Ein Jahr des brutalen Wahnsinns und Schreckens liegt hinter uns, vor allem hinter den Menschen in der Ukraine, hinter deren Angehörigen und den Geflüchteten. Das, was bevorsteht, verspricht nichts Besseres. Am Dienstag, bei seiner Rede vor der Föderalversammlung, hat Putin die Bevölkerung eingeschworen auf einen langen Krieg.
Ähnlich sieht Maxim Trudoljubow die Lage. In seinem Text Die schwindende Macht der Angst, den wir als eine Art Bilanz dieses Jahres ausgesucht haben, beschreibt der Autor die Situation ungefähr so: Putins Angstmache gen Westen hat nicht die gewünschte Wirkung gezeigt – nach innen jedoch hat sie gewirkt. So stark gewirkt, dass sich das Land im und auf den Krieg einrichtet. Das zweite Publish dieser Woche zeigt den Schrecken der Wehrlosesten. Bilder vom Krieg #10: „Dieser Junge steht für tausende von Kindern, die getötet werden“.
Das zurückliegende Jahr bekommt von uns heute keine Beschreibung in großen Worten. dekoder hat versucht, die Geschehnisse adäquat zu begleiten und abzubilden. Fühlt euch eingeladen nachzulesen und nachzuschauen: Das Dossier zum Krieg sammelt chronologisch die Materialien, die wir veröffentlicht haben.
Zunächst sind dort übersetzte Medientexte – kritische Perspektiven aus Russland und Belarus, dazu angesichts der neuen Lage erstmals auch Stimmen aus der Ukraine. In Bezug auf Russland war vor allem eine Verlagerung der Medien auf YouTube zu bemerken – ein Marker dafür, dass wir am Ende dieses Kriegsjahres feststellen müssen: Viele unabhängige Medien wurden mit Beginn der Invasion von der russischen Führung ins Exil gezwungen. Die belarussischen Medien und Journalisten haben sich bereits vor dem russischen Überfall auf die Ukraine im Ausland eine neue Arbeitsbasis geschaffen. Sie waren im Zuge der historischen Proteste von 2020 schließlich ins Exil getrieben worden – auch in die Ukraine, von wo sie mit dem Beginn des Krieges wieder flüchten mussten. Zwei wissenschaftsbasierte Formate haben in diesem Jahr auf dekoder stark an Gewicht gewonnen, um auf aktuelle Fragen reagieren zu können. Das schnelle Fragenformat Bystro und die FAQs. Zusammengefasst sind Letztere in dem Special Russlands Krieg gegen die Ukraine – Fragen und Antworten. In den ersten Tagen des Angriffskriegs haben wir aufgrund der überbordenden Menge an wichtigen Informationen begonnen, auch externe Leseempfehlungen zu sammeln. Neu enstanden ist die Reihe Bilder vom Krieg, die wir seit Mai veröffentlichen, jeweils begleitet von Texten der Fotografinnen und Fotografen. Unmittelbar nach dem 24. Februar begannen wir bis April mit einem Fototagebuch aus Kyjiw, das zu diesem Zeitpunkt half, die unfassbare Situation wahrzunehmen. Es war damals ähnlich grau wie jetzt.
Mittlerweile ist aus den übersetzten Medientexten ein Buch zu diesem Jahr entstanden – die FlugschriftDas ist ein Ozean aus Wahnsinn – kritische Stimmen zum Krieg aus Russland und Belarus, die dieser Tage bei der edition FOTOtapeta erscheint und jetzt beim Verlag zu bestellen ist. Auf WDR 3 haben wir das Buch bereits vorgestellt, live machen wir das am 2. März in Berlin in der Kurt-Tucholsky-Buchhandlung. Wir freuen uns, wenn ihr kommt.
Vielen Dank an alle, die dekoder in diesem Jahr unterstützt haben und damit geholfen haben, nicht in Sprachlosigkeit zu fallen. Wir hoffen, dass wir durch unsere Arbeit einen Teil leisten konnten auf dem Weg.
Maxim Dondyuk „Dieser Junge steht für tausende von Kindern, die getötet werden“
[bilingbox]Es war die zweite Nacht, nachdem Russland seinen großflächigen Angriffskrieg begonnen hatte, als dieses Foto entstand. Es zeigt das erste Kind in Kyjiw, das Opfer der russischen Bombenangriffe wurde. Der Junge, sechs Jahre alt, geriet im Zentrum von Kyjiw unter Bombardement, er war zusammen mit seinem Vater, seiner Mutter und seiner Schwester im Auto. Seine gesamte Familie starb noch vor Ort. Der Junge wurde auf die Intensivstation gebracht. Er hatte keine Dokumente bei sich, da seine Eltern direkt in die Leichenhalle eines ganz anderen Krankenhauses gebracht worden waren. Keiner kannte den Namen des Jungen oder sein Alter, so nannte man ihn einfach „Unbekannter #1“.
Der Arzt wollte erst nicht, dass ich dieses Foto mache. Aber ich sagte: Wir müssen das zeigen. Wir müssen zeigen, was Russland tut. Sie töten nicht nur Soldaten in diesem Krieg, sondern auch Familien und Kinder. Dieser Junge steht für tausende von Kindern, die getötet werden. Als der Arzt die Decke abnahm, sah der Junge aus wie Christus. Es war so symbolisch. Erst nach ein paar Tagen teilten mir die Ärzte mit, dass er Semjon hieß und am Tag, nachdem ich das Foto gemacht hatte, verstorben war. Für mich zeigt dieses Bild das Gesicht des Krieges.
Manchmal fragen mich Leute, warum ich mich entschieden habe, Kriegsfotograf zu sein. Die Wahrheit ist, dass ich keiner bin und auch nie einer sein wollte. Aber dies ist mein Land, und ich habe das Gefühl, es ist meine Pflicht, diesen historischen Moment einzufangen für die Gegenwart und für die Zukunft. Es ist sehr schwer, den Krieg zu dokumentieren, wenn er in deinem Land stattfindet, in deiner Stadt, wenn deine Freunde dabei ums Leben gekommen sind, wenn Russland deine Stadt eingenommen hat, wenn du all das siehst. Es ist völlig anders, als wenn du von einem anderen Land in einen Krieg kommst und dann wieder zurückkehrst. Du fühlst dich traurig, du spürst Aggression sogar gegenüber der ganzen Welt. Warum passiert uns das, warum macht irgendein großes Land einfach, was auch immer es möchte, und das nun schon seit fast einem Jahr. Und all dieser Schmerz, all diese Gefühle, sie wiegen sehr schwer, sie sind zerstörerisch. Ich lege meine Gefühle in die Fotografie. All diese Erfahrungen – Wut, Angst, Enttäuschung, Schmerz, Tränen, Freude. So werden Fotografien mit Leben gefüllt. Je mehr Gefühle du erfährst, desto stärker wird deine Kunst, sei es Fotografie, Malerei, Literatur oder Musik. Deswegen kann objektiver Fotojournalismus, der jede Subjektivität und jegliche Gefühle leugnet, sehr oft einfach langweilig sein – informativ, aber ohne emotionalen Aspekt.
Meistens nutze ich zwei unterschiedliche Bildsprachen, um den Krieg abzubilden. Für mein persönliches Projekt, ein Buch oder Ausstellungen, verwende ich eine poetische, wenn man so will ästhetischere Bildsprache. So können die Menschen in das Bild eintauchen, eine längere Zeit darüber sinnieren. Ich möchte, dass sie nachdenken, sich etwas vorstellen, wahrnehmen. Denken Sie mal an Schlachtenbilder in Museen – die eignen sich nicht für schnelles Draufgucken. Aber wenn ich für eine Zeitschrift arbeite, dann versuche ich zu schockieren. Denn die Leser haben nur eine Sekunde und ich versuche, einfach – BAMM, sie zu stoppen, zum Innehalten zu bewegen. Es soll wie ein Schrei sein, mittels der Farbe oder der Bildkomposition.~~~It was the second night after Russia started the full-scale invasion when I took this picture. It shows the first affected child in Kyiv from bomb attacks by Russia. He, a child 6 years old, fell under the shelling in the center of Kyiv, in the car with his father, mother, and sister. His whole family died right there. The boy was taken to intensive care. He was without documents since his parents were sent immediately to the morgue, to a completely different hospital. No one knew the boy’s name or his age, that’s why he was simply called the “Unknown #1”. First, the doctor didn’t want me to take this picture. But I said, we have to show this. We have to show what Russia is doing, killing not only soldiers but also families and children in this war. This boy stands for thousands of children being killed. When the doctor removed the blanket, the child looked like Christ. It was so symbolic. Only after a couple of days, the doctor told me, his name was Semyon, and he passed away the day after I took this picture. To me, this picture shows the face of war.
Sometimes people ask me why I decided to be a war photographer. The truth is I’m not and never intended to be. But this is my country now and I feel that this is my duty to capture this historical moment for the present and the future. It is very difficult to document the war when it happened in your country, in your city, when your friends died, when Russia captured your city, when you see all this. It’s completely different than when you come to war from another country and then return back. You feel sad, you even feel aggression towards the whole world, why this happened to us, why some big country is doing whatever it wants and has been doing it for almost a year now. And all this pain, all these emotions, they are very heavy, they are destructive. I put my emotions into photography. All that I experience – anger, fear, disappointment, pain, tears, joy. Thus, photographs are filled with life. The more you experience any feelings, the stronger your art, whether it be photography, paintings, literature, or music. That’s why very often objective photojournalism, which denies subjectivity, and emotions, can be simply boring, informative, but without an emotional aspect.
Mostly I use two different visual languages covering the war. For my personal project, for the book or exhibitions, I use more poetic, aesthetic (if you want so) language, so people could immerse in the photograph, and contemplate it for a long period of time, I want them to think, to imagine, to perceive. Think of battle scenes in museums – these are not for a rush viewing. But working for a magazine, I try to shock because their readers have only 1 second and I try to just, boom, make them stop. It should be like screaming, with color or with some composure.[/bilingbox]
Foto: Maxim Dondyuk Gesprächsprotokoll und Übersetzung aus dem Englischen: Tamina Kutscher Konzept und Bildredaktion: Andy Heller Veröffentlicht am 21.02.2023
Aliaxey Talstou, 1984 in der belarussischen Hauptstadt Minsk geboren, hat sich in seiner Heimat als Künstler, Kurator von Ausstellungen und als Autor einen Namen gemacht. In seinen künstlerischen Arbeiten beschäftigt er sich mit sozialen und politischen Themen sowie mit den Herausforderungen, die sich durch die Digitalisierung der Kommunikation ergeben. Seit 2009 hat Talstou, der mittlerweile in Deutschland lebt, zudem vier Romane geschrieben sowie Texte und Essays in belarussischen Literaturzeitschriften veröffentlicht.
In seinem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft mit der S. Fischer Stiftung rauscht Talstou durch verschiedene Etappen der belarussischen Geschichte, um herauszufinden, warum es zu den Protesten des Jahres 2020 kommen musste und warum sie letztlich doch nicht die alte Ordnung beseitigen konnten. Und er fragt sich: Wie kann es nach so viel Gewalt, Leid und vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine weitergehen für Belarus? Welches politische System wäre denkbar? Welche Zukunft ist überhaupt möglich? Lässt sich dies in einer Zeit der Zerrüttung überhaupt beantworten?
Ich habe kaum mehr ein Gefühl für Belarus, es ist sehr weit weg. Als stünde ich morgens auf einer Wiese und versuche, im Nebel etwas zu erkennen. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, und im feuchten Morgengrauen erahne ich nur seine Umrisse, bilde Erinnerungen daran nach. Das ist nicht leicht, und manchmal scheint mir, ich hätte all das nur in Büchern gelesen oder in Filmen gesehen. Ohne neue Nachrichten, ohne Aktualisierung der gespeicherten Informationen verbirgt sich die Erinnerung im Nebel.
Als nächstes frage ich mich, was ich dort überhaupt zu entdecken versuche. Worum geht es eigentlich? Um ein abstraktes Land aus Dokumenten und Normen, um eine Ansammlung von kulturellem Erbe, um ein Territorium, das nie ein Selbstbestimmungsrecht haben wird, oder um eine Nation, die irgendetwas zwischen einem Umschlagplatz von Werten ist und dem verzweifelten Versuch, die Einsamkeit des individuellen menschlichen Lebens zu überwinden? Ich versuche, meine Vergangenheit zu erkennen, meine Verbindung zu anderen Menschen, zu Orten, in diesem Nebel mein früheres Selbst.
Und doch steckt etwas Vulgäres in dem Versuch, seine persönliche Biografie mit der Geschichte zu vermischen. Vielleicht ist es auch spannend, in der Kunst gibt es durchaus brillante Beispiele, in denen der Krieg von nur einem kleinen Menschen erlebt wird. Aber der Mensch ist stets mehr als Geschichte oder Geografie, mehr als Ideologie … Schaut man genau hin, wird man im selben Nebel statt der Geister der Vergangenheit die Geister der Zukunft finden. Doch inwieweit sich meine Zukunft mit der Zukunft irgendeines konkreten Landes deckt – da bin ich mir nicht sicher. Der Nebel der Zeit ist unsere gemeinsame Vorsehung, unabhängig vom Pass.
Es ist rührend und tragisch, wie die Menschen mit ihrer Nationalität umgehen – was soll das Ganze. Rührend, weil man selten so eine Ehrlichkeit, so eine Besessenheit sieht, wie wenn jemand sich bemüht, uneingeweihte Gesprächspartner in Sachen Belarus weiterzubilden: wo es sich befindet, wie schlimm es dort ist, dass es die Revolution gab, die aber verloren wurde, und über die Menschenrechte und die politischen Gefangenen. Ich versuche mich zusammenzunehmen und nicht aufzugeben. Sonst wird daraus ein Free Theatre mit nur einem Darsteller. Darin steckt eine Tragik, denn für die Mehrheit der normalen Weltbewohner bleibt das Weiße Russland ein kaum bekanntes und nicht allzu interessantes Abstraktum.
Der segensreiche und schreckliche August 2020 war voller Zukunft. Die alte Ordnung schien vor unseren Augen zu zerfallen
Ein noch größeres Abstraktum ist allerdings Russland selbst. Einem populären Scherz Putins zufolge hat das Land keine Grenzen, und das entspricht seltsamerweise den recht allgemeinen Vorstellungen des Durchschnittseuropäers oder überhaupt Erdbewohners, denn kaum einer interessiert sich für Details. Belarus oder ein ähnliches Gebilde wird erst dann Gestalt annehmen, wenn das Imperium zu bröckeln beginnt. Wenn das Zentrum seine Anziehungskraft, seine Macht und seine Fähigkeit verliert, die Abstraktion aufrechtzuerhalten. Wenn die Geopolitik und die großen Narrative ins Schlingern geraten, tauchen neue Akteure auf, schwarze Schwäne. So war es 1918, als während des Ersten Weltkrieges unter deutscher Okkupation die BNR [Belarussische Volksrepublik] proklamiert wurde, so war es 1991, als die Sowjetunion zerbrach. Der heutige Krieg kann ebenfalls in diese Kategorie fallen.
Doch momentan scheint die Zeit stillzustehen, und der Planungshorizont ist auf Wochen verkürzt. Zwei Jahre Überlebenskampf, die letzten neun Monate rabenschwarze Finsternis. In solchen Zeiten zu versuchen, etwas im Nebel zu erkennen, ist ein mutiges Unterfangen. Vor einem Jahr konnte man Diskussionen über das Belarus der Zukunft noch mit vollem Ernst und ohne Konjunktiv führen. Heute sind die Stimmen verhaltener, weil klar ist, dass nicht alle in die Zukunft mitgenommen werden. „Ins Pionierlager der Schule fahren im Sommer nur diejenigen, die es verdient haben. Die anderen bleiben hier“, so schreibt der Künstler Ilya Kabakov in seinem bekannten Text über den sowjetischen Schuldirektor und die Vorgesetzten, die entscheiden, wer eine Zukunft verdient hat und wer nicht. Wer entscheidet das heute?
Der segensreiche und schreckliche August 2020 war voller Zukunft. Die alte Ordnung schien vor unseren Augen zu zerfallen, niemand schien mehr so recht an sie zu glauben und wir dachten, in wenigen Tagen wäre alles zu Ende. Etwas wie Freiheit lag in der Luft. Im Affekt hofften einige hunderttausend Menschen nicht nur auf Veränderung, sondern sie wussten, dass er da ist, der Point of no return, dass sie selbst diese Veränderung waren. Damals und kurz danach wurden viele Texte über den Sieg geschrieben, wurde über vieles gesprochen. Aber dann begann der Krieg, und das Wort „Sieg“ erhielt eine andere Bedeutung.
Welche Alternativen gab es damals? Die Wahl zwischen einer unendlichen Sowjetzeit und einer national-liberalen Ungewissheit. Für das allgemeine Volk war es eher die Wahl zwischen Altem und Neuem, zwischen Autoritarismus und Demokratie, diesen einfachen, bewährten Dingen. Mir war es dennoch nicht gelungen, mein Herz und meine Stimme rückhaltlos einer der angebotenen Alternativen zu geben. So gern ich auch flammend geglaubt hätte, war es doch nur …, aber es wurde nur ein Kompromiss mit mir selbst, denn die Forderung nach Veränderungen kollidierte sofort mit der Option der regionalen Geopolitik: Russisches Imperium oder Empire nach Hardt und Negri, noch dazu mit einer Vorliebe für Realia aus den postsowjetischen Neunzigern.
Schade, dass diese ganze Geschichte den traditionellen Werten des zwanzigsten Jahrhunderts verhaftet bleibt und die Gegenwart eher unwillig annimmt. Letztlich ist das aber heute auf der ganzen Welt so. In Belarus überdauert das 20. Jahrhundert in den sowjetischen Elementen des Offiziösen. Diese Tradition spricht also die ältere Generation an, die in den 1990ern drastische Veränderungen fürchtete und in angelernter Angst aufwuchs, indem sie vor dem Fernseher saß und alles für bare Münze nahm. Mir hat schon immer gefallen, wie beiläufig die Staatsideologie die Nachfolge der BSSR antritt, eines kolonialen Gebildes der Bolschewiki als Antwort auf Volksrepubliken wie die BNR und auf das Erstarken der osteuropäischen Nationen während des Ersten Weltkriegs. Diese Selbstkolonisierung fast direkt nach dem Zerfall der Sowjetunion, dieses Spiel mit der künstlich zurückgedrehten Zeit, mit der Restauration verdient eindeutig den ersten Preis in der Kategorie Erinnerungspolitik. Man könnte es fast als Kunstströmung betrachten, als tragisches Museumsdorf, oder einen Vergnügungspark wie in der Serie Westworld. Allerdings ist das Leben in der Fiktion unbequem, und noch viel unbequemer ist es, in ihrem Remake zu leben, in einer Fiktion zweiter Klasse.
Als Viktar Babaryka im Wahlkampf 2020 vorschlug, die Verfassung in der Version von 1994 wieder einzuführen, war das auch schön. Einen neuen Start wagen, die postsowjetische Periode noch einmal von vorn beginnen, und nun die Sache wirklich zu Ende bringen. Formal war das gar keine so schlechte Idee, aber die Symbolik darin wirkte recht performativ, was wohl auch Absicht war. Für viele war 2020 eine Offenbarung, etwas Neues. Die Menschen hielten sich physisch im öffentlichen Raum auf, gemeinsam, sie sahen einander, und das war eine Überraschung. Andererseits folgte 2020 einer Tradition, die in der belarussischen Gesellschaft nicht minder verankert ist als das Narrativ der staatlichen Fernsehsender. Das ist die Tradierung einer (Art) Volksrepublik, die dem klassischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts entsprang und über viele Jahrzehnte im Untergrund oder Halbuntergrund existierte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hätte sie sich schnell wieder erheben und zum vollwertigen Nationalstaat werden müssen, aber etwas ging schief, und die Form blieb unvollendet. Die letzten zwanzig Jahre erfuhr diese Idee eine Evolution, erlebte Abenteuer, zeigte sich in Straßenprotesten, aber hauptsächlich sammelte sie ihre Kräfte in alternativen Kulturräumen, sozialen Initiativen, Medien und Trends. Dennoch ist sie ihrem Wesen nach eher diesem klaren und bekannten national-liberalen Modell verhaftet geblieben, das aus der Jugendzeit der oppositionellen Leitfiguren, die in der Mitte und zweiten Hälfte der 1990er Jahre die Straßen rockten.
Auf der Suche nach der Zukunft irre ich im Nebel herum und kann schwer sagen, ob sie vor oder hinter mir liegt
Als Teenager durfte ich die letzte Phase dieser Welt noch miterleben, 2000–2001 in Minsk. Für die subkulturelle Jugend war das eine Verquickung aus belarussischer Rockmusik, Partys und Straßenprotesten, eine Zeit der kulturellen Revolte gegen das alte System, die sowjetischen Überreste, die absolut idiotisch und sinnlos erschienen. Es war eine gute Zeit, um erwachsen zu werden und die erste politische Skepsis zu entwickeln. 2020 war diese Generation zwischen 35 und 45 Jahre alt, und mir scheint, dass in ihrem Protest auch ein nostalgisches Element steckt, eine leichte Trauer um die Hoffnungen, die doch nie wahr geworden sind. Die Zukunft, nach der sie sich damals sehnten, die sie auch tatsächlich lebten, die mit der Unabhängigkeit gekommen war – sie erhielt dreißig Jahre später eine zweite Chance.
Im vergangenen Jahr weckte ein Kommentar der Philosophin Tatiana Shchyttsova zu einer öffentlichen Diskussion zum Thema „Wirtschaftliche Reformen im neuen Belarus“ mein Interesse. Eine Frage, die sie sich nach dem Gespräch stellte – Welchen Typ des Kapitalismus wollen wir aufbauen? – klingt auch heute überaus aktuell. In ihrem Beitrag macht Shchyttsova auf die heftige Reaktion der anderen Podiumsteilnehmer auf das von ihr verwendete Wort „Kapitalismus“ aufmerksam. An der Verbindung der Wirtschaft mit Marktreformen und Privatisierung wird man nicht vorbeikommen. Viele der ersten Mitglieder des Koordinierungsrates repräsentierten die alte Wirtschaft, die paradoxerweise Arbeiter zum politischen Streik aufriefen. Das Problem ist nicht so sehr die Irrationalität solcher Aufrufe – in Momenten der Krise sind Analytik und Scharfsicht ein Luxus. Die zentrale Frage ist, ob der Protest 2020 im ideologischen Sinn radikale Transformationen angeboten hat oder doch nur die Rückkehr in eine alternative Vergangenheit, eine Änderung des Drehbuchs und eine Normalisierung der Geschichte?
In diesem Gegensatz zwischen „Gut und Böse“, den ich immer noch im Nebel zu erkennen versuche, sehe ich trotzdem Kabakovs Schule mit ihren archetypischen Charakteren. Mit dem dauerstörenden Fünferkandidaten und dem fleißigen Lieblingsschüler. Wer wird mitgenommen in die Zukunft? Keiner. Erstens – sie haben es nicht verdient. Zweitens ist das Sommerpionierlager hier Teil einer pädagogischen Methode, wie die Möhre für den Esel. Und drittens, weil alle beide an die Existenz der Schule und des Direktors glauben, mitsamt ihren Regeln, die man befolgen oder auch brechen kann. Von der Schule hat uns vor fünfzig Jahren auch Foucault sehr detailliert erzählt. Interessanterweise kamen vor fünfzig Jahren auch die wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten der Chicagoer Schule in Mode und riefen das neoliberale Modell ins Leben. In den Neunzigern „endete“ die Geschichte genau in dieser Tonlage, doch gerade die postsowjetische Privatisierung und Schocktherapie funktionierten in Belarus nicht im selben Maße wie in der Ukraine oder Russland, weil die lokale Zeit zurückgedreht wurde. Natürlich nicht ganz zurückgedreht, denn statt multinationale Konzerne anzusiedeln, wurde das Land selbst zum Konzern.
Auf der Suche nach der Zukunft irre ich im Nebel herum und kann schwer sagen, ob sie vor oder hinter mir liegt. Das Russische Imperium zerfällt weiterhin, daher verschieben sich die Grenzen der Einflusssphären. Hier wiederholt sich der Zerfall früherer Imperien, doch das Imperium als Schuldirektor, als globales gesellschaftspolitisches Beziehungsmodell, in dem die Staatsmacht alles bis ins Letzte durchdringt, wird nicht abgeschafft. Vor diesem Hintergrund denke ich, dass Belarus oder Osteuropa 2020 beziehungsweise auch jetzt keine Wahl hatten oder haben. Die freiwillige Unterordnung unter einen Aggressor und Ethnozid kann wohl kaum ernsthaft in Betracht gezogen werden. Diese Option ist nur in einer von der Wirklichkeit abgekoppelten, rituellen Kritik der westlichen Linken denkbar, die sich in völliger Ignoranz der eigenen Privilegien gegen die Erweiterung der NATO und die Unterstützung der Ukraine mit Waffen aussprechen. Als hätte die Ukraine oder jemand hier [in Belarus – dek] gerade eine andere Wahl.
Deshalb ist noch lange nicht garantiert, dass die Einserschüler mit ins Sommerlager fahren dürfen. Das Tempo der Waffenlieferungen in die Ukraine, das Hinauszögern von Terminen, die Unwilligkeit des Westens, auf einen schnellen Sieg zu setzen, erinnern mich ein wenig an Naomi Kleins Katastrophen-Kapitalismus. Eine maximal kontrollierte Schwächung von Russland und Belarus einerseits und die vorhersehbare Schwächung der Ukraine infolge des Krieges andererseits machen sie zukünftig alle abhängig von Investitionen von außen, binden ihnen die Hände und führen in gewissem Sinne zu einem Reload der Neunziger.
Man darf nie das Potenzial der Vision unterschätzen, denn was erdacht werden kann, kann auch sehr schnell eintreten
Eine der wahrscheinlich am wenigsten verstandenen Lehren des Jahres 2020 ist die netzwerkartige Struktur der zivilgesellschaftlichen Bewegung und ihr Streben nach Selbstkoordination. Die Menge an Selbstorganisation, Telegram-Chats und vielfältigen Unterstützungsinitiativen deckte wirklich ein sehr breites Spektrum ab, von eher zentralisierten Plattformen wie Golos bis hin zu den Innenhofchatgruppen von eher spontaner Natur. Die Wahlkampfteams der Kandidaten und die traditionelle Opposition waren darauf nicht vorbereitet und handelten daher halb nach Plan, halb aufs Geratewohl, ließen sich eher von der Erfahrung als vom Augenblick leiten. Denn auch wenn es um einen neuen Präsidenten und den Sturz des Regimes ging, sprach der August 2020 die Sprache der Dezentralisierung, der Nichtnotwendigkeit einer Autorität oder repräsentativen Figur. Wenn bei den Präsidentschaftswahlen eine absolut zufällige Person gewinnen kann, dann steht die Institution des Präsidentenamtes an sich in Frage. Wenn sich die Schüler ihr Pionierlager selbst organisieren können, wozu dann der Direktor? Und im Umkehrschluss: Solange der Schuldirektor existiert, existiert auch die infantile Masse, die unfähig ist, ihr Schicksal selbst zu bestimmen.
Die Selbstorganisation des Jahres 2020 war die Reaktion auf eine Krise, speiste sich aber auch aus der Vision der Veränderungen, die die Wahlkampfteams und die Initiativen um sie herum vermittelten. Man darf nie das Potenzial der Vision unterschätzen, denn was erdacht werden kann, kann auch sehr schnell eintreten. Im Jahr 2020 war niemand bereit zu etwas Größerem, zu wirklich bedeutenden Veränderungen, weil es eben keine Visionäre gab: Die belarussische Opposition ist überwiegend im neoliberalen Modell ausgebildet und entstammt überwiegend dem neoliberalen Modell …, sie ist mit westlichen Stiftungen und Strukturen verbunden, die ihre Grundlage darstellen. Zwei Jahre später lässt der Krieg in der Ukraine der Region keine Wahl mehr. Eine wichtige Rolle spielt auch der Faktor der Ermüdung von der Krise, vom Terror, von Diktatur und Krieg. Im Schockzustand ist jede Normalisierung und Stabilität besser als unbekannte Luftschlösser. Nichtsdestotrotz ist eine reale Zukunft nur durch utopisches Denken und politische Vision möglich, nur durch den ewigen Traum von der idealen Welt.
Kann man aus der Diktatur direkt zu einer anarchistischen Konföderation wechseln? Es gibt solche Fälle, doch dem Direktor gefällt so etwas nicht. Die Utopie kann man als Methode einsetzen, um neuen Formen der sozialen Organisation Impulse zu geben. Es gibt recht detailliert ausgearbeitete Prinzipien für die Arbeit von Generalversammlungen, Konsenssystemen, zahlreiche Beispiele für Selbstverwaltung. Kombiniert mit den Möglichkeiten digitaler Technologien, dezentraler Netze und Automatisierung können sie durchaus für den Aufbau einer alternativen Zukunft genutzt werden, die von konkreten Autoritäten und Vorgesetzten unabhängig ist. Oder wenigstens in geringerem Maße abhängig. Jegliches System der personifizierten Macht oder der bürokratisch-oligarchischen Führung ist ein Erbe der Vergangenheit, die noch immer nicht enden will, ein Produkt dieses Schlafes der Vernunft, der Ungeheuer gebiert, dieser erlernten Hilflosigkeit, die in der Familie beginnt und auf dem Friedhof endet. Aber die Zukunft liegt jenseits dieser disziplinierten Ordnung. Sie liegt in der Fantasie, in der Vision, in einem gewissen Mut, alles Alte kritisch zu betrachten, Prioritäten umzuformulieren und einander wahrhaftig zu treffen, einander endlich kennenzulernen, übereinander zu staunen, wie es im August 2020 geschah. Die Zukunft beginnt vermutlich dann, wenn sich der Nebel lichtet.
„In Belarus, meinem Heimatland“, sagt Alexandra Soldatova, „lieben es die Menschen, wenn alles ordentlich, sauber und schön aussieht.“ Die Fotografin und Künstlerin beschloss, sich auf die Suche nach den Ursprüngen dieser Tatsache zu machen. Sie begann, durch die belarussische Provinz zu reisen. Zwei Jahre hat diese Reise schließlich gedauert. Dabei stieß sie auf Bushaltestellen und Findlinge, die offenbar von lokalen Bewohnern mit Blumen, Tieren oder mit Frühlingsszenen bemalt worden waren. So entstand das Fotoprojekt It must be beautiful.
Wir haben Alexandra Soldatova zu diesem Projekt befragt. Zudem zeigen wir eine Auswahl an Bildern.
dekoder: Worum geht es in dem Projekt It must be beautiful?
Alexandra Soldatova: Die Straßen in der Peripherie des Landes sind typische Un-Orte, einerseits interessieren sie niemanden, andererseits gehören sie formal jemandem, der dort für Ordnung, Instandhaltung, Pflege sorgen muss. Kurz gesagt, in diesem Projekt geht es darum, wie die allgemeinen Gewohnheiten und die Mentalität der Belarussen Ausdruck finden in kollektiver naiver Kunst. Diese Kunst entsteht an Orten, die für mich eine Metapher für Belarus als Land auf der Karte des modernen Europa darstellen, – eine Kreuzung, ein Begegnungsort für Fremde aus verschiedenen Kulturen und Traditionen.
Wie ist die Idee zum Projekt entstanden?
2012 fuhr ich in die Oblast Witebsk und fotografierte beim staatlichen Erntefestival Doshinki. Diese große Feier ist sehr beliebt bei den offiziellen Landesvertretern. Zunächst wusste ich nicht so recht, was ich dort konkret tun und fotografieren würde. Und wie zu erwarten, war es eine sehr seltsame Kombination aus Mähdrescherfahrern in strengen, schwarzen Anzügen, einer aus Würsten gelegten Karte des Landes, tanzenden Kindern und einer großen Zahl Menschen, die Essen und Getränke zu ergattern versuchten. Solche Feste findet man tatsächlich in vielen Ländern, mit gewisser Variation im nationalen Kolorit.
Wirklich fasziniert haben mich damals die frischgestrichenen, rosafarbenen Hausfassaden an der Hauptstraße. Auch die Straße, die in die Kleinstadt führte, war „frisch zurechtgemacht“, die Haltestellen waren geputzt, die Abfalleimer sorgfältig gestrichen, und an einigen Stellen waren Skulpturen aus Stroh aufgestellt worden. Damals begann ich, Haltstellen zu fotografieren, und wenn mich Leute fragten, warum ich sie fotografiere, antwortete ich: „Weil es schön ist.“
Findet man diese bemalten Bushaltestellen im ganzen Land?
Wie ich später herausfand, stammten einige Malereien noch aus den 1980er Jahren, sie blieben an den alten Haltestellen erhalten – die waren aus Beton. Im Umland von Minsk und anderen großen Städten sind diese Haltestellen schon vor langer Zeit gegen moderne Varianten aus Metall oder Kunststoff ausgetauscht worden. Die Blumen- und Tiermotive, die mich interessieren, findet man eher in der Peripherie von Belarus, sodass ich einige Zeit im Auto verbringen musste – aber das hat mir Spaß gemacht.
Zuerst fuhr ich ein paar Landstraßen ab, die zu den Orten führen, an denen schon einmal Doshinki stattgefunden haben. Später gab es einige Zufallsfunde während touristischer Ausflüge mit der Familie. Und bis heute bekomme ich noch Tipps von Freunden, wo etwas zu finden ist.
Was erzählen uns diese Objekte vom Leben in der belarussischen Provinz und den ästhetischen Vorlieben, die Umgebung zu schmücken?
Einerseits neigen die Belarussen dazu, auch die kleinste Sehenswürdigkeit herauszustellen, da unser Land auf dem Gebiet an einer historischen Wegkreuzung liegt und viele Male zerstört worden ist. Heute müssen wir tatsächlich um alles kämpfen, was Aufmerksamkeit weckt.
Andererseits gibt es in der Provinz nicht gerade viele Museen, Kulturveranstaltungen und Ausdrucksmöglichkeiten, den Menschen ist es aber wichtig, wie andere sie sehen. Wenn Sie in ein belarussisches Dorf kommen, wird man mit aller Kraft versuchen, Ihnen „irgendetwas Schönes“ zu zeigen. So entstehen rosafarbene Gartenzäune, Palmen aus Bierflaschen und Schwäne aus Reifen.
Die Malereien an den Haltestellen und auf Findlingen sind vermutlich auf ähnliche Weise entstanden. Jemand in der Institution, die für die Straße zuständig war, wollte wohl, dass es in seinem Abschnitt schön aussieht. Dann setzte es der angestellte Dorfkünstler oder ein Mitarbeiter, der malen konnte, so um, wie er es selbst für schön hielt. Und das geschah häufig, in ganz verschiedenen Gebieten des Landes. Die in gewisser Art naiven Malereien haben keinen gemeinsamen Autor oder eine Gruppe, die das konzipiert hat, und doch ähneln sie sich im Stil. In gewisser Weise sind diese Malereien ein Produkt des Kulturraumes. Und aus diesem Grund fotografiere ich sie.
Haben Sie jemals einen der Menschen getroffen, die eine Haltestelle bemalt haben?
Ich hatte keine Gelegenheit, die Künstler oder wenigstens die Restauratoren der Bilder zu treffen. Die wenigen lokalen Bewohner, die ich beim Warten auf den Bus antreffe, gehen in der Regel zur Seite, nicken verständnisvoll und sagen: „Richtig, fotografieren Sie nur, hier ist es schön“. Das ist sehr ungewöhnlich für Belarus, denn wenn ich eine Straße oder ein Feld fotografiere, höre ich meistens die Frage: „Was gibt es denn hier schon zu fotografieren?“ Aber hier haben sich die Leute vorwiegend gefreut, dass ich gerade diesen Ort ausgewählt hatte.
Wie sind Sie fotografisch an das Projekt herangegangen?
Aus fotografischer Sicht war It must be beautiful ein unkompliziertes Projekt. Die Aufnahmen sind maximal ruhig, klassische Landschaft mit einem Objekt darin. Ich verwende ein mittleres Format, eine große Kamera, mit der man nicht schnell fotografieren kann und die dazu einlädt, das Bild aufmerksam zu betrachten. In den meisten Fällen fügen sich die Malereien an den Haltestellen oder Findlingen scheinbar fließend in die umgebende Landschaft ein, werden ein Teil von ihr, heben sich aber gleichzeitig auch von ihr ab. Natürlich suche ich solche Wechselbeziehungen, doch wichtiger für mich ist das Phänomen festzuhalten, da in der heutigen Zeit solche Dinge sehr schnell und unbemerkt verschwinden können.
Wie reagieren Ausstellungsbesucher auf Ihr Projekt?
Dieses Projekt wurde in vielen Ländern gezeigt, aber ich hatte keine einzige Offline-Ausstellung in Belarus, daher kann ich nicht sicher sagen, wie die normalen Leute reagieren würden. Ich kann nur vermuten, dass sich das wohl nicht so sehr von der Reaktion der Leute in Deutschland, England oder Russland unterscheiden würde, wo wir das Projekt gezeigt haben. Der eine findet es ungewöhnlich, irgendetwas überraschend treffend, jemand hält die Verschönerung der Landschaft für überflüssig, und ich freue mich jedes Mal, wenn jemand über meine Fotografien sagt: „Das ist schön“.
1991 erklärte die Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik ihre Unabhängigkeit. Wie alle anderen Sowjetrepubliken, die seit 1990 begonnen hatten, sich von der Sowjetunion loszusagen. Nur die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik hatte sich nicht unabhängig erklärt, lediglich ihre Souveränität festgestellt. Die neu entstandene Republik Belarus begab sich in das Abenteuer der parlamentarischen Demokratie, was aber schon bald wieder ein jähes Ende fand. 1994 – bei den ersten Präsidentschaftswahlen – wurde Alexander Lukaschenko ins Amt des Präsidenten gewählt. Er brachte das Land zurück auf einen autoritären Kurs.
War dieser Kurs unvermeidlich? Welche Faktoren haben dazu geführt, dass sich die belarussische Bevölkerung von einer demokratischen Entwicklung abgewandt hat? Hat die kurze Zeit der Demokratie dennoch Spuren hinterlassen, die sich beispielsweise im Selbstermächtigungsprozess der Proteste von 2020 gezeigt haben? In einem Bystro beantwortet der belarussische Historiker Viktor Schadurski diese und weitere Fragen.
1. Erlangte Belarus seine staatliche Souveränität 1991 eher durch die glückliche Fügung äußerer Umstände als durch den eigenen Willen zur Unabhängigkeit?
Man darf natürlich die Selbstaufopferung vieler Generationen von Belarussen nicht kleinreden, die über Jahrhunderte hindurch für Freiheit und Unabhängigkeit gekämpft haben. Allerdings muss man zugeben, dass eine deutliche Mehrheit der Einwohner der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik sich keine Zukunft außerhalb des „einen Sechstel der Erdoberfläche“ vorstellen konnte. Laut Umfragen aus dem Jahr 1990 waren damals nur zwölf Prozent der befragten Belarussen für eine staatliche Souveränität der Republik. Bei der Volksbefragung, die am 17. März 1991 in der gesamten Sowjetunion durchgeführt wurde, stimmten 82,7 Prozent der belarussischen Teilnehmer für die Aufrechterhaltung der UdSSR und nur 16,1 Prozent dagegen. Das waren deutlich mehr Pro-UdSSR-Stimmen als in Russland oder der Ukraine. In der „Parade souveräner Staaten“, die 1988 begann, verabschiedete Belarus seine Unabhängigkeitserklärung erst am 27. Juli 1990, also nach der Ukraine und noch weiteren sieben Unionsrepubliken. Auf diese Weise machte sich die belarussische Regierung nicht nur später als die baltischen Länder, sondern auch später als Russland und die Ukraine auf den Weg in die staatliche Souveränität.
Der Behauptung, Belarus habe seine Chance auf Unabhängigkeit in erster Linie günstigen äußeren Umständen zu verdanken gehabt – nämlich der Position seiner Nachbarländer, einschließlich Russland –, ist also durchaus zuzustimmen.
2. Warum waren die Belarussen pro-sowjetischer bzw. pro-russischer als andere Völker der Sowjetunion?
Eine schwere Belastungsprobe für die Entwicklung der belarussischen Nation war vor allem die aktive Politik der Russifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Politik sah nicht nur die Verankerung der russischen Sprache in Bildung, Kultur und Verwaltung vor, sondern auch eine zügige Industrialisierung der Unionsrepublik. Die Gründung neuer Automobilgiganten sorgte für ein rasantes Wachstum von Minsk und anderen belarussischen Städten und schuf die Voraussetzung für eine spürbare Verbesserung der Lebensqualität.
Bei der Unterdrückung des nationalen Selbstbewusstseins in der belarussischen Gesellschaft spielte die zentralisierte Kaderpolitik Moskaus eine wichtige Rolle, bei der alle wichtigen Ämter ausschließlich mit „von oben geprüften“ Beamten besetzt wurden. Die so genannte Partisanenelite, mit der man Namen wie Kirill Masurow und Pjotr Mascherow assoziierte, wurde Ende der 1970er durch Vertreter der Großindustrie ersetzt, für die die nationalen Besonderheiten der Belarussen eher ein Relikt aus der Vergangenheit waren als das geistige Fundament eines Volkes mit langen europäischen Traditionen.
Einer besonders gründlichen Kontrolle durch den sowjetischen Ideologieapparat waren historische Forschungen und der Geschichtsunterricht über Belarus unterworfen. Zur Geschichte der belarussischen Gebiete bis 1917 wurde praktisch geschwiegen, während die Zeit des Großfürstentums Litauen und die Rzeczpospolita als Belagerung des belarussischen Volkes dargestellt wurden, das immer von einer Wiedervereinigung mit Moskau träumte.
3. Allen Hindernissen zum Trotz wurde Belarus jedoch zu einem souveränen Staat. Wie war das möglich?
Wie bereits erwähnt, trugen zur Erlangung der belarussischen Unabhängigkeit äußere Umstände bei. Zugleich können äußere Umstände keine ernsthaften Veränderungen in einem Land herbeiführen, wenn nicht auch die nötigen inneren Faktoren vorliegen. Das große Glück der Belarussen war, dass sie durch ihre ganze Geschichte hindurch immer über eine kleine, aber sehr motivierte, national orientierte Elite verfügten. Diese Leute fanden zur richtigen Zeit und im richtigen Moment das Potenzial und die Möglichkeit, der Gesellschaft einen nationalen Handlungsplan anzubieten. So geschehen in den Jahren 1905 bis 1917 sowie in der Zeit der ersten Belarussifizierung in den 1920er Jahren. 1990 und 1991 gelang es den spärlichen national-demokratischen Kräften, vertreten vor allem durch die Belarussische Volksfront unter der Führung von Senon Posnjak, durch das amorphe, konservative belarussische Parlament – den Obersten Sowjet der XII. Legislaturperiode (1990–1995) –, äußerst wichtige Beschlüsse durchzuboxen, die für Belarus den Weg zur staatlichen Souveränität ebneten und die Bedingungen für Demokratisierungsprozesse und marktwirtschaftliche Reformen schufen.
Aktive Unterstützung bekamen die Demokratisierungsprozesse in Belarus durch die kreative Intelligenzija, durch Bildungspersonal, Kulturschaffende und Unternehmer. Auch in anderen Bevölkerungsschichten fand die Idee der Wiedergeburt der belarussischen Nation Anklang. Der staatlichen Bürokratie hingegen, die nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums bestehen blieb, waren Nationalisierungs- und Demokratisierungsentwicklungen größtenteils fremd.
4. Hätte Belarus eine Chance auf eine weitere Demokratisierung gehabt?
Die Anhänger des Wandels in der ersten Hälfte der 1990er Jahre hatten, wenn auch eine geringe, so doch eine Chance, dem Autoritarismus Einhalt zu gebieten. Eine verpasste Gelegenheit war laut Experten der Verzicht einiger demokratischer Abgeordneter auf außerordentliche Parlamentswahlen, bei denen aktivere und stärker national orientierte Vertreter der Gesellschaft hätten gewählt werden können. Der Oberste Sowjet der XII. Legislaturperiode wurde 1990 gebildet, als die UdSSR noch existierte und die Kommunistische Partei dominierte, weswegen darin vor allem Anhänger der alten Staatsmacht vertreten waren.
Im März 1994 verabschiedete der Oberste Sowjet eine Verfassung, die eine starke Position des Präsidenten in Belarus vorsah, die angesichts der schwach entwickelten politischen Kultur in der Bevölkerung und unreifer demokratischer Institutionen der Diktatur Tür und Tor öffnete. Die Praxis zeigt anschaulich, dass Länder mit einer parlamentarischen Regierung über eine starke Widerstandsfähigkeit gegen Autoritarismus verfügen. Meiner Meinung nach hat Belarus in der Zeit der parlamentarischen Republik nicht ausreichend materielle und moralische Unterstützung durch demokratische Staaten erfahren, die den jungen Staat damals vor allem als traditionelle „Einflusssphäre“ der Russischen Föderation wahrnahmen.
5. Warum konnte Alexander Lukaschenko nicht nur die demokratischen Kandidaten besiegen, sondern auch Vertreter der „Regierungspartei“?
Der Zerfall der UdSSR führte zum Untergang des streng zentralisierten Wirtschaftssystems, die engen Handels- und Produktionsbeziehungen zwischen den Unionsrepubliken rissen ab. Belarus erlebte ein drastisches Waren- und Dienstleistungsdefizit, die Inflation stieg rasant, ebenso die Arbeitslosigkeit. Die Wirtschaftskrise wurde von einer nomenklatorischen Privatisierung begleitet, das heißt, die attraktivsten Objekte aus dem Staatseigentum gingen in den Besitz von Beamten und ihren Verwandten über. Diese negativen Phänomene brachte der Großteil der Bevölkerung mit zwiespältigen Demokratisierungsprozessen in Verbindung. Im gesellschaftlichen Bewusstsein wurden Demokratisierungsprozesse fortan nicht mit einer höheren Lebensqualität assoziiert, sondern eher umgekehrt, man sah in der Demokratisierung die Hauptgründe für die Wirtschaftskrise, für verstärkte Bürokratie und die wachsende Korruption.
6. Wozu führte die Krise am Ende?
Die Krise ließ in der Mehrheit der Gesellschaft den Ruf nach einer „starken Hand“ in Person des Präsidenten laut werden. Das belarussische Volk hatte keine Erfahrung mit den Bedingungen einer stabilen Demokratie und war sehr anfällig für Populismus.
Den Schmerz der Bevölkerung über den Verlust der sowjetischen Vergangenheit und ihre Sehnsucht nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen wurde von einer Gruppierung um den ehrgeizigen Alexander Lukaschenko geschickt aufgegriffen, indem sie sowohl die offizielle Regierung als auch die demokratischen Kandidaten scharf kritisierte. Anstelle eines konkreten, stichhaltigen Wahlprogramms wartete der Populist mit dem Slogan „Zurück in die UdSSR“ auf, der ihm mit 80,34 Prozent der Stimmen einen klaren Sieg einbrachte.
7. Die belarussische Bevölkerung wählte Lukaschenko nicht nur, sondern unterstützte auch seinen Kurs der Rücknahme der Belarussifizierung. Wie kam es dazu?
Im Vergleich zu anderen postsowjetischen autoritären Herrschern geht von Lukaschenko eine zusätzliche Gefahr aus, indem seine Politik auf die Zerstörung der national-kulturellen Grundlagen des belarussischen Staates abzielt. Eine seiner ersten Initiativen war eine Volksabstimmung im Mai 1995, bei der nebst drei anderen diese Frage gestellt wurde: „Sind Sie einverstanden damit, dass der Status der russischen Sprache jenem der belarussischen angeglichen wird?“ [das Belarussische war 1991 in den Rang der alleinigen Staatssprache erhoben worden – Anm. der Red.] 83,3 Prozent der Befragten stimmten der Initiative des Staatsoberhaupts zu. Die Mehrheit (75,1 Prozent ) war auch für die Änderung der Nationalsymbolik und eine stärkere Anbindung an Russland (83,3 Prozent).
Obwohl die Mehrheit der Lukaschenko-Anhänger belarussischer Abstammung war, stellte die belarussische Sprache keinen hohen Wert für sie dar. Viele Landbewohner waren in die russischsprachigen Städte gezogen und hatten möglichst schnell den Stempel des „Kolchosbauern“ und „Dörflers“ loswerden wollen und versucht, Russisch zu sprechen. Viele ehemalige Landbewohner konnten sich jedoch die typische belarussische Aussprache und die gemischte Lexik nicht abgewöhnen und sprachen Trassjanka. Als dann Anfang der 1990er die aktive Belarussifizierung begann, verspürten sie keine Motivation, zur belarussischen Sprache zurückzukehren, weil das ihre langjährigen Bemühungen, sich einer russischsprachigen Umgebung anzupassen, zunichte gemacht und wieder Aufwand bedeutet hätte.
Man muss betonen, dass Lukaschenkos populistischen Kurs auch viele demokratisch gestimmte Wähler unterstützten, die sich in der ersten Zeit von ihm weismachen ließen, dass die Zweisprachigkeit nicht zu einer Benachteiligung der belarussischen Sprache, sondern zur Demokratisierung der Sprachenpolitik führen würde.
8. Welche Rolle spielten demokratische Errungenschaften aus der parlamentarischen Zeit für die weitere Entwicklung von Belarus?
Im November 1996 etablierte Lukaschenko im Zuge einer sogenannten Volksabstimmung, die genau genommen ein Staatsstreich war, eine personengebundene Diktatur. In Belarus wurde ein politischer Kurs eingeschlagen, der ein Erlahmen aller wichtigen Sphären des gesellschaftlichen Lebens mit sich brachte. Gleichzeitig leistete die belarussische Gesellschaft, gestützt auf demokratische Errungenschaften aus der Zeit der parlamentarischen Republik und auf die Hilfe demokratischer Länder, relativ erfolgreich Widerstand gegen die Konsolidierung des Autoritarismus und sein Abgleiten in Richtung Totalitarismus. Dieser Widerstand fand sowohl in der Politik als auch in Wirtschaft, Bildung und Kultur statt. So schritt trotz der Abneigung des Regenten gegen die Privatwirtschaft ein langsamer, aber stetiger Ausbau der Klein- und Mittelbetriebe voran, es wurden weiterhin moderne Technologien aus wirtschaftlich entwickelten Ländern importiert, und aus dem Ausland kam beachtliche humanitäre und technische Hilfe herein.
Als jedoch 2020 die Balance, die zwischen der bröckelnden autoritären Gruppierung und der aufsteigenden belarussischen Gesellschaft bestand, in rasendem Tempo zerstört wurde, musste die Diktatur, um ihr Fortbestehen zu sichern, zu totalitären Methoden greifen.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Unsere Chefredakteurin Tamina Kutscher verlässt dekoder zum 1. Februar 2023. Hier verabschiedet sie sich von euch Leserinnen und Lesern – und wir danken ihr für sieben gemeinsame Power-Jahre.
Liebe dekoder-Leserinnen und -Leser,
zum 1. Februar werde ich nicht mehr Teil von dekoder sein. Dies zu schreiben fällt mir nicht leicht. dekoder war nie nur ein Job für mich. Seit dekoder-Gründer Martin Krohs mich Anfang 2016 als Chefredakteurin ins damals drei Monate junge Projekt geholt hat, war dekoder eine Aufgabe, die mich voll gefordert und erfüllt hat.
Was heißt es, Russland zu entschlüsseln? Das wurde ich sehr oft gefragt in den letzten sieben Jahren. Auf dekoder heißt es, genau hinzuhören – auf den unabhängigen Diskurs, den wir ins Deutsche bringen. Und gleichzeitig, zu hinterfragen, zu kontextualisieren und einzuordnen – mittels Fakten und Expertise aus der Wissenschaft. Mit allzu einfachen Antworten geben wir uns auf dekoder nicht zufrieden, auch unsere Leserinnen und Leser nicht. In sieben Jahren ging es auch darum diesen dekoder-Geist, den Martin Krohs dem Projekt eingehaucht hat, weiterzutragen: Es sind zahlreiche neue Formate entstanden, ein Buch (und ein zweites ist auf dem Weg), wir haben einen russischsprachigen Europa-dekoder und einen Belarus-dekoder aus der Taufe gehoben, ein ganzes dekoder-lab und viele unterschiedliche Specials. Zwei Grimme Online Awards und der Friedrich-Wilhelm-Fricke-Preis waren uns dabei wichtige Anerkennung und Ansporn.
Der nahe und gleichzeitig analytische Blick, den dekoder bietet, auf Russland, auf Belarus und auf Europa, ist mit Sicherheit jetzt besonders wichtig, da Russland in der Ukraine einen schrecklichen Krieg führt. Wir merken es an den vielen Anfragen, die dekoder gerade seit dem 24. Februar 2022 erreichen, und auch an den deutlich gestiegenen Zugriffen auf unsere Seite.
Und doch: Für mich ist es nun Zeit zu gehen. Nach sieben ereignis- und erfolgreichen Jahren in einem großartigen Team gilt es, Neues zu wagen. Im Moment blicke ich erwartungsfroh auf noch Unbekanntes, als Journalistin werde ich mich auf jeden Fall weiterhin mit Gesellschaft und Medien in Russland/Osteuropa beschäftigen.
dekoder weiß ich dabei in Händen eines wunderbaren Teams, unterstützt von euch allen, interessierten, im besten Sinne kritischen und treuen Leserinnen und Lesern. Und ich weiß auch: Wohin mich der Weg auch führen mag, ich bleibe dekoderщik im Herzen.
Und wir alle wissen: Man sieht sich im Leben immer zweimal. Wann und wo auch immer – ich freue mich schon darauf!
Danke für alles.
Tamina
Liebe Tamina,
dieser Abschied fällt auch uns als Redaktion nicht leicht. In sieben Jahren haben wir gemeinsam ein Medium aufgebaut, haben angesichts von Krieg und immer neuen Repressionen Wut und Entsetzen geteilt, sind ausgerastet vor Freude, als wir diverse Preise erhalten haben, haben gemeinsam geflucht über „Bleiwüsten“ und „Textriemen“ (bzw. „RIEMEN“ in deiner Schreibweise), haben mit unseren tollen Übersetzerinnen und Lesern (leider viel zu selten!) Klubabende bis in die Nacht gefeiert, haben über das dekoder-lab weitere Brücken in die Wissenschaft errichtet, …
All das wäre niemals möglich gewesen ohne dich, liebe Tamina, ohne deinen unermüdlichen Einsatz als Chefredakteurin. Mit deiner fachlichen Kompetenz, deiner journalistischen Feinfühligkeit und Erfahrung hast du dekoder federführend zu einem professionellen Medium mit starken Partnern gemacht – ein Medium, das heute gefragter ist denn je.
Auf die intensiven Jahre und das gemeinsam Erreichte können wir voll Dankbarkeit zurückblicken. Und genau deswegen können wir auch trotz Abschiedsschmerz mit Zuversicht auf das Kommende blicken – sowohl bei dekoder als auch für deine Zukunft. Вперед!
Deine dekoderщiki
Alena, Anton, Bianca, Daniel, Ingo, Mandy, Leonid, Rike und Martin
Oh, darf ich (Martin) noch ein PS?
Liebe Tamina! Lass mich nur drei Sätze noch ergänzen – persönliche. Nach innen wie nach außen hast du dekoder verkörpert, wie es sich kein Gründer besser wünschen kann. Was für ein Glück, dass du bereit warst, diese Aufgabe zu übernehmen. Nicht nur als hochprofessionelle Fachperson – das steht sowieso außer Zweifel –, sondern auch als leuchtende Persönlichkeit, deren Integrität, Format, frische Gelassenheit und natürliche Souveränität uns alle um dich herum immer wieder beeindruckt und berührt.
Du wirst diesem Projekt sehr fehlen, publizistisch wie menschlich. Diese sieben Jahre hast du geformt, ja: geprägt. Sie werden weiter glänzen. Das Allerbeste dir. Hab größten Dank!
Alexander Lukaschenko wird schon länger nachgesagt, dass er in Belarus eine Art sowjetische Diktatur errichtet habe. Trotz der Repressionen, mit denen er Medien, Zivilgesellschaft und Opposition seit spätestens 1995 zu unterdrücken begann, hatte Lukaschenko allerdings eher eine Autokratie geschaffen, in der es gewisse Freiheiten für die Gesellschaft gab.
Seit den Protesten im Jahr 2020, der darauffolgenden brutalen Repressionswelle und infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat Lukaschenko sein System deutlich radikalisiert. Bringt er seinen Apparat womöglich sukzessive, aber konsequent auf den Weg des Totalitarismus? Der belarussische Politanalyst Artyom Shraibman zeigt auf, wo das Regime bereits totalitäre Züge angenommen hat und wo es sich (noch) vom klassischen Totalitarismus unterscheidet.
Übertönt von dem Grollen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, vollzieht sich beinahe ungehört und unbemerkt von der Welt ein weiterer Prozess, der auf diese Art in Europa seit Jahrzehnten nicht mehr vorgekommen ist. Das Regime von Alexander Lukaschenko, das die Massenproteste von 2020 überlebt hat und die volle Unterstützung Russlands genießt, hat aufgehört, ein klassisches autoritäres System zu sein, und nimmt immer mehr Züge eines Totalitarismus nach sowjetischem Vorbild an.
Es sei gesagt, dass der Weg von der Autokratie in den Totalitarismus ein langer ist und Lukaschenko noch weit entfernt ist vom „Ideal“ – einem Staat wie zum Beispiel dem kommunistischen China oder Nordkorea. Aber ein paar unverkennbare Schritte in diese Richtung haben die belarussischen Machthaber bereits getan. Und es ist unklar, was – abgesehen von einer militärischen Niederlage Russlands – diesen Trend aufhalten könnte.
Repressionen sind für manche Sicherheitsbehörden Routine
Sowohl für die belarussischen Bürger als auch für die internationalen Medien ist die sichtbarste Dimension bei diesem Prozess das Ausmaß und die Systematik der Repressionen. Bis 2020 setzten Lukaschenko und seine Silowiki die Repressionen eher punktuell und präventiv ein. Unter ständiger Überwachung und dem Druck der Behörden standen vor allem die prominentesten Aktivisten der Straßenproteste, ein paar oppositionelle Medien und für den Staat potentiell gefährliche Gruppen wie Fußballfans oder Anarchisten. Strafverfahren gegen die Opposition waren eher die Ausnahme als die Regel. Die Zahl der politischen Gefangenen belief sich bis 2020 selbst zu Spitzenzeiten auf einige Dutzend. Folter oder Misshandlungen an Häftlingen waren eher Exzesse einzelner Beschäftigter als systematische Praxis.
Nach 2020 änderte sich alles. Die Repressionen drangen in alle Bereiche des Lebens und wurden nicht nur gebräuchlich, sondern zur Routine, ja zur Hauptbeschäftigung mancher Strafverfolgungsbehörden. Der Mechanismus hat sich verselbständigt, die Behörden stehen in Konkurrenz – der Erfolg eines Silowik wird daran gemessen, wie viele Oppositionelle er oder seine Abteilung ausfindig gemacht und bestraft hat.
Die Zahl allein der von Menschenrechtsorganisationen anerkannten politischen Gefangenen geht auf die anderthalbtausend zu. Die tatsächliche Zahl dürfte viel höher liegen, denn die Angehörigen von Inhaftierten und Verurteilten haben oft Angst, das anzuzeigen, um die Lage der Opfer nicht zusätzlich zu erschweren. Für politische Gefangene gelten inoffiziell besondere Haftbedingungen – in überfüllten Zellen, ohne Freigang, ohne Post, ohne Bettwäsche, mit eingeschränktem Recht auf Korrespondenz und Medikamente. Die Praxis, Verhaftete zu foltern und zu schlagen, um sie zu zwingen, ihr Mobiltelefon zu entsperren oder vor der Kamera ein Geständnis abzulegen, setzt sich seit August 2020 unverändert fort. Die Behörden setzen Gesichtserkennungstechnologien ein und verhaften gezielt jeden, den sie auf den Aufnahmen von den Protesten 2020 ausmachen können.
Verboten sind mittlerweile nicht nur die Tätigkeit als oppositioneller Aktivist und bei den unabhängigen Medien, sondern auch das Kommentieren dieser Medien (das wird als Beihilfe zum Extremismus gewertet) sowie das Abonnieren ihrer Seiten in den sozialen Netzwerken oder Telegram-Kanälen. In den letzten Monaten kommen die Silowiki immer häufiger zu Angehörigen von Polithäftlingen, politischen Emigranten oder belarussischen Freiwilligen, die auf der Seite der Ukraine kämpfen. Außerdem hat die belarussische Gesetzgebung die sowjetische Norm wieder zum Leben erweckt, laut der man politischen Flüchtlingen die Staatsbürgerschaft entziehen darf.
Die Propagandisten sagen Konzerte ab und ordnen Festnahmen an
Die Liste der neuen repressiven Praktiken ließe sich noch endlos fortsetzen, aber die Evolution hin zum totalitären Staat nach sowjetischem Vorbild äußert sich nicht nur in Brutalität und Terror. Schließlich haben nach dem Tod Josef Stalins die Brutalität und der repressive Charakter des Sowjetregimes stark abgenommen, aber es hat deshalb nicht aufgehört, totalitär zu sein. Die heutigen belarussischen Silowiki übertreffen, was das angeht, sogar ihre Meister aus dem sowjetischen KGB.
Ein weiteres wichtiges Element des Übergangs zu totalitären Praktiken ist das aktive Einbeziehen von regimenahen Aktivisten in die Repressionen. Die Behörden sind dazu übergegangen, regelmäßig Verlage, Buchhandlungen, Ausstellungen und Museen zu schließen, Konzerte und Festivals abzusagen, Unternehmer, Reiseleiter und Musiker festzunehmen und Kulturstätten umzubenennen, nachdem Vertreter der neuen regierungsfreundlichen „Zivilgesellschaft“ sich in ihren Artikeln oder in den sozialen Netzwerken darüber beschwert haben.
Gleich inoffiziellen ideologischen Inspektoren überwachen diese Leute – meist Blogger und TV-Propagandisten – alles, was in der Kultursphäre passiert, und weisen die Silowiki auf Anzeichen von Illoyalität hin. Solche Aktivisten werden auch eingesetzt, um Druck auf westliche Diplomaten auszuüben, wenn sie an Gerichtsverfahren gegen politische Gefangene teilnehmen oder den Opfern der stalinistischen Repressionen gedenken wollen – dann tauchen stets ein paar lautstarke Propagandisten auf, die versuchen, sie außer sich zu bringen und zu groben Handlungen zu provozieren. Manchmal gehen den Verhaftungen wie zu Sowjetzeiten Hetzjagden in den staatlichen Medien voraus.
Die Bürokratie tritt in der Rolle der Machtpartei auf
Im Gegensatz zu klassischen totalitären Regimes gibt es in Belarus keine Machtpartei. Das scheint Lukaschenkos prinzipielle Position zu sein, der seine politische Karriere als Opponent der sowjetischen Kommunisten in den Jahren der Perestroika begann und gesehen hat, wie allergisch die Menschen auf den Parteiapparat reagieren, insbesondere angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs. Die Rolle der Machtpartei ist im heutigen Belarus der kollektiven Bürokratie überlassen.
Seit Anfang des vergangenen Jahres ist in der Verfassung ein neues Organ verankert – die Allbelarussische Volksversammlung (WNS). Einmal im Jahr kommen 1200 Beamte, lokale „Abgeordnete“ und Protegés von regierungsnahen Organisationen zusammen – dem Nachfolger des Komsomol, Veteranenverbänden und Gewerkschaften. Dieses Gremium, das sich aus bewährten Mitgliedern zusammensetzt und auf das die Wählerinnen und Wähler keinerlei Einfluss nehmen können, erinnert stark an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei in der UdSSR. Die WNS wird künftig in der Lage sein, jede Entscheidung eines anderen Regierungsorgans (außer der Gerichte) außer Kraft zu setzen, einschließlich der Erlasse von zukünftigen Präsidenten und Gesetze, die das Parlament beschließt. Die WNS wird die zentrale Wahlkommission stellen, die wichtigsten Richter ernennen und das letzte Wort bei Impeachment-Verfahren haben. Eines der wichtigsten Befugnisse der WNS ist das Recht, die Ergebnisse von Präsidentschaftswahlen innerhalb von fünf Tagen nach ihrer Verkündigung für „illegitim“ zu erklären – ohne Angabe von Gründen, einfach, weil dem bürokratischen Apparat der Sieger nicht gefällt.
Lukaschenko plant offenbar, die WNS als Vorsitzender des Präsidiums anzuführen (ein Organ, das an das einstige Politbüro erinnert) und auf diese Weise seinen Nachfolger zu kontrollieren, insofern er sich überhaupt irgendwann zu einem Machttransit entschließt. Bis dahin erlaubt es die Verfassung Lukaschenko – und zwar nur ihm – diese zwei Ämter auf sich zu vereinen. Nachdem die neue Verfassung beschlossen war, erklärte Lukaschenko bereits zweimal, man hätte die direkten Präsidentschaftswahlen insgesamt abschaffen und die Ernennung des Präsidenten der WNS überlassen sollen, damit die Gesellschaft nicht durch die ständigen Wahlkämpfe destabilisiert würde. Lukaschenko bezog sich dabei zwar nicht auf die sowjetische, sondern auf die chinesische Erfahrung, aber auch das ist eine Annäherung an die Verfassungsordnung totalitärer kommunistischer Regime.
Die sowjetische Verfassung zementierte das Machtmonopol der KPdSU. Lukaschenko ist noch nicht so weit gegangen – unter anderem weil er keine eigene Partei hat. Aber im neuen Parteiengesetz, das in den nächsten Monaten verabschiedet werden soll, will die Regierung Parteien verbieten, deren Ideologie vom durch die WNS vorgegebenen Kurs abweicht. Mit anderen Worten, eine Versammlung von Beamten und regierungsnahen Aktivisten wird den ideologischen Rahmen für die Realpolitik im Land festlegen. Auf die Verabschiedung dieses Gesetzes wird eine Neuregistrierung der Parteien folgen, die mit ziemlicher Sicherheit keine der oppositionellen Parteien überstehen wird.
Das Land ist offen, die sozialen Netzwerke nicht abgeschaltet. Aber wie lange noch?
Das Fehlen einer klaren und mobilisierenden Ideologie ist heute im Wesentlichen das, was das belarussische Regime vom klassischen Totalitarismus unterscheidet. Lukaschenko versucht seit Anfang der 2000er, eine eigene belarussische Ideologie zu formulieren, aber er ist in diesem Punkt nach mehrfacher eigener Aussage gescheitert. Doch das Fehlen einer Doktrin wie der kommunistischen oder der Chuch’e-Ideologie in Nordkorea, eines religiösen Fundamentalismus oder Faschismus hindert das belarussische Regime nicht daran, sowjetische Praktiken der ideologischen Kontrolle zum Leben zu erwecken. Nur dass die Treue gegenüber ideologischen Dogmen in diesem System durch die politische Loyalität ersetzt wird.
Seit kurzem existiert in Belarus ein System von persönlichen Charakteristiken, die bei einem Arbeitswechsel und Hochschulzulassungen entscheidend sind. In dieser Charakteristik muss der frühere Arbeitgeber oder die Schule angeben, ob die Person bei einer Protestaktivität aufgefallen ist und wie sie zur „Verfassungsordnung“ steht. Bei einem negativen Eintrag darf derjenige weder auf eine Anstellung im Staatssektor hoffen noch in einem größeren privaten Unternehmen. Diese Loyalitätsprüfung kann auch für viele Kulturschaffende, Lehrer oder Ärzte kritisch werden, weil der Staat in diesen Bereichen dominiert. Neben den staatlichen Unternehmen gibt es jetzt auch in vielen großen Privatunternehmen „Kommissare“ – KGB-Mitarbeiter, die als Vize-Direktoren dafür sorgen, dass in der Firma keine Oppositionellen arbeiten und keine „zweifelhaften“ Subunternehmen engagiert werden, zum Beispiel im Werbebereich. Auf diese Weise werden die ehemaligen Protestierenden, wenn sie irgendwann den Sicherheitsdiensten aufgefallen sind, nicht nur wegen der akuten Gefahr von Repressionen in die Emigration gezwungen, sondern weil sie faktisch nicht mehr arbeiten dürfen. Die Abwanderung von qualifizierten Ärzten ist, laut zahlreichen Berichten aus Belarus, zu einem ernstzunehmenden Problem für diesen Bereich geworden und jene, die auf hochwertige medizinische Versorgung angewiesen sind.
Ein weiterer wichtiger Unterschied zum klassischen Totalitarismus ist, dass Lukaschenko bisher nicht vorhat, Belarus hinter einem eisernen Vorhang abzuschotten. Die Unzufriedenen können gehen. Trotz der Sperrung aller unabhängigen Medien sind im Land die gängigen globalen sozialen Netzwerke und Online-Plattformen wie Facebook, YouTube, Twitter und Telegram weiterhin aktiv.
Es ist unsicher, ob diese Schlupflöcher noch lange existieren. Die Bewegung hin zum Totalitarismus ist keine Laune, sondern eine für Lukaschenko organische Reaktion auf die Turbulenzen der letzten Jahre. Sein Regime ist dem Wesen nach die Brut des Sowjetsystems, er bezeichnet sich selbst offen als Sowjetmenschen. Die teilweise Rückkehr zu sowjetischen Praktiken ist die krisenbedingte Rückkehr des Regimes zu seiner politischen DNA. Solange sich die Krise nur verschärft, gibt es keinen Anlass zu denken, dass die Rückwärtsbewegung aufhören wird. Vorausgesetzt, Lukaschenkos wichtigster Gönner, der Kreml, verliert nicht die Ressourcen und den Willen, ihn weiterhin zu unterhalten.