• ZITAT #17: „Ich werde jetzt doppelt so viel über queere Menschen schreiben“

    ZITAT #17: „Ich werde jetzt doppelt so viel über queere Menschen schreiben“

    Das „Verbot homosexueller Propaganda“ gegenüber Minderjährigen gilt in Russland bereits seit 2013 – Anfang Dezember hat Wladimir Putin nun eine Verschärfung des Gesetzes unterzeichnet. Demnach steht „homosexuelle Propaganda“ generell unter Strafe, das Verbot soll auch für Medien und Literatur gelten.

    Radio Svoboda hat mit Mikita Franko über diese Gesetzesverschärfung und ihre Konsequenzen für die russische LGBTQ-Szene gesprochen. Der Trans-Autor wurde 1997 in Kasachstan geboren und lebt seit einigen Jahren in Moskau. Sein autobiographisch inspirierter Roman Die Lüge (Original Dni naschei shisni, aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt von Maria Rajer) machte ihn auch hierzulande bekannt – in Russland wurde das Buch aus den Geschäften verbannt. Darin erzählt Franko von seinem Alter Ego Mikita, der in Russland mit zwei Vätern aufwächst.


    Warum hat die Regierung gerade jetzt das bereits bestehende LGBTQ-feindliche Gesetz verschärft?

    Die Propaganda hat sich den Kampf gegen den kollektiven Westen und gegen Satanisten auf die Fahnen geschrieben. In ihren Augen steht die LGBTQ-Community stellvertretend für diesen kollektiven Westen. Nicht umsonst rechtfertigt sich Lord Voldemort [Putin] bei seinen Versammlungen vor dem Volk mit Verweis auf „Elternteil 1 und 2“ [im Westen] und demonstriert so, wie er tatkräftig gegen den Westen kämpft.

    Wie haben Sie reagiert, als Sie gehört haben, dass das Gesetz zum Verbot der „Propaganda nicht traditioneller Werte“ verabschiedet wurde?

    Mich überkamen inspirierende Wut und rebellischer Protest. Ich dachte mir, wenn sie es mir verbieten wollen, werde ich doppelt so viel über das Leben queerer Menschen schreiben. Mit so einer Reaktion fühle ich mich besser. Gerade habe ich gute Laune, denn ich glaube, dass alles nur eine Frage der Zeit ist: Die jungen Menschen werden länger leben als die, die sich dieses Gesetz ausgedacht haben. Russland befindet sich derzeit in einer Art Todeskampf. Es tut mir um das Russland leid, dessen Potenzial das Regime zerstört hat. Ich bin damals [aus Kasachstan – dek] in ein Land mit vielen Möglichkeiten gezogen. Jetzt kommt es mir so vor, als wäre es ein anderes Land.

    Wie werden sich diese neuen homosexuellen- und transfeindlichen Gesetze auf das Leben von LGBTQ-Menschen auswirken?

    LGBTQ-Menschen werden nicht verschwinden. Einigen wird es vielleicht gelingen, das Land zu verlassen, anderen wird es schlecht gehen. Das Risiko für Gewalt gegen LGBTQ-Menschen und die Suizidwahrscheinlichkeit unter ihnen werden steigen. 

    Auf Ihrem Telegram-Kanal haben Sie mal geschrieben, Sie hätten mehr für die traditionellen Werte getan als alle russischen Abgeordneten zusammen. War das ein Witz?

    Mir schreiben oft Eltern – meine Leser:innen –, dass sie ihre Kinder dank Dni naschei shisni [Die Lüge, erschienen bei Hoffmann & Campe, in der Übersetzung von Maria Rajer] besser verstehen, dass sie angefangen haben, ihnen zu helfen und sie zu unterstützen. Das stärkt doch die Familie, was könnte traditioneller sein?!

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  • Warum das System Lukaschenko abermals die Todesstrafe verschärft

    Warum das System Lukaschenko abermals die Todesstrafe verschärft

    Das Repräsentantenhaus des belarussischen Parlaments verabschiedete vergangene Woche in erster Lesung Änderungen zu Artikel 356 (2) des Strafgesetzbuches, „um eine abschreckende Wirkung auf destruktive Elemente zu erzielen und um einen entschlossenen Kampf gegen den Verrat am Staat zu demonstrieren“. Demnach können nun Staatsbedienstete und Militärangehörige, die wegen Landesverrats vor Gericht kommen, zum Tode verurteilt werden. Belarus ist das einzige europäische Land, das noch die Todesstrafe vollstreckt. 

    Bereits im Mai dieses Jahres war die gesetzliche Grundlage für die Anwendung der Todesstrafe ausgeweitet worden, und zwar für die Planung eines Anschlags oder den „Versuch eines terroristischen Akts“. Warum nun die neuerliche Verschärfung? Darüber wird in den belarussischen Medien debattiert. Wir bringen eine Auswahl an vier Experten- und Medienstimmen. 


    Der Menschenrechsanwalt Andrei Poluda sagte Gazeta.by, dass die neuerliche Verschärfung der Todesstrafe im Zusammenhang mit komplexen Stimmungsveränderungen in der Gesellschaft zu sehen sei. Die Machthaber würden diese einzuhegen versuchen:

    „… Damals betrafen sie [die Änderungen im Strafgesetzbuch zur Todesstrafe] breitere Bevölkerungsteile und waren unter anderem eine Reaktion auf Antikriegsaktionen von belarussischen Bürgern, insbesondere der Schienenpartisanen. Jetzt können wir die Tendenz beobachten, dass es um des Herrschers Leute geht, wie sich die Vertreter der Bürokratie und die Militärs in Belarus selbst gern nennen.


    Die Regierung meint nach wie vor, dass eine Verschärfung der Gesetze als abschreckendes Mittel wirksam sein kann, als Prophylaxe gegen bestimmte Handlungen der Bürger. Diese gravierenden Gesetzesänderungen sind ein deutliches Zeichen dafür, wie tiefgreifend und weit verbreitet die Prozesse sind, die in unserer Gesellschaft vor sich gehen. Es ist offensichtlich, dass diese Prozesse dem derzeitigen Regime in Belarus ganz und gar nicht gefallen.


    Jetzt, da es keine Möglichkeit gibt, in Belarus wissenschaftlich fundierte Umfragen zu machen, sind Informationen für uns vielfach nicht zugänglich und nicht sichtbar, und wir können die Prozesse nicht bis ins Letzte verstehen …
    Über viele Jahre hinweg aber haben Menschenrechtler Alarm geschlagen, dass die Existenz der Todesstrafe und ihre Anwendung nicht nur jene betrifft, die wegen Mordes verurteilt wurden.“

    Der Telegram-Kanal Reflexija i reakzija (dt. Reflexionen und Reaktionen) – der politische Prozesse in Belarus anonym analysiert und begleitet – betont in einem Beitrag ein grundsätzliches Problem bei autoritären Systemen: die fehlende Transparenz bei Entscheidungsprozessen. Dies mache Einschätzungen – wie aktuell in Bezug auf die Todesstrafe – schwierig. Auf Grundlage der historischen Erfahrung vom Ende der UdSSR läge aber die Vermutung nahe, dass sich das System Lukaschenko auf noch stärkere Verwerfungen in der belarussischen Gesellschaft vorbereite:

    „… Während alle damit beschäftigt sind, Details aus dem Büro von Tichanowskaja zu diskutieren, selbst die kleinsten, oder aber Äußerungen westlicher Stakeholder zu den Aussichten auf einen Waffenstillstand, ist völlig unklar, was innerhalb der Regime Russlands und Belarus’ vor sich geht.

    Es gibt viele vereinzelte Leaks, doch mit großer Genauigkeit ein Gesamtbild zu zeichnen, ist problematisch. Die wichtigsten Entscheidungszentren sind nicht öffentlich und hermetisch abgeschottet; all der Dreck, der unter den Teppich gekehrt werden kann, bleibt dort.

    Psychologisch wird die Situation wie folgt wahrgenommen: „Bei uns wird alles immer schlimmer – und die waren ein Monolith und sind es immer noch“. Obwohl das natürlich nicht sein kann, weil die Dynamik der sozialen Systeme derart strukturiert ist, dass alle Akteure sich auf die eine oder andere Art in diese oder jene Richtung entwickeln. Wenn eine solche Transformation nicht sichtbar ist, bedeutet das nicht, dass sie nicht geschieht.

    Mit der UdSSR ging es zu Ende, als sie schlicht und einfach kein Geld mehr auf dem Konto hatte, um die ganze Maschine am Laufen zu halten. Man konnte zwar vorhersagen, wohin der Wind uns trägt, aber das genaue Datum und die Ereignisse vorherzusagen, ohne über Insiderinformationen zu verfügen, ohne das gesamte Bild zu sehen, war und ist unmöglich. 

    Dass aber das Regime in Belarus (das in Russland bislang noch nicht) sich auf die schlimmsten Szenarien vorbereitet, lässt Gedanken heranwehen, wie denn der verdeckte Teil des Bildes tatsächlich aussieht.“

    Der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch sieht in seinem Kommentar für das Online-Medium Reform.by die Angst der belarussischen Machthaber nicht nur vor neuen Protesten als Treiber für die Verschärfungen der Todesstrafe, sondern auch die Angst des Systems vor dem System selbst. Indem sich beispielsweise die Unzufriedenheit der eigenen Leute im Staatsapparat und Militär an einem bestimmten Punkt gegen die Machtzentrale richten könnte:

    „… Auf den ersten Blick könnten sich die Änderungen im Strafgesetzbuch gegen politische Gegner des Regimes richten. Allerdings wird laut Informationen des Ermittlungskomitees, dem die Untersuchungen in den Strafverfahren gegen Swetlana Tichanowskaja, Pawel Latuschko, Olga Kowalkowa, Sergej Dylewski und Marija Moros oblag, von diesen fünf nur Tichanowskaja Landesverrat vorgeworfen. Auch wenn sie niemals Staatsämter innehatte …

    Es werden auch Grundlagen für die Zukunft gelegt. Wenn es zu Geschehnissen wie 2020 kommt, dürften Staatsbeamte und Silowiki sich hundertmal überlegen, ob sie die Seite wechseln. Denn die Strafe bei einer Niederlage könnte grausam sein. Das Regime verfolgt eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche. Gestern noch war es um eine ‚wegweisende Möhre‘ für Militärangehörige gegangen, etwa in Form einer Privatisierung von Mietwohnungen nach 25 Dienstjahren. Doch es scheint, als reiche Zuckerbrot allein nicht mehr aus, um Loyalität zu sicherzustellen. Die Änderungen im Strafgesetzbuch holen die Peitsche hervor, als Strafe für Verrat …

    Das Regime versucht, alle einzuschüchtern, sowohl Opponenten als auch Unterstützer. Um den Gedanken, man könnte das Staatsschiff möglicherweise verlassen, bereits im Keim zu ersticken. Das bedeutet, dass das Regime selbst jenen nicht mehr vertraut, die sich innerhalb des Systems bewegen. Und um die zu ‚überzeugen‘, braucht es jetzt auch die Peitsche. Vielleicht auch, weil das Zuckerbrot immer knapper wird.“

    Der ehemalige belarussische Diplomat und Politanalyst Pawel Sljunkin sieht in der Verschärfung der Todesstrafe im Gespräch mit dem russischen Medium The Insider eine Verbindung zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine

    „Als Verrat würde hier gewertet werden, wenn jemand auf die Seite der Ukraine wechselt oder sich in Gefangenschaft begibt, oder sich vielleicht weigert zu kämpfen. Diese Gesetzesänderung wird sowohl Militärs wie auch Zivilpersonen betreffen. Dass es diese Änderung gibt, ist ein Anzeichen, dass das staatliche System auf etwas vorbereitet wird. Für die Staatsbeamten wird sie eingeführt, damit die nicht die Seiten wechseln und keine Spaltung innerhalb des staatlichen Systems provozieren.

    90 Prozent der Belarussen wollen nicht, dass ihre Armee sich an dem Krieg beteiligt, und Lukaschenko ist bewusst, welche Risiken ein solcher Schritt mit sich bringen würde: Selbst in den loyalsten Bevölkerungsteilen könnte es dann Leute geben, die damit nicht einverstanden sind. Wie also mit denen umgehen? Sie müssen eingeschüchtert werden. Und genau hierzu wurde die Aussicht auf die Todesstrafe geschaffen.

    Mit der Armee ist es das Gleiche: Sie wollen nicht kämpfen, sie haben nicht das Gefühl, dass das ihr Krieg ist, und sie rennen nicht, wie viele russische Mobilisierte, zu den Rekrutierungsstellen. Sie wissen, was sie dort erwartet. Niemand will für die imperialen Kriegsambitionen Russlands sterben, und für Lukaschenko will auch niemand sterben. Lukaschenko ist das sehr wohl bewusst, und er versorgt sie mit einer Alternative, und zwar nicht mit ein paar Jahren Gefängnis, sondern mit der Todesstrafe. Das ist ein Zeichen, dass sämtliche staatlichen Institutionen darauf vorbereitet werden, dass ein solcher Moment kommen könnte. Es bedeutet nicht, dass der Entschluss feststeht, die Armee loszuschicken. Sie wissen aber genau, dass so etwas möglich ist. Und bereiten sich darauf vor.“

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  • Boris Mikhailov – Foto-Chronist der Ukraine

    Boris Mikhailov – Foto-Chronist der Ukraine

    Eine umfassende Retrospektive des ukrainischen Fotografen Boris Mikhailov ist noch bis 15. Januar im Pariser Maison Européenne de la Photographie (MEP) zu sehen: Journal ukrainien – Ukrainian Diary umfasst 800 Fotografien. Mikhailov, der aus dem ostukrainischen Charkiw stammt, widmet diese Ausstellung der Ukraine und allen, „die unter dem heimtückischen und unerklärlichen Angriff auf unser Land leiden“. Kunstkritiker Anton Dolin hat sie für Meduza besucht. 
     


    Aus der Serie Luriki (Colored Soviet Portrait), 1971-85. Schwarz-Weiß-Fotografie, handcoloriert, 81 x 61 cm / © Boris Mikhaïlov, Collection Pinault / Courtesy Guido Costa Projects, Orlando Photo

    Heute, da alle Augen auf die Ereignisse in der Ukraine gerichtet sind, könnte man in der umfassenden Retrospektive des Fotografen Boris Mikhailov eine opportunistische Geste sehen. Doch der 84-jährige Charkiwer gilt längst – spätestens seit Anfang der 1990er Jahre – als lebender Klassiker und als ein Genie, das die Fotografie neu gedacht hat. Von allen Preisträgern des renommierten Hasselblad Foundation Awards (so etwas wie der Nobelpreis für Fotografie), stammt er als Einziger aus dem postsowjetischen Raum. Boris Mikhailov hat sein Leben lang die geltenden Regeln und Normen in Frage gestellt – erst die der Sowjetunion, und dann die der ganzen Welt.

    Ein Genie, das die Fotografie neu gedacht hat

    Mehr als ein halbes Jahrhundert hat Mikhailov in der UdSSR verbracht, dann ging er nach Deutschland, wo er auch heute noch lebt. Er bezeichnet sich jedoch ausschließlich als Ukrainer. Und wer würde ihm da widersprechen.

    Er dokumentierte den Zerfall der Sowjetunion und die ersten Jahrzehnte der ukrainischen Unabhängigkeit so schonungslos und poetisch wie kein anderer. Mikhailov fasst seine Bilder stets in Zyklen oder Serien zusammen: U Semli (Am Boden, 1991) ist inspiriert von Gorkis Na dne (dt. Am Boden bzw. Nachtasyl – Szenen aus der Tiefe). Sumerki (Dämmerung, 1993) wirkt wie durchdrungen von blauem Dunst. Das monumentale Promsona (dt. Industriegebiet, 2011) entstand im Donbass. Und Tschai, Kofe, Kaputschino (dt. Tee, Kaffee, Cappuccino, 2000–2010) ist eine scharfsichtige Chronik des postsowjetischen Chaos in seiner Heimatstadt Charkiw.

    Mikhailov hat sein Leben lang die geltenden Regeln und Normen in Frage gestellt – erst die der Sowjetunion, und dann die der ganzen Welt

    All diese Bilder sind noch bis 15. Januar 2023 in der Pariser Retrospektive zu sehen. Nach einem Besuch der Ausstellung scheint es, als könnte man die Funktionsweise der Ukraine in den vergangenen Jahrzehnten nur verstehen, wenn man sich Mikhailovs Aufnahmen anschaut – schonungslos und zärtlich zugleich.

    In der UdSSR dokumentierte Mikhailov unermüdlich die sapreschtschjonka – also alles, was verboten war (russ. sapret – Verbot). Weil man bei ihm Aktaufnahmen fand, verlor er seine Arbeit als Elektroingenieur. Er war immer darauf aus, das Unscheinbare, Ungeschönte – scheinbar Zufällige – aufzuspüren und sichtbar zu machen. In der Fotoserie Luriki (1971–1985) kolorierte und „verschönerte“ Mikhailov wiederum fremde Familienfotos. Und in SozArt (1975–1985) hübschte er auf diese Weise seine eigenen Reportagefotos von Demonstrationen und anderen offiziellen Veranstaltungen auf.

    Sehr eindrucksvoll ist die Krassnaja serija (dt. Rote Serie, 1968–1975), die die offiziöse Sowjetwelt als ein Sammelsurium von wunderlichen Sonderlingen und Monstern à la Hieronymus Bosch zeigt. So ist Mikhailov bereits in seinen frühen Arbeiten ohne viele Worte mit seinen Zeitgenossen in einen Dialog über Ästhetik und Zweck der Kunst getreten.

    Die Bruchstelle zwischen Sein und Bewusstsein spürt der Fotograf in der Serie Soljanyje osera (dt. Salzseen, 1986) auf. Sie zeigt Urlauber in der Gegend bei Slowjansk: Das Wasser des Stausees, in den die umliegenden Fabriken ihre giftigen Abfälle kippten, hielten die Menschen ganz aufrichtig für heilsam, seinem Schlamm schrieben sie Wunderqualitäten zu. Doch Mikhailovs Bandbreite erschöpft sich bei weitem nicht im grotesken Verlachen des einfachen Bürgers. Die Serie Tanzy (Tanz, 1978) dokumentiert eine Tanzveranstaltung im Charkiwer Stadtpark mit so viel Liebe und Ehrfurcht, dass man die müden, zerknitterten, vom Dauerstress zermürbten Helden dieser Bilder sofort umarmen möchte.

    Mikhailovs gesammeltes Werk umfasst auch Arbeiten, die den Ereignissen auf dem Maidan gewidmet sind. In der höchst beeindruckenden Serie Teatr wojennych deistwi. Akt II. Antrakt (dt. Kriegsschauplatz. 2. Akt. Pause, 2013–2014) wirkt es, als würde er die Tatsachen heranzoomen, ihnen einen neuen Maßstab verleihen.

    Die Pariser Ausstellung trägt nicht zufällig den Titel Ukrainisches Tagebuch: Ein eigener Saal ist Mikhailovs Fototagebuch gewidmet, das er schon sein ganzes Leben führt. Hier sind die Serien nicht chronologisch angeordnet – das liegt daran, dass viele der Bilder im Laufe von 20 bis 30 Jahren entstanden sind.

    Als könnte man die Funktionsweise der Ukraine in den vergangenen Jahrzehnten nur verstehen, wenn man sich Mikhailovs Aufnahmen anschaut – schonungslos und zärtlich zugleich

    In der Exposition mischt sich das Epische mit dem Lyrischen. Auf der einen Seite ist da der Zyklus Soljanyje osera, auf der anderen – der Krymski snobism (Snobismus auf der Krim, 1982), in dem der Künstler voller Selbstironie seine eigenen, ganz orthodox-sowjetischen Ferien am Meer zeigt. Auf der einen Seite das metaphysische Wjaskost (dt. Klebrigkeit, 1982), dessen Titel allein schon den Geist des Stillstands atmet, auf der anderen – das avangardistische Neokontschennaja dissertazija (dt. Unvollendete Dissertation, 1984), in dem Mikhailov eine unfertige wissenschaftliche Arbeit, die jemand weggeworfen hat, als Ready-Made benutzt und die Seitenränder mit wie zufälligen Fotos und philosophischen Kommentaren spickt.

    Ein eigener Raum ist der Skandal-Reihe Istorija bolesni (dt. Krankengeschichte, 1997–1998) gewidmet: Sie zeigt Portraitaufnahmen von Obdachlosen, die durch Mikhailovs Kameraobjektiv an die tragischen Helden von Caravaggio oder Rembrandt erinnern. Von manchen provokanten Arbeiten möchte man den Blick abwenden, aber es geht nicht – sie brennen sich augenblicklich ins Gedächtnis ein, verbleiben dort wie Narben. Die Fähigkeit, das Sakrale im Profanen zu sehen, das Ergreifende im Abstoßenden, das Schöne im Hässlichen – das ist es, woran man ein großes Talent erkennt.

    Die provokante Serie von Selbstportraits Ja ne Ja (dt. Ich bin nicht Ich, 1992), in der der Künstler nackt mit Dildos vor der Kamera posiert, ist im Stil eines Slapstick-Stummfilms gehalten. Oder die nach heutigem Maßstab noch gewagtere Serie Esli by ja byl nemzem (dt. Wenn ich Deutscher wäre, 1994): Mikhailov richtet die Kamera mit derselben bestechenden Ehrlichkeit und demselben vernichtenden Sarkasmus auf sich selbst wie auf seine Umgebung.

    Letzten Endes lässt sich das Subjektive nicht vom Objektiven trennen, deshalb dokumentiert ein wahrer Fotograf die Wirklichkeit immer in dem gleichen Maße, in dem er sie bricht. Hervorragend illustriert wird dieser Gedanke in der Dia-Show Wtscheraschni Buterbrod (dt. Butterbrot von gestern, 1960er–1970er Jahre), in dem „mangelhafte“, ausgemusterte Aufnahmen sich zum psychedelischen Soundtrack von Pink Floyd abwechseln und plötzlich eine unerwartete, oft frappierende Schönheit entfalten.

    Den Schlussakkord der Ausstellung bildet eine weitere Dia-Show: das prophetische Ispytanije smertju (dt. Prüfung durch Tod, 2014–2019), das von der modernistischen Architektur eines sowjetischen Krematoriums inspiriert ist.

    Die Ausstellung präsentiert die künstlerische Biografie des Fotografen als von einer Idee durchdrungen, die besonders heute wichtig und wertvoll ist: Mikhailov zeigt, wie komisch, verletzlich und unvollkommen der menschliche Körper, der Krankheit und Alter unterworfen ist, sein kann. Und doch ist er stärker als die vermeintliche Unerschütterlichkeit ideologischer Konstrukte und der Schönheitsideale, die sie propagieren.

    Die Bilder des Maidan fügen sich in diesen Gedanken gut ein: Sie handeln nicht von einem mystischen „Volk“, sondern von Menschen, die in der Lage sind, Trugbilder zu besiegen, allen voran den Mythos von der großartigen sowjetischen Vergangenheit. Mikhailov ist im Laufe seines langen Lebens Zeuge verschiedener Epochen geworden. Es bleibt zu hoffen, dass er bald das Ende des Krieges dokumentieren wird, der jetzt in seiner Heimat, der Ukraine, geführt wird.  

           

    Aus der Serie Luriki (Colored Soviet Portrait), 1971-85. Schwarz-Weiß-Fotografie, handcoloriert, 61 x 81 cm / © Boris Mikhaïlov, Collection Pinault / Courtesy Guido Costa Projects, Orlando Photo
    Aus der Serie Wtscheraschni Buterbrod, 1966-68. C-Print, 30 x 45 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie
    Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Wtscheraschni Buterbrod, 1966-68. C-Print, 30 x 45 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie
    Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Black Archive, 1968-1979. Schwarz-Weiß-Fotografie, 24 x 18 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn /
    Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Black Archive, 1968-1979. Schwarz-Weiß-Fotografie, 24 x 18 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn /
    Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Wjaskost, 1982. Schwarz-Weiß-Fotografie, Buntstifte, 30 x 18 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Tanzy, 1978. Silbergelatine-Abzug, 16,2 x 24,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Tanzy, 1978. Silbergelatine-Abzug, 16,2 x 24,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Krassnaja serija, 1968-75. C-Print, 45,5 x 30,5cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben mit Hilfe des Art Fund (mit Unterstützung der Wolfson Foundation) und Konstantin Grigorishin, 2011
    Aus der Serie Krassnaja serija, 1968-75. C-Print, 45,5 x 30,5cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben mit Hilfe des Art Fund (mit Unterstützung der Wolfson Foundation) und Konstantin Grigorishin, 2011
    Aus der Serie Krassnaja serija, 1968-75. C-Print, 45,5 x 30,5cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben mit Hilfe des Art Fund (mit Unterstützung der Wolfson Foundation) und Konstantin Grigorishin, 2011
    Aus der Serie , 1991. Silbergelatine-Abzug, Sepia getönt, 11,5 x 29,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    National Hero, 1991. C-Print, 120 x 81cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Sumerki, 1993. C-Print, 66 x 132,9 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Sumerki, 1993. C-Print, 66 x 132,9 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Ja ne ja, 1992. Silberabzug, 30 x 20 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Krymski snobism, 1982. Silberabzug, Sepia getönt, 15 x 20 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben durch Finanzierung des Russia and Eastern Europe Acquisitions Committee und des Photography Acquisitions Committee, 2016
    Aus der Serie Krymski snobism, 1982. Silberabzug, Sepia getönt, 20 x 15 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben durch Finanzierung des Russia and Eastern Europe Acquisitions Committee und des Photography Acquisitions Committee, 2016
    Aus der Serie Krymski snobism, 1982. Silberabzug, Sepia getönt, 20 x 15 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Erworben durch Finanzierung des Russia and Eastern Europe Acquisitions Committee und des Photography Acquisitions Committee, 2016
    Aus der Serie « Salt Lake », 1986. C-Print, Sepia getönt, 75,5 x 104,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Soljanyje osera, 1986. C-Print, Sepia getönt, 75,5 x 104,5 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Tschai, Kofe, Kaputschino, 2000–2010. C-Print, 25,5 x 80 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Tschai, Kofe, Kaputschino, 2000–2010. C-Print, 25,5 x 80 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Teatr wojennych deistwi, 2013. C-Print / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Teatr wojennych deistwi, 2013. C-Print, 130 x 180 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Teatr wojennych deistwi, 2013. C-Print / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Istorija Bolesni, 1997–1998. C-Print, 172 x 119 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Serie Istorija Bolesni, 1997–1998. C-Print / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris
    Aus der Tagebuch-Serie, 1973–2016. Schwarz-Weiß-Fotografie, Buntstifte, 29,7 x 21 cm / © Boris Mikhaïlov, VG Bild-Kunst, Bonn / Courtesy Galerie Suzanne Tarasiève, Paris

    Original: Meduza
    Fotos: Boris Mikhailov
    Text: Anton Dolin
    Übersetzung: Jennie Seitz
    Bildredaktion: Andy Heller
    Veröffentlicht am: 01.12.2022

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    Fototagebuch aus Kyjiw

  • Gegen die Nostalgie

    Gegen die Nostalgie

    Der russische Fotograf Max Sher lebt im Exil in Berlin. Er fotografiert die Stadt – hauptsächlich den Westteil – und interpretiert das, was er entdeckt, als postsowjetischen Raum. Doch das ist keine Nostalgie, wie er sagt, sondern Zeichen eines Übergangs im Leben – für ihn und für hunderttausende andere Menschen, die Russland verlassen haben.

    Die Serie ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder. Für diese Reihe wurden Autorinnen und Autoren sowie Film- und Medienschaffende in Russland und im Exil eingeladen, den neuen Alltag seit dem 24.2.2022 zu dokumentieren und zu reflektieren.


    Ruhlebener Str. 150, 13597 Berlin / Foto © Max Sher
    Ruhlebener Str. 150, 13597 Berlin / Foto © Max Sher

    „Ich habe diese Fotos in Berlin mit einem alten Handy gemacht, hauptsächlich im ehemaligen Westteil der Stadt.

    Schon seit einigen Monaten ist Berlin mein neues Zuhause. Davor war ich 10 Jahre in Moskau, 13 Jahre in Piter (die Petersburger mögen dieses Wort nicht), 12 Jahre in Kemerowo und die ersten 11 Jahre im spätsowjetischen Leningrad.

    Man könnte meinen, diese Bilder seien ‚Symptome‘ von Nostalgie: Darauf sind Orte und Details der urbanen Landschaft festgehalten, die jedem aus der ehemaligen UdSSR irgendwie vertraut vorkommen.

    Nostalgie ist überhaupt eines der wichtigsten Themen für die migrantische Kultur. Doch alles mit Nostalgie Verbundene wirkt auf mich höchst anachronistisch – vielleicht wegen meines eigenen halben Nomadenlebens. Obwohl ich in allen Dokumenten jetzt Immigrant oder Migrant bin, bevorzuge ich für mich die Bezeichnung ‚Expat‘ in seiner ursprünglichen Bedeutung, frei von allen Konnotationen: ein Mensch, der einfach ex patria, außerhalb seines Geburtslandes, lebt. Zudem ist die Bezeichnung, auch wenn das vielleicht persönlich und symbolisch ist, eine Herausforderung für die etablierte Hierarchie unter den verschiedenen Kategorien von Zuwanderern. 

    Für mich drücken die Fotografien eine gewisse Trägheit im eigenen Blick aus: im Blick auf die bewohnte Landschaft, die bebaute Umgebung – aber definitiv keine Nostalgie. 

    Für mich drücken die Fotografien eine gewisse Trägheit im eigenen Blick aus: im Blick auf die bewohnte Landschaft, die bebaute Umgebung – aber definitiv keine Nostalgie. Dieser Blick hat sich innerhalb eines Jahrzehnts geformt, während meiner Erkundungen im Bereich der Landschaftsfotografie und während meiner Reisen durch den postsowjetischen Raum (der Begriff ist veraltet, doch einen anderen gibt es wohl leider noch nicht). Und infolge dieser ‚déformation professionelle‘, dieser eigenartigen künstlerischen Entstellung, erfasst mein Blick in der Landschaft Berlins nun ähnliche Orte und Details, auch wenn sie nicht gerade typisch für die Stadt sind. Im Übrigen sehen die nur dann ‚postsowjetisch‘ aus, wenn man sie oberflächlich betrachtet. Wenn man genauer hinsieht, verschwindet die Ähnlichkeit.

    Vielleicht ist es so, dass ich mit Hilfe dieser Flashbacks eine weitere Lebensphase abschließe und eine neue beginne.“

    Haselhorster Damm 57, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Haselhorster Damm 57, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Gartenfelder Str. 58, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Gartenfelder Str. 58, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Toeplerstraße 35, 13627 Berlin / Foto © Max Sher
    Toeplerstraße 35, 13627 Berlin / Foto © Max Sher
    Spandauer Havelpromenade, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Spandauer Havelpromenade, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Popitzweg 18, 13629 Berlin / Foto © Max Sher
    Popitzweg 18, 13629 Berlin / Foto © Max Sher
    Halemweg 17-19, 13627 Berlin / Foto © Max Sher
    Halemweg 17-19, 13627 Berlin / Foto © Max Sher
    Reichenberger Str. 174, 10999 Berlin / Foto © Max Sher
    Reichenberger Str. 174, 10999 Berlin / Foto © Max Sher
    Daumstraße 99, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Daumstraße 99, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Schneppenhorstweg 2, 13627 Berlin / Foto © Max Sher
    Schneppenhorstweg 2, 13627 Berlin / Foto © Max Sher
    Telegrafenweg, 13599 Berlin / Foto © Max Sher
    Telegrafenweg, 13599 Berlin / Foto © Max Sher

    Fotografie: Max Sher
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 24.11.2022

     

    Dieses Material ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder

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  • „Mir sind meine Wurzeln, meine Familie und meine Heimat genommen worden“

    „Mir sind meine Wurzeln, meine Familie und meine Heimat genommen worden“

    Wegen der Gewalt und der Repressionen in Belarus, sei es gegen Andersdenkende, sei es gegen Aktivisten, haben zehntausende Belarussinnen und Belarussen ihre Heimat verlassen. Auch im Zuge des Angriffskrieges, den Russland gegen die Ukraine führt, kehrten viele ihrer Heimat den Rücken. So ist im Ausland eine neue Diaspora entstanden, die aktiv versucht, von außen einen Demokratisierungsprozess weiterzuentwickeln, um bei einer etwaigen politischen Öffnung die neuen Impulse in Belarus selbst zu nutzen. Das in Warschau ansässige Künstlerkollektiv Heartbreaking Performance hat sich dabei der persönlichen Ebene vieler im Exil Lebender gewidmet und in einer Fotoausstellung das Gefühl von Heimweh thematisiert. In diesem Visual zeigt dekoder eine Auswahl von Bildern aus dieser Ausstellung und die Gründerin der Künstler-Gruppe, Ana Mackiewicz, beschreibt die Motivation für das Fotoprojekt.


    dekoder-Redaktion: Wie ist die Idee zu der Ausstellung entstanden?

    Ana Mackiewicz: Die Idee zu der Fotoausstellung kam mir vor etwas mehr als einem halben Jahr, noch vor Kriegsbeginn. Plötzlich wurde mir klar, dass ich die Straßen meiner Heimatstadt Minsk vor mir sehe, wenn ich die Augen schließe. Ich kann nicht zurück dorthin, ich würde festgenommen werden für das, was ich in der Immigration mache – wegen meiner Kunst, meines Engagements und dafür, dass ich die Wahrheit sage. Und ich dachte: Seltsam, ob das wohl allen so geht, wenn sie ihre Heimat längere Zeit nicht sehen? Ich kenne noch ein Phänomen: Wenn wir eine Person sehr lange nicht sehen, vergessen wir nach und nach, wie sie aussah, auch wenn sie uns wirklich nahestand. 
    Ich habe dann angefangen, die Menschen danach zu fragen und festgestellt, dass es nicht nur mir so geht. Ich wusste, dass viele ihr Zuhause vermissen, aber nicht groß darüber reden – es ist sehr schwer. Deshalb dachte ich: Vielleicht könnten Fotos von ihren Lieblingsorten ihnen ein bisschen helfen?

    So sah Minsk für Ana Mackiewicz aus, wenn sie aus dem Fenster ihres Wohnhauses blickte / Foto © Ana Mackiewicz
    So sah Minsk für Ana Mackiewicz aus, wenn sie aus dem Fenster ihres Wohnhauses blickte / Foto © Ana Mackiewicz

    Sie bezeichnen die Ausstellung als exhibition-experience. Was ist damit gemeint?

    Als ich anfing, Freunden und einigen Unterstützern von der Idee zu erzählen, meinte jemand: Warum eigentlich nur Fotos? Warum nicht das Ganze mit allem Drum und Dran? Und ich dachte: Stimmt, ich möchte den Menschen wirklich gern das Gefühl geben, zu Hause zu sein, auch wenn sie nicht dorthin können. Ein Minsk 2.0, etwas, das ihnen hilft, damit abzuschließen, um Kraft zum Weitermachen zu finden. Das heißt nicht unbedingt, dass sie die Sehnsucht vergessen, eines Tages zurückzukehren. Du musst eine Geschichte beenden, damit eine neue anfangen kann und Heilung möglich ist. Wir haben versucht, die Atmosphäre von Minsk nachzubilden und den Menschen das Gefühl zu geben, als seien sie dort – und doch in Sicherheit, anders als in der Stadt, die sie irgendwann in den beiden letzten Jahren verlassen haben. Außer Fotos gibt es Geräusche aus Minsk, einen kurzen Dokumentarfilm, in dem sich Menschen, die dort gewohnt haben, liebevoll an die Stadt erinnern, eine Pinnwand, an der die Menschen Gedanken und Wünsche zu ihrer Heimat hinterlassen können und sogar einen Raum, wo man weinen oder seine Lieben anrufen kann. Also wirklich ein Erlebnis, wenn man so will. Wir haben schon ein paar Geschichten gehört. Die Menschen haben ihre Häuser und ihre Balkone erkannt, ein Freund von mir hat auf einem Foto sogar seine Mutter entdeckt!

    Die Gruppe, die die Ausstellung initiiert hat, nennt sich Heartbreaking Performance Art Group. Was ist das für eine Gruppe und wie ist sie entstanden?

    Als die Proteste begannen, habe ich sofort angefangen, Protestkunst zu machen. Manchmal allein, manchmal zusammen mit anderen, die sich für das Projekt interessierten. Nach einiger Zeit bin ich zu dem Schluss gekommen, dass sich das alles um eine Idee dreht: Kunst als Aktivismus, als Werkzeug, um Menschen und die Welt zu verändern. Und ich wusste, diese Idee wird ihren Weg zu den richtigen Leuten finden, und die Leute werden zu ihr finden. Das Projekt erhielt den Namen Heartbreaking Performance. Ich wollte einen Namen, der klar aussagt: Wir machen keine schicke „philosophische“ Kunst, bei der es fast schon den Betrachtern überlassen bleibt, was sie sehen wollen. Wir machen Kunst, die zählt, die einen Sinn ergibt. Kunst, die zu Empathie und Selbstreflexion aufruft und die Menschen wachrüttelt. Wir haben unterschiedliche Projekte: Filme, Konzerte, Performances, Ausstellungen. Verschiedene Menschen, die mit einer dieser Formen arbeiten, stoßen für die Dauer eines Projekts zu uns und gehören während dieser Zeit auch zu Heartbreaking Performance. Und einige haben sich entschieden, über das Projekt hinaus dabei zu bleiben, was mich wirklich freut. 

    Außer Fotos gibt es Geräusche aus Minsk, einen kurzen Dokumentarfilm, (…), eine Pinnwand, an der die Menschen Gedanken und Wünsche zu ihrer Heimat hinterlassen können und einen Raum, wo man weinen kann

    Wie wurden die Fotografen für das Projekt ausgewählt?

    Einige kannte ich schon, und außerdem hat mir jemand, der sich in der belarussischen Fotografieszene sehr gut auskennt, geholfen, Leute zu finden. Manche haben uns auch angesprochen, weil sie unsere Insta-Kampagne gesehen haben. Leider konnten wir nicht alle einbeziehen, weil wir die Prints selbst finanziert haben und auch der Museumsraum nicht sehr groß war. Wenn wir nach Belarus zurückkehren, machen wir hoffentlich regelmäßig tolle Ausstellungen mit all diesen großartigen Künstlern, die sich an uns gewandt haben.
    Alle vermissen Minsk, manche nur ein bisschen, andere wirklich sehr. Wir haben Instagram-Postings zu den Teilnehmenden gemacht, und ich habe alle gebeten, ein paar Sätze zu Minsk zu schreiben – was immer sie möchten. Und diese Texte waren wirklich allesamt herzerwärmend. 

    Stammen Sie selbst aus Minsk?

    Ja, ich bin aus Minsk. Ich habe diese Stadt von Beginn unserer Beziehung an geliebt, sie ist wie Mutter oder Vater für mich. Wie schon gesagt, ich sehe sie, wenn ich die Augen schließe, manchmal träume ich von ihr. Es ist sehr schwer, nicht dorthin zurück zu können. Einige meiner Freunde in Belarus verstehen das nicht: „Du bist doch in Sicherheit, warum siehst du das so negativ? Du hast schon vor Jahren entschieden fortzugehen, also was soll das Theater?“ Nun, das ist eine etwas längere Geschichte. Kennst du diese Filme, wo die Helden vor die Wahl gestellt werden: Entweder du gehst mit den Außerirdischen und siehst deine Heimat nie wieder, oder du bleibst und wirst den Weltraum nicht sehen? Ich habe es nie wirklich verstanden, wenn jemand beschloss, alles zurückzulassen und auf Nimmerwiedersehen fortzugehen. Ich würde mich von mir aus nie so entscheiden. Die Ereignisse in Belarus 2020 haben dazu geführt, dass das ohne mein Zutun entschieden wurde. Ich hatte plötzlich keine Wahl mehr. 

    Und warum sind Sie letztlich fortgegangen?

    Ich bin aus Belarus fortgegangen, um meiner Musik-Karriere willen – die Kultur hat es dort leider schwer, wie immer in Diktaturen. Ich bin vor Jahren hierher nach Polen gekommen, und obwohl ich zur Hälfte Polin bin, konnte ich wegen meines Imigrantinnenstatus hier leider nie wirklich Karriere machen. Ich habe es in anderen Ländern versucht, und ich glaube, ich hätte es auch geschafft. Aber Corona hatte andere Pläne mit mir, so wie mit allen Künstlern überall auf der Welt. Wie auch immer, vor dem 9. August 2020 konnte ich manchmal nach Hause fahren, um Freunde und Familie zu sehen. Als die Proteste losgingen, dachte ich, dass es mit der Diktatur bald vorbei ist. Aber selbst wenn ich das nicht geglaubt hätte, hätte ich dasselbe getan. Ich wurde Aktivistin und machte aktivistische Kunst. Laut und ohne Scheu, Gesicht zu zeigen. Es gab keine Briefe oder Hinweise, dass ich festgenommen würde, wenn ich nach Belarus gehe. Aber ich habe vieles getan, wofür Leute dort im Gefängnis sitzen. Niemand kann sich dort einen Augenblick lang sicher fühlen, der hier in Warschau auch nur an Demonstrationen teilgenommen hat. Sie verhaften die Leute einfach willkürlich. Am liebsten würden sie wohl alle einsperren, die mit dem, was sie tun, nicht einverstanden sind, selbst Kinder, aber dafür haben sie ja Kinderheime.  
    Also: Ja, mir sind meine Wurzeln, meine Familie und meine Heimat genommen worden, der Ort, wo ich immer wieder zu mir kommen konnte. Das schmerzt, es ist auch eine Art von Gefängnis. Ich kann nicht normal leben, wenn ich nicht nach Hause kann. Mein Leben steht einfach auf Pause.

    Die Phrase Ja chatschu da domu, Ich will nach Hause, hört man häufig von den Belarussen, die ihre Heimat wegen der Repressionen verlassen mussten. Symbolisiert dieser Ausruf die Hoffnung, dass eine Rückkehr bald möglich ist?

    Ja, das glaube ich. Ich kenne viele, die zurückkehren werden, egal, wie lang sie im Ausland gelebt haben. Sie wollen nach Hause in ihr Land, um es mit aufzubauen und auf eine bessere Zukunft hinzuarbeiten. Ein Propagandamedium des Regimes hat zu unserer Ausstellung geschrieben: „Haha, diese Versager, jetzt stellen sie plötzlich fest, dass sie nach Hause wollen“ und so weiter. Ich finde, genau das ist unsere Stärke – offen und laut zu sagen: Ja, wir wollen nach Hause. Es ist unsere Heimat, und wir haben das Recht dazu; ihr habt sie vielleicht gestohlen, aber nicht für lange Zeit. Wir können warten. Wir werden nicht dorthin gehen, um uns von euch einsperren zu lassen. Wir werden Belarus von hier aus aufbauen und bewahren – von außen, damit es leben und zu einer modernen, wachen, reifen und selbstbestimmten Gesellschaft werden kann, wenn die Zeit für unsere Rückkehr kommt. „Asgard ist kein Ort, Asgard ist, wo unsere Leute sind“, sagt Odin in einem dieser Marvel-Filme. Belarus ist so eine Art Asgard.

    Wir werden Belarus von hier aus aufbauen und bewahren – von außen, damit es leben und zu einer modernen, wachen, reifen und selbstbestimmten Gesellschaft werden kann, wenn die Zeit für unsere Rückkehr kommt

    Wie ist die Lage in Warschau und Polen für die emigrierten Belarussen?

    Die Lage in Polen ist leider gespalten. Es gibt eine ganze Menge Leute, die uns verstehen und unterstützen. Aber ein großer Teil der polnischen Gesellschaft hat grundsätzlich etwas gegen Einwanderer und findet, dass sie entweder zurück in ihre Heimat müssen (egal, ob sie dort verhaftet oder getötet werden, solche Einzelheiten interessieren diese Leute nicht) oder die Drecksarbeit machen sollten – ihr seid ja schließlich Immigranten, oder? Was redet ihr da von guten Jobs – seid doch dankbar, dass ihr überhaupt hier sein dürft. Ich denke, der Krieg und die Tausenden von Kriegsflüchtlingen haben die Situation da sehr stark beeinflusst, und sie war vorher schon nicht besonders stabil. Also, da sind großartige Menschen, die wirklich helfen und wir sind dankbar für ihre Unterstützung und einfach dafür, dass sie da sind. Aber manchmal hat man auch schlicht Angst, im Bus oder auf der Straße auf Russisch oder Belarussisch mit der eigenen Mutter zu telefonieren. Das fühlt sich wirklich seltsam an. 

    Gibt es schon neue Pläne für weitere Kulturprojekte?

    Klar, wenn unsere finanziellen und psychischen Möglichkeiten es erlauben, möchten wir die Ausstellung gern in andere Städte bringen, wo es viele Menschen aus Belarus gibt. Und wir hoffen, dass wir so etwas später auch zu anderen belarussischen Städten und Orten machen können, für diejenigen, die nicht aus Minsk sind. Wir planen schon, die Ausstellung in Vilnius zu zeigen und sind dabei, das ehemalige Restaurant „Minsk“ in Potsdam zu kontaktieren, das vor einiger Zeit als Kunsthaus wiedereröffnet wurde. Das scheint uns der ideale Ort für ein solches Projekt zu sein!

     „Alle vermissen Minsk, manche nur ein bisschen, andere wirklich sehr“ / Foto © Ivan Uralsky
    „Alle vermissen Minsk, manche nur ein bisschen, andere wirklich sehr“ / Foto © Ivan Uralsky
    Still und friedlich – ein Abend irgendwo im Zentrum von Minsk / Foto © Anna Veres
    Still und friedlich – ein Abend irgendwo im Zentrum von Minsk / Foto © Anna Veres
    Nur noch eine Erinnerung – flirrend heiße Minsker Sommer / Foto © Ana Mackiewicz
    Nur noch eine Erinnerung – flirrend heiße Minsker Sommer / Foto © Ana Mackiewicz
    Abendliches Minsk vor dem Einschlafen hinter all diesen Fenstern / Foto © Anna Veres
    Abendliches Minsk vor dem Einschlafen hinter all diesen Fenstern / Foto © Anna Veres
    Verregnetes Minsk / Foto © Ivan Uralsky
    Verregnetes Minsk / Foto © Ivan Uralsky
    In gelb getauchte Straßen von Minsk / Foto © Ana Mackiewicz
    In gelb getauchte Straßen von Minsk / Foto © Ana Mackiewicz
    Kein Fang  / Foto © Maksim Bahdanovich
    Kein Fang / Foto © Maksim Bahdanovich
    Nach dem Regen – Minsk, wenn es aufklart  / Foto © Mikita Kiryienka
    Nach dem Regen – Minsk, wenn es aufklart / Foto © Mikita Kiryienka
    „Ich wusste, dass viele ihr Zuhause vermissen, aber nicht groß darüber reden – es ist sehr schwer“ / Foto © Ana Mackiewicz
    „Ich wusste, dass viele ihr Zuhause vermissen, aber nicht groß darüber reden – es ist sehr schwer“ / Foto © Ana Mackiewicz
    Minsker Untergrund / Foto © Ivan Uralsky
    Minsker Untergrund / Foto © Ivan Uralsky
    Chruschtschowka im Abendlicht von Minsk  / Foto © Andrey Dubinin
    Chruschtschowka im Abendlicht von Minsk / Foto © Andrey Dubinin
    Des Nachts verwaiste Straßenbahngleise / Foto © Carolina Poliakowa
    Des Nachts verwaiste Straßenbahngleise / Foto © Carolina Poliakowa
    Im Licht eines Einkaufszentrums / Foto © Anna Veres
    Im Licht eines Einkaufszentrums / Foto © Anna Veres
    Street Art / Foto © Malyavko
    Street Art / Foto © Malyavko

    Interview: dekoder-Redaktion
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: Anselm Bühling
    Veröffentlicht am 08.11.2022

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