Die Aufregung war groß, als Alexander Lukaschenko nach einem neuerlichen Treffen mit Wladimir Putin in Sankt Petersburg ankündigte, einen regionalen Truppenverband zusammen mit dem russischen Militär aufstellen zu wollen. Würde der belarussische Machthaber, nachdem er sich über Monate offensichtlich dem Druck des Kreml entzogen hat, doch eigene Truppen in den Angriffskrieg gegen die Ukraine entsenden?
Der belarussische Verteidigungsminister Viktor Chrenin versuchte, den Sorgen und Befürchtungen, gerade von ukrainischer Seite, Wind aus den Segeln zu nehmen. Er sagte: „Wir wollen nicht gegen Litauer kämpfen, oder Polen, oder Ukrainer.“ Allerdings senden die belarussischen Machthaber seit Monaten widersprüchliche Signale, denn Lukaschenko unterstützt den russischen Krieg nicht nur mit seiner aggressiven Rhetorik, die der des Kreml in vielerlei Hinsicht ähnelt, sondern auch, indem Russland das belarussische Territorium bis heute für den Abschuss von Raketen in Richtung Ukraine nutzt.
Die Ankündigung einer gemeinsamen Truppe hielt Lukaschenko, wie man es von ihm kennt, recht schwammig. Was aber steckt hinter dieser Ankündigung? Wie ist sie zu bewerten? Welche Taktik verfolgt Lukaschenko? Und ist sie gleichzusetzen mit einer Entsendung eigener Truppen in die Ukraine? In einem Telegram-Beitrag gibt der belarussische Politanalyst Wadim Mosheiko Antworten auf diese Fragen.
Die Verlegung von Truppen ist kein Angriff. Die Alarmisten helfen Putin, der mit verschiedenen demonstrativen Aktionen versucht, sein „Das ist kein Bluff“ zu untermauern.
Die Angriffe auf ukrainische Städte, Wohnhäuser und Infrastruktur mit zivilen Opfern, das ist zwar immer furchtbar, aber auch nicht neu oder überraschend. Das ist eine Taktik, die Russland bereits eingesetzt hat, und die nichts am Verlauf des Krieges geändert hat.
Lukaschenkos Erklärungen folgten der absolut gleichen Logik. Seine „Aufstellung eines gemeinsamen regionalen Truppenverbands“ sind sehr allgemeine Worte, die letztendlich eine Verlegung unterschiedlicher Kräfte beschreiben, mehr aber auch nicht. Von einem Einmarsch der belarussischen Armee war keine Rede; eine Aufstellung ist kein Angriff.
Die einzig konkrete Ankündigung (und auch die eine recht mickrige) war das Versprechen, dass „in nächster Zeit“ russische Soldaten in Belarus aufgenommen und dort stationiert werden, „nicht in großer Zahl“, aber auch „nicht nur tausend Mann“. Auch das ist leider nichts Neues: Seit Beginn des Krieges ziehen sowieso russische Militärangehörige nach Belarus, und zwar zu dem Zeitpunkt und in der Stärke, wie es ihnen beliebt, und das Regime Lukaschenko gewährt ihnen dabei logistische Unterstützung. Hier verweise ich erneut auf meine Drei Prinzipien, die Lukaschenkos Verhalten im Krieg beschreiben:
1) Wenn ein Stillhalten von Lukaschenko ausreicht, damit der Kremlvon Belarus aus agieren kann, dann bekommen und machen die Russen, was sie wollen und wann sie es wollen. Um beispielsweise Flugzeuge der russischen Luftwaffe in den belarussischen Luftraum zu lassen, damit sie die Ukraine angreifen, reicht es, wenn Lukaschenko nicht stört. Das Gleiche gilt für die Ankunft russischer Raketenwerfer, mit denen ukrainische Städte beschossen werden. Die werden so oft und zu dem Zeitpunkt eintreffen, wie es Russland beliebt, und so lange, wie Russland über ausreichend Ausrüstung und Munitionsvorräte verfügt. Unabhängig davon, ob sich derzeit solche russische Streitkräfte in Belarus befinden, was Lukaschenko gesagt hat, oder ob Kyjiw das KabinettTichanowskaja anerkennen wird und so weiter.
2) Wenn von Lukaschenko eine technische Unterstützung verlangt wird, die seine politische Position nicht gefährdet, dann wird er dem Kreml bei allem behilflich sein. Das betrifft die gesamte Logistik, angefangen bei den Flughäfen über die Straßen und Gleisverbindungen, die Behandlung verletzter russischer Soldaten in belarussischen Krankenhäusern bis hin zur Reparatur russischen Kriegsgeräts in belarussischen Fabriken und Werkstätten. Für Minsk würde das alles keine größere Schuld und keine zusätzlichen Sanktionen bedeuten, und es würde an der öffentlichen Meinung in Belarus oder der Ukraine nichts Wesentliches ändern.
3) Falls von Lukaschenko konkrete Entscheidungen im militärischen Bereich verlangt werden, ohne die die Dinge nicht in Gang kämen, dann würde er sie nicht treffen und nichts würde geschehen. Ohne einen Befehl des Oberkommandos (und des Oberkommandierenden Lukaschenko) werden die Offiziere der belarussischen Streitkräfte nicht dazu übergehen, auf Befehle aus Moskau zu hören und einen Angriff unternehmen. Ohne Lukaschenkos Befehl werden die belarussischen Mehrfachraketenwerfer vom Typ Polones keinen Beschuss der Ukraine beginnen. Und ohne einen Befehl von Lukaschenko wird es keine Mobilmachung geben. Das bedeutet natürlich nicht, dass eine Eskalation von Seiten Lukaschenkos grundsätzlich ausgeschlossen ist. Doch seine Angst, sich Russland entgegenzustellen ist, gepaart mit seinem Unwillen, noch tiefer in den Krieg hineingezogen zu werden, wobei er sich die eigene Grube immer tiefer gräbt (indem er die ohnehin überaus hohe Abhängigkeit von Russland weiter vergrößert).
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Wenn jetzt irgendwann ein paar Tausend russische Soldaten in Belarus eintreffen sollten, wäre das nichts Gutes. Es wäre aber auch nichts Neues und würde weder am Verlauf des Krieges noch an der Position von Lukaschenko oder Belarus etwas ändern.
Auf solche Dinge muss natürlich auf diplomatischer Ebene und bei der NATO reagiert werden, es ist ein Schritt in eine schlechte Richtung, der unbedingt zu bedenken ist. Aber die belarussische Armee wird hier und jetzt nicht in den Krieg eintreten, also sind auch panische Rufe wie „Ein Wolf, ein Wolf!“ unangebracht.
Nasha Niva stellt den belarussischen Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki vor. Der Gründer der Menschenrechtsorganisation Wjasna hat sich bereits in den 1980er Jahren für Freiheit und Menschenrechte eingesetzt. Wjasna wurde 2003 die Registrierung entzogen, Bjaljazki selbst sitzt seit 2021 in Haft. Die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch mahnte an, „ein solcher Mensch darf nicht im Gefängnis sein, das ist eine Erniedrigung sowohl für das Volk als auch für die Staatsmacht selbst, falls sie das versteht“.
Das Nobelkomitee aus Oslo hatte am Freitagmittag, 7. Oktober, seine Entscheidung verkündet: Der Friedensnobelpreis geht in diesem Jahr an den Belarussen Bjaljazki und an die Menschenrechtsorganisationen Center for Civil Liberties (Ukraine) und Memorial (Russland).
Ales Bjaljazki ist 60 Jahre alt [geboren am 25. September 1962 – dek]. Sein Vater kam aus dem Rajon Rahatschou in der Oblast Homel, seine Mutter aus Naroulja im gleichen Gebiet. Ales Bjaljazki wurde jedoch in Karelien geboren. Wie kam es dazu? Die Familie war 1940 dort hingezogen, gleich nach dem sowjetisch-finnischen Krieg. In Belarus herrschte damals große Armut, und in Karelien gab es praktisch keine Kolchosen, rundum viel Wald und Verdienstmöglichkeiten, es war fast ein Paradies. Bjaljazkis Großvater hatte deshalb das Angebot, dorthin zu gehen, angenommen. Letztlich ist die Familie erst 1964 nach Belarus zurückgekehrt, als Ales zwei Jahre alt war.
Seine Eltern konnten sich lange nicht zwischen zwei Städten entscheiden, die damals aufgebaut wurden, zwischen Swetlahorsk und Salihorsk. Die Wahl fiel schließlich auf erstere, in Swetlahorsk verbrachte der Menschenrechtler seine Kindheit.
Schließlich studierte Ales Bjaljazki belarussische Philologie an der Universität Homel. Dort bildete sich eine belarussischsprachige Gruppe, zu der auch Anatol Sys und Sjarhej Sys (sie sind nicht verwandt), Eduard Akulin und Anatol Kaslou gehörten. In jener Zeit reiste Bjaljazki viel in Belarus umher. Und die größte Entdeckung bestand für ihn darin, dass „die belarussische Sprache weiterlebt“.
Während des Studiums spielte er als Gitarrist in der Band Baski und lernte schließlich auch seine spätere Frau Natalja kennen, 1981 in der Stadt Lojeu, als Verwandte von Natalja heirateten. Natalja und Ales Bjaljazki schlossen 1987 den Bund fürs Leben. Bis dahin hatte Bjaljazki schon als Lehrer im Rajon Leltschyzy gearbeitet und seinen Wehrdienst in Jekaterinburg (damals Swerdlowsk) abgeleistet.
Ales Bjaljazki war unter denjenigen, die die ersten offiziellen Demonstrationen in der Belarussischen Sowjetrepublik organisierten, darunter die berühmte Demonstration in Minsk am 30. Oktober 1988. Als die Demonstration auseinandergejagt wurde, zerissen sie seine Jackenärmel, Bjaljazki wurde aber nicht festgenommen. Lange Zeit entwickelte sich Bjaljazkis Karriere in Richtung Schriftstellerei: Er veröffentlichte zahlreiche literaturwissenschaftliche Beiträge und war einer der Begründer von Tuteischyja, einer Vereinigung junger Literaten. 1988 wurde er Direktor des Maxim-Bahdanowitsch-Literaturmuseums.
Ales Bjaljazki war außerdem Mitglied des Organisationskomitees der Belarussischen Volksfront (BNF). 1991 wurde er Abgeordneter im Minsker Stadtrat. Am Tag des Putsches des Staatskomitees für den Ausnahmezustand (GkTschP) im August 1991 veröffentlichte er zusammen mit 28 weiteren Abgeordneten eine mutige Erklärung mit dem Aufruf, „der rechtmäßig gewählten Regierung die Treue zu halten“.
Die Menschenrechtsorganisation Wjasna
1996 gründet Bjaljazki das Menschenrechtszentrum Wjasna-96. Bereits damals, vor 25 Jahren, brauchten immer mehr Menschen, die unter dem Vorgehen der Regierung gelitten haben, Unterstützung – juristische, psychologische und jedwede andere Hilfe.
Wjasna war sogar offiziell registriert, auch wenn das heute schwer zu glauben ist, 2003 wurde diese Registrierung per Gerichtsbeschluss entzogen. Die Wahlbeobachtung bei den Präsidentschaftswahlen 2001 hatte das Faß zum Überlaufen gebracht. Das Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen befand, dass die belarussische Regierung mit der Auflösung von Wjasna internationale Abkommen verletzt hat. Offizielle Stellen in Minsk erwiderten darauf aber, dass solche Ansichten lediglich „Empfehlungen“ seien. 2006 überreichte Václav Havel den Homo-Homini-Preis an Ales Bjaljazki und würdigte damit dessen Menschenrechtsarbeit. Von 2007 bis 2016 war Bjaljazki auch Vizepräsident der Internationalen Föderation der Menschenrechtsorganisationen (FIDH).
Strafverfahren und Haft
Das erste Strafverfahren gegen Bjaljazki wurde 2011 eröffnet, wegen angeblicher Steuerhinterziehung in besonders großem Umfang. Die belarussischen Behörden hatten damals von den Bankkonten erfahren, die Wjasna in Litauen hatte. Diese Gelder waren jedoch nicht in Bjaljazkis Taschen gewandert, sondern wurden für die Arbeit der Organisation verwendet. Bjaljazki wurde zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Seine Aussagen während der Ermittlungen und vor Gericht machte Bjaljazki auf Belarussisch, für ihn eine Frage des Prinzips.
Seine Strafe verbrachte Bjaljazki in einer Haftanstalt bei Babruisk, wo er in einer Nähwerkstatt arbeitete. Während seiner Inhaftierung wurde der belarussische Menschenrechtler mehrfach für den Friedensnobelpreis nominiert, und der norwegischen Presse zufolge galt Bjaljazki immer wieder als einer der Favoriten.
Bjaljazkis Haft dauerte knapp drei Jahre. Im Juni 2014 kam er aufgrund einer Amnestie frei. Pawel Schabeka, ein Oberstleutnant des Strafermittlungskomitees, bekannte später seine Schuld bei der politische Verfolgung Bjaljazkis.
Ales Bjaljazki pflegte während seiner Haft einen aktiven Briefwechsel, sämtliche Briefe nahm er bei seiner Freilassung mit. Es gelang ihm auch, Manuskripte für mehrere Bücher zu verfassen, die er nach seiner Freilassung veröffentlichte. Und er setzte seine Menschenrechtsarbeit fort. Er hatte vielfach die Möglichkeit auszuwandern oder nach Auslandsreisen nicht nach Belarus zurückzukehren. Doch ein ums andere Mal kam er nach Minsk zurück, obwohl er sehr genau wusste, was ihn dort erwarten könnte.
Ales Bjaljazki nennt als seine Hobbys Pilze suchen und Blumenzucht. Auf der Datscha baut er Kartoffeln, Gurken und anderes Gemüse an. Er hat einen Sohn namens Adam, der 2021 wegen eines Einzelpikets für die verurteilten Journalistinnen von Belsat festgenommen, verprügelt und für 15 Tage ins Okrestina-Gefängnis kam.
Erneute Festnahme 2021
Am 14. Juli 2021 wurde Ales Bjaljazki erneut festgenommen. Er befindet sich derzeit im Gefängnis, ihm wird „Schmuggel“ (§ 228 des belarussischen Strafgesetzbuches) und die „Finanzierung von gemeinschaftlichen Handlungen, die die öffentliche Ordnung in grober Weise verletzen“ (§ 342 Abs. 2) vorgeworfen.
Zusammen mit Bjaljazki mussten auch andere Mitarbeiter von Wjasna hinter Gitter: der stellvertretende Leiter Waljanzin Stefanowitsch und der Koordinator der Kampagne Menschenrechtler für freie Wahlen Uladsimir Labkowitsch.
Der belarussische Menschenrechtler Ales Bjaljazki wird mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Kurz nach Bekanntgabe durch das Nobelkomitee in Oslo äußerte sich die belarusissche Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch dazu auf Pozirk, dem neuen Telegram-Portal des liquidierten Naviny.by.
Der Belarusse Ales Bjaljazki wird zusammen mit den Menschenrechtsorganisationen Center for Civil Liberties (Ukraine) und Memorial (Russland) ausgezeichnet.
[bilingbox]Bjaljazki ist für mich eine mythologische Figur des belarussischen Kampfes. Er hat es verdient – das ist noch zu wenig gesagt. Das ist schon lange sein Preis.
Was die von ihm gegründete Menschenrechtsorganisation Wjasna gemacht hat und unter den gegenwärtigen Umständen weiter tut, ist in seinem Geiste, nach seiner Philosophie. Das freut mich sehr.
Ich weiß, dass Ales [in Haft – dek] ernsthaft erkrankt ist. Wir alle müssen darüber sprechen, dass er in Freiheit sein sollte, mit seinem Volk. Was die Staatsmacht mit ihm anstellen wird, ist schwer vorstellbar, aber ein solcher Mensch darf nicht im Gefängnis sein, das ist eine Erniedrigung sowohl für das Volk als auch für die Staatsmacht selbst, falls sie das versteht.~~~— Считаю Беляцкого мифологической фигурой белорусской борьбы. Заслужил — этого мало сказать. Это уже давно его премия, — сказала лауреат Нобелевской премии по литературе Светлана Алексиевич. — То, что сделала и делает в этих условиях созданная им «Вясна», — это в его духе, в его философии. Я очень рада.
Алексиевич сомневается, что после этого Беляцкого выпустят из тюрьмы.
— Знаю, что Алесь серьезно болен. Мы все должны говорить о том, что ему нужно быть на свободе, со своим народом, — считает Алексиевич. — Что сделает с ним власть, трудно представить, но такой человек не может быть в тюрьме — это унижение и народа, и самой власти, если она это понимает.[/bilingbox]
Original und russische Übersetzung vom 07.10.2022; Übersetzung aus dem Russischen: dekoder-Redaktion Veröffentlicht am 07.10.2022
Sergej Bruschko (1958–2000) gehörte zu den bekanntesten Fotojournalisten seiner Heimat Belarus. Mit seiner Arbeit dokumentierte er nicht nur die Zeit des großen Umbruchs in der Zeit von Perestroika und Glasnost, er prägte sie mit seinen charaktervollen Fotografien, die Geschichten aus jener Zeit erzählen – Geschichten von Leid, Angst, Unabhängigkeit, Hoffnung und von der Kraft des Aufbruchs. Nikolaj Chalesin, der als Redakteur mit Bruschko zusammenarbeitete und später das Belarus Free Theatre gründete, urteilt: „Jede seiner Arbeiten ist eine komplette Geschichte, jedes Porträt ein Charakter, jedes Foto stellt eine ganze Epoche dar. Ich bin nicht prätentiös – es war unser Schicksal, an einem solchen Wendepunkt zu leben, an dem alles wichtig ist.“
Bruschko prägte aber nicht nur den belarussischen Fotojournalismus, sondern auch den Lebensweg seines Sohnes. Dimitri Bruschko trat schließlich in die Fußstapfen seines Vaters und wurde selbst Fotograf und Bildredakteur. Er hat es sich auch zur Aufgabe gemacht, die Arbeit seines Vaters nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. So hat er aus dem umfangreichen Archiv ein Buch mit Fotos von Sergej Bruschko zusammengestellt, von denen dekoder eine Auswahl zeigt. Zudem haben wir Dimitri Bruschko befragt – über die Arbeit seines Vaters, über den Unabhängigkeitskampf der Belarussen, über Zeiten, die alles verändern können.
dekoder: Warum haben Sie das Buch, das dem fotografischen Werk Ihres Vaters gewidmet ist, Smena (dt. Wechsel)genannt?
Dimitri Bruschko: Zunächst ist Smena ein Zeichen der Anerkennung für die Redaktion der belarussischsprachigen Zeitung Tschyrwonaja Smena, eine der progressiven und liberalen Redaktionen in Belarus zu Zeiten der Perestroika. Mein Vater hat in jenen Jahren, von denen in dem Buch erzählt wird, dort gearbeitet. Im Alltag wurde die Zeitung zwar Tschyrwonka, die Rote, genannt. Für den Kontext jener Zeit, für eine Erzählung über die Epoche, die Belarus die Unabhängigkeit schenkte, ist jedoch das Wort Smena wichtiger. Denn es bedeutet im Belarussischen wie im Russischen „Wechsel“, „Veränderung“ und bezeichnet den Zustand des Wandels, den es Ende der 1980er Jahre und Anfang der 1990er Jahre im gerade neu entstandenen Belarus gab. Damals erfolgten Veränderungsprozesse im Aufbau des Staates, ein Generationswechsel in der Verwaltung des Landes wie auch im Wirtschaftssystem; das Land öffnete sich zum ersten Mal dem Westen. Diese Zeit lässt sich als eine Ära des Umbruchs bezeichnen, in der die belarussische Geschichte eine ganz neue Wendung nahm.
Wie ist die Idee zu dem Buch entstanden?
Ungefähr 2017 fingen die lukaschenkotreuen Propagandisten in den staatlichen Medien an, davon zu reden, dass das unabhängige Belarus 1994 aus den Ruinen der UdSSR entstanden sei. Aber niemand sprach von den Gründen für den Zusammenbruch des Imperiums und dass das Land die Unabhängigkeit schon 1991 erlangt hatte. Die Propagandisten versuchen bis heute, jede Erinnerung aus der Geschichte zu streichen, die nicht mit der Herrschaft Lukaschenkos verknüpft ist.
Ich habe versucht, Bücher und Projekte zu finden, die über die Jahre 1988 bis 1994 berichten könnten, habe aber kein einziges finden können. Ich fand da Ausschnitte aus alten Zeitungen und ein paar Kulturprojekte, aber damit lässt sich der Gesamteindruck nicht wiedergeben. Deshalb beschloss ich, einen Fotoband zu machen, und zwar kein Album aus wohlkomponierten Fotografien in perfektem Licht, sondern ein Buch über eine Zeit, in der ein ganz neues Land entstand und die mein Vater mit seinen Fotos dokumentiert hat. Ich wollte, dass die Sprache des Narrativs dem Zeitungsstil nahekam, weil die Zeitungen damals die Informationsquelle waren, die für die Menschen am leichtesten zugänglich war. Deshalb weist das Buch viele Gestaltungselemente einer Zeitung auf. Anstelle von Texten mit Erläuterungen zur Zeit der Perestroika wollte ich lieber eine Reihe von Interviews und Erinnerungen über die Ereignisse und den Geist jener Zeit. Selbst die Farbe des Papiers sollte an den warmen Ton von Zeitungspapier erinnern.
Wie wurde Ihr Vater zum Foto-Chronisten einer Zeit, die nicht nur für Belarus so folgenreich war? Hatte das damals mit Glasnost zu tun?
Mein Vater wollte, nachdem er die Schule mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, Geologe werden. Ihm fehlte bei den Zensuren lediglich ein einziger Punkt, um es auf die Universität zu schaffen, deshalb ging er auf eine Fachschule, um Fotograf zu werden. Später kam er zu einer regionalen Zeitung in Soligorsk, wollte aber unbedingt zu einer großen Zeitung und schickte seine Fotografien an überregionale Zeitungen in der Belarussischen SSR.
Man wurde auf ihn aufmerksam und bot ihm bei der Tschyrwonaja Smena in Minsk eine Stelle an. Minsk war zwar die Hauptstadt, aber auch verschlossen: Man konnte dort nur dann arbeiten, wenn man Bewohner der Stadt war oder eine Genehmigung einer Komsomol-Organisation hatte, die den Neuankömmling dann mit einer Wohnung zu versorgen hatte. Mein Vater erhielt beim Komsomol eine Absage und musste sich mit Hilfe von Schmiergeldern eine Meldebescheinigung in Minsk besorgen. Danach erst konnte er eine Stelle als Fotokorrespondent antreten.
Als er seine Arbeit begann, war die Zeit von Perestroika und Glasnost schon angebrochen. Allerdings war es noch zu früh, von Meinungsfreiheit zu sprechen. Alle Zeitungen befanden sich im Besitz des Staates und unterlagen der Zensur. Man konnte nicht einfach mit einer Geschichte über Wohnungsprobleme von Arbeitern oder zu wenig Schuhen in den Geschäften kommen. Solche Berichte mussten mit den Gremien der Kommunistischen Partei abgesprochen werden, was nicht immer gelang. Mitunter konnte man sich selbst bei einem ideologisch abgesicherten Thema eine Rüge der Parteileitung einhandeln. Ich erinnere mich, wie mein Vater zum Gespräch mit den Parteibürokraten vorgeladen wurde. Und zwar wegen eines Fotos von den Feierlichkeiten zum Tag des Sieges am 9. Mai, auf dem ein mit Orden dekorierter Veteran zu sehen war, der Bier trank. Diese Aufnahme passte einfach nicht zum Bild des Siegers in der staatlichen Propaganda.
Ihr Vater hat auch die menschlichen Folgen von Tschernobyl in den Vordergrund seiner Arbeit gestellt. War es damals womöglich etwas Neues, die Menschen als Individuen zu sehen?
Mein Vater war ein logisch denkender Mensch und er verstand sehr wohl die Dimensionen der Tragödie, die die Republik ereilt hatte. Für ihn war das keine Katastrophe aus technischem Versagen, sondern ein menschliches Drama. Er hatte einen beträchtlichen Teil seines Lebens auf dem Land gelebt und kannte die Psychologie der Menschen dort recht gut. In Belarus waren [von Tschernobyl] vor allem Dörfer und ihre Bewohner betroffen. Das Schicksal wollte es, dass ihm gerade in dieser Zeit klar wurde, dass die Fotografie seine Berufung ist. Er verstand die Tragödie der Menschen, und er hatte die Möglichkeit, dieses Thema mit seinen Fotos zu bearbeiten, weil er damals einen Ausweis als sowjetischer Fotokorrespondent in der Tasche hatte. Als Anhänger humanistischer Fotografie hat er dieses Thema einfach aufgreifen müssen.
War Ihr Vater jemand, der die Unabhängigkeit von Belarus unterstützt hat?
Natürlich hatte er seine Meinung zu den Ereignissen, die er fotografierte. Er war ein Verfechter der belarussischen Unabhängigkeit und dachte, dass nur die Bürger des eigenen Landes es zu einem prosperierenden Staat aufbauen können. Diese Ansicht mag vielleicht etwas naiv erscheinen, aber bei der Wahl zwischen Romantik und Pragmatismus hat er sich für das Erstere entschieden. Bei der Präsidentschaftswahl 1994 gab er seine Stimme Stanislaw Schuschkewitsch; er dachte, dass nur ein kluger und anständiger Mensch das Land lenken sollte. Die nächste Präsidentschaftswahl im Jahr 2001 hat er nicht mehr erlebt, war aber überzeugt, dass Lukaschenko entweder die Wahl verliert oder nach seiner zweiten Amtszeit abtritt. Die Wirklichkeit zeigt, dass es für den Willen zu herrschen keine Grenzen des Anstands gibt.
Wurden Sie durch Ihren Vater dazu inspiriert, selbst als Fotograf festzuhalten, wie die Belarussen auch unter Lukaschenko für ihre politische Emanzipation gekämpft haben?
Die Fotografien meines Vaters waren für mich ein Geschichtslehrbuch, in dem es keine Propaganda gab. In den Archiven befindet sich nicht nur eine Auswahl seiner besten Fotografien, sondern auch Arbeiten, durch die man verstehen kann, was während der Perestroika und in den ersten Jahren der Unabhängigkeit tatsächlich vor sich ging. Im Grunde war sein Archiv eine Art Grundlage für meine Entwicklung, nicht nur als Fotograf, sondern auch als Mensch. Die Fotografien an sich geben noch keine direkte Antwort darauf, was gut und was schlecht ist. Sie bringen einen aber dazu, Fragen zu stellen und die Antworten in sich selbst zu suchen.
Was haben Sie sonst von Ihrem Vater für die Arbeit als Fotograf gelernt?
Ich erinnere mich an zwei Regeln meines Vaters, die ich auch bei meiner Arbeit zu beherzigen versuche. Erstens: Bei der Arbeit muss man einen kühlen Kopf bewahren, aber das Herz sprechen lassen – auf keinen Fall umgekehrt. Das hat mir geholfen, in den schwierigsten Situationen von 2020 zu überleben. Als ich nämlich nicht nur die dramatischen Ereignisse um mich herum fotografieren wollte, sondern auch sehen musste, wie ich mit meiner Ausrüstung heil aus den Demonstrationen in der Stadt herauskomme; die glichen eher Kämpfen, bei denen auch Jagd auf Journalisten und ihre Fotoausrüstungen gemacht wurde. Die zweite Regel lautete: Fotografiere die Gerüche. Damit die Bilder nach Gefühlen riechen, nach Freiheit, Angst oder nach Hoffnung.
Auch beim neuerlichen Treffen in Sotschi demonstrierte Alexander Lukaschenko wieder einmal laut seine Loyalität gegenüber Russland. Wie bei den letzten Aufeinandertreffen folgte der belarussische Machthaber dabei auch den gängigen Narrativen des Kreml. Er forderte „Respekt“ von den westlichen Staaten. Zudem sagte er: „Niemand hält Erniedrigungen aus.“ Was die beiden Staatsführer besprochen oder womöglich beschlossen haben, blieb hinter verschlossenen Türen.
Klar dürfte sein, dass Putin weiterhin versucht, Druck auf Lukaschenko auszuüben, Russland noch aktiver im Angriffskrieg gegen die Ukraine zu unterstützen. Bisher konnte sich Lukaschenko erfolgreich dagegen wehren, eigene Truppen in den Krieg zu schicken. Mit der „Teilmobilmachung“, die Russlands Führung vollzieht, dürfte der Druck auf den belarussischen Machthaber jedoch nochmals zunehmen.
Wie realistisch ist eine Mobilmachung in Belarus? Würde diese Lukaschenko nicht in seiner eigenen Macht gefährden? Welche Möglichkeiten hat Putin noch, Lukaschenko in die Verpflichtung zu nehmen? In einem Beitrag für das Online-Medium Naviny gibt der Journalist Alexander Klaskowski auf diese und andere Fragen Antworten.
Lukaschenko konnte es auch diesmal nicht lassen, seinen politischen Opponenten eins auszuwischen, die versuchen, „eine Brücke zu schlagen“ zwischen der Mobilmachung in Russland und der Möglichkeit, dass etwas Ähnliches in Belarus geschehen könnte.
„Wir planen keine Mobilmachung. Das ist eine Lüge“, sagte der Führer des Regimes am 23. September in der Gedenkstätte Chatyn.
Tatsächlich sind die Belarussen nicht wegen der Rhetorik der Oppositionsführer alarmiert, sondern wegen der offensichtlich engen Bindung zwischen Kreml und Minsk im militärischen Bereich. Und das umso mehr, da Lukaschenko noch vor ein paar Tagen betont hatte: „[…] wir haben gemeinsame Streitkräfte, faktisch“.
Belarussische Eliteeinheiten hätten kaum eine Chance gegen ukrainische Kämpfer
Die Frage, ob Lukaschenko mit seinen Truppen in den Krieg gegen die Ukraine eintritt, wird mittlerweile wie ein Sakrament behandelt. Noch weicht der Führer des Regimes dem geschickt aus, was verständlich ist.
Die August-Umfrage von Chatham House ergab: Nur drei Prozent der Befragten meinen, Belarus solle sich auf der Seite Russlands an den Kriegshandlungen beteiligen. Das ist weniger als die statistische Fehlerwahrscheinlichkeit der Stichprobe (3,5 Prozent). Und das bedeutet, dass sogar eine Mehrheit von Lukaschenkos Kernwählerschaft eine solche Idee nicht unterstützt.
Die Belarussen glauben auch nicht an eine starke Moral ihrer Armee, falls diese in die Ukraine geschickt wird. Nur 18 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass sich ihre Landsleute in Uniform aktiv an dem Krieg gegen die Nachbarn im Süden beteiligen würden. Hier einige andere Antworten: „würden sich weigern zu kämpfen oder Befehle auszuführen, würden die Waffen niederlegen“ (20 Prozent), „würden auf jede erdenkliche Weise aus dem Kriegsgebiet fliehen“ (17 Prozent), „würden ihren Armeedienst quittieren“ (14 Prozent), „würden sich den ukrainischen Soldaten ergeben“ (8 Prozent).
Die Stimmung in der Armee selbst können wir nur indirekt beurteilen. Da aber, wie es in einer landläufigen Redewendung heißt, Armee und Volk eins sind, können wir annehmen, dass es unter den Militärs nicht allzu viele gibt, die bereitwillig den Kopf hinhalten würden, wenn die ukrainischen Geschosse fliegen (oder wenn einen die Rakete eines amerikanischen HIMARS in Stücke reißen kann).
Diese Umfragewerte werden sicherlich auf Lukaschenkos Tisch landen. Die nicht veröffentlichten Befragungen „seiner“ Soziologen, davon können wir ausgehen, liefern wohl ähnliche Zahlen. Außerdem funktioniert der Instinkt des Regimeführers. Er versteht sehr gut, dass eine Beteiligung seiner Armee an diesem Krieg ein äußerst hartes Schicksal für ihn als Politiker besiegeln würde.
Die Zinksärge, die aus der Ukraine zurückkommen, könnten selbst jene zu Protesten motivieren, die solchen stets ferngeblieben waren. Und selbst die „Prachtkerle“ des Führers (so hatte er liebevoll die Sicherheitskräfte genannt, die die Proteste von 2020 niederschlugen), die sich wie der Terminator vorkommen, wenn sie ungestraft unbewaffnete Bürger mit anderen Ansichten zusammenprügeln, werden kaum von der Rolle als Kanonenfutter begeistert sein.
Für die ukrainischen Krieger, die im realen Kampf abgehärtet wurden und dabei auch ihre Häuser, ihre Mütter, ihre Frauen und Kinder verteidigen, dürfte es nur eine Frage der Technik sein, Eliteeinheiten der belarussischen Streitkräfte, von denen es nur wenige gibt und die kaum echten Pulverdampf gerochen haben, zu zermalmen. Lukaschenko würde so die Kräfte verlieren, die er unter anderem für den Einsatz gegen Aufstände [im eigenen Land] getrimmt hat. Seine Wählerschaft würde noch stärker zusammenschrumpfen, und die Lage im Innern wäre so wackelig wie ein alter Hocker.
Putin kann es sich nicht leisten, seinen letzten Verbündeten unter Druck zu setzen
Lukaschenko dürfte wissen, dass es für Russland in diesem Krieg wohl keinen glänzenden Sieg geben wird. Im Großen und Ganzen zeichnet sich für Russland ein kapitaler, historischer Reinfall ab. Und jetzt ist es wohl höchste Zeit, für den mit dem Imperium verstrickten Verbündeten darüber nachzudenken, wie man dieser Titanic entkommen kann.
Wladimir Putin ist sichtbar außer Rand und Band; er versucht va banque zu spielen. Dabei lautet die Prognose vieler Experten, dass die Mobilmachung wenig Wirkung zeigen wird: Zum einen könnte die nötige Anzahl der Eingezogenen nicht erreicht werden (viele Russen mögen zwar das Imperium mit einem Gläschen vor dem Fernseher unterstützen, entziehen sich aber, wie wir jetzt deutlich sehen, auf jede erdenkliche Weise der „heiligen Pflicht“). Zweitens ist die Kampffähigkeit der eilig zusammengewürfelten Einheiten sehr fraglich.
Also könnte für Putin die Versuchung, auf die Kräfte des Verbündeten zurückzugreifen, größer werden. Allerdings ist es nicht sicher, dass es gelingen wird, den Verbündeten in dieser Hinsicht derart unter Druck zu setzen. Und es ist unklar, ob solch ein starker Druck überhaupt erzeugt werden kann.
Zum einen betont Lukaschenko als Ausrede die Notwendigkeit, mit seinen Streitkräften einen Schutzschild gegen die NATO zu gewährleisten. Ansonsten könnte die NATO schließlich den russischen Brüdern in den Rücken fallen. Und Putin, der in Verschwörungsnarrativen denkt, könnte dieser Mythenerzählung zumindest teilweise Glauben schenken.
Zweitens dürften die Strategen im Kreml schon rein rechnerisch erkennen, dass der einigermaßen kampffähige Teil der belarussischen Armee nicht groß ist (die Eliteeinheiten der Sondereinsatzkräfte zählen nur einige Tausend Kämpfer). Diese Handvoll wäre nicht in der Lage, einen wesentlichen Einfluss auf den Kriegsverlauf zu bewirken.
Drittens könnte Putin (noch) nicht gewillt sein, seinen letzten Verbündeten übers Knie zu brechen. Und dass sich Lukaschenko wiederum noch stärker vor einer direkten Kriegsbeteiligung drücken wird, ist offenkundig.
Jeder ist sich selbst der Nächste
Im Zusammenhang mit den „Referenden“ in den besetzten Gebieten der Ukraine entwickelt sich allerdings ein neuer Kontext. Es ist offensichtlich, dass diese Territorien zu russischen Gebieten erklärt werden. Und dann könnte der belarussische Verbündete aufgefordert werden, die Grenzen des „Unionsstaates“ zu schützen.
Allerdings ist dies im Vertrag von 1999 über die Gründung des Unionsstaates, dieses dünnen Scheingebildes einer „brüderlichen Integration“, sehr vage formuliert: „Die Mitgliedsstaaten gewährleisten die territoriale Integrität des Unionsstaates“. Wie genau das gewährleistet wird, lässt sich unterschiedlich auslegen. Und Minsk wird es wahrscheinlich vorziehen, diese Verteidigung als Bereitschaft zu definieren, einen Dolchstoß in den Rücken der russischen Brüder durch die NATO zu verhindern. Einfacher gesagt: Unsere Truppen sitzen sicher auf ihrem Allerwertesten.
Natürlich gibt es auch die Verpflichtungen im Rahmen der OVKS. Doch erstens sind auch die Regelungen im Vertrag über kollektive Sicherheit schwammig formuliert: Im Falle einer Aggression gegen einen der Vertragsstaaten „gewähren [die anderen] diesem die notwendige Hilfe, einschließlich militärische“.
Lukaschenkos Regime leistet aber jetzt schon, wenn man es genau betrachtet, eine solche militärische Hilfe: Die Russen können für den Krieg belarussisches Territorium, die Infrastruktur, Krankenhäuser und so weiter nutzen. Und damit reicht es. Wie hieß es doch in jenem alten Lied: Auf mehr solltest du nicht hoffen. Zweitens hat die OVKS bereits bei den Ereignissen in Kirgistan und Armenien ihre Kraftlosigkeit offenbart. Und im Falle Armeniens hatte beispielsweise vor allem Moskau eine Willenslähmung gezeigt. Und auch Minsk hat es nicht eilig, sich hinter Jerewan zu stellen, weil es mit Baku lukrative Geschäftsbeziehungen unterhält. Kurzum: Alles loser Tabak. Das postsowjetische Bündniswesen erweist sich bei genauerer Prüfung als verfault, prinzipienlos und opportunistisch. Auch wenn sich Lukaschenko im Kontext dieses Krieges immer unwohler fühlt, ist es also alles andere als sicher, dass die belarussischen Truppen noch in den Krieg eintreten. Der listige Fuchs wird vor allem sein politisches Überleben im Sinn haben.
Die belarussischen Machthaber um Alexander Lukaschenko gehen weiter gegen Dissidenten und normale Bürger vor, die an den Protesten 2020 teilgenommen haben. In den vergangenen Wochen kam es wieder zu zahlreichen Festnahmen, aber auch zu Urteilen mit langjährigen Haftstrafen.
In einem der aufsehenerregendsten Prozesse der letzten Jahre wurden der Jurist und Aktivist Juri Senkowitsch zu elf Jahren sowie der Vorsitzende der Partei BNF Grigori Kostussew und der bekannte Philologe und Intellektuelle Alexander Feduta zu jeweils zehn Jahren Haft verurteilt. Offiziell wurde ihnen vorgeworfen, ein Mordkomplott und einen Staatsstreich gegen Lukaschenko geplant zu haben. Der Fall klingt in seinen verwirrenden Details und Vorwürfen wie eine klassische Räuberpistole. Feduta ist eine prominente Persönlichkeit in Belarus, die zumindest anfänglich Teil des Systems Lukaschenko war. Er hatte 1994 den Wahlkampf geleitet und war daraufhin Lukaschenkos erster Pressesprecher geworden. Vom dann aufwallenden autoritären System sagte er sich los und trat immer wieder als scharfer Kritiker und Aktivist in Erscheinung. Er wurde im April 2021 durch den russischen Geheimdienst FSB in Moskau festgenommen, wohin er aus seinem polnischen Exil gereist war.
In seinem Schlusswort vor Gericht sagte Feduta: „Legitime Regierungen halten ihre Amtseinführungen nicht heimlich ab; ein rechtmäßig gewählter Präsident läuft nicht mit einer Waffe herum. Lukaschenko ist so verängstigt, dass er selbst in dem Jahr, das er selbst zum Jahr der nationalen Einheit erklärt hat, nur das Schwungrad der Repression antreibt.“
Noch höhere Strafen von bis zu 17 Jahren gab es in einem weiteren Urteil gegen eine Gruppe von jüngeren Leuten, die unmittelbar im Zuge der Proteste 2020 festgenommen worden waren, weil sie Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und Staatsgewalt dokumentiert hatten. Dazu gehört auch Marfa Rabkowa, Koordinatorin der Menschenrechtsgruppe Wjasna96. Sie wurde zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt. Offiziell wurde die Gruppe wegen der „Organisation von Massenunruhen, der Teilnahme daran und der Schulung anderer zur Teilnahme daran“ beziehungsweise der „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung“ für schuldig befunden. Beide Prozesse und Urteile wurden von großer internationaler Kritik begleitet. Nach dem Urteil sagte Rabkowa: „Wir leben im Zeitalter der verdrehten Wahrheit – das Gute wird bestraft, das Böse gefeiert, die Freiheit ist nur im eigenen Kopf möglich, und selbst dort könnte sie über Artikel 13 des Strafgesetzbuchs, als ,Vorsatz´, angegriffen werden. Gedankenverbrechen gibt es nicht nur in der dystopischen Fiktion, sondern auch in der belarussischen Realität.“
Wie lebt man mit solch schlechten Nachrichten und furchtbaren Urteilen, die einen von Tag zu Tag begleiten und die in gewisser Weise zum Alltag für viele Belarussen werden? Der belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevič sucht auf solche schwierigen Fragen in einem Facebook-Post eine Antwort und verschafft sich deutlich Luft.
Der Krieg der Unmenschen gegen die Menschen geht weiter. Ein Krieg auf Leben und Tod. Ein Krieg bis zum Letzten.
Ich denke an sie. An die Feinde. Schaut man die Bilder an, sind sie noch jung. Einer mehr, einer weniger – doch die Mehrheit ist in den besten Jahren. Die Zeit ist eine gerissene Sache: Indem sie gehorsam Unschuldige bestrafen, scheint ihnen, sie würden ihre eigenen Tage verlängern. Sie, die strengen „Richter“ und die harten „Staatsanwälte“, die „Gesetzeshüter“ und andere Unmenschen … Die Teilhabe an den Repressionen ermöglicht ihnen wohl ein besseres Lebensniveau, garantiert ihnen Sicherheit und schützt die Gesundheit. Doch hier kommt das Problem mit der Zeit ins Spiel. Ihr Alter erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie den Tag der Abrechnung noch erleben. Auch wir werden ihn erleben – und ihnen in die Augen schauen. Die Zeit ist eine furchtbare Sache. Denn wir vergeben und vergessen nichts.
Ich denke heute an Aljaxandr Fjaduta. Das letzte Mal habe ich ihm im Herbst 2020 die Hand gedrückt, auf dem Bahnhofsvorplatz in Minsk. Damals hatte ich mich schon längst aus literarischen Konflikten von Fjaduta distanziert. Das hinderte uns jedoch nicht daran, einander zu grüßen, uns zu unterhalten und uns respektvoll zu begegnen. Im vergangenen Jahr schrieb ich ihm einige Briefe [ins Gefängnis] – als sie noch ankamen. Wir schrieben einander ausschließlich über Literatur. Und doch drang sie durch die Zeilen – die Zeit. Durch seine Scherze. Durch seinen Schmerz.
Eine Verschwörung gegen den Staat? In der Zukunft wird sie in denselben Kapiteln beschrieben werden, in denen man heute über die Attentate auf Hitler lesen kann – unter der Rubrik „Widerstand“.
Ich denke an Maryna Schybko [Ehefrau von Aljaxander Fjaduta – dek.]. Wie sehr ich sie unterstützen möchte – aber die Worte nicht finden kann. Ich denke an Maryna Adamowitsch [Ehefrau des belarussischen Oppositionspolitikers Mikalaj Statkewitsch – dek.]. Wo finden sie die Kraft, das auszuhalten. Und wie kann man einen Weg finden, die Zeit zu beschleunigen.
Ich denke an alle, die in Gefangenschaft sind.
Ich denke an alle Anarchisten. Ich denke an Mao, Legende des belarussischen Punk, der heute von denen gepeinigt wird, die kraft ihrer beschränkten Vernunft entschieden haben, dass keine Zeit mehr ist. Dass es nur den Dienstherrn und das Auskommen gibt. Aber nein, die Zeit rennt. An das, was sie heute tun, werden wir uns morgen erinnern. Die dummen Diener meinen, dass Bücher nichts bedeuten. Nein. Bücher sind die Komplizen der Zeit. Bücher sind Zeit, die so festgeschrieben wurde, dass sie nicht mehr auszulöschen ist.
Journalisten zufolge war das letzte Konzert von Mao und seiner Band im Jahr 2000, gemeinsam mit meiner Band Prawakazyja. Ich erinnerte mich an den Saal im Wohnheim der Pädagogischen Uni. „Der Chef ist hysterisch“, sang ich damals. Oder schrie ich. Ich kann schließlich nicht singen. Aus der Hysterie ist Agonie geworden. Das Ende noch erleben. Die Abrechnung noch erleben.
Ich denke an Fedsja Shywaleuski. Keine Politik? Alles ist Politik. Die Lebenden gegen die Toten. Ein talentierter und lebensfroher Musiker ist die beste Zielscheibe.
Während ich an all das dachte, beendete ich mein Buch. Für alle, die in Gefangenschaft sind. Für alle, die sich nicht ergeben haben. Für alle, die, wie ich, das Land verließen, sobald klar war, dass die Gefahr allzu nah herangekommen war. Für alle, die geblieben sind. Für alle, die, wie ich, um sich selbst und die Nächsten fürchteten. Für alle, die die Angst überwanden, und sei es für eine Minute. Für alle, die hier sind. Für alle, die dort sind. Und für alle, die denken, dass die Zeit ihnen gnädig sein wird. „Richter“ und „Staatsanwälte“, die „Kulturarbeiter“ mit ihren Literaturspektakeln und -propagandisten. Für die „Pisshosenpublizisten“ und die „Staatspreisträger“.
Die Zeit ist Krieg. Sie ist Widerstand. Und ein Gerichtsprozess, der bereits im Gange ist. Wenn wir es nicht erleben, dann erleben es die, die nach uns kommen. Bücher sind keine Menschen, man kann sie nicht vergessen. Deshalb fürchtet ihr sie so sehr. Menschen sind keine Bücher, sie sind zerbrechlich. Deshalb wollt ihr sie so sehr vernichten. Die Zeit aber vergeht. Und wir alle stecken mittendrin, in ihrem Mechanismus, dessen Rädchen sich drehen.
Die Suworow-Militärschulen waren in der Sowjetunion zentrale Ausbildungseinrichtungen für künftige Soldaten und Offiziere der sowjetischen Armee. Sie existierten in zahlreichen Sowjetrepubliken, wo Schüler zwischen 14 und 18 Jahren aus wiederum verschiedenen Sowjetrepubliken zusammenkamen, zusammen lernten und lebten. Diese Internatsschulen haben auch in zahlreichen Ländern das Ende der Sowjetunion wie beispielsweise in Belarus oder Russland überlebt, wo sie bis heute für die militärische Ausbildung eine zentrale Rolle spielen.
Auch im Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine führt, dürften zahlreiche Absolventen der Suworow-Schulen kämpfen – auf beiden Seiten der Front. Auf diesem Weg vermengt sich sowjetische Geschichte mit der Geschichte der Unabhängigkeitsbestrebung der Ukraine und der revanchistischen Politik in Russland unter Wladimir Putin. Die belarussische Journalistin Irina Chalip hat solch eine Geschichte für das russische Exil-Medium Novaya Gazeta Europe detailliert recherchiert und aufgeschrieben – es ist die tragische Geschichte von Alexej Gorobez und Oleg Makartschuk, die in einem Jahrgang an der Suworow-Militärschule in Minsk zur Zeit der späten Sowjetunion ausgebildet wurden. Jahrzehnte später sind sie nun als Oberste im aktuellen Angriffskrieg gefallen – einer auf Seiten der russischen Angreifer und Besatzer, der andere, weil er seine ukrainische Heimat verteidigt hat.
„Das Arschloch ist auf unser Land gekommen, um die Suworowzy [die Absolventen der Suworow-Schule – dek] und ihre Familien zu töten. Mich, meine Familie, Walera Shutschko, der gerade kämpft. Und Oleg Makartschuk haben sie schon umgebracht.“
Das sagt Witali Tschalow über seinen gefallenen Kommilitonen von der Minsker Suworow-Militärschule, den Oberst der russischen Armee Alexej Gorobez. Die dritte Kompanie aus dem 34. Abschlussjahr an der Suworow-Militärschule – zwei aus dieser Kompanie sind im Juli in diesem Krieg ums Leben gekommen. Beide waren Oberst. Oleg Makartschuk, Chef des Waffen- und Logistikdienstes der ukrainischen Streitkräfte, starb am 14. Juli beim Raketenangriff auf Winnyzja. Alexej Gorobez, Kommandeur der 20. motorisierten Schützendivision der russischen Streitkräfte, starb am 12. Juli bei Cherson infolge eines HIMARS-Einschlags in einem Militärstützpunkt. Makartschuk starb auf eigenem Boden, Gorobez auf fremdem.
Gleich nach ihrem Tod fanden Journalisten heraus, dass beide ein und derselben Suworow-Kompanie angehört hatten, nur verschiedenen Truppen, und zogen daraus den Schluss, dass die beiden Bekannte gewesen sein müssten. Nein, liebe Leute. Die waren keine Bekannten. Das nennt man ganz anders. Wenn zwei Heranwachsende in einer Kaserne leben, in der sich hundert Mann (die ganze Kompanie) 150 Quadratmeter teilen, wenn sie zusammen für den Dienst eingeteilt werden, wenn sie jeden Tag im selben Hörsaal sitzen, wenn sie im Trockenraum nachts zusammen Gitarre üben, wenn sie in Kolonne zum Frühsport und in die Kantine marschieren, wenn sie vor den Sommerferien die Kaserne schrubben und die Böden wachsen – dann sind sie alles, nur keine Bekannten.
Meistens nennt man das Bruderschaft. Aber die ist nicht mit Makartschuks und Gorobez’ Tod im Juli gestorben. Sie wurde von der ersten Rakete am 24. Februar zerstört.
„Wir waren als Kompanie immer zusammen“, sagt Witali Tschalow. „Die Kaserne misst 30 mal 40 Meter, und wir waren hundert Mann. Wir sind bis heute in Kontakt. Lesen Sie mal den Brief von Alexej Gorobez’ Mutter. Sie schreibt, dass er auf der Akademie des Generalstabs war, dass man ihm aber 13 Jahre lang den Dienstgrad eines Generals nicht zuerkannt hat. Also haben viele von uns Kommilitonen den Eindruck, dass Gorobez – um sich die Schulterklappen zu verdienen – in die Ukraine gekommen ist, um die Familien der Suworowzy zu töten. Einfach nur, um General zu werden, verstehen Sie? Ich weiß, dass er in Syrien und Tschetschenien gekämpft hat. Aber in die Ukraine ist er gekommen, um mich und meine Familie zu töten und die Familien der anderen Suworowzy. Viele von uns waren nicht mehr aktiv beim Militär und sind trotzdem in den Krieg gezogen, obwohl wir über 50 sind. Gorobez hat als Kommandeur der Division gewusst – muss es gewusst haben –, dass der Einmarsch in die Ukraine bevorsteht. Er ist bewusst auf uns losgegangen. Obwohl es einen einfachen Ausweg gegeben hätte. Er hätte ein Entlassungsgesuch einreichen und als Oberst in Pension gehen können. Seine Rente war gut. Aber er wollte General werden, indem er uns tötet. Da haben Sie die Kadetten-Bruderschaft.“
Der 34. Abschlussjahrgang der Suworow-Militärschule ist einer der tragischsten, und nicht nur, weil zwei aus einer Kompanie auf verschiedenen Seiten der Frontlinie gefallen sind – der eine als Okkupant, der andere als Verteidiger seines Heimatlandes. Die 17-jährigen Absolventen waren nach ihrem Abschluss den verschiedenen Militärhochschulen der UdSSR zugeteilt worden. Die einen gingen nach Taschkent, die anderen nach Omsk oder nach Charkiw. Ein Jahr später gab es auf der Weltkarte gar keine UdSSR mehr, und die frisch ausgebildeten Offiziere wurden zu einer verlorenen Generation.
Die Suworowzy Alexej Gorobez und Oleg Makartschuk gingen beide zum Studium nach Charkiw. Makartschuk auf die technische Hochschule der Luftstreitkräfte, Gorobez auf die Panzerakademie. Beide bekamen ihre Rangabzeichen als Oberst im Jahr 1994.
„1994 hatten die Absolventen in der Ukraine noch die Wahl“, sagt Witali Tschalow. „Ich selbst war auf der Hochschule in Poltawa, meine Kommilitonen gingen [nach dem Abschluss – dek] nach Belarus, Tadschikistan, Russland oder Aserbaidshan. Viele blieben natürlich auch in der Ukraine. Auf der Abschlussfeier gab es noch den Trinkspruch: Auf dass wir niemals aufeinander schießen. 2014 hat diese Bruderschaft einen Riss bekommen, und am 24. Februar ist sie endgültig gestorben.
Gorobez ist nur ein Fall. Da gibt es zum Beispiel noch einen anderen Suworow-Abgänger, Sergej Rudskoi. Er ist bei den russischen Streitkräften Chef der Haupteinsatzverwaltung, der erste Stellvertretende des Generalstabschefs. Er ist Ukrainer, geboren in Mykolajiw. Sein Vater war ein Held der Sowjetunion, er war der Leiter unserer Suworow-Militärschule. Und sein Sohn organisiert jetzt die Spezialoperation in der Ukraine.“
„Würden Sie Ihre ehemaligen Kameraden, die in der russischen Armee dienen, nicht gerne einmal treffen?“ „Doch. Um ihnen eins in die Fresse zu geben.“
Witali Tschalow ist direkt und geradezu grob. Aber er hat jedes Recht dazu. Er ist wieder im Dienst, genau wie Waleri Shutschko aus derselben Kompanie. Für sie war Alexej Gorobez seit dem 24. Februar nicht mehr der alte Kumpel, mit dem sie in der Kaserne Seite an Seite geschlafen haben, sondern ein Feind, ein Besatzer, ein Mistkerl. Genau wie ihre anderen ehemaligen Kadetten-Brüder, die jetzt die täglichen Militärschläge aus dem Generalstab leiten, die aus ihren Büros heraus Befehle an die Korps und Divisionen verteilen. Der Tod des Feindes ändert nichts an seinen Taten.
„Im Jahr unseres Abschlusses ging der damalige Leiter der Akademie General Saizew gerade in den Ruhestand. Er ging mit den Worten: ‚Ich werde dafür sorgen, dass alle Jungs, die bei mir gelernt haben, gehen können, wohin sie wollen.‘“
Alexej Gorobez erhielt sein Offiziersdiplom in der Ukraine. Warum er sich schließlich für die russische Armee entschied, weiß niemand. Oleg Roshkow, Absolvent der Akademie für Chiffrierwesen in Krasnodar, erzählt: „Ich weiß nicht, wie es an der Panzerschule war, aber bei uns lief es so: Als die Sowjetunion zerfiel, entstand in jedem unabhängigen Staat eine eigene Armee. Krasnodar liegt in Russland, also wurde uns gesagt: Wer in der russischen Armee bleiben will, muss einen Eid ablegen, ohne Eid wird man nicht zugelassen. Wer den Eid ablegte, bekam sofort ein viel höheres Stipendium. Ich weiß noch, wie die russischen Kadetten von diesem Geld Kühlschränke und Fernseher kauften. Und aus denen, die keinen Eid abgelegt hatten, wurde eine eigene Kompanie gebildet – die Nazmen-Kompanie, die Kompanie der nationalen Minderheiten. Sie bestand aus Ukrainern, Belarussen und zwei Usbeken. Unser Stipendium reichte gerade für Knöpfe und Nadeln zum Nähen. Also gingen wir, die Nazmeny, in unsere Länder zurück. Damals hatten die Kadetten, die eine andere Staatsangehörigkeit hatten, also die Wahl: In dem Land, in dem man studiert hat, einen Eid abzulegen und in dessen Armee zu bleiben oder in sein Herkunftsland zurückzugehen.“
Aus jener 3. Suworow-Kompanie sind nicht viele beim Militär geblieben, nach Schätzungen der Absolventen selbst nur 20 bis 30 Prozent. Das letzte Treffen der Kompanie fand 2018 statt, anlässlich des Militärschul-Jubiläums. Makartschuk und Gorobez waren bei diesem Treffen nicht dabei. Bei den Minsker Suworowzy ist es nicht üblich, sich zu den runden Jubiläen des eigenen Abschlussjahres zu treffen, dafür kommen bei den Jubiläumsfeiern der Akademie alle Jahrgänge zusammen. Die in Minsk lebenden Absolventen bereiten den „Stützpunkt“ vor – mieten Wohnungen an, reservieren Restaurants und empfangen die Gäste. Aber gerade jene Absolventen, die beim Militär geblieben sind, kommen in der Regel nicht. Sie sind im Dienst, können nicht nach Belieben mehrere Tage verreisen, und auch die finanziellen Möglichkeiten sind geringer als bei denen, die in die Wirtschaft gegangen sind. Also saßen Makartschuk und Gorobez 2018 nicht an einem Tisch und tauschten in der Heimatkaserne keine Erinnerungen aus.
Wir sind wirklich eine Generation des Zusammenbruchs
Die Dritte Kompanie des 34. Jahrgangs der Minsker Suworow-Militärschule hatte wohl eine eigene, geschlossene Gruppe auf Social Media und beide – Alexej Gorobez und Oleg Makartschuk – waren Mitglieder. Meistens gratulierten sie sich nur zum Geburtstag. Zu Ereignissen, die die Welt oder zumindest den Kontinent erschütterten, äußerten sie sich nicht. Dann verstummten sie komplett. Überhaupt war die erste Erschütterung für die Kompanie, die in dieser Gruppe kommunizierte, das Jahr 2020 und nicht erst 2022.
„Als auf der Website der Absolventen unserer Schule Gorobez’ Tod gemeldet wurde, kamen in der Gruppe sehr viele emotionale Reaktionen von Ukrainern, die kein Blatt vor den Mund nahmen. Und zwei Tage darauf erschien auf derselben Website die Nachricht von Oleg Makartschuks Tod. Alle waren schockiert. Wir bemühen uns um Zurückhaltung, aber nicht immer erfolgreich. Die ersten Emotionen kochten 2020 hoch, zu Beginn der Proteste in Belarus. Seltsamerweise gab es 2014, als der Krieg im Donbass begann, keine großen Gefühlsausbrüche in unserer Gruppe. Hier und da kam mal was auf, aber nicht nennenswert. Und zum Jubiläum unserer Schule 2018 kamen die Ukrainer noch. Im August 2020 verließen dann erst mal jene die Gruppe, die die Proteste nicht unterstützten. Die Ukrainer sind emotional nicht so leicht aus der Bahn zu werfen, die haben sich das angesehen, ohne sich groß einzumischen. Und so ging es schlecht und recht dahin, bis zum Februar 2022. Im Februar sind dann komischerweise die Russen aus der Gruppe ausgestiegen, die ihre Regierung unterstützt haben. Da gab es von den Ukrainern, die aus Prinzip in der Gruppe blieben, einen Schwall von Emotionen. Sie versuchten, ihre russischen Kommilitonen zur Vernunft zu bringen, versuchten, die Wahrheit zu erzählen. Irgendwann gaben sie natürlich auf. Aber circa ein Drittel der Kompanie hat die Gruppe verlassen. Und jetzt haben wir in der Gruppe keine Russen mehr dabei, die für den Krieg sind. Wissen Sie, wir hatten einen Burschen aus der Kompanie in der Gruppe, der mit Gorobez befreundet war – Walera Shutschko, der jetzt auf der Seite der Ukraine kämpft. Die haben nach der Suworow-Militärschule gemeinsam die Panzerausbildung in Charkiw gemacht. Walera hat gesagt, er hat mit ihm gesprochen und versucht, ihm die Augen zu öffnen. Wir sind wirklich eine Generation des Zusammenbruchs. Das ruiniert natürlich jeglichen Verstand. Wie kann man von Bruderschaft sprechen, wenn man gegeneinander Krieg führt? Gorobez hatte übrigens ukrainische Wurzeln – er war, glaube ich, einmal auf der Beerdigung seines Großvaters in Shytomyr. Vielleicht wollte er deshalb seine Ausbildung in Charkiw machen. Und seine Eltern leben überhaupt in Transnistrien. Er hat in Tschetschenien und in Syrien gekämpft. Womöglich wurde er einfach eingesetzt, wo Personalmangel war.“
Alexej Gorobez’ Eltern wohnen in Tiraspol. Der Vater Nikolaj Gorobez ist Gemeinderatsvorsitzender der Stadt. Die Mutter Nina Gorobez veröffentlichte nach dem Tod ihres Sohnes auf der Website der Absolventen der Minsker Suworow-Militärschule einen Brief:
„Danke an alle, die unseres Sohnes gedenken und ihm die letzte Ehre erweisen. Ein ehrlicher, anständiger, gerechter, unbestechlicher, kluger und zielstrebiger Mensch wie er, der seine Heimat und seinen Beruf so aufrichtig liebt, ist in der heutigen Zeit nicht leicht zu finden. Sein ganzes nicht immer leichtes Schicksal liegt in diesen Zeilen:
Minsker Suworow-Militärschule; Hochschule für Panzer Charkiw; Dienst in Tiraspol nach dem Krieg; Dienst in Fernost; Juristische Hochschule Blagoweschtschensk; Allgemeine Frunse-Militärakademie; Dienst als Regimentskommandeur auf Stützpunkt 201 in Tadschikistan; Dienst in Dagestan und Tschetschenien; drei Einsätze in Syrien; Studium an der Generalstabsakademie, Abschluss mit Silbermedaille im Juni 2021. Seitdem bei der Division in Wolgograd.
Sie sehen ja: Dieser Mann war an allen Brennpunkten im Einsatz. Dreimal wurde ihm von den Streitkräften die Ernennung zum General (Dienstgrad) versprochen, aber wie es so schön heißt: Es blieb alles beim Alten. Gorobez A. N. erhielt den Dienstgrad des Oberst mit 36 Jahren. Gibt es in der Führungsriege der Streitkräfte jemanden, der 13 Jahre lang denselben Dienstgrad führt? Weil wir in unserer Familie und Verwandtschaft kein Vitamin B, kein Geld im Überfluss und keine hohen Tiere haben. Und mein Sohn seine Erfolge aus eigener Kraft und mit dem eigenen Kopf erreicht hat. Verzeiht, das ist mein mütterlicher Schmerz und meine Verzweiflung über den Verlust eines echten Menschen, meines geliebten und liebenden Sohnes. Gott habe ihn selig, in ewiger Erinnerung. Und viele Herzen werden ihn in Erinnerung behalten – so viel Gutes hat er den Menschen getan!“
So eine Bruderschaft kann man sich sonstwohin stecken – sie existiert nicht
Zur Beerdigung von Oleg Makartschuk kamen seine Kommilitonen von der Suworow-Militärschule, die in der Ukraine leben und dienen. Sie sammelten Geld für seine Familie. Gorobez wurde ganz leise auf dem Soldatenfriedhof von Mytischtschi bei Moskau bestattet. Jetzt verbindet Makartschuk und Gorobez nur mehr die Rubrik Dritter Trinkspruch auf der Website der Absolventen der Minsker Suworow-Militärschule. (Da findet man übrigens auch Pawel Piwowarenko aus dem 36. Jahrgang, Held der Ukraine, der vor acht Jahren bei der Einkesselung von Ilowajsk umgekommen ist.) Im Leben hätte sie nichts mehr verbinden können – nicht die gemeinsame Kindheit, nicht die Kaserne, nicht die Schulzeit in derselben Stadt, nicht die Offiziers-Schulterklappen, die sie in Charkiw bekommen haben. Seit dem 24. Februar ist von der Bruderschaft der Kadetten nichts mehr übrig als der Dritte Trinkspruch.
Sogar der Beirat der Belarussischen Union der Suworow-Absolventen und Kadetten hat – obwohl außerhalb des Kriegsgebiets angesiedelt – zu bröckeln begonnen. Dem Beirat gehören Absolventen verschiedener Jahrgänge an, die Bälle, Sportfeste und Absolvententreffen organisieren und Beiträge und Spenden sammeln. „Ich war viele Jahre im Beirat“, sagt Alexander aus Minsk, Abschlussjahrgang 1995 (er bat uns um Anonymität), „aber im Februar bin ich ausgetreten. Ein paarmal habe ich mich nach dem 24. noch mit Kollegen ausgetauscht. Aber wissen Sie, denen, die den Krieg rechtfertigen, gebe ich nicht mehr die Hand. Mit Menschen, die diese Aggression unterstützen, habe ich nichts zu besprechen. Ein paar andere sind derselben Meinung wie ich. Aber die Beiratsleitung und ein Großteil der Mitglieder unterstützen diese Aggression. Und nicht nur zum Beirat habe ich den Kontakt abgebrochen – auch zu vielen meiner Kommilitonen, mit denen ich jahrelang befreundet war. So eine Bruderschaft kann man sich sonstwohin stecken. Sie existiert nicht.“
Die Kadettenbruderschaft, an die viele dieser Jungen einmal geglaubt haben, war offenbar nichts weiter als ein sowjetisches Ideologem wie so vieles andere. Nach der UdSSR hielten sie die Absolventen noch aufrecht. Sie unterhielten Gruppen in sozialen Netzwerken, halfen einander, gratulierten einander zum Geburtstag. Am 24. Februar war das alles vorbei. Ja, sogar von der Alten Oper, in die sie kolonnenweise geführt wurden, ist längst nichts mehr übrig – seit dem Umbau sieht sie aus wie ein türkisches Hotel.
Verblichen sind die Erinnerungen; was bleibt, ist die Rubrik Dritter Trinkspruch auf der Absolventenseite. Da ist leider Platz für alle. Für viele Kriege im Voraus.
Julia Artjomowa, 1985 geboren, hat sich in Belarus als Autorin einen Namen gemacht. In ihrem 2021 erschienenen RomanJa i jest rewoljuzija (dt. Ich bin die Revolution) erzählt sie „eine sehr aufrichtige, sehr weibliche und sehr verruchte Geschichte: über Revolution und Liebe, über Brüderlichkeit und Schwesternschaft, über den Zerfall von Illusionen und das Erwachsenwerden als Wahl“. In ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft, der im Titel sarkastisch auf das von Alexander Lukaschenko verkündete Jahr des historischen Gedenkens anspielt, reflektiert Julia Artjomowa (die mittlerweile in der Ukraine lebt) die Gewalteskalation, die sich im Zuge der historischen Proteste 2020 in ihrer Heimat und des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine in ihrer Region eingestellt hat. Und sie fragt sich, ob man mit dem Wissen um diese schreckliche Gewalt überhaupt noch an diese Orte zurückkehren kann.
Diesen Text kann ich nur in der ersten Person schreiben. Normalerweise würde ich ihn niemandem zeigen – Tagebucheinträge sind nicht für fremde Augen bestimmt, und das hier ist fast einer. Aber wir haben (kein) Glück – wir leben in einer Zeit und an einem Ort, wo unsere Erinnerungen zu Tagebüchern werden und unsere Tagebücher zu Dokumenten. Unsere Balkone und Fenster werden zu Tribünen, unsere Körper zu Zeugen und Beweisen von Verbrechen. Die Buchstaben presst du mühevoll aus dir heraus, weil es dir wie so vielen die Sprache verschlägt, deine Stimme ist heiser, aber immer noch da, und deswegen muss sie erklingen, ja, muss. Daher kann ich diesen Text schlichtweg nicht nicht veröffentlichen.
Ich glaube, es war im Februar 2021. Wirklich, im Februar? War es nicht Januar? Oder doch März? Vielleicht schon im Dezember? Ich weiß noch genau, dass es geschneit hat – doch das ist ein zweifelhafter Anhaltspunkt. Herrscht in Belarus in diesen Monaten nicht fast immer unerträglich graues, matschiges Schneewetter? Oder hat sich in diesen Tagen einfach alles verknäuelt, verklumpt, verklebt, wie ein Schneeball, zu einem einzigen langen Monat des Wartens? Aber für das hier sind Chronologie und dokumentarische Genauigkeit überhaupt nicht wichtig. Also, sagen wir Februar. Im Februar 2021 trieb ich mich abends in der Stadt herum und machte ein paar Besorgungen. Auf dem Heimweg wollte ich Geld abheben. Ich suchte in der App den nächsten Geldautomaten und machte mich auf. Auf halbem Weg erwischte es mich. Eine Druckwelle versetzte mich zurück in die jüngste Vergangenheit. Ein halbes Jahr zuvor hatten mein Freund Kolja und ich uns öfter genau bei diesem Geldautomaten getroffen. Das war einfach ein praktischer und eindeutiger Treffpunkt. Am Samstag, den 15. August, um 12 Uhr waren wir von hier aus zusammen zur Beerdigung von Alexander Taraikowski gegangen. Damals, an jenem Februarabend im Schnee, begriff ich, dass es die Stadt meiner Kindheit, die Stadt, in der ich den Großteil meines Lebens verbracht hatte, nicht mehr gibt. In Minsk gibt es keine Geschäfte mehr, keine Läden, keine Höfe, Zäune, Cafés. Minsk ist überzogen mit einem Netz aus Narben: Da drüben sind wir davongerannt – und dorthin entkommen; da haben wir uns in der Hauseinfahrt versteckt; da haben wir gestanden und gesehen, wie sie auf die Menschen einprügeln und sie auseinandertreiben, und waren selbst erstarrt; da eine Spur von einer Blendgranate; da marschierten die Frauen durch; da wurde mein Mann Shenja geschnappt, und jedes Mal – wirklich jedes Mal – wenn wir an dieser Stelle vorbeifuhren, sagte er: „Da haben sie mich festgenommen“; dort waren im Winter die Hofproteste mit dem Nachbarbezirk; da standen wir in der Solidaritätskette, zusammen mit Roma und anderen Leuten aus unserem Hof. Und da, da wurde Roma umgebracht. Ich schließe die Augen. Auf dem Stadtplan gibt es keine blinden Flecken mehr, keine sauberen Stellen, keine Erinnerungen mehr an das vorrevolutionäre Leben. Erstaunlich, wie das Gedächtnis funktioniert – es legt sich in Schichten übereinander wie Wandverputz. Und jede neue Schicht scheint die vorherige zu verwischen, zu überdecken, zu ersetzen. Was ist auf der vorigen Schicht? Straßen, die ich als verliebte Sechzehnjährige entlangspazierte, mit immer derselben Kassette im Walkman. Den Park zehn Minuten von unserem Haus entfernt, in den meine Mutter immer mit mir ging, als ich klein war. Den Hof, wo meine beste Freundin und ich so gern saßen, uns am Karussell drehten und billigen Rotwein direkt aus der Flasche tranken, die wir uns teilten. Sogar die Schule, die ich neun Jahre lang besuchte, ist jetzt die, die an mein Wahllokal grenzt, und meine Lehrer sind zu Mitgliedern der Wahlkommission geworden, die ein gefälschtes Protokoll unterschrieben haben. Als hätte es mich als Sechzehnjährige nie gegeben. Das Private ist politisch. Mein Privates wurde in nur drei Tagen, 9. bis 11. August, mit einem groben Radiergummi aus dem Stadtplan gelöscht. Tage der Folter. Unser 9/11. Wäre es doch nur die Stadt. Aber auch ganz normale Dinge bekamen plötzlich eine andere Bedeutung, einen anderen Sinn. Im August/September/Oktober 2020 waren wir ein riesiger Menschenfluss. Wie der kleine Fluss Nemiga, der einst in eine Betonröhre gezwängt wurde. Als unsere Demonstrationen endgültig von der Straße verdrängt waren, wurden gewöhnliche Bänke, Zäune, Bäume, Aufzüge und Haltestellen zu Plakaten, zu Leinwänden für politische Statements. Die Wände verlassener Häuser und normaler Plattenbauten fingen an zu weinen wie Ikonen: Nichts vergessen, nichts verzeihen. Diese Worte in roter Schrift drangen immer und immer wieder durch mehrere Schichten weißer Farbe. Als die Schichten zu viele wurden und die Buchstaben nicht mehr durch die Farbe schimmerten, wussten alle, was sich hinter den weißen Rechtecken verbarg.
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Ein Junimorgen, Samstag, im Zentrum von Warschau. Meine Schulfreundin und ich sitzen auf der Terrasse eines Cafés (sie war immer einfach meine Schulfreundin gewesen, bis sie zu eben jener Freundin aus Irpin wurde, die mit ihrer Mutter und ihrer Katze zehn Tage unter Beschuss der Stadt überlebt hat). Hier in Warschau ist der Krieg überhaupt nicht spürbar, auch wenn überall viele ukrainische Flaggen hängen, sehr viele. Ich stelle meiner Freundin eine Frage, die mir schon lange im Kopf herumgeht: „Willst du zurück in die Ukraine?“ Sie sagt: „Weißt du, ich würde gern manchmal hinfahren, mal eine Woche oder zwei nach Lwiw oder Kyjiw, mal nach Odessa oder in die Karpaten. Aber richtig zurück … Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, wie ich jetzt in Irpin leben soll, wo in dem Park mit Designerbänken Menschen beerdigt wurden.“ Sie redet und redet, und ich höre ihr aufmerksam zu, ohne sie zu unterbrechen, sie spricht, und ich merke mir, was sie sagt, sie spricht, und ich begreife – sie antwortet für uns beide, sie beantwortet auch meine eigene Frage, vor der ich jedes Mal wieder Angst habe, weil ich dann ehrlich mit mir selbst sein muss. Will ich zurück nach Minsk? Will ich jeden Tag vor meinem Fenster den Hof sehen, in dem mein Nachbar Roma erschlagen wurde? Will ich auf dem Spielplatz, der jetzt eine Gedenkstätte ist, Kaffee trinken? Will ich durch Straßen gehen, in denen Menschen geprügelt wurden, wo auf Menschen geschossen wurde, wo Granaten auf Menschen geschleudert wurden?
Es ist unmöglich, in einer Stadt leben zu wollen, in der Parks zu Massengräbern und Spielplätze zu Gedenkstätten werden.
So wird mir ein Jahr nach meiner Ausreise, während ich in der Warschauer Morgensonne sitze, endgültig bewusst – du kannst nicht zurück nach Minsk, diese Stadt gibt es nicht mehr, sie existiert nur in deinem Gedächtnis, sie besteht aus erinnerten Bildern wie Frankensteins Monster. Wir wollten sie umschreiben, aber haben es nicht geschafft. Jetzt ist sie nurmehr der Entwurf einer Stadt, der von einem unfähigen Schriftsteller mittendrin verworfen wurde. Und trotzdem, und trotzdem ist es die Stadt, in deren Adern die Nemiga unseres Widerstands fließt. Wieder schlage ich mein Tagebuch auf und lese den Eintrag:
Letzten Sommer waren mein Mann und ich Fahrradfahren. Wir fuhren über die Stela auf den Siegerprospekt. Im Jahr davor hatte diese Gegend an Sonntagen ganz anders ausgesehen, und wir hatten so sehr gehofft, dass wir die Sieger sein würden. Jetzt überall rot-grüne Flaggen, demonstrativ viele, mehr als Menschen weit und breit. Und was für Menschen. Gleichgültige, die herumspazierten, als wäre nichts gewesen. Als hätten wir wirklich das nächste Kapitel aufgeschlagen. Es war bitter – vor einem Jahr noch war hier ein weiß-rot-weißer Fluss geflossen. Wir setzten uns auf eine Bank vor ein Gebäude mit dem Schriftzug: Minsk – Heldenstadt. Ich verschwand in meinem Handy, um mich abzulenken. Auf die nächste Bank setzte sich ein junger Vater mit seinem kleinen Sohn. Zufällig drang ihr Gespräch zu mir durch, es war nicht zu überhören – sie sprachen Belarussisch. Das war wie ein kleines Wunder. Als würde dir die Stadt in dem Moment, in dem du die Hoffnung verlierst, zuzwinkern.
Minsk gibt es nicht – es existiert nur in unserem kollektiven Gedächtnis.
Minsk gibt es – es existiert in unserem kollektiven Gedächtnis.
Und solange wir uns an alles erinnern, gibt es eine Chance. Eine Chance, die Stadt neu zusammenzusetzen, die Narben mit Tattoos zu verdecken, den Orten neuen Sinn zu verleihen. Hinaus auf die Straßen zu gehen und sich die Stadt zurückzuholen. Keine neue Seite aufzuschlagen, sondern diese sauber umzuschreiben, ins Reine. Dort Gedenkstätten zu errichten, wo der Schmerz wirklich groß war. Nicht zu vergessen und nicht zu verzeihen. Den Straßen neue Namen zu geben. Die Nemiga aus dem Rohr zu befreien.
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Es gibt noch etwas, das unser kollektives Gedächtnis lange prägen wird. 2020 haben die Belarussen eine erstaunliche Kraft in sich entdeckt, aus der unsere Nationalidee entstand. Damals war niemand in der Lage, diese Kraft richtig zu benennen, keiner konnte diese Idee formulieren. Die unglaublichen Belarussen? Das klang zu begeistert und zu naiv. Jetzt, wo unsere ukrainischen Nachbarn so hingebungsvoll für ihre Freiheit kämpfen und uns manchmal Schwäche und Feigheit vorwerfen, ist es besonders schwer, sich das nicht zu Herzen zu nehmen, sich nicht selbst zu geißeln und sich nicht zu schämen. Wir hören nicht auf zu vergleichen. Und immer schneiden wir schlecht ab bei diesem Vergleich. Doch auch, wenn wir uns so ähnlich sind, so sind wir doch ganz verschieden. Während die Ukrainer sagen: „Kämpft, und ihr werdet gewinnen!“, sagen wir: „Wir werden nicht vergessen, nicht verzeihen.“ Und diese Worte scheinen mir die ehrlichste und treffendste Losung von allen zu sein, die aus unserer gescheiterten Revolution 2020 hervorgegangen sind. Diese Worte sprechen aus jedem verletzten Herz. Diese Worte stehen für 9/11 genauso wie für Taraikowski, Bondarenko, Schutow und Aschurak. Diese Worte stehen für Sawadski, Gontschar und Sacharenko. Für 1307 politische Gefangene. Für 30 Journalisten, die von Repressionen betroffen sind. Für 28 Jahre ohne Wahl. Für Dima Stachowski, den 17-jährigen Jungen, der wegen Teilnahme am Protest strafrechtlich verfolgt wurde und Selbstmord beging. Für Andrej Selzer. Diese Worte stehen für Hunderte von Raketen, die seit Februar von meinem Land aus auf die Ukraine abgefeuert werden. Sie stehen für Kuropaty. Die Worte stehen für Bykau, Karatkewitsch, Kupala und Kolas. Die Worte stehen für die Nacht der erschossenen Dichter.
Heute, da ich in der Ukraine bin, sehe ich jeden Tag, wie sogar auf dem unfruchtbarsten Boden Leben entsteht. Es bahnt sich seinen Weg durch Schmerz, Krieg und Horror. Ich weiß, das ist es, was mein Volk am besten kann, genau das ist die nationale Idee der Belarussen – nicht zu kämpfen, sondern wie Gras durch den Asphalt zu dringen, trotz des rauen, harten Winters. Zu wachsen, wo sonst nichts mehr wächst. Zu überleben, zu leben und zu gedenken, sich immer wieder zu erinnern. Nicht zu vergessen, nicht zu verzeihen. … nicht zerschlagen, nicht stoppen, nicht aufhalten.