• Aufstieg, Repressionen, Flucht – das Schicksal der belarussischen IT-Branche

    Aufstieg, Repressionen, Flucht – das Schicksal der belarussischen IT-Branche

    Belarus galt als „IT-Land“, der High-Tech-Sektor hatte sich rasant entwickelt. Er war der Stolz und die Hoffnung der belarussischen Wirtschaft. 2020 jedoch begann ein allgemeiner Niedergang, zunächst wegen Corona, dann wegen der Proteste, die nach den Präsidentschaftswahlen das ganze Land erfassten? Die IT-Experten waren daran aktiv beteiligt, leisteten technologische Hilfe, spendeten Gelder und nahmen an den Straßenprotesten teil.

    In den Augen der Regierung waren damit aus Hoffnungsträgern Verräter geworden. Es wurden Stimmen laut, die eine Abschaffung der Privilegien für Residenten des belarussischen High-Tech-Parks (HTP) forderten. Die Lage verschärfte sich mit Beginn des Krieges in der Ukraine, in den das belarussische Regime bekanntlich involviert ist. Die Menschen hatten Angst vor einer Mobilmachung, es folgten neue Sanktionen. Einige internationale Partner beschlossen, künftig keine Aufträge mehr nach Belarus zu vergeben. Die belarussischen IT-Firmen, die früher prosperierten, begannen ihre Mitarbeiter umzusiedeln und ihre Head-Offices ins Ausland zu verlegen.

    Wie sieht die Entwicklung in Belarus heute aus, warum und wohin wandern IT-Fachkräfte ab, und welche Zukunft hat der IT-Sektor? Ein Lagebericht von Anna Wolynez.

    Russische Version


    Entstehung der belarussischen IT-Branche und ihre Bedeutung für die belarussische Wirtschaft 

    Gewinnträchtig, erfolgreich und vielversprechend – das war in den letzten Jahren das Image des belarussischen IT- und High-Tech-Sektors. Ausgangspunkt waren Communities fähiger Ingenieure und Funktechniker und ihre in den 2000er Jahren gegründeten Firmen. Bald kamen die ersten Aufträge aus dem Ausland, die Branche setzte Steuererleichterungen für sich durch, und aus einigen Firmen wurden große internationale Unternehmen mit belarussischen Wurzeln, wie etwa Arkadi Dobkins Epam und Wiktor Kislys Wargaming.

    Für alle Unternehmen, die im High-Tech-Park (HTP) registriert sind, besteht in Belarus seit 2018 ein System von Steuererleichterungen. Es gab viele Programme und Räume zur Unternehmensentwicklung, etwa den Startup-Hub Imaguru, in dem Startups entstanden, die später weltweit bekannt wurden. Und es gab einen eigenen Investorenverband für Risikobeteiligungen. Zu den IT-Startups aus Belarus gehört beispielsweise die Firma Masquerade Technologies. Die Foto-Editing-App MSQRD, die später von Facebook gekauft wurde, war ihr Produkt. Das Startup, das die Video-App Vochi entwickelte, wurde von Pinterest übernommen. Die Investitionen in PandaDoc, einen Dienstleister für Dokumentenmanagement, lagen bereits bei mehr als einer Milliarde Euro.

    Die IT-Branche begann eine immer größere gesellschaftliche Rolle zu spielen. Crowdfunding-Plattformen sammelten Geld für soziale und kulturelle Projekte, für die der Staat keine Finanzen aufbrachte. Die IT-Community bedeutete eine äußerst wichtige Unterstützung für die karitative Medienplattform Imena („Namen“), über die Geld für soziale Organisationen gesammelt wurde, die Obdachlosen, Waisenkindern oder Menschen mit Behinderungen halfen. Im Land gab es jetzt mehr Menschen, die bereit waren, die Entwicklung der Gesellschaft finanziell zu unterstützen, etwa, indem sie beim Wettbewerb für soziale Innovationen Social Weekend als Mäzen auftraten oder andere soziale Projekte sponsorten.

    Die belarussischen IT-Kräfte erwarben sich den Ruf, eine eigene soziale Gruppe zu sein

    Unter den IT-Kräften gibt es sowohl ausgebildete Ingenieure als auch Geisteswissenschaftler. „2013 dachte man, die IT-Kräfte hätten Glück, weil sie zur Arbeit nach Amerika gehen können. Jetzt verdient man im IT-Bereich drei- bis vier mal so viel wie im belarussischen Durchschnitt, und das schon am Anfang der Karriere“, schreibt Gennadi Schupenko*. Er ist von einem Staatsunternehmen in die IT-Branche gewechselt und arbeitet seit 2016 in einer großen Outsourcing-Firma. „Allmählich hat sich die Meinung herausgebildet, dass man auch in Belarus viel Geld verdienen kann und man dafür nicht auswandern muss. Du bist ein normaler Büroangestellter und bekommst ein gutes Gehalt.“

    Die belarussischen IT-Kräfte erwarben sich den Ruf, eine eigene soziale Gruppe zu sein: reiche, schicke, moderne junge Leute. Man ging davon aus, dass sie ihr Geld im Inland ausgeben und dadurch die Unterhaltungs- und Freizeitbranche, den Bau neuer Wohnungen und das Gesundheitssystem finanzieren würden.

    Der IT-Sektor wuchs schnell: 2019 lag sein Anteil am BIP bei 6,5 Prozent. Das ist fast so viel wie die Anteile der in Belarus traditionellen Land- oder Forstwirtschaft. Das Wirtschaftsministerium hatte einen Anstieg des Anteils der IT-Branche am BIP auf 10 Prozent bis 2022/23 erwartet. Diese Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Erst kam die Pandemie, dann die Massenproteste von 2020 und 2021, an denen sich viele IT-Kräfte aktiv beteiligten. Und auch die Invasion Russlands in die Ukraine spielt eine Rolle.

    Im ersten Quartal 2022 betrug der Anteil der IT-Branche am BIP 8,1 Prozent. Immerhin bleibt der IT-Sektor die einzige Branche, deren Anteil am BIP des Landes weiterhin zunimmt. Wenn auch, wie Experten vom Zentrum für Wirtschaftsforschung BEROC feststellen, nicht mehr so stark wie früher.

    Logo der belarussischen „Cyberpartisanen“ / Screenshot
    Logo der belarussischen „Cyberpartisanen“ / Screenshot

    Wie und warum sich der IT-Sektor in Belarus verändert hat

    2020 setzten Entwicklungen ein, die die IT-Wirtschaft veränderten: die Corona-Pandemie, durch die der Arbeitsmarkt einen Wandel erfuhr, und die Präsidentschaftswahlen mit den anschließenden Protesten. Während der Pandemie deckten Aktivisten aus dem IT-Bereich Problemfelder ab, mit denen der Staat nicht zurechtkam: Sie informierten die Menschen, sammelten Geld und Schutzausrüstungen für die Krankenhäuser.

    Während des Präsidentschaftswahlkampfes halfen IT-Kräfte, eine alternative Stimmenauszählung zu organisieren, und schufen die Plattform Golos („Stimme“), die Wahlfälschungen aufzeigte. Mit der App Marsch koordinierten sich die Protestierenden. Mitarbeiter und Besitzer von IT-Firmen halfen enttäuschten Bediensteten von Sicherheitsbehörden, in den IT-Bereich zu wechseln, und sammelten über zwei Millionen US-Dollar, um Opfern von Repressionen zu helfen.

    Eine eigene Erwähnung verdienen die High-Tech-Spezialisten, die sich unter der Bezeichnung Cyberpartisanen zusammengeschlossen haben und Lukaschenko seit 2020 Widerstand leisten. Sie haben staatliche Internetseiten gehackt und dienstliche Informationen der Sicherheitsbehörden geleakt. Derzeit umfasst die Gruppe rund 60 Personen, die an der Entwicklung und dem Betrieb einer „Partisanenversion“ von Telegram arbeiten. Darüber hinaus sind die Cyberpartisanen aktiv am „Gleiskrieg“ beteiligt, bei dem Belarussen den Transport russischen Kriegsgeräts über belarussisches Territorium in die Ukraine zu verhindern versuchen.

    Nicht nur über ihre Struktur, sondern auch auf individueller Ebene spielte die IT-Community eine Rolle bei den Protesten. Viele aus der IT-Szene nahmen persönlich an den Demonstrationen teil. „IT-Kräfte und Einzelunternehmer gehörten zur Avantgarde der Proteste von 2020. Ich habe eigenhändig den High-Tech-Park aufgebaut und die Entwicklung der Einzelunternehmer gefördert. Warum gehen die jetzt alle auf die Straße?“, sagte Lukaschenko verständnislos.

    Viele von ihnen wurden verprügelt, festgenommen und verhaftet. Die Geschichte des Projektmanagers Witali Jaroschtschik* ist hier symptomatisch. Nach dem 10. August 2020 hat er mehrere Tage im Okrestina-Gefängnis verbracht, wo Menschen gefoltert wurden. Dann gab es mehrere Gerichtsverfahren wegen administrativer Vergehen. Seine Konten wurden eingefroren, weil er über die Stiftung BY_help Geldstrafen von Opfern der Repressionen bezahlt hatte. Im Strafverfahren gegen die Stiftung wurde Witali zum Zeugen gemacht. Zuerst versteckte er sich, 2021 verließ er schließlich das Land. Das alles hat sich stark auf seine Arbeit ausgewirkt: „Meine Produktivität sank um rund 80 Prozent. Von Ende April bis August 2021 habe ich kaum richtig gearbeitet. Ich brauchte fast ein Jahr, um auszuwandern und wieder Fuß zu fassen“, sagt Witali.

    Nicht nur Einzelpersonen wanderten ab, sondern auch ganze Firmen. Eines der ersten Unternehmen, das seinen Standort ins Ausland verlegte (nachdem dessen Topmanager festgenommen wurden), war das Startup PandaDoc. „Es ist unmöglich, in einem Land innovativ zu sein, in dem deine Mitarbeiter jederzeit in Geiselhaft genommen werden können“, sagt Nikita Mikado, der Gründer von PandaDoc, ganz offen.

    Belarus verliert im weltweiten wie auch im regionalen Ranking der Startup-Ökosysteme zielstrebig Punkte. Mit Beginn des Krieges in der Ukraine verschlechterte sich die Lage weiter. Noch mehr Menschen wanderten aus; die wichtigsten Gründe waren die Furcht vor Kriegshandlungen und die vor einer Mobilisierung in Belarus. In Polen wurden im Mai 2022  mehr Visa für IT-Kräfte als humanitäre Visa ausgestellt. Die meisten Firmen wollen zumindest einen Teil ihrer Teams ins Ausland verlegen, laut einer Umfrage im April 2022 bei fast 200 Firmen 74 Prozent der Unternehmen. Im November 2021 waren es noch 52 Prozent. 57 Prozent (früher 68 Prozent) der Firmen hatten ihren Sitz in Minsk .

    „Der Krieg hat eine zweite Auswanderungswelle losgetreten. Ein Bekannter von mir wollte nicht gehen, nicht einmal, als er wegen der Proteste strafrechtlich verfolgt wurde. Nach dem Beginn des Krieges jedoch sagte er, hier sei nichts Gutes zu erwarten … Jetzt ist er in Polen“, erzählt der IT-Fachmann Andrej Tester bei einem mittelgroßen Outsourcing-Unternehmen. „Es gab eine Welle kurzfristiger Emigration: Die Menschen gingen mit dem Gefühl „bloß weg hier“ und kamen dann zurück; ein Teil von ihnen bereitet jetzt jedoch einen langfristigen Umzug vor.” Andrej selbst bleibt in Belarus, wegen der Familie und der Kinder.

    Ein anderes Beispiel ist die Grafik-Programmiererin Maja* von der Firma Wargaming. Maja arbeitet seit anderthalb Jahren in der IT und plant, in die EU auszuwandern, weil die Situation in Belarus ihr Angst macht. „Sätze wie ’man muss sich den IT-Sektor vornehmen’ jagen mir Angst ein. Es gibt Gerüchte, dass ein Gesetz in Vorbereitung ist, das die Ausreise von Bürgern einschränkt. Das könnte auch IT-Kräfte betreffen. Wir wollen in Freiheit Geld verdienen und leben“, sagt sie. Die vielsagenden Zahlen: Die Netto-Abwanderung von Mitarbeitern aus dem belarussischen IT-Sektor belief sich allein in den ersten sieben Monaten 2022 auf über 10.000.

    Wohin der belarussische IT-Sektor zieht

    Die Firmen verlegen ihre Büros nach Polen, Litauen, Estland, Georgien, Usbekistan. Darunter sind Giganten wie EPAM, IBA, Wargaming, A1Q1, Startups wie Flo und Wannaby und viele andere. Angesichts der großen Nachfrage nach IT-Spezialisten helfen die Nachbarländer oft bei der Verlegung des Firmensitzes. In der Ukraine wurde das komplizierte Verfahren zum Erhalt einer Aufenthaltserlaubnis vereinfacht. Dorthin sind Hunderte, wenn nicht Tausende ausgewandert. Nach dem Beginn des Krieges sind viele wieder weitergezogen.

    Polen begann im September 2020, über das Programm Poland.Business.Harbor (PBH) Arbeitsvisa an IT-Kräfte zu erteilen, die Belarus verlassen wollen. Dadurch haben nach Angaben des polnischen Außenministeriums 44.000 Belarussen ein PBH-Visum zur Umsiedlung von Fachkräften und ihren Familien erhalten. Auch in Litauen und Lettland wurden Büros belarussischer Firmen eröffnet. Im litauischen Ministerium für Wirtschaft und Innovation fanden im März 2022 mit 60 (vorwiegend belarussischen) Firmen Verhandlungen über eine Ansiedlung statt.

    Und die, die geblieben sind? 

    „Nach unseren Beobachtungen behalten die IT-Firmen in Belarus ihren Status als juristische Person und ihren Entwicklungsstandort, verlegen aber reihenweise das Top-Management und die Mitarbeiter. Ein Grund für eine vollständige Verlegung kann die Weigerung sämtlicher westlicher Kunden sein, die Zusammenarbeit fortzuführen, oder eine Abschaffung der Privilegien für Residenten des HTP”, sagt Jelisaweta Kapitanowa, Leiterin der Vereinigung Belarus IT Companies Club.

    Ausländische Firmen lehnen die Zusammenarbeit mit Firmen in Belarus wegen der hohen Risiken ab, angefangen von der potenziellen Verhaftung von Mitarbeitern bis hin zu Sanktionen. Wegen der Sanktionen gegen Belarus sind die Geldflüsse beschränkt, das Finanzsystem ist instabiler geworden. In der Praxis kann das aussehen wie ein banales Zugriffsverbot auf ein Projekt von belarussischem Territorium aus. Darunter leidet die Branche, und die Regierung versucht, den Sektor zu erhalten und die IT-Firmen auf den Binnenmarkt auszurichten.

    Manche Unternehmen sind aber auch zufrieden mit den Arbeitsbedingungen in Belarus: „Die Risiken sind nicht höher als in anderen Ländern, sie sind akzeptabel. Die Gesetze werden ständig besser angepasst, der Verwaltungsaufwand wird vereinfacht. Das Einzige, was gleich geblieben ist: Man kann schwer etwas erreichen, wenn man mit staatlichen Stellen aneckt“, meint Dmitri Nor, Direktor von SkySoft, einem kleinen Webentwickler. „Die Bedingungen für Unternehmen waren bei uns immer recht gut. Es gibt aber eine Nuance: Man muss jetzt Gesetze einhalten und Steuern zahlen. Früher ging es nicht so streng zu, und wer dazu nicht bereit ist, muss jetzt vielleicht dichtmachen.“

    Was wird aus dem belarussischen IT-Sektor?

    „Die nähere Zukunft von Belarus als Unternehmensstandort ist äußerst traurig“, sagt in einem Interview der Unternehmer und Risikoinvestor Juri Melnitschek, der die App Mams.me entwickelt hat. Zum High-Tech-Park meint Juri, dass dessen steuertechnische Attraktivität sinke. Allerdings würden viele Unternehmen ihren Standort dort beibehalten: Der HTP umfasst über 1.000 Firmen.

    Was, außer Geld, verliert Belarus noch? Humankapital. Die besten Spezialisten wandern ab, ist aus den IT-Firmen zu hören. „Belarus gilt momentan als wenig aussichtsreicher und instabiler Standort. Schade um die Anfänger, die Startups, es gibt weniger Möglichkeiten und die Bedingungen sind schlechter. Auf dem Markt sind nur noch wenige gute Organisationen vertreten. Die Zukunft der belarussischen IT-Wirtschaft ist zerstört, und zwar, wie es derzeit aussieht, unumkehrbar“, meint Ilja*, der seit 2019 im IT-Bereich als Programmierer und als Manager in der Filiale eines großen russischen Unternehmens arbeitet.

    Der Wert der Abwandernden liege nicht nur in ihren beruflichen Qualitäten, ist Irina* überzeugt; sie ist leitende Kommunikationsexpertin in einer belarussischen Outsourcing- und IT-Firma. „Das sind Menschen, die sehr viel in ihre Bildung und Entwicklung investiert haben. Denkende Menschen, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Avantgarde in Belarus“, sagt sie.

    Rund 41 Prozent der IT-Kräfte sind abgewandert, und in einer Umfrage, die die Redaktion des Fachportals Dev.by im Sommer 2022 unter 5175 Personen durchgeführt hat, gaben weitere 25 Prozent an, dies zu planen. Unterdessen arbeiten die Belarussen im Ausland daran, sich zusammenzuschließen, eine Wirtschafts-Diaspora aufzubauen, die nach einem Machtwechsel in Belarus dorthin zurückkehren könnte.

    „Wie sind jetzt die Tendenzen? Alle ziehen aus Belarus ab, verlagern ihre Aktiva“, sagt Jaroslaw Lichatschewski, Begründer des Startups Deepdee und einer der Gründer der Stiftung BYSOL, die Opfer der Repressionen unterstützt. „Die Produktorientierung [Startups, die ein eigenes Produkt herstellen; – A.W.] ist zerstört. Niemand, der bei klarem Verstand ist, investiert jetzt in eine belarussische Firma. Das Gleiche gilt für das Outsourcing: Viele Kunden sind nicht bereit, mit Teams in Belarus zusammenzuarbeiten. Die belarussische IT-Branche wird sich – wie die Kultur, der Journalismus und das gesellschaftliche Leben – jetzt im Ausland regenerieren und entwickeln [müssen]. Die Frage ist nur, ob wir als Community bestehen bleiben oder uns in den neuen Ländern in alle Winde zerstreuen.”

    * die Namen der in diesem Beitrag genannten Personen, die in Belarus leben oder sich um die Sicherheit ihrer Familien sorgen, wurden geändert oder verkürzt.

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  • Bystro #40: Was geschah in der Nacht der erschossenen Dichter?

    Bystro #40: Was geschah in der Nacht der erschossenen Dichter?

    In der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1937 ermordete die sowjetische Geheimpolizei im belarussischen Minsk 132 Menschen, darunter viele Dichter, Schriftsteller und Intellektuelle. Seit ein paar Jahren hat sich in Belarus rund um dieses einschneidende Ereignis, an dem sich auch Fragen der belarussischen Identität, Kultur und der Repressionen unter Alexander Lukaschenko entzünden, eine neue Erinnerungskultur entwickelt, nicht als staatliche Initiative, sondern als Bewegung von unten. 

    Wie gestaltet sich diese Erinnerungskultur? Wie ist sie entstanden? Was geschah in der späten Oktobernacht von 1937? Warum hatte es der sowjetische Staat explizit auf die nationale Elite von Belarus abgesehen? Die Historikerin Iryna Kashtalian gibt in einem Bystro Antworten auf diese und andere Fragen.


    1. Was versteht man unter der Nacht der erschossenen Dichter?

    In der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1937 wurden in Minsk, im Keller des NKWD-Gefängnisses und in der Pischtschalauski-Burg, 132 Menschen erschossen und die Leichen anschließend in Kurapaty vergraben. Es waren keine einfachen Sowjetbürger, die erschossen wurden, sondern viele bekannte Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Wissenschaft, darunter auch 22 Dichter und Schriftsteller. Eine solch gleichzeitige Massenhinrichtung der belarussischen nationalen Elite hatte es zuvor noch nicht gegeben. Daher erhielt dieses tragische Datum im Großen Terror der 1930er Jahre später die Bezeichnung Nacht der erschossenen Dichter.

    Anfang 1937 hatte der NKWD der BSSR die Existenz eines „Vereinigten antisowjetischen Untergrunds“ erdacht. Im September wurde dann auf höchster Regierungsebene der UdSSR eine Liste mit 103 Personen unterzeichnet, die unter diesem Vorwand zur Todesstrafe verurteilt wurden. Lokale NKWD-Beamte ergänzten die Liste noch. Zudem wurden auch Familienmitglieder der meisten in dieser Nacht zum Tode Verurteilten mit Repressionen belegt. Schon Anfang August waren mehrere Zehntausend konfiszierte Manuskripte belarussischer Literaten, die als „Volksfeinde“ eingestuft waren, vernichtet worden. Auch in Belarus ist der Verlust eines Großteils der nationalen Elite der 1920er und 1930er Jahre sowie ihres literarischen Vermächtnisses in der historisch multinationalen belarussischen Kultur bis heute spürbar.

    2. Warum hatte es die Sowjetmacht vor allem auf die kulturelle Elite abgesehen?

    In den 1920er Jahren hatte die Sowjetmacht den Literaturschaffenden gewisse künstlerische Freiheiten zugestanden, damit sie im Rahmen der Korenisazija-Politik die proletarische Kultur entwickelten. Mit der Abkehr von dieser Politik zu Beginn der 1930er Jahre wurden populäre Vertreter der denkenden Elite zur Gefahr für den Staat, der die Gesellschaft vollständig zu kontrollieren bestrebt war. So entledigte man sich ihrer auch in dieser furchtbaren Nacht, in der bekannte Dichter und Prosaautoren, Übersetzer und Kritiker umgebracht wurden.

    Unter ihnen war der Dichter Izi Charyk, ein aktives Mitglied der Bewegung Poale Zion, Redakteur der jüdischen Zeitschrift Shtern, Autor von 13 jiddischsprachigen Büchern, verurteilt als „Mitglied einer trotzkistisch-sinowjewistischen Organisation“. Ebenfalls ermordet wurde Platon Halawatsch, führendes Mitglied der Literaturvereinigung Maladnjak und der Belarussischen Assoziation proletarischer Schriftsteller. Nach seiner Festnahme im August 1937 gestand er unter Folter seine „Schuld“ und wurde als „Organisator einer terroristischen Gruppe“ und für „Durchführung deutsch-faschistischer Aktivitäten“ verurteilt. Die Ehefrauen der beiden erhielten jeweils acht Jahre Lagerhaft als „Familienmitglied eines Vaterlandsverräters“ und wurden ins Lager des NKWD nach Karaganda gebracht.

    3. Wann erfuhr die belarussische Gesellschaft von den Morden an der Intelligenz? Welche Reaktionen gab es?

    Nicht nur die Gesellschaft, auch die Angehörigen der Erschossenen erfuhren die Wahrheit erst Jahrzehnte später. In der Sowjetzeit wurde in den Familien nur mit Vorsicht über ein solches Verschwinden von Angehörigen gesprochen. Viele Jahre lang hatten die überlebenden Zeugen der sowjetischen Verbrechen Angst von ihren Erfahrungen zu erzählen, aus Furcht, alles könnte sich mit ihren Verwandten wiederholen. Selbst nach dem XX. Parteitag der KPdSU, auf dem der Stalinkult verurteilt und die Rehabilitierung der Unschuldigen beschlossen wurde, schwieg man offiziell über die Erschießung als Todesursache. Nika Wetschar, Ehefrau des Schriftstellers Platon Halawatsch, erhielt 1956 eine Bescheinigung, ihr Mann sei 1944 im Lager an Herzstillstand gestorben. Zugang zu den Archiven des KGB erhielten die Angehörigen erst in den 1990er Jahren. 

    Anstoß für die Auseinandersetzung mit den Ereignissen dieser schwarzen Nacht lieferte 1988 die Erschließung des Ortes Kurapaty bei Minsk als Ort der Massenerschießungen während der stalinschen Repressionen von 1937 bis 1941. Leanid Marakou, Neffe des erschossenen Dichters und Übersetzers Walery Marakou, widmete sich, beeindruckt von der Geschichte seines Onkels, jahrelang der Aufarbeitung der Geschichte der Repressionsopfer und schrieb sogar das Buch, Nur eine Nacht [Tolki adna notsch, Minsk, 2006], das Ausschnitte aus dem Werk der Ermordeten und Zeitzeugenberichte über ihre letzten Lebenstage versammelt. 

    4. Wie ist das Gedenken zur Nacht der erschossenen Dichter entstanden?

    Seit dem 29. Oktober 2017 organisieren die Bewahrer des Gedenkortes Kurapaty die Aktion Nacht der erschossenen Dichter. Heute ist dieses Datum von den Belarussen als der Tag anerkannt, an dem repressierter Kulturschaffender gedacht wird. Jährlich finden dann Veranstaltungen statt: Gedenkaktionen, literarisch-musikalische Abende, bei denen die Namen und Werke der Ermordeten gelesen und biografische Vorträge gehalten werden. Ebenso wurde eine Reihe kreativer Projekte zum Thema initiiert, so etwa das Musikalbum (Ne)rasstraljanyja [Die (Un)Erschossenen] des Portals TuzinFM.by, das auf Gedichten von zwölf erschossenen Dichtern basiert.

    Die Ereignisse des August 2020 weckten in Belarus das Interesse am Thema der stalinschen Repressionen in einer breiteren Bevölkerungsschicht, die mit dem Lukaschenko-Regime unzufrieden war. Viele früher eher inaktive Bürger:innen interessierten sich plötzlich für die Geschichte der Repressionen und besuchten zum Beispiel die Vorträge in den Hinterhöfen von Minsk. Das Publikum wollte mehr über die inoffizielle Geschichte des Landes erfahren, in erster Linie über historische Parallelen bei der staatlichen Gewaltanwendung, aber auch über die belarussische Kultur des 20. Jahrhunderts als Quelle für Stolz und Leid. Viele aktive Menschen emigrierten nach 2020 aus Belarus, für sie ist der Tag heute ein Schlüsseldatum, um ihre Solidarität zu zeigen und der eigenen Identität Ausdruck zu verleihen.

    5. Wie geht der belarussische Staat mit den Verbrechen um?

    In der kurzen Periode von 1991 bis zum Machtantritt Lukaschenkos gab es ein großes Interesse an der Fixierung kommunistischer Verbrechen, Erinnerungstafeln für die Opfer der Repressionen wurden aufgestellt, die Spezialarchive öffneten zumindest teilweise. Nach 1994 kam es zu einem Rückfall bezüglich der sowjetischen Vergangenheit. Die jetzige offizielle Geschichtspolitik zielt nicht ab auf kritische Aufarbeitung und es gibt eine deutliche Verzerrung zwischen der Erinnerung an die Opfer des Stalinismus im Vergleich zu denen des Zweiten Weltkrieges.

    In der offiziellen Bildung findet das Thema wenig Erwähnung. Die Namen der erschossenen Dichter sind im Literaturlehrbuch der zehnten Klasse erwähnt, das Schaffen des Schriftstellers Michas Sarezki wird bearbeitet, doch es liegt kein Akzent auf dem Datum 29. Oktober. Im Geschichtslehrbuch der neunten Klasse wird Kurapaty erwähnt, doch die Opferzahlen sind bedeutend niedriger angegeben und andere Orte von Massenhinrichtungen werden nicht genannt. 

    Schon vor 2020 versuchte die Regierung, der Gesellschaft die Kontrolle über Kurapaty zu entziehen, jedoch nicht zum Zweck der Vermittlung, sondern um die politische Aktivität der Bürger zu ersticken und totzuschweigen. Heute kümmert sich der Staat selbst nicht um diesen Ort, doch die Bewahrer der Gedenkstätte werden gezielt unterdrückt, auch für den Versuch, vor Ort an die Nacht der erschossenen Dichter zu erinnern. Insgesamt bleibt die Verantwortung für die Erinnerung an dieses Thema also Sache der Zivilgesellschaft.

    6. Welche Gedenkveranstaltungen und -aktionen gibt es 2022?

    Im vergangenen Jahr gab es mehr als 40 Veranstaltungen im Kontext der Nacht der erschossenen Dichter, in 38 Städten weltweit. In diesem Jahr finden die Aktionen vor dem Hintergrund eines Krieges und nicht endender Repressionen in Belarus statt. Dennoch gibt es sie wieder, in zahlreichen Ländern der Welt, auf verschiedenen Kontinenten, in denen die belarussische Diaspora lebt. Auf der Webseite nochpaetau.com kann man sich darüber informieren. Dort stehen auch viele Materialien über die repressierten Poeten zur Verfügung – Musik, Vorträge und mehr. Die Organisatoren offerieren allen Interessierten Beteiligungsmöglichkeiten: von der individuellen Beschäftigung mit Quellen zum Thema bis hin zur Durchführung eigener Gedenkveranstaltungen in verschiedenen Formaten.

    Eine Gedenkveranstaltung für die Opfer / Foto © Pond5Images/imago images

    Eine große Veranstaltung der belarussischen Diaspora-Organisation in Deutschland Razam findet in der Stadtbibliothek Bremen statt. Dort kann man sich an Diskussionen belarussischer und deutscher Experten zu den politischen Repressionen in Belarus im 20. und 21. Jahrhundert beteiligen, über den Widerstand der belarussischen Literatur gegen Krieg und Repression sprechen und bei einem Konzert belarussische Lieder hören. In Białystok und Warschau finden Präsentationen des neuen Buches (Ne)rasstraljanyja [Die (Un)Erschossenen] statt, das den ermordeten Schriftstellern der 1930er Jahre gewidmet ist.

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Iryna Kashtalian
    Übersetzung aus dem Russischen: Tina Wünschmann
    Veröffentlicht: 27.10.2022

     

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  • Bilder vom Krieg #8

    Bilder vom Krieg #8

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Anastasia Taylor-Lind


    Anna Dedowa, 75, am Grab ihres Sohnes, der sich versehentlich mit einer Handgranate getötet hat, die er in der Nähe seines Hauses in Optyne, einem Dorf in der Region Donezk, gefunden hatte. Dieser Besuch am Grab im Jahr 2019, der von einem dort ansässigen Aktivisten organisiert wurde, ist ein seltenes Ereignis für sie. Denn der Friedhof liegt zwischen Awdijiwka und Donezk und ist wegen der Kämpfe und Landminen kaum zugänglich. Opytne, Juli 2019 / Foto © Anastasia Taylor-Lind

    Anastasia Taylor-Lind
    „Diese Menschen haben auch ein Leben jenseits des Krieges“

    [bilingbox]Ich arbeite jetzt seit acht Jahren im Donbass, immer zusammen mit der Autorin Alisa Sopova, die aus der Stadt Donezk stammt. Wir haben uns 2014 in Swjatohirsk kennengelernt, als Alisa dort als Übersetzerin arbeitete. Mittlerweile lebt sie in den USA und promoviert in Anthropologie an der Princeton Universität.
    Ich bin die Autorin dieser Fotografie und im Grunde ist Alisa die Co-Autorin, da wir unsere Berichterstattung für das Projekt 5K from the frontline immer zusammen gemacht haben. Derzeit ist es im Imperial War Museum in Manchester ausgestellt und wird im Februar 2023 nach London wandern.

    Die letzten fünf Jahre haben wir immer wieder dieselben Familien und Gemeinden besucht, die manchmal nur 30 Meter von militärischen Stellungen entfernt lebten. Die meisten Menschen, die wir kennen, sind inzwischen von zu Hause geflohen und zu Binnenflüchtlingen geworden. Einige Männer sind zur Armee gegangen.

    Das Bild von Anna ist aus dem Jahr 2019. Es war ihr erster Besuch am Grab ihres Sohnes. Der Sohn hatte eine Granate in seinem Garten gefunden, sie aufgehoben und wurde getötet. Der Friedhof selbst liegt inmitten eines Minenfelds. Tatsächlich gelangt man nur über eine schlammige Straße und dann über ein schwer vermintes Feld nach Opytne.

    Ich habe mehrere Menschen fotografiert, die gekommen waren, um die Gräber zu besuchen und zu pflegen. Wir haben uns dann entschieden, uns auf die Geschichte von Anna zu konzentrieren. Typischerweise fängt Alisa an, eine Geschichte zu schreiben, dann zeige ich ihr die Fotos und dann kombinieren wir die Wörter und Fotos und publizieren sie in den Sozialen Medien unter dem Hashtag #5Kfromthefrontline.

    Wie immer bei kreativer Zusammenarbeit, ist die Urheberschaft von Text und Fotos eher fluide. Außerdem haben wir zwei Perspektiven: die Innensicht und die Außensicht.

    Ich lebe in einem Land, wo meine Familie seit einer Generation nicht direkt betroffen ist von Krieg. Mich interessiert sehr, wie wir Geschichten vom Krieg erzählen können auf eine Art, die Menschen bewegt, die das nie erlebt haben: Wie können wir Menschen helfen sich vorzustellen, wie es wäre, wenn Krieg heute hierher kommen würde, auf die Straße draußen vor meinem Fenster? Welche Dinge würde ich mitnehmen, wie würde auch mein Hund ins Auto passen? Zum Beispiel.

    Alisa dagegen kommt aus der Stadt Donezk, musste 2014 zu Beginn des Konflikts fliehen und lebt jetzt in einem anderen Land. Aus dieser Perspektive, treibt sie – und im Ergebnis auch mich – die Frage um, wie wir diese Menschen respektvoll und nicht als andersartig zeigen können? Sobald der Krieg irgendwo hinkommt, wird das Leben der Menschen ziemlich schnell unangenehm und hässlich, doch das heißt nicht, dass wir die Menschen so zeigen müssen. Sie sind nicht nur Opfer des Krieges, sondern auch Menschen mit einer Biographie und einem Leben jenseits des Krieges.

    Auch hinsichtlich unseres Publikums gibt es Dualität: Diese Bilder sollen von  Menschen betrachtet werden, die nicht wissen, was und wie Krieg ist. Aber wir wollen auch, dass die Menschen auf unseren Fotos diese Bilder sehen und sich darin wiedererkennen. 

    Fotografen können keine Kriege beenden. Aber natürlich spielen sie eine Rolle darin, besonders die Fotojournalisten. Letzten Monat war ich in einem Pressebüro in Charkiw und einer der Pressereferenten sagte mir, dass seit der russischen Invasion mehr als 7000 Presseakkreditierungen ausgegeben worden seien. Das ist nicht genug. Wir brauchen mehr als 7000 Journalisten, die die Geschichten erzählen, was in dem Land geschieht. So funktioniert das natürlich nicht – aber wenn man jede kleine Siedlung, die angegriffen wurde, nehmen und einen Fotografen, einen Schriftsteller und einen Fernsehjournalisten dorthin schicken würde, hätten wir nicht genug Journalisten. Es gibt so viele wichtige Geschichten zu dokumentieren – für die Nachrichten und als historische Dokumente.~~~„These are people with lives that extend beyond the events of war“

    I’ve been working in Donbas for eight years, always together with writer Alisa Sopova, who is herself from Donetsk city. We met in 2014 in Sviatohirsk back when Alisa was working as a translator. She now lives in the United States where she is finishing an anthropology PHD at Princeton University.

    I am the author of this photograph and Alisa is the co-author since we made all our reporting together for this project 5K from the frontline. It is currently exhibited at the Imperial War Museum in Manchester and touring to London in February 2023.
    Over the last five years we visited the same families and communities who lived sometimes as close as 50 meters from military positions. The largest battle in Europe since WW2 is currently taking place in Donbas. Most of the people we know have fled their homes and become IDPs. Some men have joined the military.  
    This picture of Anna is from 2019. It was the first time she’s visited her son’s grave. Her son found a grenade in his garden, picked it up, and was killed. And the graveyard itself lies in a minefield. In fact, you had to drive along a mud track, through a field that is heavily mined, in order to get to Opytne itself. 

    I photographed different people visiting and cleaning the graves, and we decided to focus on the story of Anna. Typically Alisa starts writing stories and then I show her the photographs and we match up these words and photographs to publish on social media with the hashtag #5Kfromthefrontline.

    As with all creative collaborations, in terms of authorship over the text and the photographs, there is some fluidity. And we have two perspectives: the insider and the outsider. 
    I live in a country where war hasn’t directly affected my family for one generation. And I am very interested in how we can tell war stories in a way that is engaging for people who’ve never experienced it. How we can help people imagine, what it might be like if war arrived here today, on the street outside my window? What of my things would I pick up and carry with me, how would I get the dog in the car too? for example.

    Whereas Alisa is from Donetsk city and had to flee at the start of the conflict in 2014 and now lives in another country. From that perspective, what she thinks very carefully about – and as a result, I do too – is how do we represent these people in a way that’s respectful and not othering? As soon as war arrives in a place, people’s lives become miserable and ugly pretty quickly, but that doesn’t mean we have to depict individuals in that way. They are not only victims of war, but also a person with a biography and a life that extends beyond the events of that war. 
    There’s also duality in terms of our audience: We want people who don’t know what war is like to see the pictures, but we also want the people in our photographs to see them and to recognize themselves in these images.

    Photographers can’t stop wars. But they certainly have a part to play in them, especially photojournalism. I was at a press office in Kharkiv last month and one of the press officers told me there have been more than 7000 journalist accreditations given out since the full scale Russian invasion. It’s not enough. We need more than 7000 journalists to tell the stories of what is happening in the country. I mean, of course, it doesn’t work like this but if you took every small settlement that had been attacked and assigned one photographer and one writer and one TV journalist to go there, we don’t have enough journalists. There are so many important stories to record – for the news and as historical documents.[/bilingbox]

    ANASTASIA TAYLOR-LIND

    ist eine britisch-schwedische Fotojournalistin, die über Frauen, Krieg und Gewalt berichtet. Sie fotografiert für das National Geographic Magazine, sie ist TED Fellow und Harvard Nieman Fellow 2016. Anastasia schreibt Gedichte über aktuelle Konflikte und über Erfahrungen, die sie nicht fotografieren kann. 

    BÜCHER UND AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
    UPCOMING  – Ukraine: Photographs from the frontline, IWM, London (ab 07.02.2023)
    ONGOING – Ukraine: Photographs from the frontline, IWM, Manchester (14.10.22-02.01.23)
    2022 – One Language [Gedichtband]
    2014 – MAIDAN – Portraits from the Black Square 

    PUBLIKATIONEN u.a. in National Geographic Magazine, Time, The New Yorker, The Wall Street Journal, The Guardian, Die Zeit.


    Foto: Anastasia Taylor-Lind
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Textprotokoll: dekoder-Redaktion
    Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf/dekoder
    Veröffentlicht am 20.10.2022

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  • In Belarus leben

    In Belarus leben

    In der Sowjetunion wurde über den Terror der Stalin-Zeit so gut wie nicht gesprochen, selbst in Familien wurden die schrecklichen Geschichten über ermordete und verschwundene Angehörige wie ein Tabu behandelt. Die Autorin unseres neuen Essays in unserem Projekt Spurensuche in der Zukunft, die unter dem Pseudonym Wolha Waloschkina schreibt, beschäftigt sich in ihrem aufrüttelnden Text mit der Frage, was die verdrängte Gewalterfahrung auch mit der Gesellschaft in ihrer Heimat, in Belarus, gemacht hat und macht. Denn auch die belarussischen Machthaber um Alexander Lukaschenko nutzen Gewalt und Repression, um Andersdenkende zu bekämpfen und letztlich ihre eigene Macht zu bewahren. Vor allem seit den Protesten des Jahres 2020 hat sich diese Staatsgewalt und damit ihre Unterdrückungsmethoden nochmals radikalisiert. Dazu kommt der Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine auch von belarussischem Territorium aus führt.
    Wolha Waloschkina beschreibt, wie es ist, mit dieser Gewalterfahrung zu leben, und sie fragt sich, wie diese Gewalt und damit die postsowjetischen Diktaturen überwunden werden können, um eine andere Zukunft zu ermöglichen.

    Russisches Original
     


    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Dieser Text gehört für mich zu den schwierigsten, die ich je geschrieben habe. Ich habe damit mehrere Monate verbracht, im Sommer 2022. Einige Bilder erschienen mir im Traum, ich schrieb und löschte ganze Absätze, öffnete und schloss die Datei, las bereits Geschriebenes wieder und wieder, ich tauchte in politischen Nachrichten ab, eine Stunde am Tag lag ich nur auf dem Sofa und starrte an die weiße Zimmerdecke. 

    Ich trug den Essay über das Leben in Belarus stückchenweise zusammen. Wie auch mich selbst.

    Warum sträubte sich alles in mir gegen diese Aufgabe? Es ist schwer, aus der Diktatur heraus mit der eigenen Stimme zu sprechen. Zudem wehrte sich meine Psyche hartnäckig gegen die Erfahrung existenziellen Horrors: In einer zerrissenen Welt kann man nicht leben, die zweigeteilte Realität ist unerträglich, die Ungewissheit der Zukunft zermürbt. Als pulsierte in mir ein schwarzer, sehniger Knoten, in dem all das Entsetzen und die Wut komprimiert und meine persönlichen Traumata für immer mit den (geo)politischen verwoben sind. Doch auf paradoxe Weise kristallisieren sich dort auch meine Werte heraus und konzentriert sich meine schöpferische Energie. In den vergangenen zwei Jahren habe ich viel geschrieben, auf Russisch und auf Belarussisch, und ganz anders als vorher. Und ich konnte in mich gehen und stundenlang zeichnen.


    1.

    „Wenn ihr erwachsen seid, werdet ihr im Kommunismus leben!“ – erklärt die betagte Lehrerin den Erstklässlern in der ersten Unterrichtsstunde feierlich. Ich bin sechseinhalb Jahre alt und sitze in Paradeuniform in der Schulbank. Große Augen, Zöpfe mit blauen Schleifen, adrette weiße Schürze und braunes Wollkleid (das heftig kratzt). Für jede Bestnote klebt die strenge und gerechte Lehrerin einen roten Sowjetstern auf den Deckel des Schulheftes. Ich war eine Einserschülerin, und meine Hefte sahen aus wie Breshnews Brust, voller Orden. 

    Dabei war zu Beginn der 1980er das Versprechen des Kommunismus bereits ein naiver Anachronismus, kaum einer glaubte an seinen Aufbau. Vor den Fenstern der Schule zog Breshnews real existierender Sozialismus vorbei. So hieß es offiziell, und das bedeutete: Die Partei macht sich die Hände nicht schmutzig, den Kommunismus sollen die nachfolgenden Generalsekretäre aufbauen, und Breshnew ist ewig. Bald würde ohnehin alles zusammenbrechen, doch das wusste damals noch niemand. 

    Die Schule war so neu wie das ganze Viertel am Minsker Stadtrand mit seiner komplexen Geometrie neun- und zwölfstöckiger Wohnblöcke. Im Mai war alles ringsum mit grünem Gras und gelbem Löwenzahn bedeckt. 

    Das Viertel war am Stadtrand anstelle einiger Dörfer errichtet worden, deren Einwohner in den neuen Häusern ebenfalls Wohnungen bekamen. Aus dem alten Wald rund um diese Dörfer wurde ein Park für Spaziergänge. Im Frühling war er voller weißer Schneeglöckchen. Und an den Maifeiertagen saßen ganze Familien in diesem Wald auf Decken, grillten am Lagerfeuer Fleisch und tranken. 

    Jenseits der Ringautobahn ging dieser Kiefernwald weiter – da war der Ort, an dem Ende der 1930er Jahre Massenerschießungen stattfanden. Heute kennt man ihn als Kuropaty. Auf Befehl des NKWD wurden nachts Gruben ausgehoben, die Tschekisten brachten in Transportern  die Verurteilten herbei, stellten oder legten sie reihenweise auf und schossen ihnen in den Hinterkopf. Und in der nächsten Nacht die nächste Fuhre … Noch heute liegen dort zehntausende namenlose Körper unter der Erde. Viele Jahre blühten auf ihnen im März die weißen Schneeglöckchen, die auf Belarussisch praleski heißen, hier aber kurapaty genannt werden. 

    Vor der Perestroika wurde über Kuropaty nicht laut gesprochen und schon gar nicht geschrieben. Und doch hatten die ehemaligen Dorfbewohner eine Ahnung, vielleicht hatten es  die Alten ihnen zugeflüstert. 

    Nach dem Unterricht wurden die Grundschüler auf die Waldlichtung geführt, wo wir alles machen durften, außer nach Hause laufen. Wir begannen, uns Gruselgeschichten auszudenken, setzten uns in einen Kreis und erzählten: An diesem Klettergerüst darf man nicht baumeln – da hat sich vor Kurzem einer erhängt. In dem schmutzigen Rohr unter der Autobahn liegt ein menschliches Herz (ich habe es mit eigenen Augen gesehen). Im Wald gab es viele Wege und Pfade, Gräben und Erdhügel, und wir munkelten, das sei ein Friedhof ohne Kreuze. Und die Schaschlik-Griller saßen auf Gräbern, direkt über den Schädeln. 

    Das Schaurige zeigte sich uns Kindern der späten „Stagnation“ in der Luft, in Gerüchten und Geflüster, es war immer und überall. Sowjetische Kinder liebten Schauermärchen. Von der Frikadelle in der Schulkantine, in der jemand einen Fingernagel gefunden habe, weil im Keller ein riesiger Fleischwolf stehe, der aus Menschen Hackfleisch mache, vom Pionierhalstuch, mit dem ein Mädchen erwürgt worden sei, vom Sarg auf Rädern (Gefangenentransporter?), der in der dunklen Nacht durch die Stadt fahre und sich langsam deinem Haus nähere … In einem Keller in meinem Viertel lebten Skelette, die Passanten bei lebendigem Leibe die Haut abzogen und sie in ebensolche Kellerbewohner verwandelten. Jemand habe unmenschliche Schreie gehört. Und hüte dich davor, dich nachts diesem Keller zu nähern – dort häuten sie dich!


    2.

    Wir befinden uns im 21. Jahrhundert, meine Kindheit ist 40 Jahre her. Wir dachten, die Zeit sei vorangeschritten, hin zu Biotechnologie, Robotern, virtuellen Welten und neuen Problemen. Doch plötzlich erhob der Archipel GULAG seinen Rücken, überwuchs mit klebriger Haut und stieg aus den Tiefen, um alles umher zu vernichten und zu vergiften. All diese Jahre hatte das Monster, vom stalinschen Totalitarismus genährt, seine Zeit abgewartet. Nun zermalmt es wieder Menschen.

    Tatsächlich kam seine Wiederkehr gar nicht so unerwartet. Weder in Belarus noch in Russland hatte man das Monster je offiziell verabschiedet. Statt eines historischen Gedenkens an die Traumata der sowjetischen Vergangenheit nur Risse, Schweigen und schizophrenes Stückwerk.

    Ein Beispiel: In der Nähe von Minsk entstand im 21. Jahrhundert die Stalin-Linie, offiziell ein staatliches Museum für sowjetische Militärtechnik, ein sogenannter „historisch-kultureller Komplex“, aber auch eine touristische Attraktion. Hier kann man Selfies mit sowjetischen Panzern machen und in einen Panzerzug klettern. Es gibt auch eine steinerne Stalin-Büste, vor der Patrioten (so steht es auf der Webseite) Kränze und Blumen niederlegen.

    Am anderen Ende der Stadt liegt die Gedenkstätte Kuropaty. Nach Ausgrabungen, Publikationen, öffentlichen Aktionen und der dritten staatlichen Kommission seit Beginn der 1990er führte an der Anerkennung Kuropatys als Gedenkort für die stalinschen Repressionen  kein Weg mehr vorbei. Doch ständig passieren hier dubiose Geschichten. Zuerst wurde ganz in der Nähe ein Schnellrestaurant eröffnet (was in Belarus nie ohne behördliche Erlaubnis geschieht) – mit Blick auf eine Reihe hölzerner Gedenkkreuze am Waldrand. Dann wurde die Ausgestaltung des Geländes angeordnet, die mit der Entfernung der Kreuze begann, weil sie von den Aktivisten angeblich ohne Genehmigung aufgestellt worden waren. Das war 2019, eine symbolische Geste des Staates: Nur der Staat darf bestimmen, woran und wie sich die Belarussen erinnern.

    Kommen wir zu einem schönen, in zarter Pastellfarbe gestrichenen Gebäude mit Säulen und einer riesigen Eisentür im Stadtzentrum: der belarussischen KGB-Zentrale. Wie ein ehemaliger Häftling in einem öffentlichen Interview erzählt hat, finden sich dort in allen Verhörräumen Spuren des Kults um Felix Dsershinski – Porträts, Büsten, Zitate. Und gleich um die Ecke ist der Dsershinski-Klub, wo man laut Webseite ein Bankett bestellen kann.

    Im selben Stadtviertel steht der Pischtschalowski-Palast, ein Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, das auf dem Stadtplan des Online-Portals Yandex als historische Sehenswürdigkeit markiert ist. Manchmal interessieren sich Touristen, die mit belarussischen Realia nicht vertraut sind, für eine Besichtigung. 

    „Wie kann ich eine Führung im Pischtschalowski-Palast buchen?“, fragte kürzlich jemand im Chat.

    Die ehrliche Antwort von Belarussen:

    „Stellen Sie sich mit einer weiß-rot-weißen Flagge davor, und Sie werden sofort hereingebeten.“

    Dieses Gebäude wird seit mehr als 200 Jahren als Gefängnis genutzt, aktuell als Untersuchungshaftanstalt. Zudem werden dort, glaubt man Gerüchten, Todesurteile vollstreckt. Seit 2020 gehört die Mehrzahl der Gefangenen, die hier auf ihren Prozess warten, zu den „Politischen“. Also zu Menschen, denen eine Verurteilung wegen Andersdenken und Widerstand gegen das Regime droht. 
    Wenn es einen Touristen an diesen historischen Ort verschlägt, sieht er einen hohen Zaun, Stacheldraht, Sicherheitskräfte und eine lange Schlange von Menschen, die Päckchen übergeben möchten. Fotografieren ist hier verboten.


    3.

    Wie lebt man hier zwei Jahre nach der Revolution von 2020? Die Realität ist zweigeteilt.

    Einerseits die stickige Stadt, die Hitze, die sengende Sonne, die Sandalen bleiben am Asphalt kleben. Aus meinem Fenster sehe ich den Himmel, ein Konvoi aus Wohnblöcken und das Stadion. In dessen Mitte hat ein einsamer Belarusse sein Handtuch auf dem Gras ausgebreitet und liegt in Unterhose und Sonnenbrille da, holt sich seine Ration Bräune und Vitamin D, um das kommende Halbjahr mit grauem Himmel, Matsch und Nebel gesund zu überstehen. Es wirkt wie eine Geste belarussischer Dickköpfigkeit: kein Urlaub, kein Visum, zu heiß, um quer durch die ganze Stadt zum Strand zu fahren – also genießen wir den Sommer unter gegebenen Umständen und denken uns Meer, Wellen und Sand einfach dazu. 

    Das Leben sprudelt. Menschen erledigen Geschäfte und Einkäufe, in Unterführungen und an Metroausgängen breitet sich der urwüchsige Handel aus: Rentnerinnen, Kleingärtner und Kolchosbauern stehen reihenweise da und verkaufen den Städtern, was sie in ihren Gärten ernten. 

    Bei einer alten Frau kaufe ich einen Becher Blaubeeren, rühre sie in mein Eis und esse es genüsslich mit einem Teelöffel. 

    Andererseits werden jeden Tag Menschen festgenommen – für Likes in Sozialen Medien, für Stadtführungen, für das Abonnement von Telegram-Chats, dafür, dass sie 2020 schon einmal 15 Tage für die Teilnahme an Demos gesessen haben. Die Gerichte und andere Strafverfolgungsorgane übererfüllen den Plan. Einfach so nimmt man dir deine Lebenszeit und deine Gesundheit. Schrecklich, sich vorzustellen, wie stickig es damals in den vollgestopften Gefängniszellen war. Es gibt Strafkolonien, in denen die Wärter und ihre Führung sich bemühen, die „Politischen“ zu brechen, psychisch wie physisch. Briefe und Päckchen von Unterstützern werden nicht zugestellt. Für Renitenz gibt es Karzer. Oder man wird in Kolonien mit üblem Ruf und besonders strengem Regime überstellt. 

    Ein Mensch, der dort gesessen hat, berichtete, dass er mit seinem Löffel den Abort auskratzen musste. 


    4.

    „Wir haben alles und keinen Krieg!“, sagt eine Frau mit einem Einkaufswagen voller Essen laut in der Warteschlange an der Kasse, vielleicht zu jemand anderem, vielleicht zu sich selbst. 

    Der Krieg herrscht in der Ukraine, und auch von unserem Gebiet aus fliegt der Tod dort hin. Die Bilder und Spuren durchdringen auch unsere Wirklichkeit, deshalb ist auch bei uns Krieg.

    In der Nacht trete ich ans Fenster – gegenüber ein stiller, blockförmiger Ameisenhaufen, die Belarussen schlafen in ihren Mauselöchern. Da sehe ich plötzlich ein von Explosionen zerfetztes Gebäudeskelett, schwarze Betondecken, versengte Innereien von Wohnungen. 

    Krieg bedeutet schwarze tote Erde, verstümmelte Körper, tote Kinder, unwürdig verscharrte Leichen, die neunte Woge von Angst und Schrecken. Er ist eine Katastrophe der Entmenschlichung, stellt die Welt auf den Kopf. 

    Seit dem 24. Februar erhalte ich Nachrichten von ukrainischen und russischen Freunden. Eine ukrainische Kollegin fragte, warum ich in den sozialen Netzwerken nichts über den russischen Angriffskrieg schreibe, es sei die Hölle bei ihnen. Meine Kyjiwer Freundin antwortete auf meine besorgte Nachfrage, dass die erste Explosion bei Sonnenaufgang zu hören gewesen sei, der Flughafen in der Nähe ihres Viertels sei bombardiert worden, aber sie und ihr Sohn hätten noch eine Weile geschlafen. Seitdem schreibt sie nur noch in ukrainischer Sprache über ihren Alltag, mit einem erlesenen Sinn für schwarzen Humor. Auch eine russische Freundin schrieb mir damals. Sie fragte, wie es mir geht, und wir umarmten uns virtuell.

    Ich war wie gelähmt – genau wie damals, am 13. und 14. August 2020, als uns eine Welle von Beweisen für Folter und Misshandlungen im Okrestina-Gefängnis überrollte. Daraufhin brach es aus den Belarussen heraus, sie gingen auf die Straße, um NEIN zu Gewalt zu sagen. Gegen den Krieg in der Ukraine demonstrierten sie auch – jedoch nicht so viele wie 2020. Die Menschen, die noch hier sind, sind von der Diktatur zermürbt. Bei der Antikriegsdemonstration in Minsk wurden 800 Menschen festgenommen. 

    Ein halbes Jahr später steht fest, dass dieser Krieg die ganze Welt verändert. Unter anderem lässt er diverse Mehrheiten in ein Schwarz-Weiß-Denken zurückfallen, dessen Kreise überall divergieren. Die Propaganda übertrumpft die Realität und ersetzt Werte durch militante Klischees. Jetzt sind alle entweder „Unsere“ oder „Fremde“, und dein Pass ist dein Schicksal. 

    „Alle Belarussen sind Mit-Aggressoren“, „alle Russen sind von faschistoider Propaganda verseucht“, schließen wir die Grenzen, auch für jene, die mit ihrem toxischen Staat nichts gemein haben wollen, canceln wir die Russen samt ihrer Literatur und ihrem Ballett. Alle russischen Klassiker sind von imperialem Gedankengut durchsetzt, unsere Kinder sollen weder Puschkin noch Dostojewski lesen. 

    Ich bin überzeugt, dass Widerstand gegen den Krieg auch bedeutet, sich der Vereinfachung der Welt und der schwarz-weißen Sicht auf die Realität zu widersetzen. Kultur umfasst immer Komplexität, Bedeutungsschichten, Interpretationsfreiheit. Mensch zu sein in einer neuen Welt heißt, Solidarität auf Grundlage gemeinsamer Werte und über Grenzen hinweg herzustellen. 

    Ich werde dafür stimmen, dass im Neuen Belarus die klassische russische Literatur Teil des Lehrplans bleibt, im Fach „Weltliteratur“. Es soll gelehrt werden, wie man in der russischen Lyrik und Prosa Kontexte (auch imperialistische) erkennt und Ideen, Metaphern und Symbole frei interpretiert. Lesen kann man die Texte im Original oder in belarussischer Übersetzung – jeder, wie er will. 


    5.

    Mit Machtdiktaturen und Krieg ist die postsowjetische Periode vorbei, wir erleben ihren Niedergang. Vor zwei Jahren noch sah es aus, als wären wir in rasendem Tempo und unausweichlich unterwegs in die Zukunft. Neue Technologien, neue Generationen, neue Herausforderungen an die Menschheit. Doch heute sind wir mit der dunklen Seite der sterbenden Diktatur konfrontiert: In Belarus genauso wie in Russland hat sich die Macht endgültig in die gefährlichsten sowjetischen Phantasmen verstrickt: Paternalismus, antiwestliche Hetze, Kommandostil, Imperialismus, Militarismus, Expansionismus. Mit Gewalt und Propaganda flößt man das alles der Bevölkerung ein. „Die Liebste geben wir nicht her!“, sagte der ehemalige belarussische Präsident nach der verlorenen Wahl zu seinem Volk. Nein, wir vergewaltigen sie, nehmen ihr die Freiheit, ihre Rechte und Hoffnungen …

    Die Zukunft ist unausweichlich, auch wenn heute niemand sagen kann, wie lange die Agonie noch dauern und wie viele Leben sie noch kosten wird. 

    Irgendwann wird der Krieg enden, die russische Besatzung wird von der Ukraine ablassen, die postsowjetischen Diktaturen zerfallen. 
    Die Belarussen kommen aus den Gefängnissen frei. 

    Wir werden nach Hause zurückkehren.

    Die nationale Idee, auf der das Neue Belarus aufbauen muss, gibt unsere Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts vor: Nie wieder Diktatur, Repression, Missachtung von Würde und Menschenrechten in unserem Land. NIE WIEDER. 

    Für diese Idee wird niemand in Reih und Glied unter der weiß-rot-weißen Flagge marschieren. Zur Gewährleistung einer Zukunft ohne Diktatur werden alle politischen und sozialen Institutionen ihren Beitrag leisten – vom Parlament bis zur Bildungseinrichtung, angefangen beim Kindergarten. 

    Im Pischtschalowski-Palast wird endlich ein Museum für die Repressionen und Haftanstalten der Vergangenheit eröffnet. Wir werden die Todesstrafe abschaffen und das Rechtssystem  reformieren. Die Haftbedingungen in den Gefängnissen des Neuen Belarus sollen die Würde des Menschen respektieren. Und dann stellen wir jene vor Gericht, die heute den Belarussen das Leben unerträglich machen. Jene, die ich heute Vertreter einer kriminellen Macht, Folterknechte, Propagandisten und Denunzianten nennen würde, werden nicht in stickigen Zellen um Luft ringen, auf Betonböden schlafen und Folter ertragen. Sie können gern Bücher lesen und sich selbst quälen. 

    Die belarussische Lubjanka wird ihre Archive und geheimen Kellerräume öffnen. Wir werden eine kollektive Erinnerung an die belarussische Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts wiederherstellen, mit all ihren Traumata und Opfern, mit verschiedenen Sichtweisen, was es heißt, Belarusse zu sein, mit verschiedenen Erfahrungen des Widerstands gegen den russozentristischen Imperialismus. 

    Das Neue Belarus wird wohl aus dem Chaos entstehen, es wird viele Diskussionen, Kränkungen und Machtkämpfe geben. Die Belarussen werden Parteien gründen und Politik erlernen. Doch das wird schon eine andere Geschichte sein, in der mein Weltbild, meine Werte und meine Professionalität in Forschung und Lehre einen Unterschied machen werden. Diese Zeiten möchte ich gern noch erleben.


    6.

    Nach dem Absatz über Belarus in der Zukunft bin ich eingeschlafen. Ich schlage die Augen wieder auf – und bin in meiner Wohnung, mit der allzeit gleichen Landschaft vor dem Fenster: langweilige Wohnblocks, Bäume, der Trampelpfad zum Laden. Ich koche mir Kaffee, setze mich wieder an den Computer und betrete Meta Universe Belarus 2.0. Dort lebe ich, ich habe einen digitalen Pass. Ich suche mir einen Avatar aus – heute bin ich unausgeschlafen, daher wähle ich die Belarussin mit Eulenkopf – und ab zum Arbeitsmeeting. Danach ins virtuelle College, an dem ich lehre (ich unterrichte schon so lange, dass ich sogar im Schlaf Vorlesungen halte). Dann noch zu einer digitalen Kundgebung vor dem virtuellen Parlament, ins Café mit Freunden und ins Kino in einen neuen Film. Dieses ganze erfüllte Leben verläuft vor dem realen Hintergrund des virtuellen Minsk, sogar die Wege sind vertraut.

    Doch ich brauche etwas Richtiges zu essen, nichts Virtuelles. Ich ziehe die Daunenjacke über, gehe hinaus, schlendere zum Laden Obst.Gemüse, der noch genauso aussieht wie in meiner sowjetischen Kindheit, das Körpergedächtnis reproduziert sogar den Geruch. Am Eingang stehen grau gekleidete Leute Schlange. Die grimmige Verkäuferin öffnet den Hebel einer Eisenkiste, die aussieht wie ein Müllschlucker, und aus seinem Schlund fallen drei Kilogramm Nahrung. Schweigend halte ich ihr mein Einkaufsnetz hin, bezahle, drehe mich um und gehe wieder nach Hause.

    Die virtuelle Welt kann dir nicht das Gefühl von Wärme und Unterstützung durch einen anderen geben. Deshalb gehen die digitalen Belarussen nachts in die Stadt hinaus und treffen sich an geheimen Orten – in Kellern, verlassenen Wohnungen, leerstehenden Fabrikhallen. Das sind natürlich extremistische Versammlungen – wie alle Menschenmengen, die weder Warteschlange noch Parade sind. 

    Auf uns werden Razzien angesetzt. 

    Doch wir treffen uns trotzdem, um einander schweigend zu umarmen. Und gehen genauso still wieder auseinander.


    7.

    Angeblich brennt im Zirkus während der Auftritte der Trapezkünstler immer ein rotes Lämpchen – irgendwo über den letzten Zuschauerreihen. Das Orchester spielt ohrenbetäubend, die Scheinwerfer blenden, du hängst mit dem Kopf nach unten, fliegst und überschlägst dich in schwindelnder Höhe ohne festen Halt unter den Füßen. Und behältst das rote Lämpchen im Blick, das dir Orientierung gibt: Hier ist oben, und dort, im Dunkeln, ist der Boden oder unten, bloß nicht verwechseln.

    Was für eine passende und aktuelle Metapher für das Überleben in ungewissen Übergangszeiten.

    Das rote Lämpchen – das sind unsere Werte, Hoffnungen und der unbedingte Wille, das Neue Belarus zu verwirklichen. Zudem steht es für unsere persönliche Entscheidung, was wir in diesen unendlichen trüben Zeiten tun möchten. Das Land verlassen und dort Belarusse bleiben oder uns selbst bewahren und hier etwas für die Zukunft tun. Mein rotes Lämpchen ist das Kind, das ich großziehe, das Buch, das ich schreibe und die Freunde und Gleichgesinnten, an denen ich Halt finde.

    Manchmal überwältigt mich auf paradoxe Weise ein akutes Gefühl für die Fülle und gleichzeitige Zerbrechlichkeit des Lebens. Das Gefühl, leben zu müssen, jetzt, einfach leben. Weil der Mensch so verletzlich ist, weil man sich nicht allein an Automatismen durchs Leben hangeln darf, ohne wirklich zu sehen, wie schön unsere Welt und unsere Menschen sein können. 

    Die Belarussen und Belarussinnen, die 2020 im ganzen Land im vollkommen friedlichen Protest auf die Straße gegangen sind, waren unglaublich schön.

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  • Zitat #16: „Bjaljazki ist für mich eine mythologische Figur des belarussischen Kampfes“

    Zitat #16: „Bjaljazki ist für mich eine mythologische Figur des belarussischen Kampfes“

    Der belarussische Menschenrechtler Ales Bjaljazki wird mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Kurz nach Bekanntgabe durch das Nobelkomitee in Oslo äußerte sich die belarusissche Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch dazu auf Pozirk, dem neuen Telegram-Portal des liquidierten Naviny.by

    Der Belarusse Ales Bjaljazki wird zusammen mit den Menschenrechtsorganisationen Center for Civil Liberties (Ukraine) und Memorial (Russland) ausgezeichnet.


    [bilingbox]Bjaljazki ist für mich eine mythologische Figur des belarussischen Kampfes. Er hat es verdient – das ist noch zu wenig gesagt. Das ist schon lange sein Preis.

    Was die von ihm gegründete Menschenrechtsorganisation Wjasna gemacht hat und unter den gegenwärtigen Umständen weiter tut, ist in seinem Geiste, nach seiner Philosophie. Das freut mich sehr.

    Ich weiß, dass Ales [in Haft – dek] ernsthaft erkrankt ist. Wir alle müssen darüber sprechen, dass er in Freiheit sein sollte, mit seinem Volk. 
    Was die Staatsmacht mit ihm anstellen wird, ist schwer vorstellbar, aber ein solcher Mensch darf nicht im Gefängnis sein, das ist eine Erniedrigung sowohl für das Volk als auch für die Staatsmacht selbst, falls sie das versteht.~~~— Считаю Беляцкого мифологической фигурой белорусской борьбы. Заслужил — этого мало сказать. Это уже давно его премия, — сказала лауреат Нобелевской премии по литературе Светлана Алексиевич. — То, что сделала и делает в этих условиях созданная им «Вясна», — это в его духе, в его философии. Я очень рада.

    Алексиевич сомневается, что после этого Беляцкого выпустят из тюрьмы.

    — Знаю, что Алесь серьезно болен. Мы все должны говорить о том, что ему нужно быть на свободе, со своим народом, — считает Алексиевич. — Что сделает с ним власть, трудно представить, но такой человек не может быть в тюрьме — это унижение и народа, и самой власти, если она это понимает.[/bilingbox]

    Original und russische Übersetzung vom 07.10.2022;
    Übersetzung aus dem Russischen: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 07.10.2022

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  • „Von einer Zeit, in der ein ganz neues Land entstand“

    „Von einer Zeit, in der ein ganz neues Land entstand“

    Sergej Bruschko (1958–2000) gehörte zu den bekanntesten Fotojournalisten seiner Heimat Belarus. Mit seiner Arbeit dokumentierte er nicht nur die Zeit des großen Umbruchs in der Zeit von Perestroika und Glasnost, er prägte sie mit seinen charaktervollen Fotografien, die Geschichten aus jener Zeit erzählen – Geschichten von Leid, Angst, Unabhängigkeit, Hoffnung und von der Kraft des Aufbruchs. Nikolaj Chalesin, der als Redakteur mit Bruschko zusammenarbeitete und später das Belarus Free Theatre gründete, urteilt: „Jede seiner Arbeiten ist eine komplette Geschichte, jedes Porträt ein Charakter, jedes Foto stellt eine ganze Epoche dar. Ich bin nicht prätentiös – es war unser Schicksal, an einem solchen Wendepunkt zu leben, an dem alles wichtig ist.“ 

    Bruschko prägte aber nicht nur den belarussischen Fotojournalismus, sondern auch den Lebensweg seines Sohnes. Dimitri Bruschko trat schließlich in die Fußstapfen seines Vaters und wurde selbst Fotograf und Bildredakteur. Er hat es sich auch zur Aufgabe gemacht, die Arbeit seines Vaters nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. So hat er aus dem umfangreichen Archiv ein Buch mit Fotos von Sergej Bruschko zusammengestellt, von denen dekoder eine Auswahl zeigt. Zudem haben wir Dimitri Bruschko befragt – über die Arbeit seines Vaters, über den Unabhängigkeitskampf der Belarussen, über Zeiten, die alles verändern können.

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ


    Fischverkäuferin auf dem Bahnhofsvorplatz. Minsk, Januar 1992 / Foto © Sergej Bruschko

     

    dekoder: Warum haben Sie das Buch, das dem fotografischen Werk Ihres Vaters gewidmet ist, Smena (dt. Wechsel) genannt?

    Dimitri Bruschko: Zunächst ist Smena ein Zeichen der Anerkennung für die Redaktion der belarussischsprachigen Zeitung Tschyrwonaja Smena, eine der progressiven und liberalen Redaktionen in Belarus zu Zeiten der Perestroika. Mein Vater hat in jenen Jahren, von denen in dem Buch erzählt wird, dort gearbeitet. Im Alltag wurde die Zeitung zwar Tschyrwonka, die Rote, genannt. Für den Kontext jener Zeit, für eine Erzählung über die Epoche, die Belarus die Unabhängigkeit schenkte, ist jedoch das Wort Smena wichtiger. Denn es bedeutet im Belarussischen wie im Russischen „Wechsel“, „Veränderung“ und bezeichnet den Zustand des Wandels, den es Ende der 1980er Jahre und Anfang der 1990er Jahre im gerade neu entstandenen Belarus gab. Damals erfolgten Veränderungsprozesse im Aufbau des Staates, ein Generationswechsel in der Verwaltung des Landes wie auch im Wirtschaftssystem; das Land öffnete sich zum ersten Mal dem Westen. Diese Zeit lässt sich als eine Ära des Umbruchs bezeichnen, in der die belarussische Geschichte eine ganz neue Wendung nahm.

    Wie ist die Idee zu dem Buch entstanden?

    Ungefähr 2017 fingen die lukaschenkotreuen Propagandisten in den staatlichen Medien an, davon zu reden, dass das unabhängige Belarus 1994 aus den Ruinen der UdSSR entstanden sei. Aber niemand sprach von den Gründen für den Zusammenbruch des Imperiums und dass das Land die Unabhängigkeit schon 1991 erlangt hatte. Die Propagandisten versuchen bis heute, jede Erinnerung aus der Geschichte zu streichen, die nicht mit der Herrschaft Lukaschenkos verknüpft ist. 

    Ich habe versucht, Bücher und Projekte zu finden, die über die Jahre 1988 bis 1994 berichten könnten, habe aber kein einziges finden können. Ich fand da Ausschnitte aus alten Zeitungen und ein paar Kulturprojekte, aber damit lässt sich der Gesamteindruck nicht wiedergeben. Deshalb beschloss ich, einen Fotoband zu machen, und zwar kein Album aus wohlkomponierten Fotografien in perfektem Licht, sondern ein Buch über eine Zeit, in der ein ganz neues Land entstand und die mein Vater mit seinen Fotos dokumentiert hat. Ich wollte, dass die Sprache des Narrativs dem Zeitungsstil nahekam, weil die Zeitungen damals die Informationsquelle waren, die für die Menschen am leichtesten zugänglich war. Deshalb weist das Buch viele Gestaltungselemente einer Zeitung auf. Anstelle von Texten mit Erläuterungen zur Zeit der Perestroika wollte ich lieber eine Reihe von Interviews und Erinnerungen über die Ereignisse und den Geist jener Zeit. Selbst die Farbe des Papiers sollte an den warmen Ton von Zeitungspapier erinnern.

    Wie wurde Ihr Vater zum Foto-Chronisten einer Zeit, die nicht nur für Belarus so folgenreich war? Hatte das damals mit Glasnost zu tun?

    Mein Vater wollte, nachdem er die Schule mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, Geologe werden. Ihm fehlte bei den Zensuren lediglich ein einziger Punkt, um es auf die Universität zu schaffen, deshalb ging er auf eine Fachschule, um Fotograf zu werden. Später kam er zu einer regionalen Zeitung in Soligorsk, wollte aber unbedingt zu einer großen Zeitung und schickte seine Fotografien an überregionale Zeitungen in der Belarussischen SSR

    Man wurde auf ihn aufmerksam und bot ihm bei der Tschyrwonaja Smena in Minsk eine Stelle an. Minsk war zwar die Hauptstadt, aber auch verschlossen: Man konnte dort nur dann arbeiten, wenn man Bewohner der Stadt war oder eine Genehmigung einer Komsomol-Organisation hatte, die den Neuankömmling dann mit einer Wohnung zu versorgen hatte. Mein Vater erhielt beim Komsomol eine Absage und musste sich mit Hilfe von Schmiergeldern eine Meldebescheinigung in Minsk besorgen. Danach erst konnte er eine Stelle als Fotokorrespondent antreten. 

    Als er seine Arbeit begann, war die Zeit von Perestroika und Glasnost schon angebrochen. Allerdings war es noch zu früh, von Meinungsfreiheit zu sprechen. Alle Zeitungen befanden sich im Besitz des Staates und unterlagen der Zensur. Man konnte nicht einfach mit einer Geschichte über Wohnungsprobleme von Arbeitern oder zu wenig Schuhen in den Geschäften kommen. Solche Berichte mussten mit den Gremien der Kommunistischen Partei abgesprochen werden, was nicht immer gelang. Mitunter konnte man sich selbst bei einem ideologisch abgesicherten Thema eine Rüge der Parteileitung einhandeln. Ich erinnere mich, wie mein Vater zum Gespräch mit den Parteibürokraten vorgeladen wurde. Und zwar wegen eines Fotos von den Feierlichkeiten zum Tag des Sieges am 9. Mai, auf dem ein mit Orden dekorierter Veteran zu sehen war, der Bier trank. Diese Aufnahme passte einfach nicht zum Bild des Siegers in der staatlichen Propaganda.

    Ihr Vater hat auch die menschlichen Folgen von Tschernobyl in den Vordergrund seiner Arbeit gestellt. War es damals womöglich etwas Neues, die Menschen als Individuen zu sehen?

    Mein Vater war ein logisch denkender Mensch und er verstand sehr wohl die Dimensionen der Tragödie, die die Republik ereilt hatte. Für ihn war das keine Katastrophe aus technischem Versagen, sondern ein menschliches Drama. Er hatte einen beträchtlichen Teil seines Lebens auf dem Land gelebt und kannte die Psychologie der Menschen dort recht gut. In Belarus waren [von Tschernobyl] vor allem Dörfer und ihre Bewohner betroffen. Das Schicksal wollte es, dass ihm gerade in dieser Zeit klar wurde, dass die Fotografie seine Berufung ist. Er verstand die Tragödie der Menschen, und er hatte die Möglichkeit, dieses Thema mit seinen Fotos zu bearbeiten, weil er damals einen Ausweis als sowjetischer Fotokorrespondent in der Tasche hatte. Als Anhänger humanistischer Fotografie hat er dieses Thema einfach aufgreifen müssen.

    War Ihr Vater jemand, der die Unabhängigkeit von Belarus unterstützt hat? 

    Natürlich hatte er seine Meinung zu den Ereignissen, die er fotografierte. Er war ein Verfechter der belarussischen Unabhängigkeit und dachte, dass nur die Bürger des eigenen Landes es zu einem prosperierenden Staat aufbauen können. Diese Ansicht mag vielleicht etwas naiv erscheinen, aber bei der Wahl zwischen Romantik und Pragmatismus hat er sich für das Erstere entschieden. Bei der Präsidentschaftswahl 1994 gab er seine Stimme Stanislaw Schuschkewitsch; er dachte, dass nur ein kluger und anständiger Mensch das Land lenken sollte. Die nächste Präsidentschaftswahl im Jahr 2001 hat er nicht mehr erlebt, war aber überzeugt, dass Lukaschenko entweder die Wahl verliert oder nach seiner zweiten Amtszeit abtritt. Die Wirklichkeit zeigt, dass es für den Willen zu herrschen keine Grenzen des Anstands gibt.

    Wurden Sie durch Ihren Vater dazu inspiriert, selbst als Fotograf festzuhalten, wie die Belarussen auch unter Lukaschenko für ihre politische Emanzipation gekämpft haben?

    Die Fotografien meines Vaters waren für mich ein Geschichtslehrbuch, in dem es keine Propaganda gab. In den Archiven befindet sich nicht nur eine Auswahl seiner besten Fotografien, sondern auch Arbeiten, durch die man verstehen kann, was während der Perestroika und in den ersten Jahren der Unabhängigkeit tatsächlich vor sich ging. Im Grunde war sein Archiv eine Art Grundlage für meine Entwicklung, nicht nur als Fotograf, sondern auch als Mensch. Die Fotografien an sich geben noch keine direkte Antwort darauf, was gut und was schlecht ist. Sie bringen einen aber dazu, Fragen zu stellen und die Antworten in sich selbst zu suchen.

    Was haben Sie sonst von Ihrem Vater für die Arbeit als Fotograf gelernt?

    Ich erinnere mich an zwei Regeln meines Vaters, die ich auch bei meiner Arbeit zu beherzigen versuche. Erstens: Bei der Arbeit muss man einen kühlen Kopf bewahren, aber das Herz sprechen lassen – auf keinen Fall umgekehrt. Das hat mir geholfen, in den schwierigsten Situationen von 2020 zu überleben. Als ich nämlich nicht nur die dramatischen Ereignisse um mich herum fotografieren wollte, sondern auch sehen musste, wie ich mit meiner Ausrüstung heil aus den Demonstrationen in der Stadt herauskomme; die glichen eher Kämpfen, bei denen auch Jagd auf Journalisten und ihre Fotoausrüstungen gemacht wurde. Die zweite Regel lautete: Fotografiere die Gerüche. Damit die Bilder nach Gefühlen riechen, nach Freiheit, Angst oder nach Hoffnung.

     

    links: John Lennon-Mauer – eine öffentliche Gedenkstätte, die von Fans des Musikers errichtet wurde. Sie war Teil des Bauzauns am Palast der Republik. In Minsk, Platz des Oktober, 1990 / rechts: Teenager, 1992 / Fotos © Sergej Bruschko
    Juri Martynow, Inspektor für Jugendangelegenheiten der Polizeidirektion des Moskauer Bezirks in Minsk bei einem Rundgang durch seinen Bezirk, Februar 1992 / Foto © Sergej Bruschko
    Kontaktabzüge von einigen Fotos, ausgewählt von Sergej Bruschko. Solche Sets wurden für die Speicherung, Kategorisierung und Archivierung von Fotofilmen erstellt / Foto © Sergej Bruschko
    Eine Schlange nach Zigaretten an einem Zeitungskiosk. Rogatschow, 1990 / Foto © Sergej Bruschko
    Eine Schlange nach Milchprodukten. Minsk, 1991 / Foto © Sergej Bruschko
    Streik von Minsker Fabrikarbeitern auf dem Lenin Platz gegen den starken Preisanstieg, organisiert von Gewerkschaften. Minsk, April 1991 / Foto © Sergej Bruschko
    Im Zentrum von Aschmjany, 1989 / Foto © Sergej Bruschko
    Frauen-Strafkolonie in Gomel, 1991 / Foto © Sergej Bruschko
    Kundgebung der Partei BNF vor dem KGB-Gebäude anlässlich des Jahrestages der Hinrichtung belarussischer Schriftsteller im Jahr 1937. Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
    Aufnahmezentrum für jugendliche Straftäter. Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
    Das erste Treffen eines Häftlings in der Strafkolonie Mogiljow mit seinem Sohn. Mogiljow, 1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Einberufung und Musterung neuer Rekruten am Oblast-Militärkommissariat, Platz der Freiheit. Minsk, 1989–1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Einberufung und Musterung neuer Rekruten. Militärkommissariat der Oblast Minsk, Platz der Freiheit. Minsk, 1989–1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Ein Fahrer sammelt in einer Pfütze Wasser, um damit den Kühler seines LKW zu befüllen. Bezirk Slawgorod, 1994 / Foto © Sergej Bruschko
    Einberufung und Musterung neuer Rekruten am Oblast-Militärkommissariat, Platz der Freiheit. Minsk, 1989–1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Sommerliche Torfbrände in der Nähe von Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
    Der alleinerziehende Vater Alexander Kalitenja und seine fünf Kinder. Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
    Ehemalige Bewohner der strahlenverseuchten Dörfer Rawitschi und Koshuschki im Bezirk Choiniki besuchen die Gräber ihrer Angehörigen und ihre Häuser zum Totengedenktag Radunitsa. Oblast Gomel, 1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Umsiedlung von Einwohnern aus dem strahlenverseuchten Dorf Weprin, Bezirk Tscherikow, Oblast Mogiljow, April 1990 / Foto © Sergej Bruschko
    Ehemalige Bewohner der strahlenverseuchten Dörfer Rawitschi und Koshuschki im Bezirk Choiniki besuchen die Gräber ihrer Angehörigen und ihre Häuser zum Totengedenktag Radunitsa. Oblast Gomel, 1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Kontaktabzüge von der besten Fotos, ausgewählt von Sergei Bruschko. Solche Sets wurden für die Speicherung, Kategorisierung und Archivierung von Fotofilmen erstellt / Foto © Sergej Bruschko

    Fotos: Sergej Bruschko
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Ingo Petz
    Übersetzung: Hartmut Schröder
    Veröffentlicht am: 04.10.2022

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  • Repression in Zahlen

    Repression in Zahlen

    Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ändert auch Russland selbst: Mit der Aggression nach Außen nimmt auch die Repression im Inneren zu. Dies belegen nicht zuletzt die Zahlen, die die Menschenrechtsorganisation OWD-Info permanent aufbereitet und im August in einem eigenen Report vorgestellt hat. Diesen hat das Exilmedium Meduza zusammengefasst und konstatiert: „Im Land wurde eine de facto-Diktatur errichtet“.

    Die Menschenrechtsorganisation OWD-Info bietet seit 2011 direkten Beistand und dokumentiert Menschenrechtsverletzungen und politische Repressionen. 2021 haben russische Behörden die Seite von OWD-Info blockiert und die NGO auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt. 


    Das ist der aktuelle Stand [27.09.2022] der Festnahmen, den OWD-Info bei Protesten in ganz Russland zählte, nachdem Wladimir Putin in einer Fernsehansprache am 21. September die „Teilmobilmachung“ verkündet hatte. 

     

    Vom 24. Februar bis zum 17. August 2022 wurden laut OWD-Info in Russland insgesamt mindestens 16.437 Personen bei Antikriegs-Demonstrationen festgenommen. Dabei kann es sich um größere öffentliche Kundgebungen oder auch um Einzelproteste gehandelt haben. 62 Festnahmen erfolgten allerdings nach solchen Aktionen, 138 aufgrund von Antikriegs-Posts in Sozialen Netzwerken und 118 wegen „Antikriegs-Symbolik“.

    Mit Stand vom 24. September zählt OWD-Info 282 Angeklagte in Prozessen gegen Kriegsgegner, bis zum 24. August waren es 224. Die Menschenrechtsorganisation listet außerdem einzeln auf, nach welchen Paragraphen die Anklagen jeweils erfolgten. Einer der Angeklagten ist etwa der ehemalige Bürgermeister von Jekaterinburg Jewgeni Roisman.

    Wenn es um Verfahren wegen „Diskreditierung der Armee“ geht, stützt sich OWD-Info auf Daten von Mediazona. Demzufolge gab es im ersten halben Jahr seit Beginn des Angriffskriegs insgesamt 3807 Verfahren nach dem verschärften Paragraphen. Die meisten davon in den ersten drei Monaten.

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  • Zitat #15: „Die Lüge vergiftet und zermalmt den Menschen das Hirn“

    Zitat #15: „Die Lüge vergiftet und zermalmt den Menschen das Hirn“

    Kurzfristig anberaumte Schein-Referenden in den russisch (teil)besetzten Gebieten der Ukraine, neue Strafgesetze im Eilverfahren, die im Fall von Kriegszeiten und Mobilmachungen gelten sollen – und schon wenige Stunden später verkündet Wladimir Putin eine sofortige „Teilmobilmachung“.

    Für viele Beobachter ist klar, dass die Ergebnisse der sogenannten „Referenden“ über den „Beitritt“ zu Russland schon feststehen, dass das Stakkato der Ereignisse ein (weiteres) Zeichen für Nervosität des Regimes, und dass der Begriff „Teilmobilmachung“ dehnbar ist. Andere Beobachter fragen nach möglichen Folgen der neuen Eskalationsstufe für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine oder auch, ob sie die russische Gesellschaft selbst noch weiter spalten könnte.

    Tatsächlich häufen sich im Runet Berichte, dass viele Menschen sich derzeit darüber informieren, wie man der Einberufung entgehen kann. Kurzfristige Flüge ins Ausland sind ausgebucht, in den Sozialen Medien entlädt sich lautstarker Widerstand, und es gibt erste Proteste gegen die „Teilmobilisierung“. In einem wütenden Twitter-Thread macht auch die unabhängige russische Journalistin Olga Beschlej ihrem Ärger Luft.


    Die gesamte Rede Putins ist reinstes Gaslighting und psychische Gewalt den Bürgern Russlands gegenüber. Ich träume von dem Tag, an dem die Menschen kapieren, WIE sie betrogen wurden und WIE DOLL man sie belogen hat und dass sie und das ganze Land die letzten zehn Jahre in der ausgedachten Realität und dem nicht existierenden Imperium eines gekränkten Mannes gelebt haben.

    Putin schreibt absolut all seine aggressiven Handlungen anderen zu! Das ist unerträglich anzuschauen

    Er verdreht einfach alles, aber auch wirklich alles: Er war es, er und seine Regierung haben alles dafür getan, dass die NATO an die Grenzen Russlands kam, dass die Ukraine GEZWUNGEN war sich zu verteidigen, dass der Westen Waffen an die Ukraine lieferte, denn er hat einen Krieg losgetreten und schreckte alle mit Drohungen. Und absolut all seine aggressiven Handlungen schreibt er anderen zu! Das ist unerträglich anzuschauen und zu lesen.

    Und es ist unerträglich, dass Menschen das glauben, denn es nicht zu glauben, macht Angst. In welche verfickte Zeit sind wir hineingeraten! Die Lüge vergiftet und zermalmt den Menschen doch förmlich das Hirn.

    Die Lüge vergiftet und zermalmt den Menschen doch förmlich das Hirn

    Ich warte sehr auf das Ende dieses Kriegs. Ebenso fieberhaft warte ich auf das Ende der Lüge, wenn eben jene Mauer dieser erstickenden Lügerei, mit der er ganz Russland eingekesselt hat, endlich zusammenbricht. Himmel, wird das wehtun. Doch nicht nur die Russen, die ganze Welt kann dann wieder leichter atmen.

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