SEBASTIAN WELLS „Es hat sich nicht richtig angefühlt, zu fotografieren, ohne viel über die ukrainische Kultur zu wissen“
Seit meiner ersten Reise nach Kyjiw im April 2022 ist die Stadt wie zu einer zweiten Heimat für mich geworden. Es ging mir darum, die Ukraine und den Krieg besser zu verstehen und herauszufinden, welche Rolle ich als Fotograf in einer solchen Situation haben kann – dabei wollte ich auf keinen Fall in Kampfgebiete. Ich konnte viele Menschen kennenlernen und Freundschaften schließen. Zum Beispiel mit Vsevolod Kazarin, mit dem ich dieses Foto von Denys zusammen aufgenommen habe, und auch fast alle anderen Bilder, die in der Ukraine entstanden sind. Denys ist inzwischen 25 Jahre alt und kommt aus Donezk. 2016 floh er als Teenager aus der Stadt. Doch er wollte sie nicht sang- und klanglos verlassen, sagt er. Zusammen mit einem Freund, einer blauen und einer gelben Spraydose und einer Gesichtsmaske bewaffnet, lief er um 4 Uhr morgens zum Lenin-Denkmal im Stadtzentrum. Auf einem der am besten bewachten Orte der Stadt sprühten die beiden eine ukrainische Flagge auf den Sockel der großen Statue. Die beiden rannten zu einem Taxi, fuhren zum Bahnhof und erst nach Charkiw, dann nach Kyjiw.
„Wir waren naive Jugendliche“, sagt er dazu heute. „Erst im Nachhinein ist mir bewusst geworden, wie gefährlich das war.“ Sie filmten ihre Aktion, die ein YouTube-Hit wurde – was für Denys zweifelsohne harte Konsequenzen seitens der russischen Besatzungsverwaltung haben könnte, würde er jetzt nach Donezk zurückkehren. Dann war er ganz allein in Kyjiw – im Winter, ohne Geld, ohne Arbeit, ohne Netzwerk. Fünf Jahre brauchte er, um in der Hauptstadt anzukommen. Heute hat er einen Vintage-Laden und ein Tattoo-Studio im Zentrum von Kyjiw. Von seiner Mutter, die noch in Donezk wohnt, hört er, dass sie dort nur noch einmal in der Woche Wasser haben und dass fast keine Männer mehr arbeiten, weil die meisten im Militär sind – oder bereits an der Front gestorben.
Während meiner Reisen nach Kyjiw habe ich nicht viel fotografiert, aber dafür umso mehr gelernt. Vor allem über die vielseitige Kunstgeschichte des Landes, die in den Breitengraden, in denen ich aufgewachsen bin, fast keine Rolle spielt – obwohl einst im selben Ostblock befindlich.
Es hat sich oft nicht richtig angefühlt, den Alltag zu fotografieren, ohne viel über die ukrainische Kultur zu wissen. Aus der Zusammenarbeit mit Vsevolod ist ein Magazin entstanden: soлomiya. Wir wollten eine Publikation machen, die sowohl für Ukrainer*innen als auch für Menschen in mittel- und westeuropäischen Ländern interessant ist. Das verbindende Mittel dabei ist der Fokus auf junge Menschen und künstlerische Ausdrucksformen. Inzwischen machen wir ein Crowdfunding für die zweite Ausgabe. Ein positives Gefühl in einem ansonsten durch und durch grässlichen Krieg.
SEBASTIAN WELLS Sebastian Wells ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Als Mitglied des Berliner Fotografenkollektivs Ostkreuz und Künstler der Galerie Springer. Er arbeitet im Auftrag und an eigenen Projekten als Dokumentarfotograf. Er studierte Fotografie an der Ostkreuzschule in Berlin, der FH Bielefeld und der KASK School of Arts in Gent.
VSEVOLOD KAZARIN Vsevolod Kazarin ist ein junger Fotograf, der an künstlerischen, redaktionellen und kommerziellen Projekten arbeitet. Er wurde in der Region Luhansk geboren und wuchs in einem Vorort von Kyjiw auf, wo er derzeit lebt. Nach einem Bachelor-Abschluss in Fotografie an der Kyiv National University of Culture and Arts arbeitete er hauptsächlich in der Modefotografie
GEMEINSAME AUSSTELLUNGEN 2022 Artist Talk and Group Exhibition, soлomiya № 1, Galerie Springer, Berlin 2022 Group Exhibition, soлomiya № 1, Feldfünf Projekträume, Berlin
2020 traten, für viele unerwartet, neue politische Anführer und Aktivisten in Belarus auf den Plan, die umgehend mit dem Label „Opposition 2.0“ versehen wurden. Die alte Garde, die sich jahrzehntelang auf den Moment des Umbruchs vorbereitet hatte, war mehr oder weniger aus dem Spiel.
Allerdings konnten auch die neuen Anführer nicht erreichen, dass die Proteste sich durchsetzen und zu einem politischen Wandel führen. Viele Vertreter der Opposition, der alten wie der neuen, kamen ins Gefängnis oder wurden ins Ausland vertrieben.
Zwei Jahre später scheint es, als ob die neue Opposition in die gleiche Falle tappt wie die alte: Sie wird von Fehden und Skandalen erschüttert. Vor allem hat sie keinen Einfluss auf das Geschehen in Belarus selbst. Die Umfragewerte für die Teams der demokratischen Kräfte im Ausland sinken. Es besteht die Gefahr, dass sie sich zerreiben wie einst ihre Vorgänger. Was aber ist mit der alten Opposition? Wie sehen die Aussichten der neuen Opposition aus? Diesen und anderen Fragen geht der Politanalyst Alexander Klaskowski nach.
Die stürmischen Ereignisse des Jahres 2020 führten dazu, dass in Belarus eine neue Opposition entstand. Die alte Garde der ideellen Opponenten des Regimes, die viele Jahre lang davon geredet hatte, dass eine revolutionäre Situation unabdingbar sei, war auf paradoxe Weise in jenem historischen Moment, da die Massen erwachten, praktisch aus dem Spiel. Allerdings gelang es auch den neuen Anführern nicht, für einen Sieg der Proteste zu sorgen.
Ist die alte Opposition politisch noch am Leben? Hat sie eine Chance, im Kampf gegen das Regime von Lukaschenko das Wort zu führen, in einem Kampf, bei dem die Aussichten nach der Erstickung der Proteste erneut unklar sind?
Das Regime hat die alte Opposition schrittweise marginalisiert
Der Urtypus einer demokratischen Revolution in Belarus war die gegen Ende der Sowjetunion in den Jahren der Perestroika entstandene Belarussische Volksfront (BNF), die nach Vorbild der Bewegungen geschaffen wurde, die in den baltischen Ländern für eine Loslösung von der UdSSR kämpften. In den ersten Jahren der Unabhängigkeit gab es keinen Präsidenten, und das Parlament, der Oberste Sowjet, war relativ pluralistisch (damals wurden bei Wahlen noch die Stimmen gezählt). Dort saß auch die zwar nicht große, doch energische Fraktion der BNF um ihren Anführer Senon Posnjak.
Die Volksfront büßte allerdings allmählich ihre Popularität ein. Vielen Belarussen, deren Bewusstsein einer starken Russifizierung unterworfen war, erschien das von der Volksfront vorgelegte Programm zur nationalen Wiedergeburt zu radikal. Ein beträchtlicher Teil der Wählerschaft empfand bald Nostalgie für die UdSSR, was von dem talentierten Populisten Lukaschenko ausgenutzt wurde, der 1994 bei den ersten Präsidentschaftswahlen an die Macht kam.
Unterdessen war Anfang der 1990er Jahre angesichts der relativ liberalen Haltung der Regierung ein ganzes Spektrum politischer Parteien entstanden. Einigen Parteien gelang es, sich offiziell registrieren zu lassen, bis zu dem Punkt, da das erstarkte autoritäre Regime von Lukaschenko diesen Prozess wieder einfror (seit 1999 wurde vom Justizministerium keine einzige neue Partei registriert).
Das Regime war da noch nicht so brutal wie jetzt. Es bandelte von Zeit zu Zeit mit dem Westen an. Die Oppositionsparteien wurden zwar diskriminiert, konnten aber legal agieren. Sie konnten Versammlungen abhalten, ihre Kandidaten nominieren und Wahlkampf machen.
Für die Opposition war es jedoch nicht möglich, die Machthaber durch einen Urnengang abzulösen. Zum einen hatte Lukaschenko einstweilen noch einen breiten Rückhalt bei den Wählern. Er konnte einen Anstieg des Lebensstandards gewährleisten, der nach postsowjetischen Maßstäben nicht schlecht war (und das in vielem durch die finanzielle und wirtschaftliche Hilfe Moskaus). Die Masse der durchschnittlichen Belarussen war dem Führer dankbar für Speck und Schnaps.
Zweitens schanzte sich die Regierung bei den Wahlen Stimmen zu; dafür wurden die Wahlkommissionen mit den „eigenen Leuten“ besetzt. Und mit jedem Wahlgang nahmen die Fälschungen (die sich unter anderem durch unabhängige Sozialforschung ermessen lassen) immer größere Dimensionen an.
Drittens wurden Opponenten Lukaschenkos systematisch in ein Ghetto getrieben, durch Propaganda und Repressionen (die damals noch dosiert waren). Sie wurden als Loser und Agenten des Westens diffamiert.
Kurzum, die Opposition, die später die „alte Opposition“ genannt wurde, wurde schrittweise marginalisiert. Innerhalb der Opposition nahmen die Streitigkeiten zu. Deswegen brachte sie im Frühjahr 2020 sogar die eigenen „Primaries“ zum Scheitern, den Prozess zur Festlegung eines gemeinsamen Kandidaten, der der Gegenkandidat Lukaschenkos werden sollte.
Die Präsidentschaftswahlen, die für den 9. August 2020 angesetzt waren, hätten grau und blutleer sein können, doch warfen plötzlich neue Figuren dem Führer den Fehdehandschuh hin, Figuren ohne eine Aura aus Niederlagen und Skandalen: der Blogger Sergej Tichanowski, der ehemalige Banker Viktor Babariko und der ehemalige Leiter des Hightech-Parks Waleri Zepkalo.
Als man Tichanowski (und dann Babariko) verhaftete, zog unerwartet Swetlana Tichanowskaja, die Frau des Bloggers, mit in den Kampf. Diese Frau, die gestern noch Hausfrau gewesen war, machte einen phänomenalen Wahlkampf. Ihre Gestalt verkörperte die Hoffnungen auf einen Wandel. Also stimmten Millionen für Tichanowskaja. Sie hat, mittelbar erlangten Daten zufolge, de facto über den Führer gesiegt.
Die Zentrale Wahlkommission verkündete jedoch einen Sieg Lukaschenkos mit 80 Prozent der Stimmen. Die massenhaften spontanen Proteste empörter Verfechter von Veränderungen wurden brutal unterdrückt. Tichanowskaja wurde in die Emigration gezwungen, ein Teil ihrer Mitstreiter ebenfalls, ein anderer Teil wanderte ins Gefängnis.
Innerhalb des Landes wird jetzt alles Lebendige niedergebrannt
Die neuen Anführerinnen konnten den friedlichen Aufstand jedoch nicht wirklich leiten, sie hatten keine Strategie. Wenn man jedoch genauer hinschaut, hatte auch die alte, klassische Opposition nie eine wirksame Strategie. In ihren Kreisen herrschte folgende stereotype Vorstellung: Wenn hunderttausend Protestierende auf die Straße gehen, wird die Miliz auf die Seite des Volkes wechseln, und die Sache ist geritzt – das Regime stürzt.
2020 kamen jedoch mehrere hunderttausend Menschen zu den Kundgebungen. Dennoch gewannen die wohltrainierten und gut ausgerüsteten Sicherheitskräfte mit ihren von der Propaganda gewaschenen Hirnen die Oberhand. Lukaschenko fand Gefallen an der Gewalt und machte sie zu seinem wichtigsten politischen Instrument. Jetzt steckt die neue Opposition in der gleichen Sackgasse, in der die alte gesteckt hat: Gegen Gewalt helfen keine Pillen.
Unterdessen befahl Lukaschenko eine Neuregistrierung der Parteien, was praktisch eine Auflösung der alten Oppositionsprofile bedeutet. Es ist ein neues Parteiengesetz in Arbeit, dem zufolge nur zutiefst loyale Parteien auf die politische Bühne gelassen werden, als Attrappen.
Formal bestehen die Parteien der alten Opposition – unter anderem die Vereinigte Bürgerpartei (OGP), die Partei der BNF, die Belarussische Sozialdemokratische Partei (Hramada) (BSDP) und Gerechte Welt – zwar noch, doch de facto sind sie in einer Atmosphäre des absoluten Terrors gelähmt.
Der wohl letzte Versuch, legal eine öffentliche Aktion zu veranstalten, war der Antrag der Partei der Grünen vom April, den traditionellen Gedenkmarsch Tschernobylski schljach abzuhalten. Wie vorherzusehen, wurde er von den Behörden abgelehnt. Wer auf nicht genehmigte Veranstaltungen geht, landet mit Sicherheit im Gefängnis.
Einige Anführer der traditionellen Opposition, die sich den Protesten von 2020 angeschlossen haben, wurden zu wahrhaft stalinistischen Freiheitsstrafen verurteilt: der Christdemokrat Pawel Sewerinez zu sieben Jahren, der Sozialdemokrat Nikolaj Statkewitsch zu 14 Jahren. Der Leiter der Partei der BNF, Grigori Kostussew, erhielt zehn Jahre, nachdem er der „Verschwörung zum Zwecke der Machtergreifung“ beschuldigt worden war.
Heute wird jede Aktivität im Land, die nicht unter der Kontrolle des Staates steht, kriminalisiert: Rühr dich und erhebe deine Stimme gegen das Regime, und schon wanderst du ins Gefängnis, wegen Volksverhetzung, „Beleidigung der Regierung“, „Extremismus“, „Vorbereitung von Massenunruhen“ oder nach irgendeinem anderen fadenscheinigen Paragrafen des Strafgesetzbuches.
Ein Beispiel hierfür ist die OGP, die versucht hatte, in gewissem Maße aktiv zu bleiben. Daraufhin wurde die gesamte Parteispitze verhaftet. Anfang November erhielt Parteichef Nikolaj Koslow zweieinhalb Jahre Straflager. Formal wegen Beteiligung an einem Protestmarsch im August 2020, in Wirklichkeit jedoch, weil er versucht hatte, unter den aktuellen harten Bedingungen das Parteileben in Gang zu bringen. Vor kurzem ist Koslow von einem Parteitag als Vorsitzender wiedergewählt worden, aber das ist ein rein symbolischer Schritt. Aus dem Gefängnis heraus wird er die Partei nicht führen können. Und was genau soll er eigentlich leiten? Alle sitzen mucksmäuschenstill herum.
Andere Vertreter der alten Opposition waren gezwungen, sich vor dem Damoklesschwert der Repressionen ins Ausland zu retten. So befindet sich der Vorsitzende der BSDP, Igor Borissow, jetzt mit seiner Familie in Belgien. Die meisten emigrierten nach Litauen und Polen. Dabei schloss sich ein Teil der alten Oppositionsgarde in der Emigration Strukturen der neuen Opposition an. Einige werden sogar als graue Eminenzen betrachtet. Auf jeden Fall konnten die politischen Neulinge eindeutig die organisatorische und sonstige Erfahrung von Leuten gebrauchen, die sich dem Regime schon viele Jahre entgegenstellen.
Im Team von Tichanowskaja arbeiten die Vertreter der OGP Alexander Dobrowolski, Anatoli Lebedko und Anna Krassulina. Olga Kowalkowa von der Belarussischen Christdemokratie ist eine der prominenten Figuren des Koordinationsrates, der als Urparlament eines zukünftigen Belarus betrachtet wird. Dem Anführer der Bewegung für die Freiheit, Juri Gubarewitsch, wurde im Vereinigten Übergangskabinett, einer Art Exilregierung, die Aufgabe anvertraut, die „Kaderreserven für ein neues Belarus auszubilden“.
Wird Lukaschenko von einer Opposition 3.0 überwunden werden?
Die alte Opposition liegt also zum Teil am Boden und ist nicht mehr dabei. Zum Teil ist sie gewissermaßen in der „Opposition 2.0“ aufgegangen. Gleichzeitig sind die Vorstellungen der alten Garde nicht verschwunden. Ein markantes visuelles Symbol der Proteste 2020 ist das Meer der historischen weiß-rot-weißen Flaggen. Die Bestrebungen der BNF und anderer oppositioneller Gruppen der „ersten Welle“, die das nationale Bewusstsein stärken wollten, haben Früchte getragen.
Vertreter der alten Opposition hatten Tichanowskaja und die anderen politischen Neulinge von 2020 anfangs kritisiert, weil die Plattform schwammig sei, weil man Referenzen Richtung Moskau mache, weil man der Frage aus dem Weg gehe, wem die Krim gehört, weil man sich nicht genug um das Belarussische und das historische und kulturelle Erbe der Nation kümmere. Die neue Opposition formuliert jetzt immer deutlicher Parolen von einer nationalen Wiedergeburt, einem Widerstand gegen die imperialistische Politik des Kreml und einem europäischen Weg. Man tastet also auf der Suche nach Rückhalt das ideelle Fundament ab, das de facto von der traditionellen Opposition gelegt wurde. Allerdings tappte die neue Opposition in die gleiche Falle wie die alte. In den letzten Monaten 2022 wird die nach 2020 entstandene politische Diaspora von Fehden und Skandalen erschüttert.
Kritiker sind der Ansicht, dass das Team von Tichanowskaja den ganzen Kuchen will, sich gegen die Bildung einer starken Koalition wendet, zu wenig transparent ist und keine klare, überzeugende Strategie hat. Einige Mitglieder ihres Teams versuchen, die berechtigte Kritik und die Recherchen unabhängiger Medien als Wühlarbeit des Regimes und seiner Geheimdienste hinzustellen.
Das größte Problem besteht darin, dass die politische Diaspora keine Hebel in der Hand hat, um auf das Geschehen in Belarus selbst Einfluss zu nehmen. Der politische Terror, den das Regime entfesselt hat, wirkt. Lukaschenko hat mit seinen barbarischen Methoden die Lage im Land betoniert.
Schwer zu sagen, wie lang dieser Alptraum andauern wird, aber es bleibt eine Tatsache: Die Massen zu einem Aufstand gegen das Regime zu mobilisieren (das nach Ansicht einer Reihe von Politologen in eine totalitäre Phase getreten ist) ist heute undenkbar. Also hängen sämtliche Strategien seiner Opponenten in der Luft. Viele Anhänger von Veränderungswünschen sind frustriert. Die Umfragewerte der Teams der demokratischen Kräfte im Ausland gehen zurück. Dort riskiert man, sich in Streitereien zu verheddern, in eine Imitation stürmischer Aktivität abzugleiten und letztendlich marginalisiert zu werden, wie es einst mit der alten Opposition geschah.
Natürlich wird das Regime von Lukaschenko nicht ewig währen. Aber auch das Mandat und der Vertrauensvorschuss für Tichanowskaja, ihr Team und für die ganze neue Opposition sind nicht auf ewig. Und wenn sie die Herausforderungen nicht bewältigt, dann könnte es sein, dass im Moment des Wandels nicht sie an der Spitze steht, sondern ganz andere, deren Namen wir heute noch nicht kennen. Wahrscheinlich wird es eine Opposition 3.0 geben, die letztendlich nicht mehr Opposition, sondern Regierung sein wird.
Zehn Jahre ist der belarussische Fotograf Siarhej Leskiec durch seine Heimat gereist, hat recherchiert und fotografiert. So ist ein besonderes Projekt entstanden, das sich mit dem archaischen Heilritus des Flüsterns beschäftigt. Das Projekt und das daraus entstandene Buch haben in Belarus und in der belarussischen Exil-Gemeinschaft sehr viel Aufmerksamkeit erfahren. So ist sogar ein Theaterstück auf Grundlage von Leskiec’ Recherchen entstanden, das von den Kupalaucy auf die Bühne gebracht wurde, dem Ensemble, das von den ehemaligen Angestellten des Janka Kupala-Theaters nach ihrer Entlassung infolge der Proteste 2020 gegründet worden war. Das Stück feierte in Stuttgart im November 2022 Premiere.
Wir haben Siarhej Leskiec zu seiner Arbeit und zur Tradition des Flüsterns befragt und zeigen dazu eine Auswahl an Bildern aus dem Projekt.
Siarhej Leskiec: Dieses Projekt beschäftigt sich mit der sehr alten und verschlossenen Tradition der Heilkunde. Es geht um die Menschen, die dieses Wissen pflegen. Dem Glauben nach besitzen sie alle die höhere göttliche Gabe, Menschen mit Worten und Handlungen zu heilen. Als wäre es nichts Übernatürliches, spricht der Heiler im Flüsterton geheimnisvolle Worte und heilt damit Menschen und auch Haustiere, zum Beispiel Kühe und Pferde. Die Gabe wird immer an die übernächste Generation weitergegeben, von der Großmutter auf die Enkelin, vom Großvater auf den Enkel. Diese Tradition ist fast ohne Unterbrechung aus der Tiefe der Jahrhunderte und Jahrtausende bis zu uns heute durchgedrungen. Diese Tradition ist nie abgebrochen, trotz des jahrtausendelangen Drucks seitens der christlichen Kirche, der Inquisition, des sowjetischen Atheismus und der Repressionen. Das hat mich inspiriert, denn viele bei uns haben schon von dieser Tradition gehört oder sind ihr begegnet, aber noch niemand hat je diese Menschen fotografiert.
Der Fotoapparat war für mich eine Art Eintrittskarte in diese Welt des Geheimnisvollen und Mystischen. Dank der Kamera bekam ich Zugang zu dieser verschwindenden Welt meiner Ahnen. Ich konnte mit eigenen Augen sehen, wovon ich vorher nur in anthropologischen und ethnografischen Büchern gelesen hatte.
Wie sind Sie auf diese Art des Heilens aufmerksam geworden?
Auf die eine oder andere Weise stammen wir Belarussen alle aus dem Dorf und sind dort tief verwurzelt, das ist wie ein genetisches Gedächtnis. Selbst in der Bezeichnung liegt eine tiefere Bedeutung. Babka nennen wir unsere eigene Großmutter, aber auch die Heilerin. Jeder kann eine Geschichte davon erzählen. Wenn zum Beispiel ein kleines Kind schlecht schläft, nachts schreit und die ganze Zeit weint, dann gibt man ihm ein bisschen von dem Wasser zu trinken, das der Heiler mit seinen Worten beflüstert hat. Häufiger behandeln sie Ausrenkungen, Zerrungen, Infektionskrankheiten (Ausschlag, Wundrose), oder sie versuchen, bei Unfruchtbarkeit zu helfen.
Ich selbst hatte schon als Kind davon gehört und gewusst, aber es nie mit eigenen Augen gesehen. Als ich dann zum ersten Mal eine solche Frau besuchte, war ich so aufgeregt, dass ich gar nicht fotografieren konnte. Ich brauchte einige Jahre für die Vorbereitung und das Eintauchen in dieses Thema. Ich habe unheimlich viel gelesen, bin herumgefahren und habe gesucht, wieder und wieder. Und eines Tages gelang es mir dann schließlich, mit dieser ersten Heilerin zu sprechen und ein Porträt von ihr zu machen. Ich wollte eigentlich schon nach Hause fahren, als zu dieser Heilerin Patienten zur Behandlung kamen und mir erlaubten, dabei zu sein. Stellen Sie sich vor, zwei Jahre sitzt du nur da und liest Bücher, und dann kommt der Moment, in dem man dir erlaubt, das zu sehen, was für andere tabu ist. Das war auf eine Art, so seltsam das klingen mag, meine Initiation. Danach war alles einfacher, ich traf öfter die richtigen Leute, und alle waren bereit zu Gesprächen. Denn ich war nicht mehr nur ein neugieriger Mensch, sondern trug schon etwas von ihrem Wissen in mir.
Was passiert beim Flüstern genau?
Wie sie heilen, kann man jemandem, der in der rationalen Welt lebt, nur schwer erklären. Es folgt keiner Logik und auch nicht dem Verständnis der modernen Medizin und Wissenschaft. Die Heiler leben bis heute in einer mystisch-poetischen Welt, einer Welt der Märchen und Legenden, wie unsere Vorfahren sie kannten. Für sie basiert jedes Verständnis der Umwelt auf Empfindungen und Gefühlen.
Früher wurde die Tradition stets an die übernächste Generation weitergegeben, vom Großvater zum Enkel. Der Nachfolger musste der Älteste oder der Jüngste sein, nie der Mittlere. Er musste ein gutes Gedächtnis und einen anständigen Charakter haben, Mitgefühl und den Wunsch, anderen zu helfen. Der zukünftige Heiler wurde von früher Jugend an ausgebildet, ab dem Alter von sieben bis zwölf Jahren. In diesem Alter hat der Mensch ein kristallklares Gedächtnis, was er hört, merkt er sich sein Leben lang. Erst kurz vor dem Tod übergab der alte Heiler dann seine Gabe, ohne die das gesamte Wissen nutzlos wäre. Es gab auch eine andere Kategorie von Heilern, die ihre Gabe nicht durch Erbfolge bekamen, sondern von der Natur. Sie waren mächtiger. Diese Menschen erhielten ihre heilenden Kräfte und Worte im Schlaf, von höheren Mächten.
Wie heilen sie also? Meistens spricht der Heiler flüsternd seine Gebete über Wasser, das er aus dem Brunnen geholt hat. Danach muss der Kranke dieses Wasser trinken oder sein Gesicht damit waschen. Einige Heiler sprechen die Worte auch direkt über dem Patienten.
Es gibt zahlreiche und sehr vielfältige Methoden. Hautausschlag zum Beispiel wird mit Kondenswasser von der Fensterscheibe eingerieben. Dabei werden natürlich die notwendigen Worte geflüstert. Wundrose, eine Infektionskrankheit, wird in der Regel so behandelt: Man legt ein rotes Tuch auf die betroffene Hautstelle und rollt aus Leinenfasern kleine Kügelchen, die man beim Sprechen der Gebete über diesem roten Tuch verbrennt. Bei einigen Krankheiten werden zur Behandlung auch Kräuter eingesetzt. Sie werden entweder als Tee getrunken, in Form einer Tinktur verabreicht oder angezündet, sodass der Qualm die Kranken umhüllt.
Ist diese Tradition in ganz Belarus verbreitet?
Die Tradition verschwindet so schnell wie das Dorf. Schon heute sind diese Bräuche nicht mehr überall gleich stark verbreitet. Im Westen von Belarus zum Beispiel, wo die katholische Bevölkerung überwiegt, gibt es sehr wenige Träger dieser Tradition. Der Katholizismus hat dort gut „gewirkt“. Stärker ist die Heilkunde in den Grenzregionen erhalten, zum Beispiel auf dem Gebiet Palessiens. Dort trifft man noch Heiler an. Früher gab es fast in jedem größeren Dorf eine solche Person.
In den Städten gibt es heute wie überall auf der Welt Vertreter des modernen Neoschamanismus und Heilpraktiker, doch das hat mit unserer Tradition überhaupt nichts gemein.
Wo liegen die Wurzeln dieser Heilpraxis, und wie konnte sie die Zeit der Sowjetunion überdauern?
Man kann heute kaum mehr sagen, in welcher Zeit der Ursprung liegt. Wissenschaftler verorten ihn in der ursprünglichen Magie des Wortes, sehen in dieser Heilmethode eine der ersten Formen der Folklore. Der Ursprung liegt also in der Zeit, in der das Wort selbst entstand und seine sozusagen magischen Kräfte erlangte. Als der Mensch begann, seine Umgebung zu benennen und zu bezeichnen.
In dieser oder anderer Form gab es in allen Völkern in einem bestimmten Entwicklungsstadium Heiler, also Menschen, die dabei halfen, mentale, geistige und körperliche Gesundheit zu erlangen. Während zum Beispiel in Europa die Inquisition diese Menschen weitgehend umgebracht hat, war in unserer Region die Kirche milder eingestellt. Dadurch konnte die Tradition über die tausendjährige Herrschaft des Christentums hinweg bewahrt werden. Als die sowjetische Ideologie an die Macht kam, setzte sich der Druck fort. Die Heiler waren denselben Repressionen wie die Priester ausgesetzt, wurden nach Sibirien deportiert.
Das führte aber nicht zum Abbruch der Tradition, sie fand einfach unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und wurde geheim gehalten. Die Behandlungen wurden nachts vorgenommen, damit niemand davon erfuhr. Mir ist zu Ohren gekommen, dass beispielsweise ein Kommunist heimlich zu einer Heilerin ging, um einen giftigen Schlangenbiss behandeln zu lassen, da es nicht möglich war, da kein Krankenhaus in Reichweite war. Das war für beide Seiten gefährlich. Die Heilerin konnte verhaftet werden, der Kommunist konnte seinen Status und seine Arbeit verlieren.
Viele Nachkommen weigerten sich, die göttliche Gabe zu übernehmen. Denn natürlich war die damalige Jugend gegenüber solchen Kenntnissen eher skeptisch. Auch das hat zum langsamen Verschwinden der Tradition beigetragen.
Alles in allem hat die Sowjetmacht ein System errichtet, das zum katastrophalen Verschwinden des belarussischen Dorfes führte. Während 1970 noch 75 Prozent der belarussischen Bevölkerung in Dörfern lebte, sind es heute nur noch 25 Prozent, und auch diese Zahl sinkt weiterhin.
Wie sind Sie fotografisch an das Projekt herangegangen?
Das mag vielleicht unglaublich klingen, aber die visuelle Sprache hat sich während der Arbeit am Projekt von selbst entwickelt. Ich wollte im Mittelformat arbeiten und habe zu Beginn noch Buntfilm verwendet. Die Digitalkamera hielt ich hier für überflüssig. Doch nach einigen Expeditionen waren die Filme einfach leer geblieben, ohne ein einziges Bild. Magie also …
Beim nächsten Mal verwendete ich Schwarzweißfilm und entwickelte die Negative selbst, mit allen chemischen Prozessen. Das kam mir wie eine besondere Alchimie vor, ein Spiel mit den Sinnen. Meine fotografische Magie hält die Magie der Heilerinnen fest. Das Licht in den Dorfhäusern ist zudem oft sehr schwach, sodass die Arbeit mit Schwarzweißfilm einfacher war. Es gab auch einen lustigen Vorfall: Verwandte hatten mich gebeten, etwas besprochenes Wasser mitzubringen. Auf dem Heimweg verwechselte ich vor Müdigkeit die Flaschen, füllte meinen Verwandten meine Chemikalien zum Film-Entwickeln ein und verwendete das Heilwasser dann zum Entwickeln der Negative. So liegen die geheimnisvollen Gebete nun als unsichtbare Schicht über den Porträtfotos.
Wie reagieren die Ausstellungsbesucher in Belarus auf das Projekt?
Die Reaktion der Belarussen hat mich schlichtweg schockiert. Ein solches Maß an Aufmerksamkeit bin ich nicht gewohnt. Die Buchveröffentlichung war für mich ein Abenteuer. Ich bin ja kein Schriftsteller, sondern habe einfach meine Eindrücke des Gehörten und Gesehenen auf Papier festgehalten. Zehn Jahre Reisen, Recherchen, Entdeckungen. Die gesamte Auflage des Buchs war innerhalb von sechs Monaten ausverkauft.
Auch die Ausstellung sorgte für viele erfreuliche Momente. Wir mussten fünf Lesungen machen, weil immer wieder Leute in der Galerie anriefen und nachfragten. Wir mussten sogar Voranmeldungen aufnehmen, weil nicht genug Platz für alle Interessierten war. Die Ausstellung wurde drei Mal verlängert, sie war letztlich drei Monate lang zu sehen. Doch auch nach Ende der Ausstellung rufen die Leute noch in der Galerie an und wünschen sich weitere Lesungen.
Das ist aber alles gar nicht so sehr mein Verdienst, sondern vielmehr das meiner Heldinnen, ihres Schicksals, ihrer Bestimmung. Manche Leute lasen das Buch und kamen dann in die Ausstellung, um die Porträts zu betrachten, bei anderen war es umgekehrt, sie kauften das Buch nach der Ausstellung. Hier kommt wieder das genetische Gedächtnis ins Spiel, viele hatten von den Heilerinnen gehört, manche hatten welche in der Verwandtschaft, aber niemand kannte die Geheimnisse der Tradition. Mein Buch und die Ausstellung haben Einblick in die vergessene und verschwindende mystische Welt der belarussischen Heiltradition eröffnet. Wahrscheinlich war das der Grund für den Erfolg.
Unter schwierigen politischen Bedingungen konnte sich die belarussische Kultur in den vergangenen 20 Jahren bedeutende Freiräume erobern, die zwar immer wieder von den Machthabern mit punktuellen Repressionen attackiert wurden, die aber trotz der feindlichen Umgebung erstaunlich lebendig und wandlungsfähig waren. Das Theater, die Musik, Literatur und Kunst konnten auf diese Weise wichtige Impulse setzen. Seit den Protesten im Jahr 2020 und der darauffolgenden Repressionswelle, die bis heute andauert, hat Kultur in Belarus abseits staatlicher Kontrolle kaum noch eine Überlebenschance. Viele Künstler und Kulturschaffende wurden inhaftiert, ihre Kunst verboten, viele haben das Land verlassen und versuchen nun im Exil, ihre künstlerische Arbeit aufrechtzuerhalten. Andere haben sich trotz allem entschieden, in ihrer Heimat zu bleiben.
Der bekannte Autor Alexey Strelnicov hat für den russischsprachigen dekoder mit zahlreichen Kulturschaffenden über die aktuelle Lage der Kultur und das Leben im Exil gesprochen. Strelnicov hat sich mit seinen Texten zum zeitgenössischen belarussischen Theater einen Namen gemacht, er lebte bis zuletzt in Belarus und inszenierte dort in Privatwohnungen kleine Theateraufführungen. Es ist einer der letzten Texte von Strelnicov, den wir nun auf Deutsch zugänglich machen. Alexey Strelnicov verstarb unerwartet am 17. Dezember 2022. Er wurde nur 39 Jahre alt.
Nach Wahlen gab es jedes Mal eine kulturelle Emigration
„Als wir in Warschau das erste Konzert nach der Pause spielten, sah ich die gesamte Minsker Clique. Und da waren die Grenzen (wegen Corona – Anm. der Red.) noch dicht! Dieselben Typen, die in Minsk die ganze Zeit Backstage abgehangen hatten, waren auch da. Das war wie ein Schock für mich: Menschen, die gerade erst ausgereist waren, hatten das Bedürfnis nach einer Verbindung zur Heimat“, sagt einer der bekanntesten belarussischen Musiker, Lavon Volski.
Bereits seit 2006 standen Volskis Musikprojekte mal unter starkem Druck der Regierung, mal wurden sie wegen seiner politischen Haltung rundweg verboten. Aber an Repressionen solcher Ausmaße wie jetzt kann er sich nicht erinnern. Als klar wurde, dass es kein einziges Format gibt, mit dem er in Belarus noch auftreten könnte, ging Volski ins Ausland, wo er von seinen Fans bereits erwartet wurde.
Im Ausland Fuß zu fassen, gelingt längst nicht jedem. „Alle pfeifen drauf, ob du geflüchtet bist oder nicht, die Frage ist, wie gut deine Arbeit ist“, sagt der Dramaturg und Kunstmanager Nikolaj Cholesin, der sich seit 2011 erzwungenermaßen im Exil befindet und das Belarus Free Theatre leitet. Die Ausrichtung darauf, dass ein belarussisches Kulturprodukt nachgefragt wird, wenn es gut gemacht ist, hat Erfolg. Das Free Theatre spricht aktuelle Themen in einer modernen Sprache an. Die Künstler treten jetzt bei den wichtigsten Festivals auf. Und lange schafften sie es sogar, ihre Stücke heimlich in Minsk zu zeigen.
In nächster Zeit werden sie wohl kaum in der Heimat auftreten können. In dem Dokumentarfilm Courage des Regisseurs Aliaksei Paluyan wird gezeigt, wie schwer die Entscheidung zur Ausreise selbst für jene war, die schon lange im Untergrund waren und meinten, sie seien auf alles vorbereitet. Nach der Premiere verließ der gesamte belarussische Teil des Filmteams das Land.
Als das Ensemble des Janka-Kupala-Theaters, des führenden Theaters in Belarus, wegen eines öffentlichen Protests Ende August 2020 nahezu vollständig entlassen wurde, war der Satz zu hören: „Ein weiteres Theater ist jetzt frei.“ Ein großer Teil der entlassenen Künstler arbeitete weiterhin zusammen und nannte sich „freie Kupalianer“. In Belarus konnten ihre Arbeiten nur als Aufzeichnung oder online gezeigt werden. Und auch wenn jetzt jede ihrer Premieren von sehr viel mehr Zuschauern „besucht“ wird, als der größte Theatersaal fassen könnte, ist ihnen keine Möglichkeit geblieben, vollwertig in der Heimat zu arbeiten.
Dafür werden dem neuen unabhängigen Theater diese Möglichkeiten im Ausland geboten. Das Theater beteiligt sich an Experimentalgruppen, erhält Stipendien, arbeitet an neuen Stücken und zeigt sie auf Festivals. Mithilfe belarussischer Emigranten ist es gelungen, im Ausland vollwertige nationale Kulturprozesse in Gang zu setzen. Es werden Bücher verlegt, Theaterstücke inszeniert, und es finden Ausstellungen und Konzerte statt.
Die Künstler versuchen, sich selbständig an die neuen Realitäten anzupassen. Eine Schauspielerin des Kupala-Theaters erinnert sich an ihre Ausreise nach Polen: „Mein Ziel war es vor allem, bei meiner belarussischen Identität zu bleiben. Wo sonst könnte ich sie noch bewahren? In Belarus ist das jetzt ein Verbrechen. Hier aber gibt es noch Chancen und Möglichkeiten.“
Jenen, denen es gelungen ist, sich zu etablieren, die ihr Publikum und ihre Auftrittsmöglichkeiten gefunden haben, mag das Leben im Ausland wie eine lange Dienstreise erscheinen. Viele sind noch nicht so weit, die Emigration als solche zu akzeptieren.
Bühne gegen Kloschüsseln getauscht …
Jene, die nicht vorhatten, das Land zu verlassen, sondern zwangsläufig emigrierten, standen nun vor der drängenden Frage der Selbstfindung.
In einer schwierigen Situation sind jetzt jene, die in die Ukraine emigriert waren und dann vor dem Krieg nach Polen flohen. Sie wurden zwar als Flüchtende ins Land gelassen, standen aber de facto als Bürger eines Staates da, der an der Aggression beteiligt ist. Viele hatten Probleme, Dokumente zu bekommen.
Kulturschaffende sehen sich in der Emigration gezwungen, sich irgendeinen anderen Beruf zu suchen. Dmitry Gajdel, Schauspieler und Puppentheaterregisseur, hat in Polen den Beruf eines Heizungsmonteurs erlernt. „Mir wird oft gesagt, dass ich wohl die Bühne gegen die Kloschüssel getauscht habe. Ich war ein Großer und bin jetzt ein kleiner Malocher. Mir gefällt’s aber. Ist doch toll, sein Leben von Grund auf zu ändern. Überhaupt denke ich, dass man sein Leben sehr viel häufiger ändern sollte,“ meint Dmitry.
Der Theaterschauspieler Alexander Ratko aus Hrodna wurde im ganzen Land berühmt, als er sich vor der OMON rettete, indem er durch den Njoman (dt. Memel) schwamm. Er wanderte nach Litauen aus, erhielt dort ein Künstlerstipendium, studiert Schauspiel an der Europäischen Geisteswissenschaftlichen Universität in Vilnius und wirkt an Inszenierungen des Russischen Theaters Litauens mit. Er gehört zu jenen, die einen Platz in ihrem Bereich gefunden haben. Aber es fällt ihm schwer, sich an das Leben in der neuen Umgebung anzupassen. „Ich wohne mitten in der Altstadt. Ich habe jetzt nicht die Probleme, die ich in Belarus hätte haben können. Also bitte: Genieße die Stadt, geh ins Theater, ins Museum. Aber! Es bringt nicht die Freude, die es bringen könnte.“ In einem ähnlichen Zustand sind viele, die unerwartet gezwungen waren, das Land zu verlassen: eine unbekannte Sprache, ein Publikum, das man nicht kennt, Heimweh, die Aufgabe, im fortgeschrittenen Alter eine Karriere ganz neu anzufangen …
„Wenn ein Künstler auswandert, und umso mehr, wenn er dazu gezwungen wird, dann findet er nur selten seinen Platz. Das erfordert nicht nur Superkräfte, sondern auch die entsprechenden Marktbedingungen“, kommentiert Sergej Budkin, Leiter des Belarusian Council for Culture, die Schwierigkeiten für Kunstschaffende, sich im Ausland einzurichten.
Leichter fällt es jenen, die mental darauf vorbereitet sind. Die Schauspielerin Kristina Drobysch fand sich in einem Projekt wieder, das Bücher und Filme ins Belarussische vertont. Sie weiß aber um die Notwendigkeit, sich am neuen Wohnort einzuleben. „Mir ist klar, dass es trotzdem zu einer gewissen Integration kommen wird. Es geht darum, Respekt für das Land zu zeigen, das mich aufnahm. Man muss die Sprache lernen und versuchen, die örtliche Kultur zu verstehen.“
In den sozialen Netzwerken zählt sie bis heute die Tage, die seit ihrer Vertreibung aus dem Kupala-Theater vergangen sind. Jeder versucht auf seine Weise, eine Verbindung zur Heimat aufrechtzuerhalten. „Aus Belarus kannst du nicht weglaufen“, sagt Alhierd Bacharevič. „Das ist wie ein Fluch, wie ein Omen!“
In einer Situation, da aufgrund drohender Repressionen und durch den Krieg ganz viele Gemeinschaften oder informelle Vereinigungen in noch kleinere Scherben zerschlagen sind, setzen die Koordinationsstrukturen der belarussischen Aktivisten die Prioritäten wie folgt: Als Erstes muss für Kulturschaffende eine sichere Umgebung geschaffen werden; zweitens sollen Möglichkeiten gefunden werden, wie sie in ihrem Beruf weiterarbeiten können; drittens sollen für jene, die sich an neue Umstände anpassen müssen, Anpassungsmöglichkeiten organisiert werden; und viertens muss langfristig ein Netzwerk aufgebaut werden, das Chancen auf künstlerische Entwicklung bietet.
Auf der Internetseite des Belarusian Council for Culture können Künstler ihre Projekte relativ formlos einreichen. Über hundert Projekte wurden gefördert. Und für die angekündigte „Woche der belarussischen Kultur in der Welt“ sind sogar 120 Anträge eingegangen.
Nicht bleiben können, nicht fortgehen können
„Ich unterteile Kulturschaffende nicht in solche, die ausgewandert sind, und solche, die bleiben. Sie alle zusammen schaffen einen gemeinsamen Kulturraum und arbeiten für ein gemeinsames Ziel“, meint der Leiter des Council for Culture, Sergej Budkin.
Die Kreativen, die in Belarus geblieben sind, haben keine große Wahl. Dutzende Kulturschaffende sind nach wie vor im Gefängnis. Die Regierung unternimmt alles, um jene, die geblieben sind, einzuschüchtern, ihnen das Recht auf Protest und auf eine von der „staatlichen“ abweichende Position zu nehmen. Nicht alle haben die Möglichkeit auszuwandern, viele müssen weiterhin in offiziellen Kulturinstitutionen arbeiten und dabei versuchen, sich selbst gegenüber ehrlich zu bleiben.
Viele Schriftsteller, Kritiker und Kunsthistoriker nutzen die Möglichkeit, mit westlichen Kollegen zusammenzuarbeiten. Einige griffen auf ihre pädagogische Ausbildung zurück und wechselten zur Online-Nachhilfe oder in eine Privatschule. Allerdings sind bis September 2022 fast sämtliche Privatschulen in Belarus geschlossen worden.
In Belarus gibt es jetzt wieder das Phänomen, dass im Untergrund Filme gezeigt, Theaterstücke aufgeführt und Konzerte gespielt werden, die alle nur schwer aufzuspüren sind und über die erst irgendwann später offen gesprochen werden kann. Daher können wir hier und jetzt keine Einzelheiten erzählen. Meist bestehen die Teilnehmer darauf, nirgendwo erwähnt zu werden. „Uns erzählen Zuschauer, ihnen werde bei unseren Aufführungen bewusst, dass man ihnen die Freiheit nicht nehmen kann“, sagt einer der Organisatoren von Untergrundveranstaltungen.
Untergrundkultur ohne Grenzen
Die Belarussen, die durch Grenzen getrennt sind, streben jetzt danach, ihre Identität zu wahren. Kunstprojekte erlauben es ihnen, sich in der Emigration als Belarussen zu erkennen zu geben, den Belarussen, die ihre Heimat verlassen haben, eine Stimme zu verleihen, sie im Weltmeer der Emigration sichtbar zu machen. Ob die belarussische Kultur im Ausland eine Exilkultur sein wird oder ein Katalysator für Veränderungen innerhalb des Landes, wird sich erst später zeigen.
In welcher Richtung sich dieser Prozess entwickeln wird, lässt sich daran feststellen, dass die Europäer jetzt nach belarussischer Kunst verlangen. Der bekannte Schriftsteller Alhierd Bacharevič sagt: „In letzter Zeit ändern sich die Beziehungen zwischen dem Westen und Osteuropa. Langsam, aber unaufhaltbar entdeckt die Welt für sich auch unsere „blutigen Länder“. Gleichgültigkeit wird jetzt von Interesse abgelöst, von Versuchen zu verstehen, wer wir wirklich sind. Früher hat der Westen ausschließlich mit Russland gesprochen, über unsere Köpfe hinweg. Jetzt sind wir auf den kulturellen und politischen Landkarten vorhanden“, resümiert Bacharevič.
Siarhej Kalenda, geboren 1985, ist ein belarussischer Schriftsteller und Kulturwissenschaftler, er ist zudem Herausgeber der Zeitschrift Makulatura, deren Ziel nach eigener Aussage die Entwicklung der belarussischen Kultur unter Überwindung sprachlicher Grenzen ist. Kalenda gründete die Zeitschrift im Jahr 2012. Seit 2018 heißt sie Minkult. Wie tausende Belarussen hat Kalenda seine Heimat im Zuge der Repressionen nach 2020 und des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verlassen. Aktuell lebt er im litauischen Vilnius, wo er als Friseur sein Geld verdient. Für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft mit der S. Fischer Stiftung spürt Kalenda in seinem Essay den Ereignissen nach, die Belarus nach 2020 durchgeschüttelt und in eine tiefe Krise gestürzt haben: dem Aufschrei in den Protesten, der Gewalt durch Polizei und Staat, den Repressionen, schließlich dem Krieg im Nachbarland. Wie lässt sich aus all dem und aus der historischen Erfahrung, die die Belarussen geprägt hat, ein Gedankengang in die Zukunft entwickeln?
Belarussische Realität, Politik und Weltanschauung, das heißt: angegriffen, angeklagt, bedroht, beschimpft werden als Terrorist, als Faschist, als Fünfte Kolonne und Nationalist. Die Begriffe sind in diesem Land so verzerrt, alles ist so auf den Kopf gestellt, dass aus Frauen mit Blumen in einer Solidaritätskette Terroristinnen werden, die sich dem Westen anbiedern und der blühenden Republik Belarus den Tod wünschen. Die Institution, die eigentlich Verbrecher fassen und Straftaten, Diebstähle und häusliche Gewalt aufklären soll, schlägt jetzt Fensterscheiben von Kaffeehäusern ein, in denen sich Jugendliche mit weißen und roten Ballons verstecken, und stürmt nachts die Wohnungen einfacher Bürger, um sie aus den Betten zu reißen. Es ist ein Land der Rache und des Bösen, und das nehmen auch meine Kinder wahr, die sich umschauen und mich fragen: Warum schlägt die Polizei die Menschen, sind sie etwa schlecht?
Bedarus – das ist kein Tippfehler, beda heißt Not – hat in diesem Zustand und bei der gegenwärtigen Entwicklung der Ereignisse keine Zukunft. Der Diktator hat sich innerhalb von dreißig Jahren in einen furchtbaren, blutrünstigen Clown verwandelt, einen boshaften alten Mann, der so verlogen, so korrupt und so zynisch ist, dass er der Ukraine nonchalant zum Unabhängigkeitstag gratuliert, während die Raschisten (so nennen wir sie jetzt) täglich von belarussischem Territorium aus Raketen auf die Ukraine abfeuern.
Vor längerer Zeit habe ich begonnen, Geschichten von gewöhnlichen Belarussen zu sammeln, von Beamten und Werksleitern, und ich habe begriffen, dass das Land in diese allumfassende Krise geraten ist durch Menschen, die nach folgenden Prinzipien leben: sich bloß nicht hinauslehnen, tun, was einem gesagt wird, mein Name ist Hase, besser Befehle ausführen als selbst denken, keine Initiative zeigen, was werden sonst die Nachbarn sagen? Mit all diesen Volksweisheiten wuchs auch ich auf, meine Großmütter lehrten mich das, aber schon meine Mutter stellte all diese Thesen in Frage, und durch solche wie sie entstand eine neue Generation, die mutig und frei ist. Diese neue Jugend entwickelte sich parallel zu einem anderen Teil der Gesellschaft, der den sowjetischen Lebensstil mitsamt seinen sklavischen Prinzipien fortführte. „Bloß keinen Krieg“ – das war für alle das zentrale Mantra, es flößte Furcht ein, wollte Unterordnung und hielt einen davor zurück, sich zu weit hinauszulehnen. Das Buch mit den Geschichten über gewöhnliche Belarussen habe ich nie geschrieben, nur einen Titel hätte ich schon: „Wie wir alles in die Sch*ße geritten haben“.
Eine neue, vernünftige Generation ist herangewachsen. Die Hälfte von ihnen hat das Land verlassen – Menschen, die dieses furchtbare und schwere Schicksal, in einem unterjochten Land zu leben, ändern wollten. Die andere Hälfte ist verstummt, doch hoffentlich nicht für immer. Man darf nicht vergessen, dass diese neue Generation parallel zu einer anderen neuen Generation entstanden ist, die alle diktatorischen Tendenzen und Sichtweisen unterstützt. Wir haben also zwei Belarus: eines von Zichanouskaja und eines von Lukaschenka, und eigentlich sollte unserem Land eine schöne Zukunft blühen, denn es gibt eine Entwicklung, die wieder einmal gezeigt hat, dass die belarussische Kultur genauso wenig auszulöschen ist wie unser „Ihr haltet uns nicht auf! Ihr unterdrückt uns nicht!“
Doch ich möchte ganz am Anfang beginnen, mit dem, was ich aus meiner Kindheit mitgenommen habe, als mein Vater dem Streikkomitee beitrat und sich am Aufbau einer unabhängigen Gewerkschaft im MAZ-Werk beteiligte, als er mit Massen von Arbeitern demonstrierte, bewaffnet mit Brechstangen und Schraubenschlüsseln, und sich unterwegs weitere Gruppen ihren Reihen anschlossen: vom MTS-Werk, aus der Kugellagerfabrik … Die Arbeiter drängten ins Zentrum, zur Roten Kirche. Plötzlich war es möglich, sich frei zu äußern, die Sowjetunion war vorbei, es gab nur noch uns, lebendige Menschen, die glücklich sein wollten anstatt dahinzuvegetieren. Doch auf die Straßen zu gehen, war nicht genug, denn die Menschen, die die Entscheidungen trafen, waren nicht da, sondern saßen in ihren Amtsstuben …
Ergebnis dieser ersten Kundgebungen der 1990er Jahre war: Clinton kam zu Besuch, schüttelte demonstrierenden Hauptstadtbewohnern die Hand und reiste wieder ab. Dann kam Lukaschenka, ließ schon damals die Luft erzittern mit seinen Ankündigungen, er werde allen zeigen, wer den Staat bestiehlt, wer Schuld ist, dass die Löhne so niedrig sind, und wedelte sogar mit irgendwelchen Akten, als hätte er Beweise. Alle hörten ihm zu, sahen im Hintergrund die weiß-rot-weiße Flagge und beruhigten sich. Dieser junge, schnurrbärtige Kerl im zu großen Anzug versprach den Belarussen damals noch das Blaue vom Himmel. Und die Belarussen schliefen getrost ein, um schließlich in der BSSR-2 zu erwachen, einer Version aus Kommunismus, verrührt mit Kolchosgewäsch und Schizophrenie.
Ich hatte in meiner Kindheit und auch in der Schule mit lauter freien jungen Menschen zu tun, die von den besten Lehrern unterrichtet wurden. Wir durften streiten und Gedanken äußern, die allgemein anerkannten Ansichten zuwider liefen. Meine Mutter sagte zuhause immer, dass man eine eigene Meinung und eine eigene Sicht auf alles in der Welt haben soll und besser allem mit Skepsis begegnet, besonders, wenn es von einer Bühne, einem Lehrerpult oder einer Tribüne herab verkündet wird, und dass man den eigenen Kopf zum Denken hat.
Die Generation meiner Eltern wuchs mit einem kaputten Ego auf, denn in der UdSSR gab es nicht nur keinen Sex, sondern auch kein Ich. Vielleicht erzogen sie uns deshalb zu freiheitsliebenden Menschen, die als Erwachsene nicht in einer Sklavenwelt leben wollen und das Böse bekämpfen. Belarus ist das Land der Partisanen, freier Menschen, die bereit sind, sich im Wald zu verstecken, bis ihre Zeit gekommen ist, in der sie sich rächen und die einfachsten Dinge für sich beanspruchen: ein besseres Schicksal, Brot und ihr eigenes Land. Daher übernahmen wir ab der Oberstufe den Protest unserer Eltern, schlossen uns den Menschenketten auf dem Bahuschewitsch-Platz an, als es schwierig wurde, den Bullen über die Anhöhen zu entkommen – so kriegten sie uns, Sechzehnjährige, dennoch nicht. Während des Studiums demonstrierten wir auf dem Platz, schlugen Zelte auf, um zu zeigen, dass das unser Hier und Jetzt ist, dass die Stadt und das ganze Land uns gehören – und wir wurden alle verhaftet, geschlagen, eingebuchtet. Wir wurden von der Uni exmatrikuliert, aber nicht so öffentlich und grausam, wie es seit 2020 geschieht. Man muss auch sagen, dass damals die Dozenten und Professoren die Studenten noch beschützten, indem sie uns Alibi-Bestätigungen ausstellten, laut denen wir zur Zeit der Proteste Prüfungen absolviert oder an Konferenzen teilgenommen haben …
Ich durfte selbst eine Zeit erleben, in der Europa sich für Belarus zu interessieren begann, in der Touristen nach Minsk kamen, in der die Infrastruktur entwickelt und verbessert wurde. Im Stadion begrüßten wir die englische, die schottische und die deutsche Fußballmannschaft. Unsere Mannschaft BATE spielte in der Europa League. Britische Franchise Stores wurden aufgemacht: Mothercare, Fashion Bar, Toni&Guy. Deutsche Investoren und Bauunternehmen kamen zu uns. Belarus war nicht mehr nur für Russland und eine Handvoll arabischer Staaten interessant. Es gab einen unausgesprochenen Konsens mit den Machthabern, dass kulturelle Entwicklung sein darf, nicht nur populäre Unterhaltungsinfrastruktur, sondern auch Ausstellungen, Konzerte und Literatur. Unglaublich schnell, innerhalb weniger Tage und Monate, entstand bei uns ein richtiges, vollwertiges Leben – im eigenen Land. Aber … aber nur bis zu den nächsten Demonstrationen, bis zu neuerlichen Protesten, und schon wurden wir wieder in die Vergangenheit gedrängt und wunderten uns, wie kann das sein?! Wie kann man im 21. Jahrhundert Menschen so foltern und töten, wie kann man Sprache und Bücher verbieten? Ganz einfach: Gebt einem Menschen das Machtmonopol über die Industrie, über das ganze Land, gebt ihm Zeit, sein Umfeld aufzubauen mit kastrierten Beamten und dummen Militärs, und ihr werdet niemals frei sein, sondern immer nur abhängig vom furchtbaren, blutrünstigen russischen Nachbarn, in Geiselhaft eines einzelnen kranken alten Mannes.
Jedes einzelne Jahr trägt für die Belarussen eine Markierung. Sie durchleben scheinbar mehrere Jahre in einem, denn es gelingt ihnen sich aufzurappeln, Mut zu fassen, Leben und Arbeit aufzunehmen, nur um dann wieder aus der Bahn geworfen zu werden und alles von vorn zu beginnen – und hier liegt die zentrale Erkenntnis: Belarus hat eine Zukunft, eine starke, mutige und vor allem erfahrungsreiche Zukunft: Beim nächsten Präsidenten wird sich das Land nicht so leicht hinters Licht führen lassen. Das Wichtigste ist, dass das Volk selbst über sein Leben und seine Regierung bestimmen kann. Die Belarussen schwingen auf ihrer eigenen geografischen und geopolitischen Schaukel, und bislang hat es noch niemand geschafft, uns herunterzustoßen. Ja, wir pendeln zwischen Terror und Wiedergeburt hin und her, doch irgendwann wird die Schaukel sanfter schwingen und nicht so weit ausschlagen, dann werden wir um die Wahlen ringen, ruhig und mit Bedacht, und Straßenmusiker werden singen und Schaulustige auf dem Pflaster versammeln, das endlich unter dem festgefahrenen Asphalt hervorgeholt wurde, den allzu oft Paradepanzer zerfurchten.
Während des Großfürstentums Litauen, der Polnischen Adelsrepublik, des Russischen Imperiums und der Sowjetunion blieben Belarus und die Belarussen stets mit ihrer Sprache und ihrer Tracht bestehen, sie überlebten inmitten von anderen Sprachen und Kulturen. Dank ihrer Einzigartigkeit überstanden die Belarussen das alles, ihr nationaler Code bahnte sich seinen Weg durch andere Wurzeln, und jedes Mal, wenn wieder ein Tyrann alles ringsum niedergebrannt hatte, keimten die Sprossen mit der Zeit wieder von Neuem.
Im Moment sieht alles wieder nach Terror aus, nach Unterdrückung alles Belarussischen, Nationalen, Kulturellen. Viele, die auf Lukaschenkas Seite stehen, betrachten Kultur als nachrangig – andere Dinge seien wichtiger – und verhängen munter weiter Gefängnisstrafen wegen „Präsidentenbeleidigung“ gegen Künstler, Musiker, Bergarbeiter, Journalisten und Schriftsteller. Ohne Kinos und Museen kann man leben, Galerien brauchen wir auch nicht, Hauptsache, alle haben ihre fünfhundert Dollar Mindesteinkommen und was zu essen. Eine düstere, furchtbare und hoffnungslose Zeit ist angebrochen, doch alles, was war – Kundgebungen, Märsche, Hofinitiativen, unser Kampf mit Blumen und Umarmungen gegen das Böse –, zeugt von einer neuen Generation, die dieses Chaos und diese Banditen ablösen wird, die hier alles auf den Kopf gestellt und verbogen haben: Wir retten hier zusammen mit dem illegitim gewählten Präsidenten das Land vor euch Faschisten und Terroristen! „Sprich normal mit mir, Missgeburt!“
Um die aktuelle Situation einzuschätzen, reicht die Feststellung, dass im Land ein furchtbarer Genozid passiert – eine Verfolgung von Sprache und Kultur, Gedankenfreiheit und Lebensweisen … Doch andererseits gibt es in allen Ländern der Welt eine belarussische Diaspora, es gibt finanzielle Unterstützung für Kulturprojekte im Ausland, Hilfe für alle Menschen. Für den Preis der Kundgebungen und des Staatsterrors haben wir unseren Zusammenhalt und unsere Würde, und die werden uns und unserer Kultur für immer erhalten bleiben.
Wir Belarussen tragen eine schwere Last, wir mussten oft in anderen Kulturen, Zivilisationen und Imperien überleben, doch wir haben uns selbst, unsere Sprache und unsere Wurzeln nie vergessen. Und wenn wir von Identität sprechen, so leben überall auf der Welt Menschen, die sich liebevoll an ihr Leben in Belarus erinnern, an den Himmel, die Wälder, Felder und Flüsse, und die jederzeit gern bereit sind zurückzukehren und ihr Land neu zu bauen, ohne Tränen und verkrampfte Finger.
Das „Verbot homosexueller Propaganda“ gegenüber Minderjährigen gilt in Russland bereits seit 2013 – Anfang Dezember hat Wladimir Putin nun eine Verschärfung des Gesetzes unterzeichnet. Demnach steht „homosexuelle Propaganda“ generell unter Strafe, das Verbot soll auch für Medien und Literatur gelten.
Radio Svoboda hat mit Mikita Franko über diese Gesetzesverschärfung und ihre Konsequenzen für die russische LGBTQ-Szene gesprochen. Der Trans-Autor wurde 1997 in Kasachstan geboren und lebt seit einigen Jahren in Moskau. Sein autobiographisch inspirierter Roman Die Lüge (Original Dni naschei shisni, aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt von Maria Rajer) machte ihn auch hierzulande bekannt – in Russland wurde das Buch aus den Geschäften verbannt. Darin erzählt Franko von seinem Alter Ego Mikita, der in Russland mit zwei Vätern aufwächst.
Warum hat die Regierung gerade jetzt das bereits bestehende LGBTQ-feindliche Gesetz verschärft?
Die Propaganda hat sich den Kampf gegen den kollektiven Westen und gegen Satanisten auf die Fahnen geschrieben. In ihren Augen steht die LGBTQ-Community stellvertretend für diesen kollektiven Westen. Nicht umsonst rechtfertigt sich Lord Voldemort [Putin] bei seinen Versammlungen vor dem Volk mit Verweis auf „Elternteil 1 und 2“ [im Westen] und demonstriert so, wie er tatkräftig gegen den Westen kämpft.
Wie haben Sie reagiert, als Sie gehört haben, dass das Gesetz zum Verbot der „Propaganda nicht traditioneller Werte“ verabschiedet wurde?
Mich überkamen inspirierende Wut und rebellischer Protest. Ich dachte mir, wenn sie es mir verbieten wollen, werde ich doppelt so viel über das Leben queerer Menschen schreiben. Mit so einer Reaktion fühle ich mich besser. Gerade habe ich gute Laune, denn ich glaube, dass alles nur eine Frage der Zeit ist: Die jungen Menschen werden länger leben als die, die sich dieses Gesetz ausgedacht haben. Russland befindet sich derzeit in einer Art Todeskampf. Es tut mir um das Russland leid, dessen Potenzial das Regime zerstört hat. Ich bin damals [aus Kasachstan – dek] in ein Land mit vielen Möglichkeiten gezogen. Jetzt kommt es mir so vor, als wäre es ein anderes Land.
Wie werden sich diese neuen homosexuellen- und transfeindlichen Gesetze auf das Leben von LGBTQ-Menschen auswirken?
LGBTQ-Menschen werden nicht verschwinden. Einigen wird es vielleicht gelingen, das Land zu verlassen, anderen wird es schlecht gehen. Das Risiko für Gewalt gegen LGBTQ-Menschen und die Suizidwahrscheinlichkeit unter ihnen werden steigen.
Auf Ihrem Telegram-Kanal haben Sie mal geschrieben, Sie hätten mehr für die traditionellen Werte getan als alle russischen Abgeordneten zusammen. War das ein Witz?
Mir schreiben oft Eltern – meine Leser:innen –, dass sie ihre Kinder dank Dni naschei shisni [Die Lüge, erschienen bei Hoffmann & Campe, in der Übersetzung von Maria Rajer] besser verstehen, dass sie angefangen haben, ihnen zu helfen und sie zu unterstützen. Das stärkt doch die Familie, was könnte traditioneller sein?!
Das Repräsentantenhaus des belarussischen Parlaments verabschiedete vergangene Woche in erster Lesung Änderungen zu Artikel 356 (2) des Strafgesetzbuches, „um eine abschreckende Wirkung auf destruktive Elemente zu erzielen und um einen entschlossenen Kampf gegen den Verrat am Staat zu demonstrieren“. Demnach können nun Staatsbedienstete und Militärangehörige, die wegen Landesverrats vor Gericht kommen, zum Tode verurteilt werden. Belarus ist das einzige europäische Land, das noch die Todesstrafe vollstreckt.
Bereits im Mai dieses Jahres war die gesetzliche Grundlage für die Anwendung der Todesstrafe ausgeweitet worden, und zwar für die Planung eines Anschlags oder den „Versuch eines terroristischen Akts“. Warum nun die neuerliche Verschärfung? Darüber wird in den belarussischen Medien debattiert. Wir bringen eine Auswahl an vier Experten- und Medienstimmen.
Der Menschenrechsanwalt Andrei Poluda sagte Gazeta.by, dass die neuerliche Verschärfung der Todesstrafe im Zusammenhang mit komplexen Stimmungsveränderungen in der Gesellschaft zu sehen sei. Die Machthaber würden diese einzuhegen versuchen:
„… Damals betrafen sie [die Änderungen im Strafgesetzbuch zur Todesstrafe] breitere Bevölkerungsteile und waren unter anderem eine Reaktion auf Antikriegsaktionen von belarussischen Bürgern, insbesondere der Schienenpartisanen. Jetzt können wir die Tendenz beobachten, dass es um des Herrschers Leute geht, wie sich die Vertreter der Bürokratie und die Militärs in Belarus selbst gern nennen.
Die Regierung meint nach wie vor, dass eine Verschärfung der Gesetze als abschreckendes Mittel wirksam sein kann, als Prophylaxe gegen bestimmte Handlungen der Bürger. Diese gravierenden Gesetzesänderungen sind ein deutliches Zeichen dafür, wie tiefgreifend und weit verbreitet die Prozesse sind, die in unserer Gesellschaft vor sich gehen. Es ist offensichtlich, dass diese Prozesse dem derzeitigen Regime in Belarus ganz und gar nicht gefallen.
Jetzt, da es keine Möglichkeit gibt, in Belarus wissenschaftlich fundierte Umfragen zu machen, sind Informationen für uns vielfach nicht zugänglich und nicht sichtbar, und wir können die Prozesse nicht bis ins Letzte verstehen … Über viele Jahre hinweg aber haben Menschenrechtler Alarm geschlagen, dass die Existenz der Todesstrafe und ihre Anwendung nicht nur jene betrifft, die wegen Mordes verurteilt wurden.“
Der Telegram-Kanal Reflexija i reakzija (dt. Reflexionen und Reaktionen) – der politische Prozesse in Belarus anonym analysiert und begleitet – betont in einem Beitrag ein grundsätzliches Problem bei autoritären Systemen: die fehlende Transparenz bei Entscheidungsprozessen. Dies mache Einschätzungen – wie aktuell in Bezug auf die Todesstrafe – schwierig. Auf Grundlage der historischen Erfahrung vom Ende der UdSSR läge aber die Vermutung nahe, dass sich das System Lukaschenko auf noch stärkere Verwerfungen in der belarussischen Gesellschaft vorbereite:
„… Während alle damit beschäftigt sind, Details aus dem Büro von Tichanowskaja zu diskutieren, selbst die kleinsten, oder aber Äußerungen westlicher Stakeholder zu den Aussichten auf einen Waffenstillstand, ist völlig unklar, was innerhalb der Regime Russlands und Belarus’ vor sich geht.
Es gibt viele vereinzelte Leaks, doch mit großer Genauigkeit ein Gesamtbild zu zeichnen, ist problematisch. Die wichtigsten Entscheidungszentren sind nicht öffentlich und hermetisch abgeschottet; all der Dreck, der unter den Teppich gekehrt werden kann, bleibt dort.
Psychologisch wird die Situation wie folgt wahrgenommen: „Bei uns wird alles immer schlimmer – und die waren ein Monolith und sind es immer noch“. Obwohl das natürlich nicht sein kann, weil die Dynamik der sozialen Systeme derart strukturiert ist, dass alle Akteure sich auf die eine oder andere Art in diese oder jene Richtung entwickeln. Wenn eine solche Transformation nicht sichtbar ist, bedeutet das nicht, dass sie nicht geschieht.
Mit der UdSSR ging es zu Ende, als sie schlicht und einfach kein Geld mehr auf dem Konto hatte, um die ganze Maschine am Laufen zu halten. Man konnte zwar vorhersagen, wohin der Wind uns trägt, aber das genaue Datum und die Ereignisse vorherzusagen, ohne über Insiderinformationen zu verfügen, ohne das gesamte Bild zu sehen, war und ist unmöglich.
Dass aber das Regime in Belarus (das in Russland bislang noch nicht) sich auf die schlimmsten Szenarien vorbereitet, lässt Gedanken heranwehen, wie denn der verdeckte Teil des Bildes tatsächlich aussieht.“
Der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch sieht in seinem Kommentar für das Online-Medium Reform.by die Angst der belarussischen Machthaber nicht nur vor neuen Protesten als Treiber für die Verschärfungen der Todesstrafe, sondern auch die Angst des Systems vor dem System selbst. Indem sich beispielsweise die Unzufriedenheit der eigenen Leute im Staatsapparat und Militär an einem bestimmten Punkt gegen die Machtzentrale richten könnte:
„… Auf den ersten Blick könnten sich die Änderungen im Strafgesetzbuch gegen politische Gegner des Regimes richten. Allerdings wird laut Informationen des Ermittlungskomitees, dem die Untersuchungen in den Strafverfahren gegen Swetlana Tichanowskaja, Pawel Latuschko, Olga Kowalkowa, Sergej Dylewski und Marija Moros oblag, von diesen fünf nur Tichanowskaja Landesverrat vorgeworfen. Auch wenn sie niemals Staatsämter innehatte …
Es werden auch Grundlagen für die Zukunft gelegt. Wenn es zu Geschehnissen wie 2020 kommt, dürften Staatsbeamte und Silowiki sich hundertmal überlegen, ob sie die Seite wechseln. Denn die Strafe bei einer Niederlage könnte grausam sein. Das Regime verfolgt eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche. Gestern noch war es um eine ‚wegweisende Möhre‘ für Militärangehörige gegangen, etwa in Form einer Privatisierung von Mietwohnungen nach 25 Dienstjahren. Doch es scheint, als reiche Zuckerbrot allein nicht mehr aus, um Loyalität zu sicherzustellen. Die Änderungen im Strafgesetzbuch holen die Peitsche hervor, als Strafe für Verrat …
Das Regime versucht, alle einzuschüchtern, sowohl Opponenten als auch Unterstützer. Um den Gedanken, man könnte das Staatsschiff möglicherweise verlassen, bereits im Keim zu ersticken. Das bedeutet, dass das Regime selbst jenen nicht mehr vertraut, die sich innerhalb des Systems bewegen. Und um die zu ‚überzeugen‘, braucht es jetzt auch die Peitsche. Vielleicht auch, weil das Zuckerbrot immer knapper wird.“
„Als Verrat würde hier gewertet werden, wenn jemand auf die Seite der Ukraine wechselt oder sich in Gefangenschaft begibt, oder sich vielleicht weigert zu kämpfen. Diese Gesetzesänderung wird sowohl Militärs wie auch Zivilpersonen betreffen. Dass es diese Änderung gibt, ist ein Anzeichen, dass das staatliche System auf etwas vorbereitet wird. Für die Staatsbeamten wird sie eingeführt, damit die nicht die Seiten wechseln und keine Spaltung innerhalb des staatlichen Systems provozieren.
90 Prozent der Belarussen wollen nicht, dass ihre Armee sich an dem Krieg beteiligt, und Lukaschenko ist bewusst, welche Risiken ein solcher Schritt mit sich bringen würde: Selbst in den loyalsten Bevölkerungsteilen könnte es dann Leute geben, die damit nicht einverstanden sind. Wie also mit denen umgehen? Sie müssen eingeschüchtert werden. Und genau hierzu wurde die Aussicht auf die Todesstrafe geschaffen.
Mit der Armee ist es das Gleiche: Sie wollen nicht kämpfen, sie haben nicht das Gefühl, dass das ihr Krieg ist, und sie rennen nicht, wie viele russische Mobilisierte, zu den Rekrutierungsstellen. Sie wissen, was sie dort erwartet. Niemand will für die imperialen Kriegsambitionen Russlands sterben, und für Lukaschenko will auch niemand sterben. Lukaschenko ist das sehr wohl bewusst, und er versorgt sie mit einer Alternative, und zwar nicht mit ein paar Jahren Gefängnis, sondern mit der Todesstrafe. Das ist ein Zeichen, dass sämtliche staatlichen Institutionen darauf vorbereitet werden, dass ein solcher Moment kommen könnte. Es bedeutet nicht, dass der Entschluss feststeht, die Armee loszuschicken. Sie wissen aber genau, dass so etwas möglich ist. Und bereiten sich darauf vor.“