / Fotos © Yauhen Attsetski
    Anissa und Mascha auf einem Ausflug nach Werchowina, eine Stadt in den Karpaten / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Oxana auf einer Party / rechts: Anissa mit einem Kopfschmuck, den sie auf der Reise in die Karpaten in einem Haus gefunden hat / Fotos © Yauhen Attsetski
    Anissa und Jegor auf dem Balkon ihrer Mietwohnung in Lwiw / Foto © Yauhen Attsetski
    Blick aus dem Zugfenster, auf dem Weg in die Berge / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Fujuza versteckt sich hinter dem Vorhang / rechts: Urlaub nahe Kyjiw: Julia trinkt einen Cocktail / Foto © Yauhen Attsetski
    Blick auf Werchowina aus dem Gebäude des Busbahnhofs / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Shenjas und Julias Wohnung / rechts: Urlaub nahe Kyjiw: Julia entspannt im Pool / Fotos © Yauhen Attsetski
    Hund Kailas im Kofferraum / Foto © Yauhen Attsetski

    Fotografie: Yauhen Attsetski
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: Tina Wünschmann
    Interview: Ingo Petz
    Veröffentlicht am 04.07.2023

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