Lesia Pcholka gründete 2017 die Initiative VEHA – „als eine Reaktion auf die Unzugänglichkeit der belarussischen Archive und die einseitige Darstellung unserer Geschichte”. Denn die sei vor allem über die Tragödie des Großen Vaterländischen Krieges konstruiert. Seitdem sammelt Pcholka mit Mitstreiterinnen Fotos aus Familienarchiven, um die Alltagsgeschichte der Belarussen visuell aufzuarbeiten.
Für das Projekt Najlepšy bok (dt. Die beste Seite) hat die Initiative Fotos von Belarussen in der Provinz zusammengetragen, die sich in den 1920er und 1950er Jahren vor Webteppichen fotografieren ließen. Wir haben mit Lesia Pcholka gesprochen und zeigen eine Bilderauswahl.
Lesia Pcholka:Najlepšy bok war unsere erste Sammlung und auch das erste Projekt, das vom VEHA-Archiv präsentiert wurde. Wir haben dafür dieses visuelle Thema ausgewählt, das Porträts von Menschen aus Belarus und dem Begriff der Schönheit nachgeht. Im Sammeln von Familienfotos sahen wir eine Möglichkeit, uns mit von allen geteilten Erinnerungen und den non-verbalen Seiten des Alltagslebens zu befassen. Diese Heimatfotografien sind soziale Artefakte, die die Identität, Werte und Ästhetik der Menschen einfangen und aufdecken, wie sie von anderen gesehen und erinnert werden wollen.
Es ging uns darum, die Menschen durch eine neue künstlerische Herangehensweise aktiv in die Bewahrung des kulturellen Erbes einzubeziehen. Für diese Idee waren die Webteppiche, die auf den Fotos der Sammlung Najlepšy bok als Hintergrund dienen, das perfekte Symbol.
Woher stammt die Tradition, Teppiche als Dekoration an die Wand zu hängen, und was verrät das über Belarus in diesen Zeiten?
Die Tradition, Teppiche als Wanddekoration aufzuhängen, entstand im ländlichen Belarus, vor allem zwischen den Kriegen und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die meisten Fotos in unserer Sammlung Najlepšy bok wurden in Dörfern aufgenommen, oft von fahrenden Fotografen, die Webteppiche mit sich führten, um ein einfaches, mobiles Fotoatelier aufzubauen. Sie dienten als Hintergrund für Familienporträts, ähnlich wie die Kulissen in städtischen Ateliers.
Teppiche und Bettüberwürfe gehörten zu den schönsten Ausstattungsgegenständen in ländlichen Haushalten. Sie wurden von Frauen gefertigt, in Zeiten des Mangels und wirtschaftlicher Probleme. Das Weben war eine Notwendigkeit und zugleich eine Möglichkeit, sich kreativ auszudrücken. Textilien standen für Schönheit, Behaglichkeit und den Traum von einem besseren Leben. Sie wurden als Teil der Aussteuer von Generation zu Generation weitergereicht und rückten so nach und nach ins Zentrum der Inneneinrichtung und der visuellen Kultur. Die Verwendung von Webteppichen als Fotohintergrund ist Ausdruck tief verwurzelter sozialer, wirtschaftlicher und politischer Gegebenheiten und zeugt zugleich von der starken Tradition des Textilhandwerks in der Region und von Praktiken des visuellen Erzählens.
Wer waren die „fahrenden Fotografen“?
Diese Fotografen reisten von Dorf zu Dorf, vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, und machten Fotos der dort ansässigen Menschen. Fotoateliers befanden sich in den Städten, und die Dorfbevölkerung hatte oft nicht die Möglichkeit oder das Geld, dort Porträts oder Familienfotos machen zu lassen. Das war nicht gerade billig und der Weg dorthin war beschwerlich. Die fahrenden Fotografen wurden oft in Naturalien bezahlt – mit dem, was es im Dorf gerade gab, etwa Milch, Eier und andere Waren.
Existiert die Tradition, Teppiche als Hintergrund für Fotos zu nutzen, heute noch?
Die Tradition, Menschen vor Teppichen zu fotografieren, ist nicht verschwunden; sie hat sich verändert. Viele haben noch Fotos von sowjetischen Wohnungen, in denen ein Teppich an der Wand hinter dem Sofa hängt. Non-verbale Alltagspraktiken verschwinden nie völlig, sie entwickeln sich immer weiter. Das ist das Interessanteste an unserer Arbeit. Gewohnheiten und visuelle Codes dienen uns dazu, dass wir uns über die Gegenwart und die Alltagspraktiken verständigen, die uns prägen und von anderen unterscheiden.
Wie entstehen Projekte bei VEHA?
Bevor wir anfangen, Fotomaterial zu sammeln, legen wir ein Thema fest. Bei unserer Recherche in zahlreichen belarussischen Archiven sehen wir, dass bestimmte Stilmerkmale und Szenen immer wieder vorkommen. Aber am wichtigsten ist, dass wir – sobald das Thema steht – erst einmal abwarten, was die Menschen uns schicken und erst dann Schlussfolgerungen ziehen.
Das betrifft auch die Datierung: Wir analysieren die Objekte, die bei uns eingehen, und dann können wir das Jahr und den Ort der Aufnahme ermitteln. So haben wir festgestellt, dass die Fotos in dieser Sammlung überwiegend in der Zwischenkriegszeit und vor allem im westlichen Teil von Belarus entstanden sind. Wir legen in unseren Texten zu den Projekten immer offen, dass unsere Schlussfolgerungen auf unseren Methoden beruhen und auch andere Herangehensweisen an die Geschichte denkbar sind.
Unsere Recherche beschränkt sich auf die Gruppe derer, die sich aktiv beteiligen und uns Fotos zusenden. Das sind zwischen 50 und 500 Personen.
Wie erfahren die Leute von der Fotosammlung?
Wir machen öffentliche Aufrufe, um Fotos zu sammeln: Alle Menschen können uns Bilder aus ihrem Familienarchiv schicken, wenn diese vor 1980 auf dem Gebiet des heutigen Belarus aufgenommen wurden und in eine der fünf bestehenden VEHA-Sammlungen passen.
Bei den ersten Sammlungen wie Najlepšy bok haben wir auch staatliche Museen und ethnografische Institutionen kontaktiert. Dank der Unterstützung von Medien und dem öffentlichen Interesse konnten wir die Materialien für das Buch innerhalb kurzer Zeit zusammentragen.
Selbst wenn wir ein Foto nicht in die Sammlung aufnehmen, fördert das Stöbern im Familienarchiv das Bewusstsein für das Familiengedächtnis und trägt dazu bei, dass die Bilder weiter erhalten bleiben. Wir sammeln keine Originale, nur digitale Kopien.
Aber VEHA ist mehr als nur ein Onlinearchiv. Wir wollen neue Sinnschichten im Alltag freilegen und die visuelle Geschichte von Belarus sichtbar machen. Wir heben die Rolle der einfachen Menschen in der Geschichte hervor und präsentieren Archivmaterial in zeitgemäßen, zugänglichen Formen.
Mittlerweile dürfte eine Kooperation mit staatlichen Stellen schwierig sein.
Heute kontaktieren wir keine staatlichen Museen mehr – auch deshalb, weil es unter den jetzigen politischen Umständen für sie womöglich nicht sicher ist, mit uns zusammenzuarbeiten. Aber wir sind offen für die Kooperation mit europäischen Einrichtungen, die viele Fotos aus Belarus aufbewahren (auch wenn diese schwer auffindbar sind, weil sie oft fälschlicherweise Polen oder dem Russischen Reich zugeordnet werden). Trotz dieser Schwierigkeiten verfolgen und unterstützen die Menschen unsere Arbeit weiterhin und das VEHA-Archiv ist seit 2017 bis heute aktiv.
Zurzeit bereiten wir mit der Arsenal-Galerie in Białystok ein neues Buch mit dem Titel Ruinen von Belarus vor. Kürzlich ist unsere Arbeit in einer der umfassendsten Publikationen über belarussische Fotografie gewürdigt worden.1 Die Anerkennung durch die akademische Gemeinschaft und die Unterstützung durch so seriöse Institutionen wie Arsenal sind für uns ein sehr großer Ansporn.
Wir sind ja im Grunde immer noch Erinnerungsaktivistinnen, eine kleine Gruppe von Frauen, die ein Onlinemuseum der belarussischen Geschichte aufbauen.
Links: 1952, Dorf Sarytawa, Ljachawizki Rajon, Breszkaja Woblasz. Nadseja Mazjuschenka mit ihren Töchtern Ljubai und Waljai. Fotograf Petryk Taranda. Privatarchiv Mikola Taranda.
Links: Um1950, Dorf Aharodniki, Lidski Rajon, Hrodsenskaja Woblasz. Priester Boris Shabrouski der Pryabrashenskai Kirche mit seiner Frau. Privatarchiv Vera Tyschkewitsch.
1 Siarhiej Hruntoŭ, Photography and the Culture of Memory among Belarusians in the Second Half of the 19th – Early 21st Century, Belarusian Science, 2023. ↑
Ist der Ehemann von Swjatlana Zichanouskaja, Anführerin der belarussischen Demokratiebewegung im Exil, in seiner Haltung zu optimistisch? Oder verschafft seine Freilassung der Opposition tatsächlich eine neue Dynamik, vielleicht sogar die Chance auf einen neuen Aufstand in Belarus? Und wie groß sind die Chancen, dass sich die EU und die USA auf eine Annäherung mit dem Lukaschenko-Regime einlassen, auch um die Befreiung der in Haft verbliebenen über 1200 politischen Gefangenen zu erwirken?
Für das Online-Portal von Radio Svaboda hat der Journalist Yury Drakakhrust mit dem Politologen Andrei Kasakewitsch gesprochen.
Svaboda: Sjarhej Zichanouski ist aus dem Gefängnis frei und mit einigen entschlossenen Statements faktisch in die belarussische Politik zurückgekehrt. Was können Sie über die Reaktion der belarussischen Gesellschaft darauf sagen: die Klickzahlen seiner Youtube-Videos, Spendeneinnahmen, wie wurde in den sozialen Netzwerken und in den Medien darüber berichtet, wie reagierte die Staatspropaganda? Und was sagt uns das?
Andrei Kasakewitsch: Zichanouskis Auftauchen brachte in alle politischen Prozesse eine neue Dynamik, es veränderte die Kommunikation innerhalb der demokratischen Kräfte. Wir beobachten teils ein großes Interesse an seinen Interviews und Äußerungen. Die Reaktion innerhalb von Belarus lässt sich aber nur schwer erfassen. Wir können das weder an den Reaktionen auf Social Media festmachen noch an anderen Parametern. Allerdings hat er dort durchaus ein Publikum. Andere Aktivitäten, wie die Organisation von Kundgebungen, blieben aber eher erfolglos. Dass das Auftauchen eines Anführers in der belarussischen Gesellschaft etwas Nennenswertes auslöst, ist heute ganz klar beschränkt. Ich würde es eher einen neuen Impuls nennen. Dieser kann in einigen Wochen oder Monaten enden, oder zu einer stabilen Kommunikationsbasis werden. Das ist gerade noch nicht absehbar.
Kann eine einzige Person einen neuen gesellschaftlichen Aufstand auslösen? Kann das Auftauchen eines einzelnen Menschen einen neuen Aufstand ankündigen?
Das ist nur möglich, wenn diese Person über gewisse Ressourcen verfügt, über belastbare Kommunikationskanäle zur Bevölkerung. Die Zichanouskis hatten 2020 eigene Ressourcen. Wir Analytiker haben das damals nicht erkannt, aber Zichanouski hatte sich durchaus ein gewisses Netzwerk von Mitstreitern aufgebaut. Das Onlineportal Tut.by war damals sehr einflussreich, die unabhängigen Medien verfügten in Belarus über ziemliche Freiheiten. Der Zugang zu diesen Ressourcen erlaubte es, direkt mit der Bevölkerung zu kommunizieren. Heute ist der Medienbereich sehr stark umgestaltet, die Verbindung zu einem großen Teil des belarussischen Publikums ist verloren gegangen. Ob man sie erneuern kann? Bislang sehen wir das nicht.
Was Zichanouski angeht, ist die zentrale Frage, ob er ein Publikum findet.
Ein wichtiger Faktor war auch: Die Menschen spürten damals, dass Veränderungen möglich waren. Sie hatten keine Angst, und vor allem diejenigen, die neu zur Bewegung gestoßen waren, vertrauten darauf, dass der Staat nicht zu brutaler Gewalt greifen würde, dass der Sieg nicht gestohlen werden könne, dass die Massenproteste auf den Straßen automatisch zu Veränderungen führen würden. Jetzt gibt es das alles nicht mehr. Ich denke, die Mehrheit glaubt nicht daran, dass es in nächster Zeit irgendwelche Veränderungen geben könnte, beziehungsweise, dass dafür irgendwelche Hebel existieren.
Was Zichanouski angeht, ist die zentrale Frage, ob er ein Publikum findet. Ich denke nicht, dass im Moment irgendwelche Aktionsaufrufe bei der belarussischen Gesellschaft auf Resonanz treffen. Doch Zichanouski kann durchaus wieder Einfluss im Informationsbereich erlangen und eine eigene Zuhörerschaft finden. Hier könnte es eine Nische für ihn geben und er könnte durchaus erfolgreicher als Swjatlana Zichanouskaja werden. Allerdings ist die Gesellschaft jetzt größtenteils demobilisiert. In der Soziologie verwendet man diesen Begriff, um den Zustand nach einem gewissen Aufbruch zu beschreiben, nach einer Periode, in der die Menschen bereit waren, Risiken einzugehen und entschlossen zu handeln.
Viele Beobachter und Analytiker sprechen eher von Angst, von den Folgen der Einschüchterung, Sie reden über Demobilisierung.
Demobilisierung ist nicht einfach nur Angst. Das Konzept beruht auf der Annahme, dass die Bevölkerung nach einer Revolution ermüdet ist. Das passiert sowohl, wenn die Revolution erfolgreich war, als auch im Falle einer Niederlage, egal, ob es Repressionen gibt, oder nicht. Menschen können nicht lange im Zustand der Mobilisierung bleiben, jahre- oder jahrzehntelang. Nach dem Aufstand wenden sie sich schlicht wieder anderen Dingen zu, interessieren sich nicht mehr für Politik und zivilgesellschaftliches Engagement. Das ist ein unvermeidlicher Prozess und wäre in jedem Fall passiert, auch ohne die einschneidenden Repressionen.
Ein Teil der Gesellschaft ist verängstigt, das ist klar. Besonders betrifft das ein Cluster, das wir unabhängige zivilgesellschaftliche Gemeinschaft nennen, sie existierte in Belarus bis 2020. Die Repressionen gegen diese Gruppe waren besonders stark. Es gibt auch Personengruppen, in denen der Repressionsdruck weniger stark wahrgenommen wird, etwa wenn die Menschen nur unregelmäßig unabhängige belarussische Staatsmedien konsumieren. Für die meisten Menschen sind Ereignisse wie die Massenproteste 2020 etwas Außergewöhnliches, so oder so kehren sie nach einiger Zeit zum gewohnten beruflichen und familiären Alltag zurück, und das ist in Belarus im Grunde in den letzten Jahren passiert.
Können Zichanouskis Aktivitäten zu verstärkten Reaktionen im Land führen, etwa einer Verschärfung der Repressionen?
Was kann da schon noch groß verschärft werden?! Die Gruppen der traditionellen Opposition wurden schon sehr intensiv bearbeitet. Natürlich könnte man dazu übergehen, sich Leute für regierungskritische Äußerungen auch in der Raucherecke zu angeln. Aber das hätte einen negativen Nebeneffekt. Das Ausmaß an Repressionen ist in Belarus schon immer mit der außenpolitischen Situation verbunden, wobei der zentrale Faktor die Beziehung zum Westen ist: Besteht die Notwendigkeit, dieses Verhältnis zu verbessern, könnten die Repressionen entschärft werden. Schlechte Beziehungen zum Westen bringen bedeutende Einbußen – wirtschaftlich wie politisch – für die herrschende Macht und bedrohen auf lange Sicht ihre Stabilität. Der Versuch, diese Beziehungen zu verbessern, ist unvereinbar mit einer Verschärfung der Repressionen. Auf einem gewissen Niveau werden sie aber bestehen bleiben, ich sehe in nächster Zeit keine Optionen, die den Machthabern einen völligen Verzicht auf repressive Praktiken erlauben würden. Das Ausmaß kann aber abnehmen.
Ein wichtiges Ereignis in letzter Zeit war Swjatlana Zichanouskajas Interview mit dem Magazin POLITICO, in dem sie Trump rät, Lukaschenka zu bestrafen, statt zu besänftigen. Die Veröffentlichung führte zu einer hitzigen Diskussion innerhalb der demokratischen Kräfte. Kann man Ihrer Meinung nach erreichen, dass nach Aufhebung der Sanktionen und der Freilassung aller politischen Gefangenen neuerliche Verhaftungen in großem Umfang verhindert werden können?
Leider gibt es hier nur einen einzigen Mechanismus: die erzwungene Verbesserung der Beziehungen zum Westen. Einen innenpolitischen Impuls gibt es dafür nicht. Allein die wirtschaftliche Situation und die Notwendigkeit, den Einfluss Russlands auszubalancieren, zwingen dazu. Das ist ein altes Problem aller belarussischen Regierungen, das nie wirklich verschwunden ist. Diese erzwungene Reaktivierung der Beziehung zum Westen kann dazu führen, dass die Regierung die Repressionen auf ein Minimum reduzieren muss. So war es auch in der letzten Periode der normalisierten Beziehungen von 2015 bis 2020.
Anders als jemals zuvor ist der Grund für die hauptsächlichen Sanktionen, für den größten Druck nicht in den politischen Repressionen zu suchen, sondern in der Beteiligung am Krieg gegen die Ukraine und in Entscheidungen, die sich spürbar auf die Sicherheit der angrenzenden Staaten auswirken. Dazu zählen die „Migrationskrise“, das Auftauchen der Wagner-Truppe in Belarus sowie die Stationierung von Atomwaffen sowie der neuen Mittelstreckenwaffe Oreschnik. Belarus ist zu einer Bedrohung für die Sicherheit in der Region geworden. Genauer gesagt, es wird als Bedrohung der regionalen Sicherheit wahrgenommen, nämlich von Polen, Litauen, Lettland und der Ukraine. Dieses Problem ist nicht einfach durch innenpolitische Deeskalation zu beheben. Wenn sich in diesen Fragen nichts bewegt, wird es keine merkliche Reduzierung der Sanktionen geben.
An dieser Stelle stecken die Verhandlungen zwischen der belarussischen Führung und dem Westen in einer Sackgasse. Der einzige Faktor, der wirklich gegen die belarussische Führung spielt, ist die Zeit. Denn das Interesse an den belarussischen politischen Häftlingen wird mit der Zeit sinken, und dann sinkt auch ihr Wert als Ressource im politischen Handel mit dem Westen.
Im Verlauf des letzten Jahres kamen über dreihundert politische Gefangene frei – ist das ein Ergebnis des politischen Drucks oder der Verhandlungen?
Das ist natürlich ein Ergebnis des Drucks, allerdings eher ein Ergebnis des Zeitdrucks. Der hauptsächliche Faktor für die Befreiung der Häftlinge ist, dass ihre Haftzeiten enden. Die Zeit reduziert also die Anzahl der Häftlinge. Ein bedeutender Anteil der Begnadigten wäre wenige Monate später freigekommen. Die Logik ist also: Wir müssen sie ohnehin freilassen, also lasst sie uns früher rauslassen und das dann als Begnadigung verkaufen.
Darüber hinaus ist das Interesse an den belarussischen politischen Gefangenen in den westlichen Staaten zwar nicht gesunken, aber es wächst auch nicht sonderlich. Der Westen ist für ihre Freilassung nicht zu großen strategischen Zugeständnissen bereit. Denn es besteht immer noch das Problem des Krieges und der Sicherheit. Diese Probleme sind dem Westen wichtiger als die Frage nach der Befreiung der belarussischen politischen Gefangenen. Um auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen: Man muss auch sagen, dass die Freilassung nicht möglich wäre ohne Verhandlungen, ohne die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen den Interessen der belarussischen Führung und der westlichen Regierungen. Sowohl Druck als auch Verhandlungen haben also ihren Anteil. Der entscheidende Faktor ist jedoch die Zeit.
Es sieht so aus, als entfernten sich USA und EU in ihrem Ansatz gegenüber Belarus immer mehr voneinander. Gibt es Chancen auf eine Annäherung der Positionen? Kann Trump Vilnius überzeugen, den Transit für belarussisches Kali zu ermöglichen? Oder wird Trump, wie Zichanouski hofft, dass ersehnte Wort sprechen und Lukaschenka daraufhin alle politischen Häftlinge entlassen?
Ich wiederhole noch einmal – die schmerzhaftesten Sanktionen wurden aufgrund der Beteiligung am Krieg und der Bedrohung der Sicherheitslage erlassen. Diese Probleme bleiben für die europäischen Staaten brennend, in erster Linie für die belarussischen Nachbarn: Polen, Litauen, Lettland, Ukraine. Die USA können davor die Augen verschließen. Trump nimmt sogar den Krieg in der Ukraine nicht als bedeutsam für die Vereinigten Staaten wahr. Deshalb können sie auch leicht Kontakte zur belarussischen Führung herstellen und Verhandlungen zu einem breiten Themenspektrum führen. Dass sich die europäische Position entscheidend verändert, sehe ich allerdings nur dann, wenn es Fortschritte gibt, die den Krieg und der Sicherheit betreffen. Allein die Freilassung aller politischen Gefangenen würde den Europäern nicht genügen.
Im Grunde haben die Vereinigten Staaten zahlreiche Einflussmöglichkeiten in Bezug auf Belarus. Aber werden sie die wahrnehmen?
Für die Europäer ist Belarus ein Nachbarland, von dem sehr konkrete Bedrohungen ausgehen. Vielleicht sind viele dieser Bedrohungen gar nicht real, nur imaginiert, und vielleicht haben die europäischen Eliten sie sich ausgedacht. Aber für sie ist das nun mal die Realität, und es ist die Realität für ihre Wähler. Deshalb können sie hier nicht so einfach Zugeständnisse machen, nur damit alle politischen Gefangenen freigelassen werden. Jedenfalls in nächster Zeit, solange keine anderen einschneidenden Veränderungen geschehen. Kann Trump sie überzeugen oder zwingen? Überzeugen kann er sie sicher nicht, weil die USA einen Großteil ihrer moralischen Autorität auf dem internationalen Parkett verloren haben. Früher konnten amerikanische Präsidenten auf dieser Grundlage in Europa noch etwas erreichen.
Kann Trump sie zwingen? Die Erfahrung zeigt, dass er Druck ausübt, bis er starken Widerstand spürt. Wenn Polen und Litauen eine konsequente Haltung einnehmen, glaube ich nicht, dass die Amerikaner sie wegen dieser belarussischen Frage stark unter Druck setzen werden. Denn für die Amerikaner ist diese Frage völlig nebensächlich. Die Position der europäischen Staaten wird wichtiger sein als jene der USA, weil sie viel stärker motiviert sind und sich von Belarus viel stärker bedroht fühlen als die USA.
Bei einer Kundgebung in Warschau erklärte Zichanouski, dass Trump die belarussischen politischen Gefangenen mit einem Wort befreien könne. Zichanouski meint, dass Trump gemeinsam mit Europa Lukaschenka so in die Enge treiben könne, dass letzterer Angst bekommt und alle freilässt. Könnte Trump das wirklich? Im Iran hat er kürzlich gezeigt, dass er auch zu entschiedenen Worten und entschlossenen Taten fähig ist.
Im Grunde haben die Vereinigten Staaten zahlreiche Einflussmöglichkeiten in Bezug auf Belarus. Ich denke, würden sie all diese Instrumente nutzen, könnten sie erreichen, dass die belarussische Führung alle politischen Gefangenen freilässt, die noch hinter Gittern sind. Allerdings sehe ich bei den Amerikanern keine Motivation, das zu tun. Diese Instrumente einzusetzen, würde für die Vereinigten Staaten nämlich auch Kosten bedeuten. Es kann die Beziehungen zwischen USA und Russland belasten, das Image der USA in der Welt beschädigen. Die Vereinigten Staaten sind wirklich ein riesiges Land mit riesigen Möglichkeiten, auf jedes Land der Welt Druck auszuüben. Aber werden sie es tun?
Mir fiel dazu eine Metapher ein: Beim Schach können Dame, Springer, Türme und Läufer einen Bauern am Rande des Spielfelds jederzeit „fressen“ – weil sie viel stärker sind. Aber der Sinn des Spieles besteht nicht darin, irgendeinen Bauern am Brettrand zu schlagen. Und deshalb kann dieser Bauer auch bis zum Ende des Spiels überleben – weil er eben nicht die wichtigste Figur in diesem Spiel ist.
Ja, ich stimme völlig zu, das ist eine Fortführung meines Gedankens. Es ist wenig wahrscheinlich, dass eine Gewinn-Verlust-Rechnung die Amerikaner auf die Idee bringt, die ganze Macht der USA einzusetzen, um die belarussischen Gefangenen zu befreien. Belarus ist für die USA, besonders für die Leute, die dort jetzt an die Macht gekommen sind, ein Land der Peripherie. Selbst die EU und Ukraine sind für sie nicht sonderlich bedeutend und freundschaftlich konnotiert. Was soll man da bitte schön über Belarus sagen?
Der „rote Mensch“ ist das Lebensthema von Swetlana Alexijewitsch. Warum hat der homo sovieticus das Ende der Sowjetunion überlebt und sorgt in seiner Untertänigkeit auch für die Stabilität eines Systems Putin? Bei einer Diskussion, die Mitte Juni 2025 in Warschau stattfand, reflektierte die belarussische Literaturnobelpreisträgerin über diese Frage. Das Online-Portal GazetaBY hat Alexijewitschs Antwort veröffentlicht.
„Trotz 21. Jahrhundert leben wir immer noch in einer Art neuem Mittelalter“, sagte Swetlana Alexijewitsch bei einer Lesung in Warschau, die von Euroradio übertragen wurde. „Vor 30 Jahren waren wir alle naiv. Wir dachten, der Kommunismus ist tot, diese ‚rote Idee‘ ist tot und auch der ‚rote Mensch‘, der von ihr verschluckt wurde.
Swetlana Alexijewitsch bei ihrem Auftritt am 16. Juni 2025 in Warschau.
Uns war nicht klar, dass ein Mensch des Sozialismus, der Jahrzehnte im Lager verbracht hat, nicht einfach aus dem Lagertor treten und sofort frei sein kann. Diese Mythen sitzen tief in seinem Bewusstsein. Und dieses Unbewusste ist stärker als unsere Worte. Und deswegen ist der Kommunismus noch nicht tot, und diese ‚roten Menschlein‘ ziehen in die Ukraine in den Tod.
Und heute sterben Russen, um sich einen Kühlschrank zu kaufen oder eine Wohnung zu bezahlen.
Als ich damals in Afghanistan war und mein Buch über jenen Krieg schrieb, hat keine der Mütter, hat keiner der Jungs, mit denen ich dort sprach, den Krieg unterstützt. Sie hassten den Kommunismus. Und heute sterben Russen, um sich einen Kühlschrank zu kaufen oder eine Wohnung zu bezahlen. Das erzählen sie auch so: ‚Wir haben uns alle zusammengesetzt – meine Frau, meine Tochter und ich – und kamen zu dem Schluss, dass wir zu viele Schulden haben. Wir müssen den Kredit abbezahlen, brauchen ein Auto, also muss ich in den Krieg – und ich zog in den Krieg.‘
Ein anderer sagte: ‚Ich hasse die chochly.‘ Ich fragte: ‚Warum?‘ – ‚Ich hasse sie einfach.‘ Und ich weiß nicht, wie man zu diesem post-roten Menschentyp durchdringen soll.“
Die Schriftstellerin macht sich Sorgen, dass die Ideen des „roten Menschen“ sich immer weiter in der Welt verbreiten.
„Ich glaube, die Menschen in Russland sind gekränkt, dass dieser große russische Kuchen ohne sie aufgeteilt wurde: Wenn zum Beispiel ihre Großeltern oder Eltern in irgendeiner Fabrik gearbeitet haben und diese Fabrik dann für ein paar Kopeken an irgendwen verscherbelt wurde, der jetzt Milliarden daran verdient. Und selbst können sie ihren Kindern keine Ausbildung finanzieren. Einer sagte zu mir, er könne seiner Tochter keine ordentliche Hochzeit zahlen.
Mir als Schriftstellerin scheint, dass ich überall eine Art Aufstand der Gekränkten sehe.
Ich glaube, etwas Ähnliches passiert in Amerika. Ein gewisser Prozentsatz der Bevölkerung hat das Gefühl, übergangen zu werden, nichts wert zu sein. Und da kommt Trump, der im Namen dieser Menschen spricht. Ich glaube, so funktioniert das auch in Ungarn, wo ich kürzlich war, und in der Slowakei. Dort habe ich genau solche gekränkten Menschen gesehen. Mir als Schriftstellerin scheint, dass ich überall eine Art Aufstand der Gekränkten sehe. In Deutschland, wo ich jetzt lebe, wird die AfD genau von solchen Leuten gewählt. Sie bekommt immer mehr Stimmen. Doch vor allem sind wir demgegenüber so hilflos.
Von einem russischen Schriftsteller stammt die Metapher, dass wir lange Zeit gegen einen Drachen gekämpft haben, gegen den Kommunismus. Wir gefielen uns in diesem Kampf, er war schaurig, aber schön. Und dann haben wir den Drachen besiegt, und sahen uns um – und da waren ringsum lauter Ratten, doch wir wissen nicht, wie man Ratten bekämpft. Weder unsere Literatur noch unsere Kunst weiß, wie man Ratten bekämpft. Diese Monster sitzen in jedem von uns. Sie steigen in uns auf wie etwas Wildes, wie irgendwelche Instinkte. Und über die wissen wir kaum etwas. Wir haben den Begriff des Kommunismus zu stark vereinfacht.
Gefährlich ist die Natur des Menschen als solche. Sie neigt ohnehin nicht zur Vollkommenheit. Wenn man ihr dann noch eine Idee in den Kopf setzt, zum Beispiel die sozialistische, die den Menschen verdirbt, dann wird man diese Version des Menschen sehr schwer wieder los. Weil zwar immer neue Generationen nachkommen, diese aber von denselben Großmüttern, denselben Lehrern erzogen werden. Und dann passiert wieder, was wir in Russland sehen: wieder ein Krieg, wieder Arme und Reiche – alles gerät wieder in die alten Bahnen.
Ich würde sagen, unser Problem ist heute eine Kultur der Gewalt und eine Kultur der Ungerechtigkeit.
Vor Kurzem noch dachte ich, es ist vorbei, ich habe sogar in einem meiner Bücher den Untertitel: Das Ende des roten Menschen (dt. Titel: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus). Aber es ist noch lange nicht vorbei. Ich schreibe jetzt ein neues Buch darüber, was mit diesem Menschen heute passiert. Warum er so lange überlebt, was ihn hält, auf welchem Nährboden sein Klonen erfolgt und warum das nicht nur ein russisches oder ein sozialistisches Problem ist.
Früher sagten Europäer zu meinen Büchern: Das ist bei euch vielleicht so, aber bei uns sind solche Rückschritte nicht möglich. Ich würde sagen, unser Problem ist heute eine Kultur der Gewalt und eine Kultur der Ungerechtigkeit. Woher kommt die Gewalt? Vom Menschen. Wir haben die Vorstellung, dass sie nur an Putin oder Lukaschenko delegiert wurde. In den ersten Jahren versuchte Putin, der Nato beizutreten, und wollte von den europäischen Eliten in ihren Kreis aufgenommen werden. Er konnte nicht verstehen, dass er mit seinem Verständnis, mit der Welt, die er in sich trug, ein Fremder für sie war. Fremdsprachenkenntnisse taten hier nichts zu Sache. Damals war dann plötzlich von einer souveränen Demokratie die Rede, davon, dass es eine Art russische Demokratie gäbe. Das alles geht also von Menschen aus, die in dieser Zeit lebten.
Wir dürfen uns in der heutigen Welt nicht so einfach damit abfinden, dass die Demokratie verschwindet.
In letzter Zeit mache ich viele Aufnahmen mit Belarussen, die an den Protesten teilgenommen haben. Sie sagen: Ja, wir haben eine Niederlage eingesteckt, aber wir lassen uns nicht unterkriegen. Es ist eine neue Philosophie entstanden: eine Philosophie der kleinen Schritte. Die Leute sagen, das sei Selbstschutz, es helfe ihnen, sie selbst zu bleiben, ihre Persönlichkeit beizubehalten und trotzdem den einen oder anderen winzigen Schritt zu tun.
Wir dürfen uns in der heutigen Welt nicht so einfach damit abfinden, dass die Demokratie verschwindet. Wir müssen Widerstand leisten. Und diese Menschen, die ich in verschiedenen Ländern getroffen habe, suchen nach Formen des Widerstands. Aber es ist enorm wichtig, dabei man selbst zu bleiben. Sich von diesen finsteren Zeiten nicht zertrampeln zu lassen.”
Die Zeit im Gefängnis hat Ihar Karnei schwer gezeichnet. Aschfahle Haut, knochige Gestalt. 18 Kilogramm Gewicht habe er in der Haft verloren, sagte er nach seiner Freilassung. Der belarussische Journalist – 2024 zu fast vier Jahren Haft verurteilt – war unter den 14 Personen, die am 21. Juni 2025 infolge eines Besuches des US-Sonderbeauftragten Keith Kellogg in Minsk freigelassen wurden.
Seit den Protesten von 2020 verfolgt das Lukaschenko-Regime Journalisten und Medien mit scharfen Repressionen und kriminalisiert Leser und User, wenn sie Telegram-Kanäle abonnieren oder Beiträge in Sozialen Medien teilen. Der unabhängige Journalismus wurde nahezu vollständig ins Exil getrieben. Nun berichten Medien wie Pozirk oder Zerkalo aus Polen oder Litauen und versorgen die belarussische Gesellschaft im Land weiterhin mit Informationen.
Ihre Existenz ist prekär und sie ist noch prekärer geworden, nachdem die Trump-Regierung seit Anfang 2025 diverse Förderprogramme gestoppt hat. „Quasi über Nacht brach den belarussischen Medien die Hälfte ihres Budgets weg“, heißt es in einer Studie des Press Club Belarus. Aber ein Aus der belarussischen Medien wäre ein herber Schlag für die europäische Sicherheit, heißt es in dem Papier weiter. In einem aktuellen Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung greift der Historiker Felix Ackermann diese Studie auf und fordert eine bessere Unterstützung belarussischer Medien durch die Bundesregierung – auch im eigenen Sicherheitsinteresse.
Für dekoder hat die belarussische Journalistin Anna Wolynez mit Natalia Belikova vom Press Club Belarus über die Lage der belarussischen Medien und ihre Überlebenschancen gesprochen.
Die deutlichste Tendenz, die wir 2025 im Zusammenhang mit dem Stopp der US-amerikanischen Medienhilfen beobachten, ist, dass die belarussischen Medien begonnen haben, stärker mit ihren Finanzierungsmodellen zu experimentieren und sie zu diversifizieren. „Sie versuchen Aktivitäten auszubauen, die sich an die Belarussen im Ausland richten: Spendeneinwerbung, Entwicklung lokaler Communities, Clubtreffen mit Eintrittsgeld … Aber auch in den erfolgreichsten Fällen deckt das höchstens zehn Prozent des Jahresbudgets“, sagt Natalia Belikova vom Press Club Belarus.
Auch in Zukunft werden diese zusätzlichen Aktivitäten kaum ausreichen, um ohne unterstützende Fördermittel zu überleben und langfristig resilient zu werden. Der Press Club Belarus hat daher für alle, die den unabhängigen Medienunternehmen helfen wollen, eine Unterstützungsplattform gestartet: Save Belarus Media.
Werbung scheitert an Desinteresse und Repressionen
Ein werbebasiertes Finanzierungsmodell ist für belarussische Medien keine Option: Für ausländische Unternehmen ist Werbung, die sich an Menschen in Belarus richtet, uninteressant, weil diese keine potentiellen Kunden darstellen. Und für die belarussische Wirtschaft ist es gefährlich, mit den unabhängigen Medien in Verbindung gebracht zu werden, die das Lukaschenko-Regime fast ohne Ausnahme für „extremistisch“ erklärt hat.
Den härtesten Schlag müsse aber die riesige Zahl von Freiberuflern aushalten, sagt Natalia Belikova. Die Anzahl der Aufträge gehe zurück und verschärfe ihre auch zuvor schon verletzliche Situation. Die Redaktionen kürzen merklich im Bereich Social Media Marketing, reduzieren die Ausgaben für Fotos und Layout, aber auch für die Textproduktion an sich. In der Folge wird weniger Material, darunter auch Exklusivmaterial, veröffentlicht, wodurch mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ein Teil des Publikums verloren gehen wird, prognostiziert die Medien-Expertin im dekoder-Gespräch.
„Wie ein Medienangebot ein Publikum erreicht, hängt sehr stark von den großen Tech-Konzernen wie Meta, Google, TikTok und YouTube ab. Für deren Algorithmen ist die Quantität der publizierten Inhalte relevant. Werden es weniger, sinkt mittel- bis langfristig auch der Einfluss des Mediums.”
Dennoch hat laut Belikova bisher kein einziges Medium seine Arbeit komplett eingestellt. In der Regel werden zuerst sogenannte Subbrands geopfert – kleinere Projekte, die nicht direkt mit dem zentralen Produkt assoziiert werden. „Alle sind darauf ausgerichtet, die Dachmarke zu erhalten. Aber die Anzahl der Submarken und die Menge der Inhalte schrumpft“, meint die Leiterin der Abteilung für Internationale Kooperationen des Press Club Belarus. „Bis Jahresende werden wir die Folgen für die gesamte Branche messen können.“
Die belarussischen Medien behalten hohe Reichweite
Die US-amerikanischen Geldgeber sahen in den Medien mehr als nur nichtkommerzielle Unternehmen, die für die Zivilgesellschaft arbeiten, nämlich Institutionen, deren Tätigkeit man nicht einfach einstellen und nach einiger Zeit wieder aufnehmen kann. Die europäischen Fördermittelgeber hingegen arbeiten häufiger nach einer Projektlogik, die nach Projektende konkrete Kennzahlen erwartet, die die erreichten Veränderungen darstellen – doch das wiederum ist für Medianarbeit nicht unbedingt relevant.
„Mit diesem Problem sind nicht nur die belarussischen Redaktionen konfrontiert, sondern auch Medien aus anderen osteuropäischen Staaten, aus Afrika und Asien“, sagt Belikova. „Deshalb wird unter Medienunternehmern und -entwicklern aktuell diese Besonderheit diskutiert, und wie man die klassischen europäischen Fördermittelgeber überzeugen könnte, ihren Projektansatz zu überdenken.“
Natalia Belikova betont, dass man im Bereich der Advocacy-Arbeit für die Medien, also für Schutz und Förderung ihrer Interessen (gegenüber Geldgebern, internationalen Organisationen und ausländischen Regierungen), unabhängig vom Kontext mehr über ihre Stärken und Erfolge sprechen sollte. Der Press Club Belarus beruft sich bei der Interessenvertretung der belarussischen Medien stets auf deren Fähigkeit, wie ein Ökosystem zusammenzuarbeiten, in dem landesweite und thematische Medienangebote, Nischenausgaben und Nachrichtenagenturen einander in guter Nachbarschaft unterstützen. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass die belarussischen Medien weiterhin hohe Reichweiten erzielen, meint Belikova: „Darin liegt ihre Stärke: Ein Ökosystem ist schwerer zu unterdrücken, und dadurch wird Wirkung erzielt: Die unabhängigen Medien können weiterhin ihr Publikum erreichen.“
Trotz Repressionen versuchen etwa 15 Prozent des Publikums in Belarus, Informationen aus verschiedenen Quellen zu beziehen
Die zweite Besonderheit und auch eine weitere Stärke der belarussischen Medien liegt in ihrer Nähe zu Belarus – in jeder Hinsicht: Die wichtigsten Mediahubs befinden sich in Vilnius, Warschau und Białystok. Dort finden ihre Redaktionen Büroräume, Studios, Fachkräfte und technische Ausstattung, die man beispielsweise braucht, damit Nutzerinnen und Nutzern ohne VPN-Einsatz die staatliche Blockierung der Webseiten umgehen können.
Die Situation der belarussischen Medien im Exil unterscheidet sich auch dadurch von derjenigen aus anderen Ländern, dass man sich nach wie vor auf das Publikum im Land orientiert, meint Belikova. Und das obwohl aufgrund der Kriminalisierung der gesamten unabhängigen Branche im Grunde kein wirklicher Markt für sie existiert: Viele Medien haben den Status „extremistische Vereinigung“ bekommen, ein Teil ihrer Veröffentlichungen steht auf einer Liste „extremistischer Materialien“. Das bedeutet faktisch, dass jedes Like unter diesen Publikationen auf Social Media als Verbrechen gewertet wird.
All diesen Hindernissen zum Trotz signalisiert das Publikum Nachfrage: „Auch wenn in der Gesellschaft viel Angst herrscht, versucht ein großer Anteil [des Publikums] – einer Studie des Forschungszentrums iSANS zufolge etwa 15 Prozent – Informationen aus unterschiedlichen Quellen zu beziehen. Berücksichtigt man den Grad der Repressionen, so ist das ein recht hoher Anteil von Menschen, die sich um ein komplexeres Weltbild bemühen, als es die Propaganda anbietet. Das zeugt wiederum davon, dass die Gesellschaft in gewissem Maße gesund geblieben ist“, resümiert Belikova.
Und das sei es auch, was den belarussischen Medien helfen kann, mit Geldgebern in einer Sprache der Erfolge zu sprechen: Man müsse davon erzählen, welches einzigartige, wertvolle Angebot man dem Publikum macht, um so den sinnvollen Einsatz der Mittel hervorzuheben.
Überleben als Alltagsgeschäft
Die belarussischen Medien im Exil werden häufig mit den russischen verglichen, doch Belikova hält diese Analogie für unzutreffend: „Gerade im Hinblick auf den Einfluss auf die Menschen im Land kann man sie nicht vergleichen: In Belarus erreichen unabhängige Medien einen viel höheren Anteil der Bevölkerung, 25 bis 30 Prozent, während die Medien, die Russland verlassen mussten, nur noch eine Reichweite von sechs bis sieben Prozent im Land haben.“ Zieht man Parallelen zu Exil-Medien anderer Länder, dann seien die Kollegen aus Nicaragua den Belarussen am ähnlichsten. Eine Protestbewegung, wie sie in Belarus 2020 stattfand, gab es in Nicaragua 2018. Seitdem setzen die unabhängigen Redaktionen ihre Arbeit von Costa Rica aus fort.
„Bei ihnen gab es auch zuerst eine Zeit der Liberalisierung, und dann verbot der Präsident nach den Wahlen mit einem Mal alle unabhängigen Medien“, berichtet Belikova. „Die Journalisten wurden mit Flugzeugen außer Landes gebracht, ihnen wurde die Staatsbürgerschaft entzogen, aber, wie auch bei uns, besitzen die unabhängigen Medien in der Gesellschaft ein hohes Vertrauen.“
Eine weitere Besonderheit der belarussischen Medien sei schließlich die durch jahrelange Arbeit unter schwierigen Bedingungen erlangte Standhaftigkeit. Genau genommen haben sie noch nie unter „normalen“ Bedingungen von Demokratie und Marktwirtschaft gearbeitet. Überleben ist gewissenmaßen ihr Alltagsgeschäft: Seit den 1990er Jahren gab es nur wenige Jahre, in denen Journalisten in Belarus nicht verfolgt wurden oder um ihre legale Arbeitsmöglichkeit fürchten mussten.
Stand Juli 2025 sitzen 38 Medienschaffende aufgrund ihrer Berufstätigkeit in belarussischen Gefängnissen.
Der Zustand der permanenten Erschütterung ist für unsere Medien zur Norm geworden
Gerade jetzt müssen die Medien aufgrund all dieser kombinierten Faktoren innovativ sein, um ihren Status quo zu bewahren, erklärt Belikova. „Natürlich gibt es Medienschaffende, die den Beruf verlassen. Andere haben sich bereits ein dickes Fell zugelegt. Nach den Neuigkeiten aus den USA hatten wir eine große Versammlung, die Lage war ernst, die Perspektiven unklar … Aber als der Schock überwunden war, sagten alle: ‚Ist wohl dein erstes Mal?‘ Resignation ist zwar da, aber sie wirft dich nicht in einem Maße aus der Bahn, dass du nicht mehr weitermachen kannst.“
Normal ist eine solche Situation aber keinesfalls, betont die Expertin. Solcher Stress kann zu extremem Burnout, Angstzuständen und Depressionen führen. In einer Studie zu den Bedürfnissen von Beschäftigten der Medienbranche, die die Belarussische Journalistenvereinigung (BAJ) im Dezember 2024 vorstellte, gab die Hälfte der Medienschaffenden an, psychische Probleme zu haben. „Natürlich, alle würden gern mal wenigstens ein Jahr lang stabil auf zwei Beinen stehen, aber der Zustand der permanenten Erschütterung ist für unsere Medien zur Norm geworden. Das schlägt sich im Gesundheitszustand der Menschen nieder, in der Häufigkeit von Burnout-Erkrankungen und Depressionen … Gleichzeitig macht es aber auch stark.“
Maryja Martysievič, geboren 1982 in Minsk, gehört zu den bekanntesten Stimmen der zeitgenössischen belarussischen Poesie. Sie hat mehrere Bücher vorgelegt und wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, auch für ihre journalistische Arbeit und ihre Übersetzungen aus dem Polnischen, Tschechischen, Englischen oder Ukrainischen. In ihren lyrischen Arbeiten macht sie sich immer wieder auf die Suche nach den Ursprüngen ihrer Landsleute, wie in ihrem Langgedicht Sarmatia.
Auch in ihrem Essay für unser Projekt mit der S. Fischer Stiftung Spurensuche in der Zukunft begibt sie sich in die Tiefen belarussischer Rätselhaftigkeit und dekodiert sie mit den Mitteln der poetisch-literarischen Wahrheitserkundung.
Die Zukunft des Menschen muss man in seiner Vergangenheit suchen. Ich pflichte allen bei, die das sagen. Und vor allem teile ich Benedict Andersons Ironie, wenn er sagt, wann immer eine Gemeinschaft sich für eine Nation hält, beginnt sie – die Neugeborene – sofort Beweise für ihre archaische Abstammung auszugraben. Je archaischer diese Abstammung, desto selbstbewusster und glücklicher fühlt sich die Nation.
Die Vergangenheit der Menschheit ist eine Projektion ihrer Gegenwart. Das habe ich mir selbst ausgedacht, und viele stimmen mir darin zu. In Anlehnung an Yuval Noah Harari, der sagt, dass die Menschheit vernünftiger und geistreicher war, als alle noch Nomaden waren und sich gesund nomadisch ernährten, kommt nun schon meine eigene Ironie ins Spiel. Ein durch Jagd erbeutetes Steak würzten die Menschen mit selbst gesammelten Wurzeln. Die Menschheit hat also nur verloren, seit sie sich am Rande der Weizenfelder auf ihre vier Buchstaben gesetzt hat.
Mein Lieblingsinstrument aus dieser Oper ist die Neandertalerflöte. Ein Bärenknochen mit runden Löchern, gefunden in Divje Babe in Slowenien. Man sagt, sie wurde im Paläolithikum gefertigt. Andere primitive, vorhistorische Flöten sind neuer, sie wurden schon vom Homo Sapiens hergestellt. Die Flöte von Divje Babe beweist: Zu Unrecht brachten die Wissenschaftler früher die Neandertaler in Verruf – sie verfügten bereits über höhere Fähigkeiten und hatten ihre eigene, schöne Musik.
Heute sind Wissenschaftsblogger den Neandertalern gegenüber vorsichtig und wohlwollend eingestellt – wie vielen einstigen Minderheiten gegenüber, die von der Sapienshorde ausgelöscht wurden. Was heißt es, Europäer zu sein? Die Antwort auf diese bei den Denkern des 20. Jahrhunderts populäre Frage lautet im 21. Jahrhundert: 2 % Neandertaler-Genom in der DNA. Wie stellt man fest, welchen Anteil man hat? Im 21. Jahrhundert ist das gar keine Frage mehr.
Vor Kurzem hat die Genealogie-Plattform MyHeritage ihre DNA–Datenbanken aktualisiert, was die Kunden aus Belarus stark verwunderte. Bei jedem von ihnen verringerte sich der Anteil osteuropäischer Gene und der Prozentsatz in der Spalte baltisch wuchs. Bei vielen erschien ein neuer, schockierender Vermerk: balkanisch. Im Familiengedächtnis ist in der Regel nichts über Vorfahren vom Balkan gespeichert. Die Plattform gibt folgende verallgemeinerte Zahlen für die DNA von Menschen aus Belarus an: 90,6 Prozent – baltisch; 88,7 Prozent – osteuropäisch; 64,6 Prozent – balkanisch; 7,2 Prozent – aschkenasisch–jüdisch; 5,3 Prozent – finnisch.
Die jüdischen Gene – das ist noch ganz frische Geschichte, das Mittelalter in Belarus. Die anderen Zahlen hauten mich aber vom Hocker. Das war „alles schon bei den Simpsons“: Ich hatte davon in den Texten des Historikers Mikola Jermalowitsch gelesen.
Jermalowitsch war ein belarusischer sowjetischer Dissident, der für die Schublade historische Abhandlungen über die Herkunft der Nation und der Staatlichkeit verfasste. Neben Uladsimir Karatkewitsch war er genau der Gräber nach Beweisen für unser belarusisches Altertum, über die Anderson gewitzelt hatte. Jermalowitsch Buchreihe Starashytnaja Belarus (dt: Belarus im Altertum) wurde erst herausgegeben, als es möglich geworden war – zu Beginn der 1990er. Bis dahin hatten Zeitschriften Angst, seine Hypothesen zu drucken, die den in der UdSSR üblichen Postulaten von der osteuropäischen Dreifaltigkeit Belarus, Ukraine und Russland diametral entgegenstanden. Dieses Postulat entstand zu Zeiten des Russischen Imperiums, um dessen Dimensionen mit Ideologie zu untermauern, und wird aus irgendeinem Grund bis heute in der Welt als Wahrheit hingenommen.
Jermalowitsch ignorierte diese konstruierte These und beschloss, in seinen Arbeiten die Herkunft der Belarusen detailliert zu erforschen. In seine Abhandlungen muss man sich genauso einlesen, wie man sich in eine lateinamerikanische Telenovela einsehen muss, um zu verstehen, wer wessen Bruder, Schwiegervater oder uneheliche Enkelin ist. Denn bis zum 9. Jahrhundert zogen auf dem Gebiet des heutigen Belarus die Stämme mehr oder weniger ständig hin und her. Sie kamen, ließen sich nieder, dann standen sie wieder auf und zogen weiter, verdrängten und verschoben andere Stämme. Hauptsächlich waren es Balten: Litauische und Lettländische, – und Slawen: Kriwitschen, Dregowitschen, Radimitschen. Es gab noch viele andere Stämme, aber sie blieben Nebenschauplätze in der Serienhandlung. In die Lehrbücher des unabhängigen Belarus schafften es nur die genannten.
Jermalowitsch analysierte zwei zentrale Quellen: archäologische Daten und Orts– und Gewässernamen.
Mit den Slawen, so schrieb Jermalowitsch, passierte laut diesen Daten etwas Seltsames. Sie „saßen“ in aller Ruhe im zukünftigen Belarus, aber als sie im 5. Jahrhundert von den Balten vertrieben wurden, zogen sie in den Süden: jenseits der Donau, auf den Balkan. Ein Jahrhundert später überlegten sie es sich wieder anders und kehrten zurück. Auch die Finno-Ugren zogen in einem breiten Streifen durch Belarus.
Für einen Moment schien mir, die künstliche Intelligenz, die die DNA der Belarusen analysiert, habe ebenfalls Mikola Jermalowitsch gelesen.
Wegen Jermalowitsch wäre ich fast Historikerin geworden. Ich gewann die Silbermedaille bei der Kreisolympiade im Fach Geschichte. Ich wusste nicht, dass Jermalowitsch noch kurz zuvor ein Dissident gewesen war. Und erst recht konnte ich mir nicht vorstellen, dass Jermalowitsch keine historische Ausbildung hatte. Er war Philologe und unterrichtete belarusische Literatur.
Bei der Kreisolympiade sollten wir zum einen Konzepte der Abstammung der Belarusen beschreiben, zum anderen die Ursachen der Kubakrise. Über die Abstammung der Belarusen hatte ich nur Jermalowitsch gelesen (damals lasen ihn alle), über die Kubakrise hatte ich einen Dokumentarfilm gesehen. Heute ist mir klar, dass ich die Medaille wegen meiner literarischen Fähigkeiten bekam. In meinem Essay hing die Existenz der Belarusen als Nation nämlich am seidenen Faden – aber dann wendete sich das Blatt: Die einen slawischen Völker waren rechtzeitig von jenseits der Donau zurückgekehrt und hatten sich in der richtigen Proportion mit dem Balten gemischt, den anderen (den Kriwitschen) hatte man in Nowgorod eine Klatsche verpasst, sodass sie zurückkamen und Polazk gründeten – wodurch für die Belarussen doch noch alles gut ausging. Dieselbe Dramaturgie hatte in meiner Nacherzählung auch die Kubakrise. Als Antwort auf die in der Türkei aufgetauchten amerikanischen Raketen steuerten sowjetische Flugzeugträger schnurstracks auf Kuba zu: „Jeden Moment konnte der rote Knopf gedrückt werden …“
Bei der nächsten Etappe der Olympiade, dem Stadtausscheid, lasen offensichtlich weniger romantische Historiker meine Essays, denn die Nacherzählung der Jermalowitsch-Bücher brachte keine Punkte.
Als ich die DNA-Auswertungen belarusischer Blogger und meiner Facebook–Freunde sah, traute ich meinen Augen nicht. Nehmt das, Skeptiker! Mikola Jermalowitsch hatte recht. Die Genetiker bestätigen es.
Meine Euphorie währte bis zu dem Tag, an dem ein anderes Gentechniklabor – Colossal Biosciences – von der Wiedererweckung des archaischen Schattenwolfes (Aenocyon dirus) berichtete. Die Forscher hatten das Genom der längst ausgestorbenen Art genommen und auf der Grundlage des heutigen Wolfes restauriert.
Wissenschaftsblogger erläuterten sofort, dem Labor sei es dabei nicht um historische Genauigkeit gegangen. Sie sorgten sich weniger um die Wissenschaft als um das Äußere. Die Gentechniker hatten sich zum Ziel gesetzt, die neuerschaffenen Tiere möglichst genau den Wesen anzugleichen, die in Game of Thrones gezeigt worden waren.
Das bestärkte mich also wieder in der Vermutung, dass MyHeritage Belarus im Altertum von Mikola Jermalowitsch verarbeitet hatte. Ich las noch einmal die Seiten über die Ethnogenese und stellte mit Schrecken fest, dass Jermalowitsch auch von Wölfen geschrieben hatte! Einige Stämme unserer Vorfahren hießen Wilzen (Wölfe) oder Lutizen (Grausame). Natürlich kam im Buch auch das bekannte Herodot-Zitat vor, dass in unseren Gefilden einst die Neuri lebten, die sich „jedes Jahr für eine paar Tage in Wölfe verwandelten“.
Es kostet nicht wenig, aber man kann heutzutage seine DNA auf das Genom der Neandertaler testen lassen. Den Prozentsatz balkanisch-baltischer Gene in der eigenen Spirale zu bestimmen, ist hingegen einfacher. Seit der Aktualisierung der Datenbasis bei MyHeritage gibt es sogar Ermäßigungen. In wie vielen Jahren wird es wohl möglich sein und wie viel wird es kosten, bei sich den Anteil wölfischer Gene bestimmen zu lassen? Wie lange wird die Wissenschaft brauchen, um unsere Abstammung von den Fischen nachzuvollziehen?
Ende der 1980er Jahre wollten junge Belarusen durch die Bank weg Historiker werden. Zu Beginn der 2020er studieren alle jungen Belarusen Biochemie.
Ich habe kein Profil bei MyHeritage oder ähnlichen Anbietern. Selbst jetzt nicht, wo es Ermäßigungen gibt. Die Genlabore schicken ihre Testkits nicht nach Belarus. Mit einer belarusischen Geldkarte kann man ihre Dienstleistung nicht bezahlen. Ich weiß nicht, ob Patrycja aus Białystok und ich wirklich einen gemeinsamen Urgroßvater haben und in welchem Verhältnis Pawel aus Wien zu mir steht, dessen Großvater nur einen Wald von meinem entfernt geboren wurde. Wir haben uns im Internet über unseren Familiennamen gefunden. Mir ist noch immer ein Rätsel, warum die eine Linie meiner Vorfahren im Dorf Turki (Türken) genannt wurde und ob ich vielleicht daher meine dunklen Augen und Haare habe. Ich habe Angst, dass ich es nicht mehr schaffen werde, in das Dorf an der russischen Grenze zu fahren und dem Verwandten ein Wattestäbchen in den Mund zu stecken, dessen Biomaterial uns erzählen kann, ob wirklich einer unserer Vorfahren aus Preußen stammte. Und wenn dem so ist, woher genau? In welcher Hafenstadt an der Ostsee findet sich der entfernte Onkel, der mir seinen Stammbaum in der genetischen Datenbank nicht freigibt, weil ich „Kommunistin“ oder „Russin“ bin? Oder werden mir andere Stereotype der Gegenwart den Zugang zur Vergangenheit verschließen, und damit auch zur Zukunft? Belarusen, die ihre DNA testen ließen, berichten auch von solchen Fällen.
Einmal erzählte ich in der traditionellen Unterrichtsstunde Woher wir stammen die Familienlegende über die Turki. Die Lehrerin musste lachen und sagte, ich hätte diese Geschichte abgekupfert. Kurz darauf fand ich heraus, dass Michails ScholochowsStiller Don mit dieser Legende beginnt.
Deshalb werde ich irgendwann diesen Test machen. Ich will alle Familiengeschichten in Zahlen verkörpert sehen.
Ich denke, die massenhafte DNA-Testung wird bald die globalen Identitäten verändern. Schon heute beeinflusst sie die Lebensgestaltung der Menschen. Facebook-Freunde beschließen, Finnisch zu lernen oder fahren in den Urlaub nach Ljubljana, nachdem sie auf MyHeritage ihre Wurzeln entdeckt haben.
Unsere Vergangenheit ist die gegenwärtige Projektion auf Netflix oder Youtube. Bei Jermalowitsch stolpere ich über das Verb „gingen“. Er verwendet es, weil es schon der Verfasser der Nestorchronik tat. Die Slowenen „gingen her und ließen sich nieder“. Die Kriwitschen „gingen her und ließen sich nieder“. Inwiefern ist „gingen her“ eine Metapher? Gingen sie, wie bei den Matrosen die Ladung geht und nicht schwimmt, oder bei den Lokführern die Züge pünktlich gehen, statt zu fahren? Ich habe vor Augen, wie das Volk Israel durch die Wüste geht, denn die Bibel wurde mehrfach verfilmt. Aber wie gingen die Slawen? Das Rad war schon längst erfunden. Fuhren sie also auf Wagen? Oder fuhr auf den Wagen ihr Hab und Gut, während sie nebenherliefen? Erwiesen ist, dass sie sich auf Flüssen fortbewegten. Fuhren sie auf Flößen? Mit Booten? Oder zogen sie, wie die Treidler an der Wolga auf Ilja Repins Gemälde, die Boote an Seilen? Jermalowitsch schreibt nichts darüber, und andere Autoren habe ich nicht gelesen.
Gingen sie in großen Gruppen, oder zu zweit, oder als Familie? Wenn zum Beispiel eine junge Frau und ein junger Mann heirateten, zogen sie dann zu zweit den Fluss hinauf, bauten ein Haus, bekamen Kinder und kehrten später zurück, um die Eltern zu sich zu holen? Oder hatten die Stämme Kundschafter und Gesandte? Wie genau verdrängte ein Stamm den anderen? Gingen die Stämme in Marschkleidung oder trugen sie Paradefibeln, Gürtel, Ringe und Anhänger in Entenform, wie Archäologen sie in Grabhügeln fanden? Damit die Fremden, denen sie begegneten, an diesen Zeichen ihre Herkunft erkennen konnten?
Nein, DNA-Tests können nicht alle meine Fragen beantworten. Mit der Radiokarbonmethode könnte es vielleicht klappen.
Alle, die wissen wollten, wie ich die Zukunft von Belarus sehe, haben vielleicht eine andere Perspektive von mir erwartet – mehr aktuelle Prognosen, frische News, ein Gemälde der Stimmungen im Land. Vielleicht sollte ich erklären, dass Rus und Russland nicht dasselbe ist. Sagen, was ich über Belarus‘ Aussichten auf der Weltkarte denke. Wird es Krieg oder Frieden geben? Freiheit oder Diktatur? Soll eine Frau oder ein Mann an der Spitze des Landes stehen? Wie viele Menschen sprechen heute Belarusisch? Aber dafür bin ich wohl nicht die passende Autorin. Ich denke, Jermalowitsch gefällt mir, weil ich auch ich so eine versessene Vergangenheitsgräberin bin, über die Anderson sich lustig macht.
Eine wichtige Nachricht in Belarus war im letzten Jahr, dass Archäologen bei Ausgrabungen in der alten Wallburg Stary Mensk Hüttenkonstruktionen aus Eichenstämmen aus dem 9. Jahrhundert entdeckt hatten. Sowohl die Machthaber, die die Repressionen absichern, als auch die Repressierten teilten dieselben Emotionen: Wir haben uralte Wurzeln, noch im Altertum, wir hatten hier einst eine Hauptstadt, die handelte, kämpfte und mit Knochenfiguren Schach spielte. Eine Schachfigur aus der Ausgrabung wird in einer Vitrine gezeigt, eine Kopie kann man im Museumsshop kaufen. Ebenso können Belarusen, die nach Slowenien fahren, um ihren balkanischen Wurzeln nachzuspüren, im Nationalmuseum in Ljubljana die Neandertalerflöte betrachten und sich im Souvenirgeschäft eine Kopie kaufen.
MyHeritage ist eine israelische Seite, deshalb gibt es in der aktualisierten Datenbank 15 ethnische Gruppen von Juden. Genetische Plattformen sind häufig auf Kunden spezialisiert, die aus Europa nach Israel oder in die USA emigriert sind und dafür bezahlen, die Wege ihrer Vorfahren über die Kontinente nachzuvollziehen. Die Belarusen sind eine eher unerwartete Nutzergruppe, an der man sich kaum ausrichtet. Die Belarusen sind an eine konkrete Fläche auf der Landkarte gebunden. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass ein Machtwechsel oder gar der Verlust der Unabhängigkeit daran etwas ändern würde. Denn diese Umrisse wurden von Wissenschaftlern definiert: Linguisten, Ethnografen, Publizisten. Und nun auch von Biochemikern.
Wie schon ein Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, Jauchim Karski, in seiner Abhandlung Belorusy (dt. Die Belarusen), beginnt Mikola Jermalowitsch das Gespräch über den Ethnos mit einem Topos. Belarus – das ist ein historisches Charakteristikum, das auf ein geografisches Charakteristikum zurückgeht. Die Belarusen heute, das sind jene, deren Vorfahren „hergingen und sich niederließen“ in Wäldern und an Flussquellen. Belarus ist dort, wo die Wälder sind, und seine Grenzen sind von allen Seiten durch Sümpfe markiert. Karski schreibt sogar, dass die großen Umsiedlungen der Völker im Russischen Imperium nichts an dieser Gewohnheit änderten. Die Belarusen erkannte man ihm zufolge daran, dass sie selbst in Steppenregionen Bäume fanden und sich zwischen ihnen niederließen. Daher erhielten sie auch diese Bezeichnung von ihren Nachbarn: Paleschuki [zu Palesje, Wald- und Sumpflandschaft]. Das sind Menschen, für die offene Landschaften Gefahr bedeuten. Eine Skyline aus Wald hingegen gibt ihnen das Gefühl von Geborgenheit.
Jede Gegenwart hat ihre eigene Version der Vergangenheit. Im 20. Jahrhundert erklärten Historiker und Ideologen den Namen Belaja Rus damit, dass unsere Gebiete nicht von Tataren erobert wurden, und die Haare der Menschen deshalb weiß wie Leinen und die Religion christlich blieben. Meiner Ansicht nach ist das eine sehr eugenische Deutung. Heute sind die Historiker zu Karskis geografischem Ansatz zurückgekehrt. „Weiß“ hieß auf der indoeuropäischen Weltkarte „oben“. Die Weiße Rus ist der Teil des Territoriums der Rus, der an den Oberläufen der Flüsse liegt. Dwina, Dnepr, Njoman und Wolga – die Ursprünge dieser Flüsse bezeichnet Karski als die Urheimat der Kriwitschen, die man im Russischen Reich später dann als Belarusen bezeichnete.
Jetzt habe ich mich also zu diesem Gedanken durchgegraben. Je mehr Bäume entlang der Flüsse und Seen stehen – desto mehr Belarus.
Ich habe kein Profil bei MyHeritage, aber ich bin Teil des belarusischen genetischen Strangs. Einmal brachte ich DNA–Tests nach Vilnius, die Verwandte einer Freundin in Polazk gemacht hatten. Die Freundin darf nicht nach Belarus reisen, da ihr Gefängnis droht. Den Test schickten sie mir aus Polazk per Post. Die Schachtel mit dem biologischen Material war sicher an einer Packung Dörrfisch befestigt. Solche Geschenke halten die Familie über Grenzen zusammen. „Ich habe den Test auf der Post abgeholt“, schreibe ich der Freundin, „er wird aber vielleicht ergeben, dass deine Polazker Vorfahren Amphibienmenschen waren.“
Und vielleicht wird das ein sehr exaktes Ergebnis sein.
Minsk, April 2025
Maryja Martysievič (geboren 1982 in Minsk), Lyrikerin, Übersetzerin, Publizistin, Organisatorin literarischer Projekte. Erste Schritte als Herausgeberin mit den Buchreihen Amerykanka und Hradus. Autorin von sechs Lyrikbänden: Цмокі лятуць на нераст: эсэ ў вершах і прозе [Drachen fliegen zur Brut: Essays in Lyrik und Prosa] (2008), Амбасада: вершы свае і чужыя [Die Botschaft: Eigene und fremde Gedichte] (2011), Сарматыя [Sarmatia] (2018), Як пазбыцца Маматута [Wie werde ich das Mamatut los] (2020), Водападзел [Wasserscheide] (2022) und Хагі Вагі [Huggy Wuggy] (2025). Sie erhielt zwei Preise für Сарматыя [Sarmatia] und 2019 den Publikumspreis des Václav-Burian-Preises in Olomouc (CZ). Maryja Martysievič lebt in Minsk und Bronnaja Hara.
ANMERKUNG DER REDAKTION
Weißrussland oder Belarus? Belarusisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
Alexander Lukaschenko hat in den vergangenen 30 Jahren ein hochzentralisiertes und -personalisiertes Machtgefüge geschaffen, in dem praktisch keine wichtigen Entscheidungen ohne ihn getroffen werden können. Dabei ist der belarussische Machthaber schon 70 Jahre alt. Die Frage, wie eine Nachfolge aussehen könnte, ist also zentral für das Überleben des von Lukaschenko geschaffenen autoritären Systems.
In einem Projekt der Initiative Center for New Ideas analysieren Ryhor Astapenia und Pavel Matsukevich mögliche Szenarien eines Machttransits. Welche Gruppierungen und Organe könnten im Falle von Lukaschenkos Aus die Macht übernehmen? Welche Rolle spielen Lukaschenkos Söhne dabei? Im Interview mit dem Online-Portal GazetaBy gibt Astapenia Antworten.
Gibt es überhaupt einen Anlass, über Machtwechsel zu sprechen, abgesehen von der Tatsache, dass Alexander Lukaschenko schon über siebzig ist? Das Alter muss ja nicht nichts bedeuten, Robert Mugabe hat in Simbabwe noch mit 93 regiert …
Es liegt auf der Hand, dass Lukaschenko so lange wie möglich regieren will. Andererseits zeugen seine Taten – die Gründung der Allbelarussischen Volksversammlung und die sich mehrenden Gespräche darüber, dass „es Zeit für mich ist, abzutreten“ – davon, dass das Thema auf der Agenda steht.
Natürlich sollte man dem fahrenden Zug nicht vorauseilen und behaupten, dass es schon morgen einen neuen Präsidenten geben könnte. Aber die Frage wird zunehmend aktuell. Deshalb sprechen wir im Titel unserer Studie vom „Beginn des Machttransits“.
Hat der Prozess aus Ihrer Sicht wirklich begonnen oder wurden die Mechanismen wie die Volksversammlung nur für alle Fälle geschaffen? Vielleicht kommen sie nie zum Einsatz, wenn sich Lukaschenkos Gesundheit nicht gerade rapide verschlechtert?
Ich denke, Lukaschenko will nicht zu viele Signale aussenden, dass er abtreten will. Das würde bei verschiedensten Akteuren viele Emotionen, Hoffnungen und Erwartungen auslösen. In Russland, in der belarussischen politischen Emigration und auch innerhalb des Landes würden unnötige Gärungsprozesse beginnen.
Betrachtet man aber alle Veränderungen in Kombination – die Verankerung von Sicherheitsgarantien für Expräsidenten in der Verfassung, die Erwähnung einer neuen politischen Klasse in der Neujahrsansprache und den Beschluss, dass die Macht nach dem Tod des Staatsoberhauptes auf die Volksversammlung übergeht – dann kann man vom Beginn des Machttransits sprechen.
Lukaschenko verändert sich sichtlich, man sieht das gut, wenn man ihn mit Fotos aus früheren Jahren vergleicht. Es ist praktisch unausweichlich, dass es innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre einen neuen belarussischen Staatschef geben wird.
Lukaschenko hat in 30 Jahren Herrschaft gezeigt, dass er niemandem die Macht übergeben will
Gemeinsam mit ihrem Co-Autor Pavel Matsukevich, Senior Researcher am Center for New Ideas, unterscheiden Sie zwei Szenarien für den Machtwechsel: den geplanten und den unkontrollierten. Wie realistisch ist es denn, dass Lukaschenko, wenn er nicht gerade im Sterben liegt, jemand anderem die Macht übergibt?
Lukaschenko hat in 30 Jahren Herrschaft gezeigt, dass er niemandem die Macht übergeben will. Es wäre aber naiv zu denken, dass wir alles über ihn wissen. Es gibt viele Faktoren, die seine Entscheidungsfindung beeinflussen können. Deshalb würde ich hier sagen: fifty-fifty.
Lassen Sie uns noch ein wenig spekulieren. Soziologen stellen gern Fragen wie „Wen würden Sie wählen, wenn morgen Präsidentschaftswahlen wären?“. Wenn der Machtwechsel morgen in seine aktive Phase überginge, auf wen würde Lukaschenko setzen?
Wenn wir uns den Aufbau des Systems anschauen, sehen wir, dass es einen bestimmten Kreis von Menschen gibt, die schon vergleichsweise lange an der Macht sind und sich eine bedeutende Rolle erarbeitet haben: Nikolaj Snopkow (erster Vizepremier – GazetaBy), Alexander Turtschin (Premierminister), Dmitri Krutoj (Chef der Präsidialverwaltung und andere. Das ist die Gruppe, die das Funktionieren der Wirtschaft und im Prinzip auch des Staates verantwortet.
Natürlich gibt es die Familie (darunter fasst die Studie Alexander Lukaschenkos Verwandte und Vertraute zusammen, auch seine Kinder, die ebenfalls über große Ressourcen verfügt. Berücksichtigt man Lukaschenkos monarchische Befugnisse, wäre es naiv, eine Erbfolge beim Machtwechsel auszuschließen, also eine Übergabe vom Vater an den Sohn (höchstwahrscheinlich an den ältesten). Das könnte vom politischen System als ausreichend logische Entscheidung akzeptiert werden und auch für den Kreml legitim klingen. Sobald man aus einem weiteren Personenkreis auswählen muss, wächst Russlands Einfluss auf den Prozess.
Häufig wird auch über die Silowiki als potenzielle Anwärter auf die Macht gesprochen. Ihre Chancen würden im Fall einer Krisensituation wachsen – bei einem scharfen Konflikt mit einem anderen Staat oder Massenprotesten innerhalb von Belarus. Andererseits haben diese Menschen nie die Verantwortung für das Funktionieren des Staates getragen. Die Silowiki sind in diesem System Bonusempfänger, keine Gestalter.
Genau das halte ich für die kontroverseste Schlussfolgerung in Ihrer Studie: „Im Falle eines Machtwechsels werden sie [die Silowiki] sich wahrscheinlich mit der neuen Macht verbünden, sofern der Wechsel aus dem System entsteht, und nicht selbst die Macht beanspruchen.“
Die Silowiki haben tatsächlich nie selbst gestaltet, aber was hindert sie daran, dieselben Technokraten anzuheuern (oder sie zu zwingen ihnen zu dienen), die jetzt für Lukaschenko arbeiten? Zudem gibt es das russische Modell, wo eine Elwira Nabiullina vorgeblich die Probleme für Wladimir Putin löst.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit würden die Silowiki zudem Unterstützung aus Russland erhalten, insbesondere im Fall eines unkontrollierten Machtwechsels.
Hier ist es wichtig, die aktuell bestehende Hierarchie zu betrachten, in der die Silowiki etwas niedriger stehen als die Leiter der Regierung und der Präsidialverwaltung. Der Logik nach kommen die Silowiki also nicht an erster Stelle, wenn die Macht von oben nach unten weitergegeben wird. Natürlich kann man die Situation, wenn Alexander Lukaschenko abtritt, nur schwerlich nicht als Krise bezeichnen [lacht], aber dennoch haben die Vertreter in der Verwaltungsvertikale mehr Möglichkeiten. Zudem spielt es eine Rolle, dass diese Leute schon länger im System sind. Bei den Silowiki gibt es häufiger Rotation.
Ich stelle eine naive Frage: Wenn Viktor Lukaschenko der wahrscheinlichste Nachfolger ist, warum hat sein Vater dann schon mehr oder weniger eine Million Mal gesagt: „Meine Söhne werden keine Präsidenten“?
Es ist eine gewisse Koketterie zu sagen „ich werde das nicht tun“. Warum sollte man das Thema des Machttransits an die Kinder eher als nötig aufbringen? Wenn die Entscheidung getroffen wird, wird sie umgesetzt. Im aktuellen Rechtssystem findet sich für alles ein Weg, wenn nötig über Nacht. Jetzt darüber zu sprechen, würde mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen. Es würde nur Leute verprellen.
Tatsächlich ist es schwer vorstellbar, dass Lukaschenko für einen geplanten Machttransit einen Präsidenten mit einem anderen Familiennamen im Blick hat. Als er das Amt des Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees abgeben musste, ging der Titel an seinen Sohn: vermutlich der Logik des aktuellen Machthabers folgend, dass es in Belarus keine Präsidenten mit einem anderen Familiennamen geben darf.
In Ihrer Studie heißt es: „Es ist ungewiss, welche Institutionen für den Machttransit genutzt werden. Es gibt zu viele Optionen dafür.“ Welche Varianten gibt es denn, außer die formal existierenden „Präsidentschaftswahlen“?
In Anbetracht der Tatsache, dass die Machthabenden die Gesetzgebung beliebig ändern und sie im Prinzip sogar ignorieren können, gibt es sehr viele Varianten. Zum Beispiel könnte ein neuer Präsident von der Allbelarussischen Volksversammlung gewählt werden.
Ein Machttransit könnte auch einfach nach dem Recht des Stärkeren entschieden werden
Es gibt das Szenario, dass das Land im Fall des Todes von Alexander Lukaschenko vom Sicherheitsrat regiert wird. In diesem Fall würde aber der Vorsitzende des Rates der Republik der Nationalversammlung zum formalen Staatsoberhaupt. Das ist aktuell kein Silowik. Und auch das ist ein Argument für die These, dass die Silowiki im Moment des Machtwechsels keine dominante Position innehaben werden. Man kann sich noch viele weitere Varianten ausdenken. Alles in allem hängt es aber nicht von den Institutionen ab. Der politische Wille entscheidet. Wenn es ihn gibt, wird es Veränderungen geben. Wenn nicht, dann nicht.
Selbst wenn man einmal annimmt, dass Alexander Lukaschenko plötzlich stirbt, dann müsste die Macht eigentlich auf den Sicherheitsrat übergehen. Das heißt aber nicht, dass es so kommt. Es kann auch einfach alles nach dem Recht des Stärkeren entschieden werden.
Inwiefern können personelle Veränderungen auf der politischen Führungsebene Ihre Studienergebnisse beeinflussen – aktuell und zukünftig?
Wir beobachten natürlich die Personalwechsel und die Änderungen in den Strukturen, wer geht, wer dazukommt. Einen Tag nach Erscheinen unserer aktuellen Studie wurde Wladimir Karanik [bis 22.05.25 Vizepremier] in die Akademie der Wissenschaften versetzt und Natallja Petkewitsch aus der Präsidialverwaltung [als neue Vizepremier] in die Regierung geholt. Das System modernisiert sich zusehends. Eine Person ist gegangen, die selbst nach den Maßstäben der herrschenden Klasse eine verknöcherte Weltsicht vertritt.
Wir verfolgen also diese Personalwechsel, beforschen aber eher das Gesamtsystem als einzelne Personen. Nicht immer gibt es genügend Informationen, um eine konkrete Ernennung oder Entlassung erklären zu können. Aber wenn man die Situation langfristig beobachtet, kann man bestimmte Tendenzen erkennen, vor allem eine Verjüngung des Personals. Es kommen kompetentere Leute an die Macht.
In Ihrer Studie wird die Opposition nur ganz am Rande erwähnt. Dennoch, was können die demokratischen Kräfte tun, um eine relevante Rolle zu spielen, sobald die aktive Phase des Machttransits beginnt?
Der zentrale (man könnte auch sagen: der einzige) Hebel der Demokraten wird der Westen sein. Vorausgesetzt, der Westen will, dass die Opposition in irgendeiner Form am politischen Leben in Belarus teilnimmt, kann er vermutlich Einfluss auf die herrschende Klasse ausüben. Deshalb muss man darauf hinarbeiten, dass der Westen sich für Veränderungen in Belarus starkmacht.
Sergej Tichanowski sitzt vor zahlreichen Mikrofonen. Immer wieder redet er sich in Rage, zeigt sich kämpferisch, dann bricht er wieder in Tränen aus. Fünf Jahre Haft haben den bekannten Oppositionspolitiker, der Ende Mai 2020 im Vorfeld der damaligen Präsidentschaftswahlen verhaftet und später zu 18 Jahren Haft verurteilt worden war, deutlich gezeichnet. Der hochgewachsene Mann ist auf 79 Kilogramm abgemagert. Seine Tochter habe ihn nicht erkannt, schluchzt er. Seine Frau sitzt neben ihm und ergreift das Wort: „Das ist dein Papa, mussten wir ihr erklären.“
Seit vergangenem Samstag, dem 21. Juni 2025, ist Tichanowski frei. Nach einem Besuch des US-Sonderbeauftragten für die Ukraine und Russland, Keith Kellogg, bei Alexander Lukaschenko in Minsk werden er und 13 weitere politische Gefangene aus der Haft entlassen, darunter auch der Journalist Ihar Karnei und die bekannte Italianistin Natalja Dulina. Die Freude ist überwältigend. In Vilnius, wohin die Freigelassenen gebracht werden, versammeln sich spontan exilierte Belarussen, in den sozialen Medien schreiben viele Freudenbekundungen.
Am gestrigen Sonntag geben Tichanowski und seine Frau Swetlana Tichanowskaja, die Anführerin der Demokratiebewegung, eine gemeinsame Pressekonferenz. Auf die Frage eines Journalisten, ob er jetzt die Oppositionsbewegung übernehmen würde, sagt er: „Swetlana ist die Anführerin. Ich werde keinesfalls irgendwelche Ansprüche erheben.“
Warum setzte Lukaschenko einen der bekanntesten Oppositionspolitiker nun auf freien Fuß? Welche Interessen haben die USA an einer Normalisierung der Beziehungen zu dem Regime in Belarus, die bereits seit Monaten im Raum steht?
Seit Juli 2024 hat Lukaschenko rund 350 politische Gefangene entlassen, es befinden sich aktuell aber noch 1150 in Gefängnissen und Lagern.
dekoder hat zwei Auszüge aus aktuellen Analysen von Alexander Klaskowski und Artyom Shraibman aus Pozirk und Carnegie übersetzt, die auf diese Fragen eingehen.
Pozirk: „Warum hat Lukaschenko ausgerechnet Tichanowski freigelassen?”
2020 schlug Tichanowski wie ein Meteorit in die belarussische Politik ein, rüttelte die Wählerschaft auf, die durch das Regime und die Covid-19-Pandemie am Boden lag. Mit selbstbewusstem Populismus und Durchsetzungsvermögen erinnerte der Blogger an den frühen Lukaschenko. Und wurde in dessen Augen schnell zu einer gefährlichen Figur. Zudem nutzte Tichanowski den bissig satirischen Slogan „Stoppt die Kakerlake!“ als Anspielung auf den schnurrbärtigen Regenten. Dazu das kaum weniger beleidigende Symbol eines Pantoffels zur Bekämpfung des bösartigen Insekts.
Also hatte das Regierungsoberhaupt mit der Inhaftierung des Bloggers nicht nur einen gefährlichen politischen Rivalen ausgeschaltet, sondern sich außerdem für diese Erniedrigung gerächt. Überhaupt gab es in dem Verhältnis des Regierenden zu Tichanowski viel Persönliches. Doch jetzt handelt Lukaschenko nach dem Motto „Persönlich ist da nichts, alles reines Geschäft“.
Warum hat Lukaschenko von den wichtigen Personen ausgerechnet Tichanowski freigelassen? Außer dem Wunsch, den Amerikanern zu gefallen, erkennen hier einige einen schlauen Plan:
Schließlich ist Tichanowskis Ehefrau Swetlana Tichanowskaja die derzeitige Anführerin der demokratischen Kräfte. Sie hat immer wieder bekräftigt, dass sie nur an Stelle ihres inhaftierten Mannes in die Politik gegangen sei. Doch nun ist der wieder in Freiheit – in Litauen, genau wie sie. Kommt es da nicht vielleicht zu Verstimmungen, lauten Streitigkeiten über „Wer ist denn nun der Herr im Haus“ und zu einem Machtkampf in der Opposition? Und wenn die Frau dem Mann gegenüber nachgibt, werden die Mitstreiter der Frau ihn, den Mann, dann einfach akzeptieren?
Zudem ist damit zu rechnen, dass ein Flügel der Opposition an Selbstvertrauen gewinnt und aktiver werden wird, und zwar der, der flexiblere Positionen gegenüber den Machthabern in Belarus vertritt. Das Argument dieses Flügels besteht darin, dass die Sanktionen kein Selbstzweck und kein Fetisch seien, sondern schlicht ein Instrument. Und wenn die Aussetzung oder Unterbrechung solcher Maßnahmen einen Effekt zeige, wie jetzt die Freilassung von politischen Häftlingen, dann müsse man dieses Instrument genau so nutzen.
Außerdem verficht dieser Flügel die moralische Maxime, dass das Leben und die Freiheit der Menschen höchste Priorität haben und nicht zugunsten von Parolen eines vollständigen Siegs über das Regime beiseitegeschoben werden sollten. Ein Sieg zeichne sich derzeit nicht ab, die Menschen aber werden gefoltert und sterben hinter den Gefängnismauern. Es reicht zu sehen, wie Tichanowski, der ehemalige Mitarbeiter von Radio Svaboda Ihar Karnei und andere Freigelassene heute aussehen, um zu erkennen, was die Gefangenschaft ihnen angetan hat.
Pressekonferenz von Sergej Tichanowski und Swetlana Tichanowskaja (belarussisch/russisch und englisch) am 22. Juni 2025
Carnegie: „Hat die EU Interesse an einem Dialog mit Lukaschenko?”
Der Besuch von Trumps Sondergesandtem Keith Kellogg in Belarus war nur möglich, weil er gleich zwei entgegengesetzte Interessen bediente: Einerseits will die Trump-Administration angesichts der festgefahrenen Friedensverhandlungen um die Ukraine die regionale Diplomatie wiederbeleben. Andererseits versteckt Lukaschenko schon lange nicht mehr, dass er sich aus der Isolation der vergangenen Jahre befreien und eine wichtigere Rolle in der Region spielen will. Dafür ist er zu Zugeständnissen bereit, erst recht, wenn nur die allerleichtesten von ihm gefordert werden – die Befreiung politischer Gefangener.
Trotz des offensichtlichen Erfolgs bleibt der Ausgang der Gespräche auch nach Kelloggs Abreise im Dunkeln. Klar, Minsk hat noch genügend Gefangene zum Verhandeln und die USA können weitere Delegationen schicken oder gar ihre Botschaft in Belarus wiedereröffnen. Aber letztlich kann der Prozess nicht nur auf diplomatischen Gesten beruhen. Früher oder später wird Minsk einen Abbau der Sanktionen erwarten. Doch da gibt es eine Hürde – die strengere Haltung der Europäischen Union. Ohne die Aufhebung der europäischen Sanktionen reicht das Abschwächen der amerikanischen nicht, um die wichtigsten Handelswege für Belarus freizugeben.
Bisher gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass die EU oder ihre führenden Länder, den USA folgend, wieder einen Dialog mit Lukaschenko suchen wollen. Die dienstlichen Kontakte der Europäer mit Minsk sind nicht abgebrochen, beschränken sich aber auf die Ebene von Diplomaten- und Expertentreffen. Das ist eindeutig zu wenig für die EU-Führungsriege, um sich in der Sanktionsfrage plötzlich auf Washingtons Seite zu schlagen.
Die Position der EU ist hier, wie auch im Fall Russland, härter und unflexibler. Und die Beziehungen zu Belarus sind keine so bedeutende Frage, dass, falls beispielsweise Ungarn oder die Slowakei eine Lockerung vorschlügen, aber Polen und Litauen sich dem verweigerten, irgendwer ernsthaft versuchen würde, Letztere umzustimmen.
Sergej Tichanowski zeigt auf der Pressekonferenz in Vilnius (Litauen) am 22. Juni 2025 ein Foto von sich vor der fünfjährigen Gefangenschaft. / Foto: Stanislaw Schablowski/Zerkalo
Es sei auch daran erinnert, dass sich die Beziehungen zwischen Minsk und dem Westen gerade zu verbessern schienen, als der Sommer 2020 kam. Seitdem hat sich das Regime verhärtet, eine Rückkehr zu 2019 ist unmöglich. Und es ist unklar, ob und was Washington jetzt auf dem belarussischen Weg erreichen kann.
Aber etwas ist in Bewegung geraten. So Gott will, werden weitere Menschen aus dem Gefängnis kommen, die dafür leiden, dass sie jene Rechte einforderten, die das Regime allen Belarussen genommen hat.
Vor 30 Jahren, am 7. Juni 1995, kam es zu einer Sensation: Belarus, das in den postsowjetischen Umbruchsjahren auch mit der neu erlangten fußballerischen Unabhängigkeit zu kämpfen hatte, schlug die Niederlande mit 1:0. Der überraschende Sieg fiel in eine Zeit der massiven politischen Krise in Belarus, deren Auswirkungen bis heute spürbar sind: Der junge Lukaschenko machte sich daran, das politische und letztlich auch das fußballerische System an sich zu reißen.
Für das Online-Portal Pozirk gelingt es dem Journalisten Wjatscheslaw Korosten, die Geschichte des Fußballwunders mit der des belarussischen Fußballs und den politischen Umwälzungen in einem packenden Text zu verbinden.
Ein für Belarus bis heute unerreichtes Fußballwunder: 1995 gelang ein Sieg über die Nationalmannschaft der Niederlande. / YouTube-Screenshot
Mitte der 1990er Jahre war eine Zeit globaler struktureller Umwälzungen für den europäischen Fußball. Die UdSSR und das sozialistische Jugoslawien zerfielen, die kommunistische Tschechoslowakei wurde zweigeteilt. Eine ganze Reihe neuer Staaten stand bei der UEFA Schlange. Sie wollten so schnell wie möglich ihre Mitgliedschaft in trockene Tücher bringen und ihre Nationalmannschaften und Vereine auf internationaler Ebene legalisieren – um dann uneingeschränkt an offiziellen Turnieren teilzunehmen und damit ihre nationale Souveränität zu untermauern.
Dies gelang dem belarussischen Fußballverband (ABFF) genau Mitte der 1990er Jahre, und so ging die Nationalmannschaft erstmals unter der Schirmherrschaft der UEFA bei der Qualifikation zur Europameisterschaft 1996 an den Start. Wie erwartet waren die Debütanten aus Belarus nicht herausragend erfolgreich und belegten in ihrer Gruppe nur den vierten Platz. Die ersten Plätze in der Tabelle belegten die Tschechen, die Niederländer und die Norweger, während die Kleinstaaten Luxemburg und Malta auf den untersten Rängen landeten. Dennoch gelang es der belarussischen Mannschaft, in ganz Europa für Aufsehen zu sorgen – mit ihrem Sieg über die Niederlande.
In dem Spiel fiel nur ein einziges Tor. Eingefleischte Fans erinnern sich noch deutlich: Pjotr Katschuro passt den Ball zu Sergej Gerasimets, der schiebt ihn am geistesabwesenden Edwin van der Sar vorbei und schießt ihn im spitzen Winkel ins leere Tor. Es war die 27. Minute, die Gastmannschaft hatte über eine Stunde Zeit, um mit den Gastgebern gleichzuziehen. Doch dank der effektiven Taktik von Trainer Sergej Borowski konnten die Belarussen den Vorsprung halten – zur Freude der 37.000 Zuschauer, die sich an diesem Abend im Dynamo-Stadion in Minsk versammelt hatten.
Die 1:0-Führung für Belarus in der 27. Minute durch Gerasimets (der Moderator flippt auf Belarussisch völlig aus).
Sieg am Tag, an dem die weiß-rot-weiße Staatsflagge abgeschafft wurde
Als Gerasimets’ Tor fiel, war Belarus noch ein Staat mit Überresten von Demokratie. Ein Jahr zuvor hatte Alexander Lukaschenko die Präsidentschaftswahlen gewonnen, aber er hatte noch nicht die gesamte Macht in seinen Händen konzentriert. Im Grunde wurden damals zwei Schritte in Richtung Absolutismus unternommen: eine Prügelattacke auf die hungerstreikenden oppositionellen Abgeordneten des Obersten Sowjets, die sich gegen das Referendum zur Staatssymbolik, gegen die Einführung der Zweisprachigkeit und die Ausweitung der Befugnisse des Präsidenten ausgesprochen hatten, und natürlich gegen das Referendum selbst. Bis zur Ein-Mann-Herrschaft war es noch ein weiter Weg.
In dieser Volksabstimmung vor 30 Jahren wurden unter anderem die neuen alten Staatssymbole gebilligt – Flagge und Wappen in sowjetischer Tradition. Das Pahonja sowie die weiß-rot-weiße Fahne verloren ihren offiziellen Status – und das just vor dem Spiel gegen die Niederländer. Das Referendum wurde am 14. Mai 1995 abgehalten. Zwei Tage später vollzog Iwan Titenkow, Lukaschenkos Wirtschaftschef, seinen berühmten Loyalitätsakt: Er kletterte persönlich auf das Dach des Regierungsgebäudes, riss die weiß-rot-weiße Flagge herunter, die dort gehisst war, und schnitt sie in Stücke.
Am 7. Juni – genau am Tag des Spiels zwischen Belarus und den Niederlanden – unterzeichnete Lukaschenko schließlich ein Dekret über die neue Staatssymbolik. Doch von der Theorie zur Praxis ist es ein weiter Weg, und das Weiß-Rot-Weiß verschwand nicht sofort aus dem offiziellen Gebrauch. So war auch die TV-Übertragung des Fußballspiels an diesem Tag von den weiß-rot-weißen Nationalfarben geprägt. Das ABFF-Emblem auf den Trikots der Spieler war ebenfalls in diesen Farben gehalten, und natürlich fanden sich auf den Tribünen genügend Fans mit der Flagge, die von den Behörden de jure bereits abgeschafft war.
Damals war das noch möglich. Zu Repressionen gegen die historischen Symbole ging Lukaschenko erst später über, und ein Vierteljahrhundert später wandert man dafür ins Gefängnis. Heute gilt die rot-weiß-rote Flagge tatsächlich als „extremistisches“ Symbol, was einer der Gründe dafür ist, warum das Staatsfernsehen im Voraus dafür sorgen wird, dass die dem Regime verhassten Farben dem Zuschauer nicht ins Auge fallen.
Verfall des belarussischen Fußballs
Der Weg, den der belarussische Fußball seither zurückgelegt hat, ist erstaunlich. Die Nationalmannschaft hat es zwar noch nie in die Endrunde einer Welt- oder Europameisterschaft geschafft. Im postsowjetischen Raum ist das aber bisher nicht nur Russland und der Ukraine gelungen, sondern auch Lettland, Georgien und Usbekistan, das sich gerade erst ein Ticket zur Weltmeisterschaft 2026 erspielt hat.
Erfolge feierte dafür die Jugendmannschaft. Drei Generationen (2004, 2009 und 2011) stürmten die EM, die Jüngsten gewannen sogar die europäische Bronzemedaille. Das ermöglichte ihnen etwas noch nie Dagewesenes: die Teilnahme an den Olympischen Spielen, die 2012 in London ausgetragen wurden. Auch belarussische Vereine hatten ihre Glanzmomente, allen voran der BATE Baryssau. Zwischen 2008 und 2016 nahm die Mannschaft regelmäßig an den Gruppenrunden in der Champions und Europa League teil. In dieser Zeit wurde in Baryssau ein modernes Stadion gebaut; Real Madrid und FC Barcelona, Chelsea und Arsenal, Juventus und AC Milan, Paris Saint-Germain und LOSC Lille reisten nach Belarus. Bayern München und AS Rom konnte BATE Baryssau auf dem heimischen Platz sogar schlagen.
Manche Spieler machten im europäischen Fußball von sich reden. Witali Kutusow wurde mit viel Pomp von BATE Baryssau verabschiedet zum bereits erwähnten AC Mailand eskortiert, Sergej Gurenko ging zu AS Rom, Alexander Gleb spielte für Arsenal und Barcelona.
Doch all das ist vorbei. Ganz langsam wurde der belarussische Fußball schlechter und schlechter, es kam zum Verfall. Und heute muss man feststellen: Die Nationalmannschaft ist in der Weltrangliste auf das Ende der ersten Hundert abgerutscht und hegt längst keine Ansprüche mehr weder auf EM noch auf WM; die Vereine träumen nicht mehr von der Champions und Europa League und freuen sich höchstens über einen seltenen Einzug in die Gruppenphase der drittklassigen Conference League; die Spieler werden nicht mehr von den besten westlichen Teams umworben, ein Vertrag irgendwo in Griechenland, Ungarn oder in der zweiten russischen Liga gilt als Erfolg.
Auch der Fußball zahlt die politischen Rechnungen
Auch der Fußballverband hat in dieser Zeit eine Negativentwicklung durchlaufen, die – wenig überraschend – parallel zur staatlichen verlief.
Bis 1999 wurde die Belaruskaja Federazija Futbola (ABFF) von dem demokratisch gewählten Fußballfunktionär Jewgeni Schuntow geleitet. Doch je mehr Lukaschenko seine persönliche Macht ausweitete, desto größer wurde sein Einfluss auf verschiedene Lebensbereiche der Belarussen, und es ist wenig überraschend, dass es eines Tages auch den Fußball traf. Seit über 25 Jahren werden die Chefs des Verbandes de facto auf Geheiß des Herrschers ernannt. Auf den Vorsitzenden des Staatlichen Komitees für Luftfahrt Grigori Fedorow folgte der Staatssekretär des Sicherheitsrates, General Gennadi Newyglas, dann der stellvertretende Ministerpräsident und künftige Leiter der Entwicklungsbank Sergej Rumas, daraufhin der Parlamentsabgeordnete und Artillerieoberst Wladimir Basanow und schließlich der ehemalige Leiter des regionalen Exekutivkomitees von Witebsk Nikolai Scherstnew.
Weil die UEFA-Statuten es einem Staat untersagen, sich in die Angelegenheiten der jeweiligen nationalen Verbände einzumischen, stand der belarussische Fußball Ende der 1990er Jahre am Rande der internationalen Isolation. Lukaschenkos Druck auf Schuntow mit dem Ziel seines Rücktritts war so offensichtlich, dass man ein unzweideutiges Signal aus dem Westen sandte: So kann man seine Mitgliedschaft in der UEFA verlieren. Die Situation wurde irgendwie gelöst, man zog die entsprechenden Schlüsse, und nun erfolgt die Entlassung der ABFF-Chefs stets nach demselben unfehlbaren Schema: „auf eigenen Wunsch“. In der Regel beschließen die Wahlgremien des ABFF eine solche von oben verordnete Rotation einstimmig.
Genau so wurde just Scherstnew nach nur zwei Jahren im Amt von seinem Posten entfernt – das ist grade mal die Hälfte der offiziell vierjährigen Amtszeit. Unabhängigen Medien zufolge hatte ein verlorener Machtkampf im Apparat gegen den Sportminister Sergej Kowaltschuk zu dem „eigenen Wunsch“ geführt, der am 1. Juni „in Erfüllung“ ging. Gleichzeitig wollte man den regimetreuen Scherstnew nicht vor den Kopf stoßen und versetzte ihn auf den gut bezahlten Posten des stellvertretenden Leiters der Präsidialverwaltung. Medienberichten zufolge soll der Schützling des Ministers Jewgeni Bulaitschik, der Leiter der Abteilung für Sport und Tourismus des Minsker Regionalexekutivkomitees, nun den Vorsitz des ABFF übernehmen.
Staatsbeamte, Banker, Luftfahrtexperten, Generäle und Oberstleutnants – das sind die Leute, die seit vielen Jahren für den Fußball zuständig sind. Aus diesem Grund wurde das Haus des Fußballs, in dem der Verband seinen Sitz hat, eine Zeitlang ironisch als „Haus der Offiziere“ bezeichnet. Man kommt kaum umhin, diese Personalpolitik mit den miserablen Ergebnissen der belarussischen Mannschaften in Verbindung zu bringen.
Ein vergessener Held
Der Sieg der Belarussen über Holland ist so lange her, dass sich vieles radikal verändert hat. So darf Holland beispielsweise offiziell nur noch Niederlande genannt werden. Das Dynamo-Stadion wurde mehrfach umgebaut. Die jüngsten Baumaßnahmen 2018 kosteten umgerechnet fast 200 Millionen Dollar. Doch selbst das reichte offenbar nicht aus, um das Bedürfnis des Landes nach einem angemessenen Stadion für die Nationalmannschaft zu befriedigen, und so bat Lukaschenko niemand geringeres als Xi Jinping um weitere Millionen – für den Bau einer entsprechenden Arena.
Der Vorsitzende der Volksrepublik China rückte das Geld heraus. Das Nationalstadion in der Nähe des Wanejew-Platzes in Minsk wurde sechs Jahre lang gebaut und erst kürzlich fertiggestellt. Lukaschenko bezeichnete den Bau als ein „Geschenk aus China“. Am 10. Juni [2025] spielte die belarussische Nationalmannschaft dort zum ersten Mal, und zwar gegen die russische Mannschaft, die für alle Wettbewerbe gesperrt ist [das Spiel ging 4:1 an Russland – dek]. Auch das ist sehr symbolträchtig.
In 30 Jahren hat der Dauerherrscher den belarussischen Sport in den Status eines internationalen Parias geführt. Der Fußball bleibt zwar die seltene Ausnahme, die nicht von der Isolation betroffen ist, aber auch er muss die politischen Rechnungen bezahlen. Nach der skandalösen Zwangslandung eines Ryanair-Flugzeugs mit dem Blogger Roman Protassewitsch in Minsk sprach die UEFA ein Verbot aus, offizielle Spiele unter ihrer Schirmherrschaft in Belarus durchzuführen. Und so sind die belarussischen Mannschaften seit nunmehr vier Jahren gezwungen, für ihre Heimspiele Stadien im Ausland anzumieten, beispielsweise in Ungarn, Serbien oder Aserbaidschan. Wie lange das Nationalstadion deshalb faktisch leerstehen wird, kann heute niemand sagen.
In den vergangenen Jahren haben die Teilnehmer des Spiels gegen die Niederlande ihre aktive Karriere beendet und sind merklich gealtert. Einige von ihnen ereilte ein tragisches Schicksal, so auch den Helden des legendären Spiels Sergej Gerasimets. Nach dem Ende seiner Spielerkarriere lebte der Ex-Fußballer in St. Petersburg, wo er als Trainer arbeitete. Der gebürtige Kyjiwer mit belarussischem Pass unterstützte während der Ereignisse 2020 offen die Proteste in seiner zweiten Heimat. Er nannte die Ergebnisse bei den Präsidentschaftswahlen eine „Farce“ und empörte sich über die Polizeigewalt auf den Straßen. Am 26. September 2021 starb er überraschend im Alter von 56 Jahren. Die Gründe wurden nie offiziell bekannt gegeben, aber es gab Vermutungen, dass sein Tod mit dem Fußball in Verbindung stehen könnte. An jenem Abend stand Gerasimets’ Mannschaft in St. Petersburg vor einem entscheidenden Spiel, was für den Trainer eine große nervliche Belastung darstellte.
Das runde Jubiläum des Sieges über die Niederländer in Belarus könnte aus noch einem anderen Grund von offizieller Seite übergangen werden: aufgrund der unliebsamen staatsbürgerlichen Haltung des Schützen des einzigen, siegreichen Treffers. Wenn dem so wäre, würde es wohl niemanden wundern.
Fünf Jahre nach Beginn der Massenproteste sind immer noch fast 1200 politische Gefangene in belarussischen Gefängnissen und Lagern interniert. Die Haftbedingungen werden von ehemaligen Häftlingen und NGOs als unmenschlich bezeichnet. Mindestens sieben politische Gefangene sind seit 2020 verstorben.
Um diesem Schicksal zu entgehen, hat sich der Regimekritiker Alexander (Sascha) mit Ehefrau und Tochter zur Flucht entschieden. Diese geriet zu einem lebensgefährlichen Abenteuer, das die Familie durch mehrere Länder führte. Jewgeni Kornejewez hat ihre Geschichte für das Online-Portal Mediazona Belarus aufgeschrieben.
„Sie können unsere echten Namen benutzen. Von unserer Familie lebt nur noch Saschas Mutter. Meine Mutter haben sie bis zum Infarkt getrieben. Als wir weg sind, kamen ständig die Silowiki: ‚Wir schnappen sie uns [deine Kinder] und sperren sie ein, sie werden eh zurück nach Belarus abgeschoben, sie sind erledigt.‘ Die haben lauter schlimme Sachen über uns gesagt, ihr Angst gemacht, und nochmal Angst. Das hat ihr Herz nicht mitgemacht. Drei Tage Koma und … ich konnte nicht einmal zur Beerdigung fahren. Zwei Jahre ist sie jetzt schon tot. Und wir haben nur noch eine Mutter für uns beide. Und zu ihr kommen sie auch“, erzählt Natalja.
Als einziges Erinnerungsstück an ihre Mutter ist Natalja eine Tscheburaschka-Puppe geblieben. Die Belarussin hatte gerne gestrickt, und Nataljas Mann Alexander hatte seit seiner Kindheit von einem Tscheburaschka-Kuscheltier geträumt. „Er hatte diese fixe Idee: Ich will Tscheburaschka“, erinnert sich Natalja. Da strickte ihre Mutter ihm ein Kuscheltier zum Geburtstag. „Er kommt zu ihr, und sie sagt zu ihm: ‚Hier, Sascha, für dich.‘ Er hatte sogar Tränen in den Augen. ‚Meine Schwiegermutter hat mir Tscheburaschka geschenkt, die immer bei mir bleiben wird.‘“
Im November 2022 musste Sascha mitten in der Nacht aus Belarus fliehen, indem er den Njoman überquerte. Er packte seine Sachen in einen Rucksack, Tscheburaschka steckte er in einen Plastikbeutel und befestigte ihn an einer Schnur. Als Alexander am litauischen Ufer ankam, bemerkte er, dass das Stofftier weg war. „Ich zog an der Schnur, und die Plastiktüte schwamm in Richtung Belarus davon. Ich dachte nur: ‚Tscheburaschka. Den hat meine Schwiegermutter doch für mich gestrickt.‘ Ich schwamm zurück. November. Ohne Tscheburaschka geh ich nicht ins Exil!“
Sascha kehrte um, fand das Kuscheltier und schwamm wieder nach Litauen. Danach irrte er zwei Stunden lang nass durch den Wald und suchte die Grenzbeamten. Jetzt begleitet Tscheburaschka das Ehepaar quer durch Europa.
Festnahme in Belarus
Früher lebte Natalja mit ihrem Mann Sascha in Hrodna. Sie hatten ein großes Grundstück inmitten von Seen gepachtet, bauten eine Ferienanlage auf, züchteten Fische und veranstalteten regelmäßig Angelwettbewerbe. Vor seiner Verhaftung, erinnert sich Sascha, hatten oft Beamte aus Hrodna bei ihnen Urlaub gemacht. „Ich konnte den Verwaltungsleiter der Oblast persönlich anrufen, wenn es ein Problem gab. Wir hatten fangfrischen Fisch, Grillplätze, auf denen die Abgeordneten sich ganz umsonst besaufen konnten. Deshalb war ich praktisch ‚unantastbar‘. So läuft das in diesem Business.“
Im Pandemiejahr 2020 organisierte das Ehepaar eine Spendenaktion und stattete das Stadtkrankenhaus Nr. 2 in Hrodna mit Schutzausrüstungen aus. Als im selben Jahr die Wahlkampagne begann, trat Alexander dem Stab von Viktor Babariko bei und sammelte Unterschriften. Dann unterstützten sie Swetlana Tichanowskaja. Bei Videoaufnahmen von ihren Auftritten in Hrodna kann man Alexandra und Natalja in der ersten Reihe sehen.
Zwei Jahre später, 2022, holten Alexander die Silowiki.
„Er fuhr auf den Markt, um Fisch zu verkaufen. Da holten sie ihn. Ich habe ihn mehrmals angerufen, er drückte mich immer weg – geht nicht dran, ruft nicht zurück. Das kannte ich nicht von ihm. Ich habe einen Freund angerufen: ‚Juri, kannst du mal auf dem Markt vorbeischauen, mit Sascha stimmt was nicht.‘ Und er: ‚Vielleicht ist sein Telefon nass geworden oder so.‘ Aber ich war mir sicher, dass etwas passiert sein musste.“
Alexanders Auto mit dem Fisch blieb auf dem Markt stehen, später holten es Bekannte ab. Alexander war von sechs bewaffneten Silowiki festgenommen worden, die aus einem Polizeibus gesprungen und über ihn hergefallen waren. Sie brachten ihn ins Revier, wo er die Nacht verbringen musste, und nach drei Tagen Gewahrsam kam er in U-Haft.
„Sie bedrohten mich nicht, aber die Demütigungen nahmen kein Ende. In U-Haft saß ich mit einem Straftäter, für den es sein viertes Mal war. Ein ganz normaler, ruhiger Typ um die 40. Er sagt zu mir: ‚Ich war sechs Jahre draußen, jetzt habe ich was geklaut, und es fühlt sich an wie nach Hause kommen.‘ Er schlief, rauchte, aß. Und ich durfte nur am Tisch sitzen und die Pritsche nicht mal angucken. Aufs Klo mit Handschellen. Die Hände auf dem Rücken. Wie soll man das machen? Und die sitzen da, glotzen und lachen: ‚Dir fällt schon was ein! Auf die Demos hast du‘s ja auch irgendwie geschafft!‘“
Die Flucht nach Georgien über Russland
Währenddessen wurde ihre Wohnung durchsucht: Alles auf den Kopf gestellt, die elektronischen Geräte konfisziert. In der U-Haft überreichte die Ermittlerin Alexander eine Anklageschrift wegen Beleidigung Lukaschenkos. „‚Hier‘“, sagte sie. ‚Gegen dich liegen ein Haufen Beweise vor. Entweder du spuckst ein Scheißgeständnis aus, oder ich brumm dir das alles auf und hol deine Alte ab.‘ So reden die mit einem. Eigentlich eine attraktive Frau. Aber die Art zu reden – einfach nur abstoßend.“
Natalja musste mit ihrer Tochter, einer Studentin, mehrfach zu Verhören. Die Ermittler gaben ihnen zu verstehen, dass sie das Land nicht verlassen durften und erreichbar bleiben mussten. Auch die Ferienanlage bekam Besuch von der Staatsanwaltschaft, vom Umweltministerium und der staatlichen Fischereiaufsicht Rybnadsor. „Während ich einsaß, haben sie sich mein Business unter den Nagel gerissen. Jedes Mal wieder: Anzeige – Bußgeld, Anzeige – Bußgeld, Anzeige – mit denen zu reden war sinnlos.“
Zwei Monate nach seiner Verhaftung kam Alexander vors Gericht. Am 19. Mai 2022 wurde er zu zwei Jahren chimija (dt. Chemie) verurteilt – einer Haftstrafe im offenen Vollzug. Er durfte das Gericht auf freiem Fuß verlassen. Am nächsten Tag bekam das Ehepaar einen Anruf von jemandem, der sich als Anwalt vorstellte. Er wollte kein Geld und schlug ein Treffen vor, bei dem er sagte, er würde ihnen dabei helfen, Berufung einzulegen. Während der Bearbeitungszeit hätten sie die Möglichkeit, das Land zu verlassen.
Am 1. Juli machte sich die ganze Familie über Russland nach Georgien auf.
Der nächste Plan: Richtung Ukraine
Ihre Tochter Diana fuhr mit dem Bus, die Eltern mit dem Auto. Diana kam über die Grenze, aber Alexander und Natalja wurden nicht rausgelassen – sie fanden sich in einem russischen Lager für Personen mit Ausreiseverbot wieder.
„Zum Glück hatten wir das Geld für den Weg aufgeteilt. Insgesamt hatten wir 2000 US-Dollar. Unsere Tochter hatte 1000 dabei, die andere Hälfte hatten wir. Das Auto war auch noch ein bisschen was wert. „Wir beschlossen spontan, über Abchasien zu fahren. Panik. Wir fuhren über die Berge nach Tuapse am Schwarzen Meer. Dort redete ich mit den Taxi-Fahrern, die sagten: ‚Vergiss es. Wenn die Georgier ein Auto aus Abchasien sehen, schießen die sofort, und fragen erst dann nach dem Namen.“ Also beschloss das Paar, von Russland über die Ukraine nach Europa zu fahren, wo sie ihre Tochter treffen wollten. Sie entschieden sich für den Grenzübergang bei Belgorod.
„Ich bin quasi selbst Grenzer. War 16 Jahre in der Armee. An der Frontlinie kommt man nicht durch, da wird geschossen, alles ist vermint und so. In der Oblast Sumy ist es ruhig, kein Krieg – also wird die Grenze bewacht. Aber dazwischen, in der Grauzone, kann man durchschlüpfen. Also versuchten wir es bei Belgorod, 30 Kilometer von Charkiw entfernt. 200 Meter fehlten uns noch bis zur Grenze“, erzählt Alexander. „Und ich hab geweint: ‚Lass uns einfach hierbleiben! Nicht nach Hause fahren und auch nicht dahin‘“, ergänzt Natalja.
Diana schaffte es nach Tbilissi. Sie wollte sich ein Zimmer mieten, doch der Vermieter fing an, sie zu belästigen. Also zog sie weiter. Ziellos schlenderte sie durch die Straßen, bis sie mit einer Frau ins Gespräch kam, die ihr eine Unterkunft anbot. Nach dem ersten Monat durfte sie sogar gratis bei ihr wohnen, seitdem nennt Diana sie ihre „georgische Mama“.
In „Kriegsgefangenschaft“
Bevor sie die russische Grenze überquerten, inspizierte Alexander drei Tage lang die Umgebung, suchte auf Google Maps, sah sich alles ganz genau an. Der erste Versuch misslang – Natalja blieb im Sumpf stecken, und sie mussten umkehren. In der nächsten Nacht versuchten sie es noch mal, wurden aber von russischen Soldaten aufgegriffen.
„Sie blendeten uns, brüllten: ‚Fresse auf den Boden!‘, schossen mit MGs. Natalja wollte wegrennen, ich konnte sie gerade noch aufhalten. Wären wir geflohen, wäre das hundertpro das Ende gewesen.“ Mit einem Sack über dem Kopf wurden die Belarussen zu einem Stützpunkt geführt, jeder in einen anderen Raum. Dort mussten sie sich nackt ausziehen und wurden befragt, wie sie an die Grenze gelangt waren. Natalja erzählt, sie sind von den Soldaten schikaniert worden.
„Sie wickelten sich meine Haare um die Faust und zerrten mich daran durchs ganze Zimmer. Dann fixierten sie mich mit Handschellen an ein Bett, brachten eine Flasche, stellten sie auf den Boden und sagten: ‚Weißt du, was wir gleich mit dir machen? Wir binden dir die Beine ans Bett, holen alle unsere Kameraden und lassen sie der Reihe nach ran.‘“
„Als ich sie schreien hörte, sagte ich: ‚Ihr Schweine, ich werde euch alle finden und euch den Hals umdrehen!‘ Zwei Minuten später spuckte ich meine Zähne aus. Die haben richtig zugeschlagen. Natascha haben sie nicht verprügelt, nur an den Haaren durchs Zimmer gezerrt. Mir fehlen seitdem die unteren Zähne.“ Die Soldaten hielten das Paar bis zum nächsten Morgen fest. „Einer kommt rein und sagt: ‚Wieso liebt so ein junges Mädel einen alten Sack wie dich? Willst du zugucken, wie wir sie alle der Reihe nach rannehmen?‘“
Ausgeraubt wurden Alexander und Natalja auch. Alles Geld, das Gold – die Russen hatten ihr Auto gefunden und alles mitgenommen, was irgendwie Wert hatte. Am Morgen wurden sie gezwungen zu unterschreiben, dass sie keinerlei Beschwerden gegen die Grenzbeamten hätten. Sie bekamen von ihrem eigenen Geld 2000 Rubel [damals etwa 35 US-Dollar – dek], damit sie gleich ihre Strafe zahlen konnten, und wurden, wieder mit einem Sack über dem Kopf, zu ihrem Auto gebracht und sich selbst überlassen.
Zurück nach Moskau und nach Tscheljabinsk
Nach der „Kriegsgefangenschaft“ fuhren die beiden zu Nataljas Onkel in die Oblast Moskau. Sie erzählten ihm ihre Geschichte und begriffen, dass er sich über solche Gäste gar nicht freute. „Er war beruflich beim Militär gewesen. Den beiden Rentnern sah man an, dass sie Angst hatten. Wir blieben noch über Nacht, dann sagten wir, wir hätten Arbeit in Moskau gefunden, und reisten wieder ab.“
Alexander fielen seine Verwandten im Ural ein, zu denen er seit 30 Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Er bat Diana, auf Odnoklassniki ihre Telefonnummer herauszufinden, rief an, stellte sich vor, erklärte seine Situation, dass er momentan keine Bleibe habe, und war sehr erstaunt, als sie ihn freudig einluden. Bis Tscheljabinsk waren es zwei Tage Fahrt. Tante Alexandra überließ den Belarussen ihre Wohnung und fuhr selbst auf ihre Datscha. Alexander und Natalja wandten sich an Bysol, wo ihnen empfohlen wurde, nach Wladikawkas zu fahren und von dort aus die Einreise nach Georgien zu versuchen.
„Im September rief Russland die Mobilmachung aus. Was da in Werchni Lars los war! Die von Bysol riefen uns an und sagten: ‚Das wird nichts, Leute, vergesst es.‘ Uns ging die Kraft aus, wir hatten kein Geld mehr, nichts.“ Sie verkauften ihr Auto, um in einem Hostel zu wohnen. Mit Flyer-Verteilen verdienten sie sich das Geld für Essen: Jeden Tag 20 Kilometer zu Fuß.
„Wir ernährten uns von drei Backkartoffeln aus der Mikrowelle. Geschirr hatten wir keines, nur die Mikrowelle. Brot nur scheibchenweise. Und ein Kilo 100-Rubel-Wurst. Das ist eine Wurst, die kannst du auf den Löffel nehmen, und sie bleibt dran kleben und fällt nicht runter. Zweimal die Woche kauften wir eine Tomate, so als Leckerbissen. Und Äpfel. Wenn ich irgendwo einen Apfel pflücken konnte und wir Zucker zu Hause hatten, schnitten wir das Kerngehäuse aus, füllten Zucker ein und ab in die Mikrowelle. Das war unser Nachtisch.“
Trennung und zurück nach Belarus
So lebte das Paar bis Oktober. Im Oktober bot ihnen Bysol eine Evakuierung an, für die sie sich allerdings trennen mussten. Sie fuhren nach Moskau. Natalja bekam schnell ein Visum. Dann kam die Anweisung, nach Kaliningrad zu fliegen und dort in den Zug Richtung Minsk zu steigen. Zwei Tage später war Natalja in Kaunas, Litauen.
„Ich hatte überhaupt kein Geld mehr. Keine Kopeke, keinen Cent. Ich kam in Kaunas am Bahnhof an und konnte nicht mal auf die Toilette, weil das was kostet. Ich stand da und heulte. Ein junger Ukrainer und seine Mutter wurden auf mich aufmerksam: ‚Wieso weinen Sie denn?‘ Sie halfen mir mit dem Internet, gaben mir ein bisschen Geld und kauften mir eine Fahrkarte nach Danzig, wo meine Tochter auf mich wartete.“
Alexander bekam Instruktionen: „Bestell dir ein BlaBlaCar und fahr nach Orscha“. Die Fahrt bezahlte ihm Bysol. Eine Weile später kam eine Nachricht, er solle nach 15 Kilometern an einer Kreuzung aussteigen und sich im Wald verstecken. Das machte er. Später kam noch ein weiteres Auto. Der Fahrer fragte Alexander nach seinem Namen, ließ ihn einsteigen und fuhr mit ihm durch die Dörfer. Irgendwann erreichten sie den Stadtrand von Wizebsk, und Alexander wurde gebeten auszusteigen.
„Ich sagte: ‚Wie geht’s jetzt weiter, Alter?‘ Und er: ‚Keine Ahnung. Tschüss.‘ Und fuhr weg. Russische SIM-Karte, kein Empfang, kein Geld, dafür umso mehr Hunger. Ich traf ein paar Teenager, fragte sie nach einem Hotspot, sagte, ich sei Russe und hätte vergessen, meine SIM-Karte zu aktivieren.“ Gegen Abend meldeten sich die Fluchthelfer: Sie schickten ihm ein Taxi, das ihn zu einer Mietwohnung brachte, ließen ihm ein wenig Geld zukommen. „Ich stellte mein Zeug ab, kaufte zwei Packungen Pelmeni und Schmand und dachte: Scheiße nochmal, endlich mal sattessen!“
Nach Wizebsk erwarteten Alexander noch ein paar Stationen, etliche Wohnungen, Häuser, Datschen, bis er Mitte November eines Nachts an den Njoman gebracht wurde und hörte: „Schwimm“.
In Litauen wurde Alexander in einem Flüchtlingslager untergebracht, bekam jedoch bald die Genehmigung, in die Stadt zu fahren. Dann wurde er nach Polen überstellt, weil er ein polnisches Visum hatte, und traf dort seine Frau wieder. Während das Ehepaar auf seinen Aufenthaltstitel wartete, machten die beiden hohe Schulden, weil ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt war. Als er seine Dokumente hatte, fing Alexander an, als Fernfahrer zu arbeiten. Er nahm seine Frau mit und seinen Tscheburaschka. „Mein Tscheburaschka hat ganz Europa gesehen“, scherzt er. Jetzt sind alle Schulden abbezahlt.
Diese Woche finden in Belarus die Abschlussfeiern der wypuskniki, der Schulabgänger, statt. Dann geht es ins Arbeitsleben oder an die Universität. Der Wunsch, einen Studienplatz in der EU zu ergattern, ist groß. Allein an polnischen Universitäten studieren etwa 12.000 junge Belarussen. Die Behörden in Belarus setzen vieles daran, den Aufbruch der Absolventen in Richtung Westen zu verhindern. Gleichzeitig ist auch die russische Regierung bemüht, die jungen Leute für ein Studium in Russland zu gewinnen.
Das belarussische Online-Portal Pozirk hat mit Lehrern und Eltern in Belarus gesprochen und zeigt, wie der belarussische Staat mit Propaganda und Druck versucht, die jungen Leute im Land zu halten.
Alexandra (*alle Namen aus Sicherheitsgründen geändert) arbeitet seit 20 Jahren als Lehrerin. Was sie in ihrer Schule erlebt, beschreibt sie als absurd. Ihr zufolge könne man aus dem Nichts Kritik ernten – seitens der Schulverwaltung, der Bildungsabteilung, der Ideologen. So habe eine Ideologie-Beauftragte auf einer Veranstaltung für die Kinder eine Tasse mit einer englischen Aufschrift entdeckt und nach der Veranstaltung eine Szene gemacht. „Warum wir den Kindern ‚fremdsprachige Aufdrucke‘ präsentieren würden, hat sie gezetert“, erzählt Alexandra. Sie erinnert sich, wie vor zwei Jahren das Anschauungsmaterial aus dem Englischraum entfernt wurde, zum Beispiel Ansichtsplakate von London.
Unter besonderer Beobachtung stehen Abschlussfeiern. Die Liste der Lieder musste schon früher mit der Zensurbehörde abgestimmt werden, aber „dieses Jahr sind sie noch weiter gegangen und haben beschlossen, dass es bei der Abschlussfeier keinerlei fremdsprachige Lieder mehr geben und dass nur noch Lieder auf Russisch und Belarussisch gesungen werden dürfen. Ist das nicht absurd?“, empört sich die Pädagogin.
Marija, die Mutter eines Absolventen, sagte in einem Gespräch mit Pozirk, die Klassenlehrerin fordere die Eltern seit Februar beharrlich auf, ihr zu schreiben, wo die Kinder studieren wollen. „Das macht mich wütend, ich habe beschlossen, aus Prinzip nichts zu sagen. Ja, mein Sohn geht studieren, und zwar nicht im Ausland, sondern in Belarus, aber wieso sollte ich der Schule Rechenschaft ablegen? Er wird sein Zeugnis abholen, und damit ist seine Beziehung mit der Schule beendet. Warum müssen sie wissen, wo er studieren wird? Außerdem bin ich abergläubisch und erzähle nicht gerne von meinen Plänen, sonst werden sie vielleicht nicht wahr“, erzählt Marija.
Die Lehrerin Alexandra bestätigt, dass die Schulen für hiesige Universitäten werben, aber „nicht mit Drohungen oder Zwang, sie versuchen es auf die sanfte Tour, indem sie von den Vorteilen eines Studiums in Belarus erzählen“. Die Gymnasiasten aus der Oberstufe müssen sich ihr zufolge aktuelle belarussische Propaganda-Filme ansehen: Tschushoje nebo (dt. Fremder Himmel) und Trudnosti perewoda (dt. Übersetzungsschwierigkeiten). Der erste Film, den die Propaganda-Beauftragten als „investigative Reportage“ präsentieren, soll das harte Los der belarussischen Emigranten zeigen, unter anderem der Studierenden in Polen und Litauen. Der zweite bietet eine Bühne für junge Belarussen, die angeblich aus Unzufriedenheit mit ihrem Studium in Polen, Tschechien und Litauen nach Belarus zurückgekehrt sind.
Dieselben Filme werden auch an Universitäten gezeigt, mit anschließenden Treffen zwischen den Studierenden und den Filmemachern. So geschehen im April an der Janka-Kupala-Universität in Hrodna. Die Ankündigung auf der Internetseite des regionalen Fernsehsenders lautet: „Der Film zeigt das wirkliche Leben der Belarussen, die nach den Ereignissen 2020 emigriert sind. In Monologform erzählen sie, mit welchen Schwierigkeiten sie im Ausland konfrontiert wurden und warum sie nach Hause zurückgekehrt sind bzw. zurückkehren wollen. Der Dokumentarfilm soll Jugendlichen dabei helfen, sich eine dezidierte Meinung über die Situation zu bilden.“
Eine Studentin, die an dem Treffen teilnahm, erklärte, der Film sei „ziemlich komplex“, es sei „hart gewesen, ihn zu sehen“. „Zu sehen, wie Gleichaltrige sich für die komplett andere Seite entschieden haben und weggegangen sind. Es war wirklich hart, den Film zu schauen. Er lässt einen mit vielen Einsichten und Emotionen zurück, mit der Erkenntnis, dass jeder seinen eigenen Weg hat. Der Dokumentarfilm Tschushoje nebo zeigt, welche Folgen eine falsche Entscheidung nach sich ziehen kann“, resümiert diese disziplinierte Zuschauerin ideologisch korrekt. Ein Link zu den Filmen findet sich auf vielen Internetseiten belarussischer Schulen.
Wer sich im Ausland einschreibt, ruiniert das Rating seiner Schule
Pozirk hat mit Shanna gesprochen, deren Sohn gerade die elfte Klasse am Gymnasium abschließt. Auch hier fragt man die Kinder, wo sie studieren wollen. „Außerdem müssen die Eltern der Schule einen merkwürdigen Bericht vorlegen, in dem sie erklären, wo ihr Kind die Sommermonate bis zum Beginn des Schuljahres im September verbringen wird“, erzählt die Mutter des Elftklässlers. Schüler, die sich im Ausland bewerben wollen, verheimlichen das ihr zufolge vor der Schulleitung, aus Angst, man könnte ihnen die Ausreise verweigern. „Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, behaupten sie also, sie würden an die BGU [Staatliche Universität Belarus in Minsk – dek] gehen. In der Klasse meines Sohnes wollen die Kinder in Russland, Japan und Polen studieren, oder an russischen Hochschulen, die Ableger in Belarus haben“, erklärt unsere Gesprächspartnerin.
Die Lehrkräfte und die Leitung der Gymnasien raten nicht direkt davon ab, ausländische Universitäten zu besuchen, sondern werben stattdessen dafür, dass Belarus die beste Hochschulbildung und das Niveau anderer Länder ein- und überholt hätte. „Dazu muss man sagen, dass die Schulleitung Mitglied der Belaja Rus ist“, erzählt Shanna. Das ist eigentlich nicht weiter verwunderlich: Im Bildungswesen, und erst recht in Führungspositionen, gibt es nur noch ausgesiebte Kader. „Ein weiteres Totschlagargument der Lehrer und der Schulleitung: Man soll sich nicht im Ausland bewerben, um der Einrichtung und sich selbst nicht zu schaden. Man würde damit das Ansehen des Gymnasiums ruinieren!“, beschwert sich die Mutter des Gymnasiasten.
Wie man in das „Russische Haus“ gelockt wird
Lehrerin Natalja beobachtet eine Abwanderung der Jugend weniger nach Europa als vielmehr nach Russland. Sie meint, die Programme der Rossotrudnitschestwo arbeiteten aktiv und mit „sanftem Nachdruck“ daran, talentierte junge Belarussen zum Arbeiten in Russland zu bewegen. So sei Natalja zufolge das Russische Haus Homel aktiv dabei, belarussische Schulabgänger abzuwerben. „Rossotrudnitschestwo führt sehr viele Olympiaden, Wettbewerbe und Exkursionen für belarussische Schüler durch. Die Fahrt nach Russland ist kostenlos, die Belohnung der Gewinner der Olympiaden und Wettbewerbe sind Reisen auf die [im Jahr 2014 annektierte] Krym. Die Kinder fahren auch heute noch dahin, trotz des Kriegs in der Ukraine“, berichtet die Pädagogin.
Auf der Seite des Russischen Hauses Homel sind in der Tat lauter Bildungsprojekte und Veranstaltungen zu finden. Zum Beispiel Ein Schritt in die Zukunft mit dem Russischen Haus – eine Reihe offener Kurse mit interaktiven Spielen, Tests und Workshops nach dem Atlas der neuen Berufe, der vom Innovationszentrum Skolkowo entwickelt wurde. Das Projekt richtet sich an Schüler der achten und neunten Klassen. Des Weiteren wenden sich die Programme Hallo Russland! und Neue Generation an junge Belarussen. In deren Rahmen sollen sie „russische Großstädte besuchen, die Kultur und Geschichte des Landes kennenlernen, mit Menschen ins Gespräch kommen, an internationalen Foren, Konferenzen, Festivals und Bildungsprojekten teilnehmen“.
„Bevorzugt werden engagierte junge Leute ausgewählt, die sich bereits in Studium oder Beruf, bei verschiedenen bedeutenden Veranstaltungen, Olympiaden oder Wettbewerben hervorgetan haben. Alle Reisen sind all-inclusive“, versprechen die Organisatoren. Als Bonus gibt es Exkursionen, Seminare, Konzerte und Festivals. Die Vorteile für belarussische Absolventen: Für ein Studium in Russland benötigen sie kein Visum (in Belarus ist es im Moment sehr schwierig, an europäische Visa zu kommen, selbst studentische); es gibt keine Sprachbarriere. Dafür gibt es eine Quote, nach der belarussische Staatsbürger Anspruch auf ein staatlich gefördertes Studium haben. 2024 waren es 1300 Studierende (genauso viele wie im Vorjahr), die Anspruch auf ein Stipendium und einen Platz im Wohnheim hatten. Zudem gibt es an den russischen Universitäten keine obligatorische Zurteilung der Absolventen.
Einfache Rezepte vom Minister
Am 17. April äußerte sich Bildungsminister Andrej Iwanez in einem Kommentar gegenüber dem Staatssender Belarus 1 zur Abwanderung junger Menschen ins Ausland. Seiner Meinung nach ist das Rezept dagegen einfach: „Selbstverständlich sollten wir unseren Kindern, unseren Schulkindern und den Eltern unserer Schulkinder von den Errungenschaften unserer Bildung erzählen, denn oft sind wir bescheiden, wir sprechen nicht darüber, wir scheuen uns, sie zu zeigen.“
Der Minister ist außerdem der Meinung, dass die Belarussen in Europa eine minderwertige Ausbildung erhalten würden. So würden Absolventen polnischer Universitäten bei ihrer Rückkehr nach Belarus auf Probleme bei der Anerkennung ihrer Abschlüsse stoßen: Manchmal wären die Curricula oder die Anzahl der Unterrichtsstunden unzureichend. „Eine Überprüfung endete damit, dass nach dem Abschluss an einer polnischen Universität der prozentuale Anteil des absolvierten Programms nur knapp über 50 Prozent unseres Programms betrug. Das können wir schlecht als Hochschulabschluss anerkennen“, sagte Iwanez. Er fügt hinzu, die jungen Leute und deren Eltern würden das Bildungssystem in Belarus mit anderen Augen sehen, sobald ihnen die Fachleute erklären, dass es sich nicht um Voreingenommenheit handelt, sondern schlicht um einen Vergleich der Datenmengen miteinander.
„Ständige Kontrollen durchführen …“
Der Werbeslogan „Studiert in Belarus“ hat jedoch einen wesentlichen Haken, der sich mit dieser Regierung nicht beheben lässt: die totale, unbedingte Ideologisierung des Bildungssystems, die der Hauptgrund dafür ist, dass junge Menschen aus dem Land fliehen. „Wenn Sie immer noch Leute beschäftigen, die unsere Vorgehensweisen und unsere Politik, die Staatsideologie, nicht teilen; wenn Sie die Regimeverweigerer von gestern beschäftigen, was sagt das dann über Sie aus? Eine Frage zum Nachdenken und zur dann Entscheiden“, sagte Alexander Lukaschenko bei einem Treffen mit Mitgliedern der Hochschulrektorenkonferenz im Februar 2024.
„Es sind Ihre Studenten, die wir benebelt von westlichen Werten 2020 auf den Plätzen gesehen haben. Und der Grundstein für viele der Inhalte, die sie auf die Straßen getrieben haben, wurde leider in unseren Hörsälen gelegt“, wandte er sich an die Rektoren. Lukaschenko beklagte, dass die Jugendorganisationen und Ideologen an den Universitäten schlecht arbeiten würden: „Was ein überbordender Bürokratismus! Das gehört alles verschlankt: die Jugendorganisationen, die Gewerkschaften, die Studentenräte usw.!“ Er rief die BRSM auf, „normale, informelle“ Veranstaltungen durchzuführen.
Ein halbes Jahr später unterzeichnete Bildungsminister Iwanez den 40-seitigen didaktisch-methodologischen Brief Merkmale der Organisation der ideologischen und pädagogischen Arbeit in Einrichtungen der allgemeinen Sekundarbildung für das Schuljahr 2024/2025. Vielleicht wurde Lukaschenkos Kritik ja dort berücksichtigt und der „reinste Bürokratismus“ ausgemerzt? Pozirk hat das Dokument analysiert.
Eine der ersten Aufgaben lautet, „die bedingungslose Umsetzung des Beschlusses des Vorstands des Bildungsministeriums über die Zusammenarbeit der Bildungseinrichtungen mit den öffentlichen Organisationen der BRSM und der belarussischen Pionierbewegung BRPO zu gewährleisten“, die Qualität der ideologischen und pädagogischen Arbeit mit Studenten und Arbeitskollektiven zu verbessern und dabei besonderes Augenmerk auf die Stärkung der Staatsideologie zu legen.
Die Lehrer werden angehalten, die Schüler besser über die Ressourcen eines „konstruktiven Fokus“ zu sensibilisieren und die Lernenden weiter zu einer „respektvollen Haltung gegenüber staatlichen Symbolen“ zu erziehen. Zu diesem Zweck sollen feierliche Veranstaltungen wie das Hissen der Nationalflagge und das Singen der Hymne durchgeführt werden und „eine ständige Kontrolle über den Zustand der staatlichen Symbole in den Bildungseinrichtungen“ erfolgen. Ferner wird vorgeschrieben, die Arbeit an der „Erforschung der Fragen des Genozids am belarussischen Volk während des Großen Vaterländischen Krieges“ fortzusetzen.
In den Schulen werden „Fahnengruppen“ gebildet, in denen Schüler die Nationalflagge herein- und heraustragen sollen. In dem Methodenbrief werden die Lehrkräfte außerdem aufgefordert, sich intensiver mit diesen Gruppen zu befassen. Weil die Fahnengruppe „anständig“ aussehen soll, müssen die Lehrer „die notwendige Ausrüstung zur Verfügung stellen: Militäruniform (Paradeform), wenn sie das Recht haben, sie zu tragen, oder Businesskleidung in Schwarz und Weiß“. Verboten sind „kurze Hosen, Kniestrümpfe, Sneakers und andere Sportschuhe“. Alles ganz „normal und informell“, so wie Lukaschenko verlangt hat.
Große und kleine Sticheleien
2020 hatten sich Studenten vor allem großstädtischer Universitäten dem Protest gegen Wahlfälschungen zugunsten Lukaschenkos und Gewalt gegen die Zivilbevölkerung angeschlossen. Als die Repressionen Massencharakter annahmen, waren viele junge Menschen gezwungen, ins Ausland zu gehen. Als 2022 Russlands umfassende Aggression gegen die Ukraine begann, lösten Gerüchte über eine mögliche Mobilmachung der belarussischen Bevölkerung eine weitere Auswanderungswelle aus.
Lukaschenko behauptete mehrfach, die jungen Protestierenden seien „mit westlichen Werten gehirngewaschen“. „Wir werden Maßnahmen gegen diejenigen ergreifen, die dorthin [ins Ausland – dek] gegangen sind, um sich ausbilden zu lassen und einer Gehirnwäsche unterziehen. Ich habe dem Bildungsminister aufgetragen, mit aller Härte vorzugehen. Wenn wir schon säubern, dann richtig. Hast du deinen Abschluss an der EHU [Europäische Geisteswissenschaftliche Universität in Vilnius – dek] gemacht? Dann arbeite halt in Litauen. Mach ruhig, wir kommen schon ohne dich aus“, drohte er im August 2021.
Das Thema griff er später mehrmals auf. Seinen Worten folgten Taten: Im ganzen Land waren Polnischkurse, Fremdsprachenschulen und der private Sektor der Vorschul- und weiterführenden Bildung insgesamt von massiven Kontrollen und Schließungen betroffen. Als Reaktion darauf wurden belarussische Universitäten aus dem Bologna-Prozess ausgeschlossen, europäische Universitäten stellten ihre Austauschprogramme ein.
2022 sind die Behörden aus dem bilateralen Abkommen mit Polen über die gegenseitige Anerkennung von Hochschulabschlüssen und -graden in Wissenschaft und Kunst ausgestiegen. Damit nicht genug: 2023 wurde die Zurückstellung von der Armee für Männer, die im Ausland studiert haben, aufgehoben. Man fing an, Schulabgänger zu erfassen, die eine Apostille für die Zulassung an ausländischen Universitäten beantragten, und „Präventivmaßnahmen“ mit ihren Eltern durchzuführen. Doch weder die Schreckensfilme über das ärmliche Dasein im Westen noch die „ideologischen Aktionspläne“ mit dem Herumtragen der rot-grünen Fahne haben sich bisher auf die Statistik der Studienanfänger an ausländischen Hochschulen ausgewirkt.
Wie drüben
Nicht nur in Belarus versucht man, Abiturienten an sich zu binden. In der Republik Moldau hat das Bildungsministerium in diesem Frühjahr die Kampagne In Moldawien studieren gestartet. Doch die Methoden sind alles andere als autoritär. Man setzt auf positive Anreize: Dort wurden 350 Millionen Lei [ca. 17,6 Millionen Euro – dek] in die Infrastruktur der Universitäten investiert, es wurden 93 Millionen Lei [ca. 4,7 Millionen Euro – dek] für die Renovierung von Studierendenwohnheimen ausgegeben; es wurden Bildungsprogramme entwickelt, die an die Berufe der Zukunft angepasst sind, einschließlich künstlicher Intelligenz, Animation, Game Design, Ökonometrie, Phytobiotechnologie.
Ziel der Kampagne ist es, dass sich in der Republik Moldau im Jahr 2025 sechs von zehn Absolventen für eine Universität im Inland entscheiden. Die moldauischen Behörden haben offenbar verstanden, dass die Politik der Peitsche junge Menschen nicht aufhalten wird, aber sie vielleicht auf Zuckerbrot reagieren. Genau so schafft man Voraussetzungen für eine bewusste (anstatt die „richtige“) Wahl, die sich der Staat für seine Absolventen wünschen sollte.