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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Menschen im Sumpf

    Menschen im Sumpf

    Es sind Bilder von Szenen und Menschen, die aus der Zeit gefallen scheinen. Pferdekarren, hölzerne Kanus als Transportmittel, unbefestigte Straßen, Frauen, die Flachs schlagen. Vielleicht stellte sich auch bei Louise Arner Boyd (1887–1972) dieser Eindruck ein, als die berühmte Forscherin 1934 das südliche Belarus mit seinen wilden Sümpfen und Wasserwegen bereiste. Schließlich kam sie aus den damals vergleichsweise hochmodernen USA in diese archaisch wirkende Region, die in Belarus von einem nahezu mystischen Faszinosum umweht ist und der der Schriftsteller Iwan Melesh (1921–1976) mit seinem Epos Menschen im Sumpf (1962) ein literarisches Denkmal setzte. 

    „In der literaturwissenschaftlichen Forschung wird Melesch oft als Beispiel für ein sakralisiertes Raumverständnis herangezogen“, schreibt die Slawistin Nina Weller in einem Feature für Deutschlandfunk. „Das Bild des Menschen im Sumpf steht demnach für einen belarussischen Menschentypus, der sich durch die Erfahrung des Überlebens unter widrigen Bedingungen, aber auch durch die unbeirrte Wiederaneignung des fremdbestimmten Raums auszeichnet. Der Mensch im Sumpf verharrt eher passiv in seinem kleinen Kosmos, passt sich dem aufgezwungenen Schicksal an, doch nutzt er die Situation gewitzt auch zum eigenen Vorteil.“

    Die Fotos, die Louise Arner Boyd auf ihrer Reise durch die Sümpfe machte, geben auch einen Eindruck von dieser kulturellen Mystik. Das belarussische Online-Medium Zerkalo hat sie für seine Leser wiederentdeckt. Die einzigartigen Bilder stammen aus der Sammlung der American Geographical Society Library, die an den University of Wisconsin-Milwaukee Libraries aufbewahrt wird. Wir zeigen eine Auswahl.

    Vor fast 90 Jahren, im Jahr 1934, unternahm die berühmte US-amerikanische Forscherin und Reisende Louise Arner Boyd nach der Teilnahme an einem internationalen Geographenkongress in Warschau eine dreimonatige Reise durch die Länder der sogenannten Kresy. Sie reiste mit dem Auto von Przemyśl in Polen über Lwiw, Kowel, Kobrin, Pinsk, Kletsk, Njaswish und Slonim nach Wilna. Ihre Fotos und Notizen über die Länder des heutigen Belarus, Polens, der Ukraine und Litauens können uns viel über das Leben der Menschen erzählen, die in der Zwischenkriegszeit in dieser Region lebten. Dabei schenkte die Reisende dem belarussischen Polesien, dem Fluss Prypjat und seinen Nebenflüssen sowie der Hauptstadt der Region – Pinsk – besondere Aufmerksamkeit. 

    Wir bieten einen Blick in das Alltagsleben der Bewohner von Polesien in der Zwischenkriegszeit, das die Reisende in ihren Fotos festgehalten hat, begleitet von ihren ureigenen Bildunterschriften bzw. Anmerkungen.

    Ein Bauer mit Pflug und Pferd in einem Boot in den Prypjatsümpfen, 1. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Eine Familie steht am späten Nachmittag am Ufer der Prypjatsümpfe, dahinter ihr Haus. Links eine Frau beim Wäschewaschen, 1. Oktober 1934
    „Die Menschen hier besitzen ihr eigenes Grundstück, und die Grundstücksgrenzen sind entlang der Uferpromenade durch Markierungen gekennzeichnet. Sie bemessen ihr Eigentum nach Sznwry, was Seil bedeutet. Sie sagen: ,Ich habe so viele Sznwry‘, anstatt in Hektar zu messen.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Mann fischt von einem Kanu aus, Prypjatsümpfe, 1. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Zwei Frauen stehen in einem Kanu und waschen Wäsche, 2. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Segelboot auf dem Fluss Pina in der Nähe von Pinsk, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Männer beim Abladen von Heu von Lastkähnen am Markt von Pinsk, 30. September 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Lastkahn, beladen mit Holz, nähert sich Pinsk, 30. September 1934
    „Viele dieser Lastkähne kommen aus der Nähe der Grenze zu Russland.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Passagierschiff legt am Ufer in Pinsk an, 30. September 1934
    „Dies ist die Art von Seitenrad-Dampfer, wie sie auf dem Prypjat und seinen Nebenflüssen verwendet werden.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Menschen in einem mit Baumstämmen beladenen Kanu vor Pinsk, 2. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Menschen sitzen in Kanus am Pinsker Markt, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Markt von Pinsk: Karren mit Heu und Birkenrinde, die für die Herstellung von Sandalen genutzt wird, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Stand mit Stiefeln auf dem Markt in Pinsk, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Eine Pferdekutsche auf der Hauptstraße in Pinsk am Markttag, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Verkaufsstände auf dem Pinsker Marktplatz, 3. Oktober 1934
    „Stände auf dem Marktplatz oberhalb der Uferpromenade. Töpferwaren, Holzwaren, Eisenwaren und so weiter auf Gehweg und Straße.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Mutter und Kind stehen neben einem strohgedeckten Gebäude, 1. Oktober 1934
    „Im Vordergrund rechts steht ein hölzernes Instrument zum Tragen von Flachs. Das Gebäude verfügt über gewebte Seitenwände, um eine Belüftung zu ermöglichen, und ist mit Stroh aus Riedgras gedeckt. Im Hintergrund stehen aufrecht am Zaun zwei Stangen zum Löschen von Dachbränden. An einem Ende befindet sich eine Bürste zum Ausschlagen der Funken und am anderen Ende ein Eisenhaken zum Abziehen des brennenden Strohs.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Automobil auf einer unbefestigten Straße östlich von Kobryn, 29. September 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Frauen dreschen Flachs, 2. Oktober 1934
    „Scheune und Getreidespeicher. Links bearbeiten zwei Frauen Flachs. Rechts eine hölzerne Egge. Ein Bündel Roggen. Diesen Leuten ging es gut. Sie waren sauber und die Kinder trugen gute Kleidung. Sie waren orthodox-griechische Katholiken, und ihre Kirche befand sich zwischen den Kiefern.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Drei Dorfbewohner sitzen zusammen, 7. Oktober 1934
    „Nahaufnahme von Männern in einem Dorf. Links: langer Bart, in der Mitte Schnauzer, rechts: glatt rasiert.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd/ Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Pferd zieht große Baumstämme, östlich von Iwazewitschy, 8. Oktober 1934
    „42 Meilen östlich von Iwazewitschy. Wagen mit Holzstangen, die die Hinterräder verbinden und dazu dienen, das hintere Ende der langen Baumstämme zu lenken. Form einer Wünschelrute. Links die Vorderseite eines weiteren Wagens.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd“/ Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Kreuze auf einem Dorffriedhof, 5. Oktober 1934
    „Friedhof. Hohe unbemalte Kreuze ohne Namen oder Erkennungszeichen. Pflöcke markieren, wo die Toten begraben sind. Moos auf den Kreuzen.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

    Im Original erschienen bei Zerkalo
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: dekoder-Redaktion

    Mit freundlicher Genehmigung der The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

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  • Auf der Schattenseite der Geschichte

    Auf der Schattenseite der Geschichte

    Sviatlana Kurs, geboren 1972, hat als Schriftstellerin zuletzt auch international mit ihrem Roman Was suchst du, Wolf? für Aufsehen gesorgt, den sie unter ihrem Pseudonym Eva Viežnaviec veröffentlichte. Das Buch erzählt die gewaltvolle und düstere Geschichte der Menschen und vor allem der Frauen in der Region, aus der Kurs’ Familie selbst stammt: Polessje, diese mystische Sumpflandschaft im Süden von Belarus. Für den Roman erhielt sie 2021 den renommierten belarussischen Jerzy-Giedroyc-Preis, als erste Frau. 

    Auch in ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft mit der S. Fischer Stiftung geht es um die gewaltvolle Geschichte von Belarus und letztlich um die Frage, wie die Belarussen ihre Identität und damit ihre Zukunft bewahren können. In einer Zeit, in der Russland einen grausamen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, der auch Auswirkungen auf Belarus selbst hat. Kurs´ Argumentation erinnert in mancher Hinsicht auch an die Narrative der nationalen Wiedergeburtsbewegung, für die sich die Belarussische Volksfront seit Ende der 1980er Jahre einsetzte.

    Belarussisches Original

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Man nennt uns eine Nation mit weitgehend ausgelöschter Identität, denn wir haben unsere Sprache und Kultur, unsere Architektur und das bauliche Erbe unserer Städte fast verloren. Selbst unsere Gotteshäuser wurden nach russischer Art umgebaut, statt Kreuzen tragen sie russische Kuppeln, im Volksmund Zwiebeltürme genannt. Seit 229 Jahren leben wir Belarussen unter russischer Besatzung. Von uns selbst ist hier bei uns kaum etwas übriggeblieben. 

    Auch ich dachte so, bis sich im Jahr 2020 die Schlinge um den Hals ein wenig lockerte, als die Belarussen in Millionenstärke demonstrierten und zeigten, was sie wollen. Selbst in kleinen Städtchen und Dörfern, wo man keine lebendigen Menschen mehr vermutet hätte, fanden Kundgebungen und Märsche statt.

    Doch dann erklärte Putin, er würde die Armee schicken, und mit dieser Unterstützung und hunderttausenden Silowiki erstickte Lukaschenka den Protest, indem er Menschen einfach auf der Straße erschießen ließ.

    Seit 2020 dauern die gnadenlosen Repressionen nun schon an, schon drei Jahre. Im Land wurde ein Gefängnissystem geschaffen, das in seiner Brutalität den Lagern Stalins und Hitlers in nichts nachsteht, abgesehen von den Massenmorden. 

    Schon seit über drei Monaten erhalten die Angehörigen der politischen Gefangenen keine Nachrichten mehr von ihnen. Bekannt ist, dass einige, wie Ihar Lossik, Selbstmordversuche verübt haben. Andere wie der herzkranke 61-jährige Iwan Klimowitsch starben, weil ihnen die medizinische Versorgung verwehrt wurde. 

    Iwan war für eine Lukaschenka-Karikatur in den sozialen Netzwerken inhaftiert worden. Vor Gericht sagte der ältere Mann dem Staatsanwalt und dem Richter, zwei pausbäckigen Mittdreißigern: „Sperren Sie mich nicht ein, die Ärzte sagen, in Haft werde ich sterben.“ Und doch steckten sie ihn ins Gefängnis. 

    Den 50-jährigen Witold Aschurak brachten sie einfach um, indem sie ihm alle Knochen brachen und ihn der Familie mit folgenden Worten übergaben: „Er ist unglücklich gestürzt.“

    Der 11. Juli 2023 war wieder ein tiefschwarzer Tag für Belarus: Während der Verbüßung seiner fünfjährigen Haftstrafe kam Ales Puschkin zu Tode. Er war nicht nur ein politischer Gefangener, er war ein Künstler, der uns das Land so malte, wie wir es uns träumten  mit einer schönen Vergangenheit und einer lichten Zukunft. Mit ihm raubten sie uns die Träume. 

    Zehntausende solcher Geschichten sind uns bekannt. Ihre Dokumentation ist kompliziert, da auch Menschenrechtler und Anwälte zu zigdutzend Jahren Haftstrafen verurteilt wurden und hinter Schloss und Riegel verschwunden sind. 

    Das wirft die Frage auf: Sind nur die Russen an dem Schuld, was bei uns vor sich geht?

    Um zehntausende Menschen zu erschießen, zu unterdrücken und zu töten, braucht man zehntausende andere Menschen, Landsleute, die bereit sind, ihre Mitmenschen brutal zu bestrafen. Woher kommen diese Menschen, wer sind sie?

    Ethnozid als Form des Genozids

    Das 500-jährige Russische Imperium, das in unterschiedlicher Gestalt auftritt (mal als Zarenreich, mal als UdSSR, mal als Putins Monster), verfügt über ein effizientes Instrumentarium zur Eroberung fremder Gebiete. Deshalb nimmt es auch ein Siebtel der Erdoberfläche ein. Die angewandten Methoden sind eine Kombination aus physischer Vernichtung der Eliten des eroberten Gebietes und der Auslöschung der Identität der anderen, ihrer Umerziehung zu Russen. Diese Taktik kann man hervorragend in der Ukraine beobachten: Die Eltern werden ermordet, zehntausende Kinder in die Tiefen Russlands gebracht, in Waisenlager oder Familien, wo sie indoktriniert werden, die eigene Heimat und Familie zu hassen. 

    Dasselbe ist in den vergangenen 229 Jahren mit den Belarussen passiert. Ihren Gipfel erreichte diese Politik im Jahr 1937, als die belarussische intellektuelle Elite ermordet wurde: Wissenschaftler, Künstler, Ärzte, Ingenieure. Allein am 29. Oktober 1937 wurden mehr als 100 Schriftsteller, Dichter und Wissenschaftler erschossen. Man verscharrte sie in Wäldern. Neben jedem Städtchen in Belarus gab es einen Erschießungsplatz, die Namen dieser Orte sind bekannt, die Erinnerung wird von der lokalen Bevölkerung und Aktivisten bewahrt. Erde vergisst nicht. 

    Der zweite Schritt des Genozids war die Zerstörung der belarussischen Sprache, Kultur und Bildung. Heute lernen Kinder in Belarus Russisch, belarussische Sprache und Literatur wird in einer Reihe von Fällen nur eine Stunde pro Woche unterrichtet. Auch eine belarussischsprachige Hochschulbildung ist nicht möglich, alle Universitäten sind russischsprachig. Menschen, die im Schoß der russischen Mentalität aufgewachsen sind, nehmen alles Belarussische als rückständige Dorfmacke oder feindseliges Attribut wahr.

    Wie in den besetzten Gebieten der Ukraine, so ist auch bei uns eine Quasi-Besatzerverwaltung damit beschäftigt, die nationale Selbstidentifikation durch Beeinflussung ihrer Träger zu zerschlagen und zu zermalmen. Wer nicht aus dem Land geflüchtet ist, wird im Gefängnis sitzen. Und wer nicht im Gefängnis sitzt, wird stillhalten, aus Angst, seinen Besitz, die Kinder und die Arbeit zu verlieren. Denn das sind die Methoden. Die Kinder kommen in Heime oder Pflegefamilien, der Besitz wird durch die Forderung horrender Strafzahlungen aufgezehrt. So zwingt man die Menschen zu werden, wie Russland sie sehen will: Zu Menschen, wie sie in Luhansk, Donezk, in allen besetzten Gebieten leben. Zu einer Art Als-ob-Russen, zu Trägern der russischen Idee, aber in der Metropole doch nicht ganz akzeptiert. Die etwas schlechteren Russen, um die es nicht schade ist, aber die dennoch die Russische Welt vertreten, die den Zweck einer Pufferzone zwischen dem russischen Stammland und dem „verdammten Westen“ erfüllen. 

    Zu solchen wollen sie uns machen, wenn sie aktiv die ukrainische und die belarussische Identität vernichten. Bei uns ist derzeit ein so genannter „kalter Genozid“ im Gange – durch Druck und Repression–, bei den Ukrainern ein „heißer“, durch physische Vernichtung in ihren eigenen Häusern. Dieser Ethnozid ist mal kühl und berechnend, mal karikaturartig und dumm. Doch der Prozess unserer Ausradierung von der Erdoberfläche ist im Gange. 

    Wie leisten wir Widerstand?

    Aktive und sichtbare Formen des Widerstandes sind im Moment nur in der Diaspora möglich. Die Belarussen bilden Militäreinheiten, um auf der Seite der Ukraine zu kämpfen. Sehr bekannte Formationen sind das Kalinouski-Regiment, das Belarussische Freiwilligenkorps Pahonja. Unsere Bücher und Lehrbücher verlegen wir im Ausland, bilden dort unsere Kinder aus, sammeln Spenden für die Familien der politischen Gefangenen, die ohne Existenzgrundlage zurückgeblieben sind, ohne Einkommen droht ihnen der Entzug der Kinder. Wir sammeln Geld für diejenigen, die während der Proteste oder im Krieg verkrüppelt wurden. Wir haben unsere eigene Exil-Regierung und Strukturen in der Emigration. 

    Doch wie sieht es zu Hause aus? Durch die präzedenzlosen Repressionen ist offener Protest dort unmöglich. Für ein Like auf Facebook wird man zu mehreren Jahren Haft verurteilt, für das Abonnement eines Telegramkanals, für ein einzelnes Wort, oder auch einfach so, auf Basis einer Verleumdung. 

    Doch die Menschen haben verstanden, dass sie sich unter diesen Bedingungen vereinen müssen, zusammenstehen, einander helfen. Egal, in welcher Form. Es gibt Lesetreffs, Handarbeitsklubs, Vereinigungen junger Eltern, Gruppen von Tierfreunden oder Sportlern. Die Gesellschaft trägt die Erinnerung an 2020 in sich und strebt danach, sie zu bewahren. Die Menschen sind sich bewusst, dass wir an einem Wendepunkt der Geschichte stehen, und sind jederzeit bereit, wieder auszubrechen, um uns unser Land und unser Leben zurückzuholen. 

    Das Gericht der Zukunft

    Und eine weitere äußerst wichtige Arbeit ist im Gange: Für die Gerichte der Zukunft, zum Zweck der Lustrationsprozesse, werden die Namen der Richter, Staatsanwälte, Polizisten, Geheimdienstmitarbeiter, Gefängnisaufseher, Lehrer, Propagandisten und Denunzianten gesammelt, die die Schicksale von Menschen gebrochen, sie getötet, gepeinigt, erniedrigt und die Wahlen gefälscht haben. Nach der Befreiung von Belarus wird es einen großen Prozess zur Bestrafung des Bösen geben, wozu wir nach dem Zerfall der Sowjetunion weder die historische Zeit noch die historische Chance hatten. 

    Im Untergrund und in der Emigration wird an Gesetzen gearbeitet, auf deren Grundlage das prorussische, quasibesatzerische Regime Aljaxandr Lukaschenkas, die Autoren und Ausführenden der verbrecherischen Befehle, verurteilt werden. Auch für die Normalisierung des Lebens im Land werden Gesetze geschrieben: für ein repressionsfreies, weltliches Bildungssystem, für die Belarusifizierung des Bildungswesens und der öffentlichen Verwaltung, für normale Bedingungen der Presse- und Unternehmerfreiheit.


    In der kurzen Zeit der Freiheit von 1991 bis 1994, als nach dem Zusammenbruch der UdSSR das unabhängige Belarus entstand und der prorussische Diktator Aljaxandr Lukaschenka noch nicht an die Macht gekommen war, machte Belarus einen solchen Sprung nach vorn zur Freiheit, dass wir selbst aus dem Wundern nicht mehr herauskamen. Damals traten die jungen, hellgrünen Triebe unserer zukünftigen Freiheit und Blüte hervor. Vor unseren Augen entwickelten sich Kultur, Unternehmertum, freie Presse, eine gesunde Wirtschaft und Bildung. Jeder Mensch erkannte plötzlich für sich selbst die Möglichkeit und die Chance, das Leben nicht so zu leben, wie es Partei, Staat und Ideologie vorgaben, sondern so, wie man es selbst will. 

    Warum wählte die Gesellschaft damals Aljaxandr Lukaschenka?

    Es gibt ein Sprichwort: Der erste Blin misslingt. Und das war der erste und der letzte Blin, den wir selbständig einrühren und backen durften. In den rund 200 Jahren russischer Besatzung (mit kurzen Unterbrechungen durch andere Okkupanten, die Deutschen und die Polen) kannten die Belarussen weder freie Wahlen noch freie Presse. Es ist schlicht ein Wunder, dass wir überhaupt noch irgendetwas wollen, einen eigenen Lebenswillen und Wünsche haben, und uns selber Bliny backen wollen, anstatt aus fremden Händen gefüttert zu werden. 

    Im Jahr 1994, als bei den einzigen freien Wahlen Aljaxandr Lukaschenka an die Macht kam, herrschte in Belarus noch eine schwere Wirtschaftskrise, die Bevölkerung bestand zu 25 Prozent aus alten Menschen, denen keine Rente mehr ausbezahlt wurde. Der Staat hielt über 90 Prozent der Arbeitsplätze im Land und konnte die Löhne nicht mehr bezahlen. Und das, was noch ausgezahlt wurde, fraß die Inflation auf. Es war absehbar, dass die Krise in kurzer Zeit durch unternehmerische Initiative und kreative Arbeit der Menschen überwunden werden könnte. Doch die älteren und armen Wähler konnten nicht so lange warten. Als dann der Kandidat Lukaschenka auftauchte, der versprach, die postsowjetische Korruption zu besiegen, die Betrüger hinter Gitter zu bringen, die gigantischen sowjetischen Betriebe wiederzubeleben, Arbeitsplätze, Ordnung und Stabilität zu schaffen, stimmten sie begeistert für ihn. Den Menschen gefiel die Idee der starken Hand, die alles im Land für sie übernimmt und Ordnung schafft. Sie wussten noch nicht, dass ihnen die starke Hand mit der Zeit auch an die Kehle gehen würde. 

    Wie wir uns in einem totalitären Staat wiederfanden

    Lukaschenka erfüllte sein Versprechen, den Hungrigen Essen zu geben. Er ging sofort eine Union mit Russland ein, deren Bedingungen im Großen und Ganzen so aussahen: Belarus wird zum Vasallen Russlands, zum Bestandteil des Russki Mir, mit einer Dominanz der russischen Ideologie und Kultur, und Russland bezahlt den ganzen Spaß. Lukaschenka erhält dafür die uneingeschränkte Macht. So funktioniert es seit 1994. Bald 30 Jahre also. 

    Alle paar Jahre standen die Belarussen gegen das Regime auf, wofür es Zeugen und Belege gibt, Chroniken wurden geschrieben, Monitorings durchgeführt. Unermüdlich führten sie den täglichen Kampf. Doch es gelang nicht, das Regime loszuwerden oder wenigstens ins Schwanken zu bringen.

    Einige beschuldigen die freie Welt, die internationale Gemeinschaft, sie habe uns nicht genügend unterstützt. Diesen Gedanken teile ich nicht. Die westlichen Länder unterstützten unsere Opposition und unsere Kulturarbeit mit Geld, Beratung, Bildung und Öffentlichkeit. Diese Unterstützung war riesig.

    Gegen unsere Freiheit aber stand Russland, das all die Jahre, in denen seine Rohstoffe Hochkonjunktur hatten, darauf verwendete, in allen Teilen der Welt seine imperialen Projekte zu finanzieren. Allein in den letzten 29 Jahren gab Russland für die Unterstützung des belarussischen Regimes viele Milliarden Euro aus. Riesige Summen flossen in die Bestechung der politischen und wirtschaftlichen Eliten im Westen – zum Beispiel für bekannte Agenten des russischen Einflusses in London, Berlin, Paris, Warschau, Prag oder in den Hauptstädten der Balkanstaaten. Diese Menschen und Organisationen sind öffentlich sichtbar und laut zu vernehmen. Darüber hinaus wurde russisches Geld zur Anwerbung von Agenten auf der ganzen Welt über die gewaltige und einflussreiche Struktur Rossotrudnitschestwo umgesetzt.

    All das hätte man vermutlich irgendwie überwinden können, wäre es nicht auch innerhalb der belarussischen Nation zu einer Spaltung gekommen. Denn während der Jahrhunderte der militärischen, kulturellen, wirtschaftlichen, mentalen und ideologischen Dominanz hat ein großer Teil unserer Nation die Mentalität des Russki Mir angenommen. Tatsächlich gibt es viele, denen es gefällt, in einem Imperium unmenschlicher Größe und alltäglicher Gewalt, Feindseligkeit und Bosheit zu leben.

    Deshalb haben wir verloren. Und für diese Niederlage haben wir mit dem abrupten Übergang vom autoritären zum totalitären Staat bezahlt.

    Der Unterschied zwischen einem autoritären und einem totalitären Regime ist bekanntermaßen kolossal. Während das autoritäre Regime seinen Untertanen sagt: „Macht in eurem Privatleben, was ihr wollt, Hauptsache, ihr mischt euch nicht in die Politik ein“, kriecht das totalitäre Regime den Menschen ins Bett, an den Tisch, ins Badezimmer. Wenn nötig, entzieht es dem Menschen den letzten Zipfel Privatheit und Intimität, um ihn am Ende auch um das Recht am eigenen Körper zu bringen. Den Tiefpunkt markierte wohl das totalitäre Kambodscha, in dessen Gefängnissen den Menschen verboten war, sich ohne Erlaubnis zu bewegen. Für eine unerlaubte Bewegung wurde man sofort getötet. Von zehntausenden Inhaftierten überlebten nur zwei Menschen diese Gefängnisse.

    Die belarussische Gesellschaft ist am letzten Ende des Totalitarismus angekommen, mit seinen höllischen Bedingungen. 

    Doch uns steht noch ein kleines Schlupfloch offen: Wir können in die Freie Welt fliehen. Natürlich nicht alle. Manche sind krank oder arm, manche in Haft, manche haben alte Eltern. Doch die Regierungen Litauens und Polens – Länder, die uns kulturell und historisch nahestehen – bestätigen, dass die Immigration aus Belarus seit 2020 um ein Mehrfaches angestiegen ist und weiterhin steigt. 

    Die belarussischen Machthaber schauten dabei bewusst weg und hofften, die aktiven, oppositionell eingestellten Menschen loszuwerden, den Gärstoff potenziellen Aufruhrs. Doch auch Fachleute, ohne die der Staat nicht mehr funktionieren konnte, begannen das Land zu verlassen. Einige Tausend Ärzte sind geflohen, ebenso Techniker und Wissenschaftler. Gestern traf ich in Warschau einen jungen Ingenieur, den sein Betriebsleiter nicht gehen lassen wollte. Man sagte ihm: Nein, du wirst hier arbeiten, nicht in Polen. Er ließ seine Dokumente zurück, wurde auf Grundlage des Arbeitsrechtskodex entlassen (was ihm einen Aktenvermerk einbringt, mit dem er in Belarus nie wieder in seinem Beruf eingestellt werden kann). Er sagte mir: „Ich will zum Fernfahrer umschulen und meine Familie herholen. In fünf Jahren bin ich schon zu alt, die Gesundheit lässt nach und ich komme nicht mehr weg, und die Kinder auch nicht.“

    Auch Programmierer verlassen das Land, auf die das belarussische Regime so stolz war, ihnen einen Technologiepark gebaut und vor der ganzen Welt mit ihrer Innovationskraft geprahlt hatte. Einer von ihnen kehrte nach Belarus zurück, um seinen Vater zu beerdigen. Er wurde an der Grenze festgehalten, sein Reisepass, die Karta Polaka und die Arbeitsgenehmigung geschreddert, damit er Belarus nicht mehr verlassen konnte. 

    Wird ein neuer Eiserner Vorhang an der Grenze zum Westen entstehen?

    Elemente davon gibt es bereits. Die Machthaber schaffen künstlich eine mentale und physische Kluft zwischen uns und unseren nächsten Nachbarn – den Polen, mit denen wir einige Jahrhunderte in einem Staat gelebt haben. Um nach Polen zu gelangen, warten die Menschen 8 bis 24 Stunden an den Grenzübergängen, ihre Arbeitserlaubnis wird überprüft, oft wird ihnen die Ausreise verweigert. Selbst die Uhrzeit wurde auf die Moskauer Zeitzone umgestellt, der Unterschied zu Polen beträgt nun zwei Stunden. Wenn es zum Beispiel in Brest 11 Uhr morgens ist, dann ist es in Terespol nach 15-minütiger Fahrt entfernt, erst 9 Uhr. 

    Der gekochte Frosch

    Zu den Folgen des Lebens in einem totalitären Staat gehört nicht nur erlernte Hilflosigkeit, sondern auch Deprivation, die Verkümmerung der Fähigkeit, die psychischen, physischen und sozialen Grundbedürfnisse zu befriedigen. Der Mensch verliert das Gefühl für sich selbst, für seine Bedürfnisse. Wie in dem russischen Märchenfilm, den sie uns jahrzehntelang im Fernsehen gezeigt haben: „Frei oder nicht frei – ist doch einerlei“. Selbst die mutigsten, energischsten und brilliantesten Menschen lassen den Kopf hängen, kehren dem Engagement den Rücken, wenden sich ins Private, in eine andere Kultur oder versinken in Depression und Alkohol. 

    Ein Sänger, der während der Proteste in Belarus öffentliche Chorgesänge mit tausenden Menschen organisierte, sagte mir am 7. Mai 2023 in Warschau: „Ich organisiere keine Straßenchöre mehr. Es ist sinnlos. Unser Gesang hat überhaupt nichts gebracht.“ Dieser aufrechte, motivierte, starke Mensch hat sich nicht unterkriegen lassen, er hilft heute dutzenden belarussischen politischen Flüchtlingen, in Polen Fuß zu fassen. Ohne ihn wüssten ganze Familien nicht, an wen sie sich wenden können, wie sie eine Wohnung, eine Beschäftigung, eine Schule für die Kinder finden. Doch manche Menschen ziehen sich in sich selbst zurück, essen und trinken viel, als wollten sie ihr Leben mit einem schleichenden Selbstmord beenden. Das tun viele, die die Hoffnung verloren haben oder sie Schritt für Schritt verlieren.

    Ich schreibe diesen Text im Wissen darum, dass Pawel Belawus, Inhaber eines auf die Nationalsymbolik ausgerichteten Souvenir- und Buchshops, der lange in Untersuchungshaft saß und auf seine Anklage wartete, schließlich beschuldigt wurde wegen „Verbreitung belarussischen Nationalismus“. Der Staat hat damit unterschrieben, dass er schon lange kein Staat mehr ist. Er ist eine antibelarussische, antinationale Besatzerverwaltung. 

    Ist das das Ende? Nein.

    Was kann uns also retten, abgesehen von den ukrainischen Streitkräften und ihren belarussischen Einheiten, die unseren gemeinsamen Feind vernichten, der seit Jahrhunderten unser Leben, unsere Freiheit und unser Glück vernichtet? 

    Einzig die Liebe. Es liegt in unserer Macht, unsere Identität zu bewahren. Wer keine Kraft hat, etwas zu tun, sich mit anderen Menschen zusammenzuschließen, kann sie einfach in sich selbst erhalten, wie eine Flamme – die Liebe zu sich selbst, die Liebe zu den eigenen Leuten. Aus diesem Flämmchen kann bei günstigen Bedingungen ein hohes, gleichmäßiges und starkes Feuer bis zum Himmel entbrennen – so, wie wir es 2020 gesehen haben, als sich zeigte, dass jedes Haus, jede Familie eine weiß-rot-weiße Flagge besitzt, für die man nun im Gefängnis landet, aus dem man vielleicht nie wieder heimkehrt. Die Liebe zur Freiheit, zum Schaffen, zur Selbstverwirklichung gibt einen starken Impuls. Wie ein belarussisches Sprichwort sagt: „Vom Geliebten bringen dich keine zehn Pferde weg.“ Wie die Seele eines Menschen zu seinem Kind fliegt, zum geliebten Menschen, zu den Eltern, zum heimatlichen Haus, so fliegt sie zum Belarussentum. Besonders, wenn es in Not und Unfreiheit ist. Das Wichtigste ist, die Hoffnung nicht zu verlieren. Und selbst in Schmerz, Deprivation, Hilflosigkeit und Leid muss man das Belarussische lieben und pflegen. Ohne groß nachzudenken, ohne Perfektionismus – denn das ist nur ein weiterer Ausdruck von Unfreiheit. „Ich werde der beste Belarusse von allen sein, ich werde alles retten, alle besiegen, ich werde ein Held und Aktivist sein, werde die Pflicht und die Erinnerung in mir tragen, und die superschwere Energie des Martyriums“ – das ist zu nichts nütze. Man muss lieben, ein fröhlicher Mensch sein. 

    Eines Tages wird es vorbei sein. Der Totalitarismus bricht immer unvermittelt zusammen, da er ein Feind der Liebe, der Freiheit, des Hedonismus und der Freude ist – all dieser leuchtenden Äußerungen der Menschlichkeit. Und dann, nach dieser schmerzhaften Impfung gegen Totalitarismus und fremde Ideologien à la Russki Mir, schaffen wir eine Partei, zum Beispiel zur Säuberung dieser ewig grauen Steinblöcke, die mit dummen Losungen bemalt wurden, renovieren in jeder Stadt die Rathäuser, die Märkte und Plätze, die unter der Moskauer Herrschaft abgetragen wurden, und kommt, lasst uns die Zwiebeln von unseren Kirchtürmen werfen. Wir machen Belarus wieder so, wie Gott es geschaffen hat, denn ohne es ist die Welt unvollkommen. Und wir nennen diese freie Partei nach Michal Aniempadystau – dem Künstler und Poeten, der Belarus wie kein anderer verstand. 

    Auch dann wird es nicht leicht werden, aber, wie ich schon weiter oben gesagt habe: Für das, was man liebt, kann man Berge versetzen und die Himmel neigen.

    Es lebe Belarus.

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    Debattenschau № 88: Was haben die Proteste in Belarus gebracht?

    Drei Jahre nach den historischen Protesten von 2020 hat sich Ernüchterung in der belarussischen Opposition und Gesellschaft breitgemacht. Alexander Lukaschenko hält sich nach wie vor an der Macht, mit Repressionen und Gewalt, zudem hat er sich in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verstrickt, Hunderttausende haben das Land verlassen. 

    Zum Jahrestag des Beginns der Proteste beschäftigen sich Journalisten, Politiker und Intellektuelle in Artikeln und Beiträgen mit dem Erbe von 2020, mit den Auswirkungen und mit Fragen der Zukunft. In einer Debattenschau bringen wir eine Auswahl an Stimmen.

    Tichanowskaja/YouTube: Der Beginn eines neuen Belarus

    Die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja ermutigt die Belarussen, trotz Repressionen, Exil und Leid den Glauben nicht zu verlieren.

    [bilingbox]Ich verstehe: Es ist schwer. Mit jeder neuen Herausforderung wird es schwieriger, den Weg unbeirrt weiterzugehen.

    Doch die Entscheidung liegt ganz bei uns: Wir können das, was in den drei Jahren geleistet wurde, entwerten und von uns selbst und unserer Nation enttäuscht sein. Oder aber wir bewahren all diese wichtigen Momente in unserer Erinnerung und halten diejenigen in Ehren, die wir auf diesem Weg verloren haben. Und gehen weiterhin vorwärts, mit Liebe zu allen, die mit uns gehen, mit Glauben an jene, die nach uns kommen werden …

    Der 9. August 2020 ist kein einfaches Datum für die Belarussen. Ist es nicht so? Dieser Tag hätte der Beginn eines neuen Belarus sein können. Eines Belarus, in dem es niemals politische Häftlinge und Verfolgung Andersdenkender geben wird. Eines Belarus, in dem ein Gespräch auf Belarussisch ein Grund für Begeisterung ist, nicht für Gewalt. Eines Belarus, in das es die Leute zieht, anstatt dass sie es so schnell wie möglich verlassen wollen.~~~Я разумею: гэта цяжка. І з кожным новым выклікам усё складаней захоўваць цвёрдасць крокаў.

    Але гэта толькі наш выбар: абясцэніць зробленае за тры гады, расчаравацца ў сабе і ў сваёй нацыі. Ці захаваць у памяці ўсе важныя моманты, зберагчы ў сэрцы тых, каго мы страцілі на гэтым шляху. І працягнуць ісці наперад з любоўю да тых, хто ідзе побач, і з верай у тых, хто будзе пасля нас…

    9 жніўня 2020 года – ня простая дата для кожнага беларуса. Ці не так? Гэты дзень мог бы стать пачаткам новай Беларусі. Беларусі, у якой ніколі не будзе палітзняволеных і пераследу за іншадумства. Беларусі, дзе размова на роднай мове – нагода для захаплення, а не гвалту. Беларусі, куды імкнуцца патрапіць, а не адкуль спяшаюцца з’ехаць.[/bilingbox]
    erschienen am 9. August 2023, Original

    Plan B.: Die Tragödie des erzwungenen Exils

    In einem Leitartikel weist die Redaktion des Online-Mediums Plan B. auf die dramatischen Folgen der Emigration seit 2020 hin.

    [bilingbox]Alles geht weiter. Belarussen werden in Belarus weiterhin verhaftet, Belarussen werden Belarus weiterhin verlassen. In den Jahren 2021–2022 haben zwischen 143.600 und 170.900 Menschen Belarus in Richtung EU verlassen. Die minimale Zahl entspricht der Bevölkerung des Rajons Orscha, die maximale Zahl der Bevölkerung der Stadt Baranawitschy, der achtgrößten Stadt in Belarus, so steht es in einer Studie des Forschungsinstituts BEROC.

    Das Ausmaß der Tragödie für die Zukunft des Landes hat also die Größe von Baranawitschy. Und das ist noch nicht das Ende. Die Ironie liegt darin, dass dieselbe Regierung, die Belarussen verhaftet und verjagt, den Übrigen etwas vorjammert, dass die Nation der Belarussen aussterben würde und es Zeit sei, Kinder zu gebären. Aber wie soll man gebären, wenn man gleichzeitig von denselben Belarussen bekämpft wird, mit der Anklageschrift in der Hand? Ergebnis: ein Drittel Rückgang [der Geburten] in den letzten sieben Jahren. 

    Ein großer Teil derer, die in die Emigration gezwungen wurden, will ins Land zurückkehren. Niemand von ihnen hat sich diese Zukunft ausgesucht, niemand hatte geplant, sich ein neues Leben in der Emigration aufzubauen, viele leben auch nicht richtig, sondern existieren nur, haben das Leben auf Pause gestellt.~~~Все продолжается. Беларусов в Беларуси продолжают сажать, беларусы из Беларуси продолжают уезжать. За 2021-2022 годы из Беларуси в ЕС переехало от 143,6 тысячи до 170,9 тысячи человек. Нижний предел уехавших сопоставим с населением Оршанского района, а верхний — с количеством жителей города Барановичи, восьмым по величине в Беларуси, говорится в исследовании BEROC «Миграция из Беларуси в страны ЕС в 2021 и 2022 годах».

    Масштаб трагедии для будущего страны – размером с целые Барановичи. И ведь это не предел. Ирония в том, что та самая власть, сажающая и выталкивающая беларусов из страны, сетует оставшимся, что беларусы, как нация, вымирают – пора рожать. Но как рожать, когда против тебя воюют такие же беларусы только с постановлением об обвинении в руках? Итог: минус треть за семь лет.

    Вернуться в страну хотят многие из вынужденно уехавших. Никто из этих людей не выбирал себе такое будущее, никто не планировал строить жизнь в эмиграции, многие так и не живут в ней, а просто существуют, поставив жизнь на долгую паузу.[/bilingbox]

    erschienen am 9. August 2023, Original

    Gazeta.by: „Die Saat ist aufgegangen“

    Der Journalist Wassil Weras sieht die Proteste als Fortführung der belarussischen Unabhängigkeitsbewegung, die mit der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik 1918 begonnen hat.

    [bilingbox]In der aktuellen Situation ermöglichen es die Proteste von 2020, eine Trennlinie zwischen Regime und Gesellschaft zu ziehen. Hätte es die Proteste nicht gegeben, würde Belarus heute als vollwertiger Ko-Aggressor wahrgenommen. Mehr noch, de facto als Region Russlands, mit allen sich daraus ergebenden kurz- und langfristigen Folgen. 

    Durch den belarussischen Widerstand betrachten uns nun viele getrennt von der Gruppe, die das Land regiert (bei allen möglichen Vorbehalten). Und das ist der Faktor, der perspektivisch gesehen eine Schlüsselrolle für die Zukunft unserer Heimat spielen kann. 

    Das Jahr 2020 war für Belarus eine logische Fortführung von 1918 und 1991. Die Saat ist aufgegangen. Um die Früchte zu ernten, müssen noch viele Prüfungen bestanden werden. Dieser August und alles, was nach ihm geschieht – das ist der furchtbare, äußerst schmerzhafte, aber wohl unausweichliche und wichtigste Schritt auf dem Weg in die Freiheit.~~~Протесты трехлетней давности в сложившейся ситуации позволили провести разграничительную черту: между режимом и обществом. Не было бы их, Беларусь воспринималась бы как полноценный соагрессор. Более того, как де-факто регион России. Со всеми вытекающими отсюда краткосрочными и долгосрочными последствиями.

    Но благодаря беларусскому Сопротивлению теперь нас многие рассматривают отдельно от правящей страной группировки (при всех возможных оговорках). И это тот фактор, который в перспективе способен сыграть ключевую роль при определении будущего Родины.

    2020-й для Беларуси – логическое продолжение 1918-го и 1991-го. Семена дали всходы. Чтобы собрать урожай, предстоит еще через многое пройти. Тот август и все, что происходит после него – ужасный, крайне болезненный, но, видимо, неизбежный и важнейший этап на пути к свободе.[/bilingbox]

    erschienen am 9. August 2023, Original

    Radio Svaboda: Es droht eine stärkere Polarisierung

    Der Politologe Waleri Karbalewitsch meint, dass die politische Ausrichtung der Opposition dazu führen wird, dass sich die belarussische Gesellschaft noch tiefer spaltet.

    [bilingbox]Niemals zuvor war das Schicksal von Belarus so stark von äußeren Ereignissen abhängig. Die Eigenständigkeit des Landes im internationalen Kontext hat seit Beginn des Krieges stark abgenommen. Die Isolation wurde auch für den unpolitischen Bürger sichtbar (die Grenze zur EU ist halb geschlossen, Flugzeuge fliegen nicht mehr dorthin, die Sportler nehmen nicht an der Olympiade teil, keine belarussische Künstler beim Eurovision Song Contest usw.). Auch die Stationierung von Atomwaffen in Belarus hat nicht zu größerem politischen Gewicht geführt – eher im Gegenteil. 

    Die Staatsmacht unternimmt massive Versuche, die Herausbildung einer neuen (nichtsowjetischen) belarussischen Identität zu verhindern, indem sie diese als nazistisch bezeichnet. Der neuen Generation, die im unabhängigen Belarus aufgewachsen und sozialisiert ist, zwingen sie die Ideologie des Westrussentums auf. Die Erklärung des Vereinigten Übergangskabinetts, den Kurs in Richtung EU einzuschlagen, bedeutet eine Vertiefung der geopolitischen Spaltung in der belarussischen Gesellschaft.~~~Ніколі раней лёс Беларусі так істотна не залежаў ад вонкавых падзей. Міжнародная суб’ектнасьць краіны з пачаткам вайны моцна зьменшылася. Яе ізаляцыя стала відавочнай для апалітычнага абывацеля (мяжа з Эўропай напаўзачыненая, самалёты туды ня лётаюць, спартоўцы ў Алімпіядзе ня ўдзельнічаюць, беларускія выканаўцы на Эўрабачаньні не сьпяваюць, і інш.). І зьяўленьне ў Беларусі ядзернай зброі не прывяло да росту палітычнай вагі краіны — хутчэй, наадварот.

    Улады робяць масіраваныя спробы спыніць фармаваньне новай (несавецкай) беларускай ідэнтычнасьці, абвяшчаючы яе нацысцкай. Новаму пакаленьню, якое вырасла і сацыялізавалася ў незалежнай Беларусі, навязваюць ідэалёгію заходнерусізму. Абвяшчэньне Аб’яднаным пераходным кабінэтам курсу на эўрапейскі выбар азначае паглыбленьне геапалітычнага расколу беларускага грамадзтва.[/bilingbox]

    erschienen am 9. August 2023, Original 

    Zerkalo: „Enttäuschung und Angst dominieren“

    Das System Lukaschenko habe immer noch Angst vor dem Widerstand der Belarussen, der 2020 zu den Protesten führte, meint der Soziologe Gennadi Korschunow.

    [bilingbox]Die Konfrontation zwischen Staat und Gesellschaft bleibt bestehen. Die Regierung hat nichts unternommen, um diesen Konflikt auf konstruktive Weise zu lösen. Die Machthaber setzten, setzen und werden auch weiterhin nur auf gewaltsame Methoden setzen.

    Michail Bedunkewitsch, stellvertretender Chef des GUBOPiK, sagte kürzlich in einem Interview, dass die Repressionen deshalb fortgesetzt werden, weil ansonsten der Widerstand wieder beginnt und sich die Belarussen wieder etwas ausdenken. Dieser These Bedunkewitschs stimme ich zu. Das Protestpotential ist aktuell erstickt, Enttäuschung und Angst dominieren, es fehlt eine Idee, was getan werden kann. Sobald sich aber eine Gelegenheit ergibt, wird sich die ganze Unzufriedenheit mit dem, was geschieht, entladen.~~~Противостояние государства и общества, которое было, осталось. На системном уровне власти не сделали ничего, чтобы оно разрешилось позитивным путем. Они использовали, используют и будут использовать только насильственные методы.

    Недавно было интервью с [Михаилом] Бедункевичем, заместителем руководителя ГУБОПиК, о том, что репрессии будут продолжаться потому, что если их остановить, то начнется противодействие и белорусы опять что-то задумают. С этим тезисом Бедункевича я согласен. Протестный потенциал сейчас задушен, есть разочарование, страх, отсутствует понимание того, что можно сделать, но как только будет возможность, все недовольство тем, что происходит, будет выплеснуто.[/bilingbox]

    erschienen am 9. August 2023, Original

    Pozirk: „Tichanowskaja reagierte 2020 zu spät“

    Der Journalist Alexander Klaskowski glaubt, dass die Proteste nicht zum Machtwechsel führten, weil die neue Opposition keinen klaren Plan hatte.

    [bilingbox]Ja, Tichanowskaja ist auf beeindruckende Weise zum Symbol des Kampfes für einen Wandel geworden. Doch weder vor dem 9. August, noch nach den Wahlen, als hunderttausende Belarussen auf die Straßen strömten, hatten die Ehefrau des inhaftierten Bloggers und ihr Team einen klaren Plan, wie man mit der politischen Energie der erwachten Massen einen Machtwechsel herbeiführen könne.

    Dieses Team hinkte auch danach mehrfach dem Lauf der Dinge hinterher und reagierte zu spät. Als beispielsweise im Oktober 2020 in Tichanowskajas Namen den Machthabern ein Ultimatum gestellt wurde, und damit ein landesweiter Streik ausgelöst werden sollte, befahl Lukaschenko, alle darin verwickelten Unternehmen „zurechtzustutzen“. Schon lange im Ausland schien Tichanowskajas Stab in der Illusion zu leben, dass die Proteste reanimiert werden könnten. 

    Hätte im August 2020 ein totaler Streik das Land lahmgelegt, hätte Lukaschenko sich vielleicht nicht halten können.~~~Да, в итоге Тихановская феноменальным образом стала символом борьбы за перемены. Но никакого внятного плана, что делать с политической энергией разбуженных масс, как направить ее на смену власти, ни перед 9 августа, ни после президентских выборов, когда сотни тысяч белорусов вывалили на улицы, у жены посаженного в тюрьму блогера и ее команды не было.

    Эта команда потом еще не раз отставала от хода событий, опаздывала. Например, когда от имени Тихановской в октябре 2020-го властям выдвинули ультиматум, попытались инспирировать общенациональную забастовку, после чего Лукашенко велел "вырезать" засветившийся в ней бизнес. Долгое время уже за рубежом штаб Тихановской жил, кажется, иллюзией, что можно реанимировать протесты.

    Вот если бы в августе 2020-го тотальная стачка парализовала страну, то Лукашенко мог бы и не удержаться.[/bilingbox]

    erschienen am 9. August 2023, Original


    Übersetzungen: Tina Wünschmann

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  • Zufluchtsort Tbilissi: Junge Russen im Exil

    Zufluchtsort Tbilissi: Junge Russen im Exil

    Für den Kreml sind sie Verräter, doch auch im Exil schlägt ihnen nicht selten Ablehnung entgegen: Laut Schätzungen haben seit dem 24. Februar 2022 bis zu einer Million Menschen Russland verlassen. Aus Angst vor Repressionen oder davor, in den Krieg geschickt zu werden, aus Protest gegen den Kreml, aus Scham oder Ekel – die Exilgründe sind zahlreich, ebenso die Zielländer. Viele hat es in die EU oder etwa nach Serbien verschlagen, andere in die südkaukasischen Länder oder in die Türkei. Die zentralasiatischen Staaten sind beliebt, einige fliegen nach Argentinien: Dort geborene Kinder erhalten automatisch die argentinische Staatsbürgerschaft, ihre Eltern können dann ebenfalls recht unkompliziert Argentinier werden. 

    Manche Exilanten empfinden, dass „Russen die neuen Deutschen“ sind: In ihrer neuen Heimat fühlen sie sich nicht willkommen, die Diskussion, ob es „gute Russen“ gibt, ist wohl ähnlich heftig, wie die Diskussionen über „gute Deutsche“ nach dem Zweiten Weltkrieg – Stichwort kollektive Verantwortung. Andere berichten etwa, dass einige Einheimische in Zentralasien nun den Spieß umdrehen – und sie genauso schlecht behandeln wie Russen die Gastarbaitery aus Zentralasien.

    Schon lange vor dem Krieg haben hunderttausende Russen mit den Füßen abgestimmt. Mit der sukzessiven Verschärfung der Repressionen seit der Zerschlagung der Bolotnaja-Bewegung 2011–2012 haben vor allem junge und gebildete Menschen Russland verlassen. Seit dem Beginn der russischen Großinvasion ist weiterer Braindrain zu beobachten – was laut Analysten einerseits Wirtschaftswachstum in die Exilländer bringt, andererseits aber auch Preissteigerungen. Zunehmend werden Russen im Exil als Gentrifizierer wahrgenommen. 

    Das Bild, das dabei gezeichnet wird, ist jedoch einseitig: Nicht nur junge ITler mit sechsstelligen Jahreseinkünften haben Russland den Rücken gekehrt, auch viele Kreative, Medienschaffende und zivilgesellschaftliche Akteure sind ins Exil gegangen. Der Fotograf Maximilian Gödecke und der Journalist Fabian Schäfer haben fünf von ihnen in der georgischen Hauptstadt Tbilissi aufgesucht. Aus dem Exil heraus bilden sie eine aktive Zivilgesellschaft, die sich ganz unterschiedlich gegen den Krieg und für ihre neue Heimat engagiert. 

    Agatha, 22, schaut auf das nebelige Tbilissi. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB bedrohte und observierte sie, weil ihr Vater in der Opposition engagiert ist. „Am 24. Februar hat mich mein Vater angerufen. Es war sofort klar, dass wir nicht in Moskau bleiben können.“ Die Modedesign-Studentin engagiert sich in einer georgischen Ehrenamts-Gruppe auf Telegram. / Foto © Maximilian Gödecke
    Agatha sitzt auf dem Balkon und raucht mit ihrer Mitbewohnerin eine Zigarette. / Foto © Maximilian Gödecke
    Ksenija, 35, arbeitete zuletzt für eine Organisation, die russische Beamte bei Fragen der Digitalisierung berät und schult. „Als ich auf Telegram vom Kriegsbeginn gelesen habe, war ich gelähmt. Ich wusste, dass jetzt alles anders wird.“ Seit Herbst engagiert sie sich bei Motskhaleba – eine NGO, die ukrainischen Geflüchteten in Georgien hilft. „In Russland war ich bei einer NGO aktiv, die politische Häftlinge unterstützt. Ich verachte die russische Propaganda – aber was kann ich tun? Menschen helfen, die Hilfe brauchen.“ / Foto © Maximilian Gödecke
    Der Kasache Artur, 23, kam für seine Ausbildung als Koch nach Jekaterinburg. Dort eröffnete er eine vegane Bäckerei, die anarchisch organisiert war und als Treffpunkt von Regimekritikern bekannt war. „Eines Tages rief mich die Polizei an, die mich für einen Extremisten hält. Ich würde aus Russland ausgewiesen. Wenn ich das Land nicht freiwillig verlasse, würde ich in Abschiebehaft kommen.“ In Tbilissi gründete er mit Mitstreitern das vegane Restaurant Shpana, in dem es sogar eine vegane Version des klassischen georgischen überbackenen Käsebrotes Chatschapuri gibt. „Ich kann mir ein Leben ohne Aktivismus nicht vorstellen. Wir wollen die vegane Küche in Georgien bekannter machen und einen Raum für linke Gruppen bieten. Alle Trinkgelder spenden wir an die Ukraine.“ / Foto © Maximilian Gödecke
    Das vegane Restaurant Shpana, in dem es sogar eine vegane Version des klassischen georgischen überbackenen Käsebrotes Chatschapuri gibt. / Foto © Maximilian Gödecke
    Links: Portrait von Artur in seiner Wohnung. / Rechts: Die Theatermacherin Polina stellt die Figuren in ihrem kleinen Theater zurecht. / Foto © Maximilian Gödecke
    Polina, 29, kam mit besonderem Gepäck aus Sankt Petersburg nach Tbilissi: Ein kleines Figurentheater. Das brachte sie auch zu ukrainischen Waisenkindern aus Cherson, die aus der Ukraine geflohen sind. „Am Anfang hatte ich total Angst, weil ich nicht wusste, was mich erwartet. Ich kannte den krassen Hintergrund der Kinder, dass ich aus Russland bin, war gar kein Problem. Wir haben ein kleines Stück mit den Puppen kreiert. Alles war voller Liebe und Hoffnung und Verspieltheit.“ / Foto © Maximilian Gödecke
    Polina zieht die Gardine zu. / Foto © Maximilian Gödecke
    Der Journalist Danil, 45, hat es seit dem Krieg nicht mehr in Sankt Petersburg ausgehalten – auch wenn er seine Frau und seine Kinder dafür zurücklassen musste. „Ich wollte sofort raus aus Russland.“ In Tbilissi arbeitet er für Paper Kartuli, ein lokales zweisprachiges Online-Magazin. „Georgier:innen und Russ:innen haben oft wenig miteinander zu tun. Wir wollen sie aus ihren Bubbles herausholen.“ Im Keller der Redaktion hat er zusätzlich im Januar eine Bar eröffnet, in der sich vor allem oppositionelle Journalistеn aus Russland austauschen. / Foto © Maximilian Gödecke

    Fotografie: Maximilian Gödecke
    Text: Fabian Schäfer 
    Bildredaktion: Andy Heller
    Veröffentlicht am: 10.08.2023

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    Fototagebuch aus Kyjiw

    „Mir sind meine Wurzeln, meine Familie und meine Heimat genommen worden“

    Gegen die Nostalgie

    Gefängnis oder Emigration, das ist hier die Frage

    „Wir erleben einen historischen Umbruch, dessen Epizentren die Ukraine und Belarus sind“

    „Wer traurig ist, gehört zu mir“

  • Bilder vom Krieg #12

    Bilder vom Krieg #12

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Brendan Hoffman

    Kinder nehmen an einem Inlineskating-Kurs in Kyjiw teil. Aufgenommen am 13. Juni 2023 in Kyjiw / Foto © Brendan Hoffman
    Kinder nehmen an einem Inlineskating-Kurs in Kyjiw teil. Aufgenommen am 13. Juni 2023 in Kyjiw / Foto © Brendan Hoffman

    [bilingbox]dekoder: Erinnerst du dich an den Tag, an dem du das Foto aufgenommen hast?

    Brendan Hoffman: Ich habe dieses Foto am 13. Juni dieses Jahres gemacht, also nur eine Woche nachdem russische Streitkräfte den Staudamm von Nowa Katschowka im Süden der Ukraine gesprengt hatten. Die Menschen waren (und sind) immer noch wütend und schockiert darüber. Es ist eine so sinnlose Katastrophe. Die Sprengung scheint keinen anderen Zweck zu haben, als die ukrainische Zivilbevölkerung zu bestrafen. Aber die Ukrainer sind darin geübt, schnell zu reagieren. Also fanden die Menschen Wege, um sich gegenseitig zu helfen und gelassen zu bleiben.

    Den größten Teil des Tages habe ich in einem Tierheim verbracht, das Haustiere aufnahm, die bei der Überschwemmung von Cherson ausgesetzt worden waren. Den ganzen Tag von Hunden und Katzen umgeben zu sein – das ließ die Welt irgendwie in Ordnung erscheinen. Am Abend machte ich mich dann auf den Weg, um das Gebäude bei perfektem Licht einzufangen. Es ist immer noch schwer zu glauben, dass dies ein realer Ort ist. Es ist eines der wenigen Fotos, von dem ich schon im Vorhinein wusste, dass ich es machen wollte. Ich hatte allerdings keine Ahnung, dass dort ein Inlineskating-Kurs für Kinder stattfinden würde. Das war reines Glück. Für mich sind diese Kinder der Inbegriff von Freiheit.

    Wie würdest du deine Erfahrungen als Fotograf während des Krieges gegen die Ukraine beschreiben?

    Meine Erfahrungen sind insofern etwas ungewöhnlich, als dass ich ein dauerhaft in der Ukraine lebender Ausländer bin. Meine Frau ist Ukrainerin. Als die Invasion begann, konnte ich nicht einfach wieder nach Hause gehen. Zu allem Überfluss war meine Frau Ende Februar letzten Jahres im sechsten Monat mit unserem ersten Kind schwanger. Wir erlebten die erste Phase der Invasion zu Hause in unserem Schlafzimmer in Kyjiw. Dann verließen wir die Stadt. Etwa einen Monat lang arbeitete ich weiter, so gut es eben ging. Aber dann musste ich mich darauf konzentrieren, eine neue Wohnung in einem anderen Land zu finden und mich rechtzeitig dort einzuleben, um unseren Sohn auf der Welt willkommen zu heißen.

    Vor einem Jahr kehrten wir schließlich in die Ukraine zurück. Ich gehe nicht oft an die Front, sondern bleibe meist in Kyjiw. Das ist zwar manchmal gefährlich, aber es gibt mir die Möglichkeit, zu erkunden, wie der Krieg alles berührt – auch abseits der Front. Und, wie alles trotzdem weitergeht.

    Wie sollten Fotografen den Krieg deiner Meinung nach abbilden?

    Ich denke, wir müssen über einzelne Fotos hinausdenken und uns auf den Gesamteindruck konzentrieren, den wir als Fotografen vermitteln. Es gibt visuelle Klischees. Wenn man die bedient, kann das dazu führen, dass fade, sich wiederholende und zu vereinfachte Bilder entstehen. Daran bin ich genauso schuld wie jeder andere auch. Soweit es möglich ist, müssen wir versuchen, ehrlich und klar zu zeigen, wie der Krieg ist: nicht nur für die Soldaten oder für die Opfer eines Raketenangriffs. Sondern für all die Millionen von Menschen, die ihn durchleben. Das kann kompliziert sein.

    Gerätst du manchmal auch an den Rand deiner Möglichkeiten als Fotograf – insbesondere seit Beginn des Krieges?

    Es gab Momente – zum Beispiel, als 2014 das Malaysia-Airlines-Flugzeug MH17 über dem Osten der Ukraine abgeschossen wurde –, in denen ich keine Fotos von dem machen wollte, was vor mir lag. Es war zu grausam, und solche grausamen Fotos würden mit hoher Wahrscheinlichkeit sowieso nicht veröffentlicht werden. Ich wollte das nicht tun und auch nicht dabei gesehen werden, wie ich solche Fotos mache. Es war, als ob die Leute eine falsche Vorstellung davon bekommen würden, was die Aufgabe eines Fotografen ist. Später bedauerte ich, dass ich die Bilder nicht gemacht hatte. Als historische Dokumente wären sie wichtig gewesen. Das ist es, was die Leute normalerweise meinen, wenn sie fragen, was auf einem Foto gezeigt werden kann oder sollte: Wie drastisch und blutig darf es sein, was ist akzeptabel? Krieg, das ist eine Frau, die von einer russischen Rakete aus ihrer Wohnung im 17. Stock in Kyjiw gesprengt wird und in Dutzenden von Teilen auf dem Parkplatz landet. Das war etwas, das ich letzten Monat gesehen habe. Die hässliche Realität zu vermeiden, fühlt sich an, als würde man die Wahrheit verbergen und einen Kreislauf des Tötens aufrechterhalten. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es wichtig ist, drastische Bilder zu machen, wenn man sie vor Augen hat – aber auch sehr genau darüber nachzudenken, wie sie, wenn überhaupt, gesehen werden.

    Wie lässt sich deine Position als Fotograf in der Ukraine beschreiben?

    Ich habe Glück, denn ich habe einen festen Arbeitsplatz und im Gegensatz zu vielen meiner ukrainischen Kollegen kann ich das Land verlassen, wann immer ich will. Ich bin zwar ziemlich eng mit der Ukraine verbunden, aber es ist trotzdem nicht mein Land. Ich werde nicht zum Kampf einberufen werden. Es ist ein schwieriger Balanceakt: Um gute Arbeit zu leisten, muss man einen Ort gut kennen, aber für mich ist auch eine gewisse Distanz erforderlich. Das war am Anfang am schwierigsten zu erreichen. Jetzt gibt es viele Momente, in denen ich weniger Beobachter sein möchte und stattdessen in irgendeiner Weise aktiver beteiligt sein möchte.~~~dekoder: Can you remember the day when you took the image? 

    Brendan Hoffman: I took this picture on June 13 of this year, so it was only a week after Russian forces blew up the hydroelectric dam at Nova Kakhovka, in southern Ukraine. People were (and are) still angry and in shock about it – such a pointless catastrophe that didn’t seem to have any function but to punish civilians and destroy infrastructure that supports some of the richest farmland in the world. Still, Ukrainians are practiced at leaping to action so people were finding ways to help and generally being stoic. I had spent most of the day at an animal shelter that was housing pets abandoned when Kherson flooded. Being surrounded by dogs and cats all day made the world feel kind of alright.

    How does the photo make you feel when you now look at it? 

    It’s still hard to believe this is a real place. It’s so perfect for the age. This is a rare photo that I knew ahead of time I wanted to make, and I made a special trip one evening to catch it with the perfect light. I had no idea there would be a children’s rollerblading class, however. That was pure luck, but to me those kids are freedom incarnate. 

    What were your experiences as a photographer during the war?

    I’m slightly unusual as far as my experience, in that while I am a foreigner, I live permanently in Ukraine and my wife is Ukrainian. When the full-scale invasion began, I couldn’t just do my assignment and then leave to go home again. To top it off, in late February of last year, my wife was nearly six months pregnant with our first child. We experienced the opening salvo of the invasion at home in our bedroom in Kyiv, and left the city the next day. I continued working as best I could for about a month but ultimately I had to focus on finding a new place to live in a different country and getting settled in time to welcome our son into the world. 

    We returned to Ukraine a year ago and I’ve been working pretty intensively since then, but again with a somewhat unusual role. I don’t often go to the front lines and instead mostly stay in Kyiv, which is sometimes dangerous but more often gives me the opportunity to explore the fascinating and telling ways that the war touches everything, but everything still carries on. 

    In your opinion: How should photographers depict the war?

    We have to think beyond individual frames to focus on the overall impression we give. There are deadline pressures and visual cliches that can conspire to produce bland, repetitive, and oversimplified imagery, and I’m as guilty as anyone of that. But to the extent possible, we really need to try to show with honesty and clarity of thinking what war is like, not just for soldiers or the victims of a missile attack, but for all the tens of millions of people living through it. It can be complicated.

    Where do you feel your own limits? Could you reflect on your own photographic position, especially within the context of the on-going war? 

    There have been times – for example, when Malaysia Airlines flight MH17 was shot down over eastern Ukraine in 2014 – when I felt like a vulture and did not want to take pictures of what was in front of me. It was too graphic, and such graphic photos wouldn’t be likely to be published anyway. I didn’t want to do it and I didn’t want to be seen doing it. It was like people would get the wrong idea about what a photographer’s purpose is. Later, I had regrets that I hadn’t made the pictures. I still think they were too graphic to be published, but they would be important as historical documents. This is normally what people mean when they ask about what can or should be shown in a photo: how graphic and bloody is acceptable? Of course, that’s what war is, it’s a woman blown out of her 17th floor apartment in Kyiv by a Russian missile and landing in the parking lot in dozens of pieces. That was something I saw last month. It’s a dilemma because avoiding the ugly reality feels like hiding the truth and perpetuating a cycle of killing. I’ve come to the conclusion that it’s important to make graphic pictures when presented with them but to be very thoughtful about how, if ever, they are seen.

    As for my overall photographic position, I’m lucky. I have steady work and unlike many of my Ukrainian colleagues, I can leave the country when I want to and take a break, or I could pack up and move away entirely. While I’m pretty deeply enmeshed in Ukraine, it is still not my country and I’m not going to be called up to fight. It’s a tricky balance: doing good work requires deep knowledge of a place but for me, it also requires a certain detachment. That was the hardest thing to achieve early on, and now there are a lot of times when I would like to be less of an observer and instead be more actively involved in some way.[/bilingbox]

    BRENDAN HOFFMAN

    geboren 1980 im US-Bundesstaat New York, lebt und arbeitet in Kyjiw. Er ist Mitbegründer des Prime Collectives, eine internationale Gruppierung aus Fotografen, Filmemachern und bildenden Künstlern, die sich in ihren Werken mit Fragen der sozialen und ökologischen Gerechtigkeit auseinandersetzen. Seit 2013 dokumentiert er vor allem die Geschehnisse in der Ukraine. Seine Arbeiten wurden weltweit vielfach veröffentlicht und ausgestellt.
    Regelmäßig verfasst er Beiträge für Medienhäuser wie die New York Times und National Geographic.


    Bildredaktion: Andy Heller
    Foto: Brendan Hoffman
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 28.07.2023

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  • „Wir erleben einen historischen Umbruch, dessen Epizentren die Ukraine und Belarus sind“

    „Wir erleben einen historischen Umbruch, dessen Epizentren die Ukraine und Belarus sind“

    Sozialer und kultureller Widerstand in Belarus – auf diese Themen hat sich Yauhen Attsetski unter anderem in seiner fotografischen Arbeit fokussiert. So ist das preisgekrönte Fotoprojekt Messed up entstanden, in dem er das Leben der Musikerinnen der gleichnachnamigen Hardcore-Punkband in der west-belarussischen Stadt Hrodna dokumentiert. Einem größeren Publikum wurde er bekannt, als er die Entstehung des Platzes des Wandels in Minsk während der Proteste 2020 begleitete. Mittlerweile lebt Attsetski mit seiner Frau Julia in Lwiw. In der Ukraine, wo er gerade seine erste Ausstellung hatte, hält er die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf das gesellschaftliche Leben fest. Wir haben mit ihm über seine Arbeit und sein Leben in der Ukraine gesprochen, zudem zeigen wir eine Auswahl seiner Bilder. 

    Nach den russischen Raketenangriffen auf das ukrainische Energie-Netz sind Teile von Lwiw ohne Strom. In den Häusern auf der linken Seite gibt es Strom, auf der rechten Seite beleuchten die Menschen ihre Wohnungen mit Taschenlampen oder Kerzen. / Foto © Yauhen Attsetski

    dekoder: Sie wohnen heute in Lwiw. Wie kam es dazu? 

    Yauhen Attsetski: Im Sommer 2021 kam der KGB zu meiner Frau Julia, Hausdurchsuchung. Nach den Ereignissen im Land im Jahr 2020 hatten wir keinerlei Illusionen auf eine faire Rechtsprechung. Es war ein Signal. Also zogen wir mit unseren beiden Katzen nach Kyjiw. Ein halbes Jahr später begann der Krieg.

    Ich gestehe, ich hatte kaum geglaubt, dass so etwas möglich ist. Wir überlegten zwei Tage lang, blieben zunächst noch in der Stadt. Doch nach einer Nacht, die wir in den Büroräumen von Julias Firma verbrachten und in der wir Salven von Maschinengewehren und wohl auch Panzerfeuer hörten, beschlossen wir weiterzuziehen. Wie durch ein Wunder fanden wir einen Bus und kamen nach Lwiw, wo wir von unserer Freundin Alina aufgenommen wurden. Für die ersten drei Monate war ihre Wohnung unser neues Zuhause. Über Alina kamen wir auch in Kontakt mit den anderen Belarussen in Lwiw. Das gemeinsame Leid einte uns, mit vielen von ihnen sind wir heute befreundet.

    Viele Belarussen sind wegen der Repressionen in die Ukraine geflohen und dann vor dem Krieg in andere Länder. Warum sind Sie geblieben?

    Zuerst wollten wir nach Polen ausreisen. Doch in den ersten Wochen war der Lwiwer Bahnhof ein einziges Chaos, in einen Zug zu kommen, war unrealistisch. Wir beschlossen, einige Zeit abzuwarten, und nach ein paar Wochen hatten wir uns schon an die Stadt gewöhnt. Uns interessierte das, was hier vor sich ging. Ich holte die Kamera hervor und begann zu fotografieren. Ich spürte, dass die Ukraine eine Chance hat standzuhalten. In diesem Moment wollte ich an der Seite der Ukrainer sein. Als Autor hielt ich die Geschehnisse fest, als Mensch half ich dem Land, so gut ich konnte. Für uns Belarussen ist es sehr wichtig zu sehen und zu erleben, dass Gerechtigkeit existiert, dass man Terror abwehren kann. Deshalb bin ich hiergeblieben, um diese Erfahrung aufzusaugen. Heute ist mein Glaube an ein gutes Ende so stark wie nie zuvor.

    Was sind das für Projekte, an denen Sie gerade arbeiten?

    Seit 2020 verlässt mich das Gefühl nicht, dass wir einen historischen Umbruch erleben, dessen Epizentren die Ukraine und Belarus sind. Als Dokumentarfotograf ist es mir wichtig, diese Zeit einzufangen und festzuhalten.

    In meinem Projekt verfolge ich gleichzeitig mehrere Stränge. Der erste sind die sozialen Prozesse in der ukrainischen Gesellschaft. Für mich ist das eine neue Kultur, zudem auch noch in einem Moment großer Herausforderung, weshalb ich das Objektiv auf die sozialen Reaktionen richte. Parallel dazu halte ich unseren Alltag fest. Das ist Tagebuchfotografie mit einer kleinen Analogkamera. Das Leben im Krieg, das sind nicht nur Explosionen, Angst und Kampf. Die Menschen im Krieg finden zusammen, stehen enger beieinander. Der dritte Strang sind Schwarzweißporträts meiner Freunde. Hauptsächlich sind das Belarussen, die wie ich beschlossen haben, in Zeiten des Krieges in der Ukraine zu bleiben.

    Belarus gilt der Ukraine als Co-Aggressor. Wie ist für Sie das Leben in der Ukraine?

    In den ganzen 15 Monaten seit dem russischen Großangriff auf die Ukraine war ich nur wenige Male mit Aggression gegenüber Belarussen aufgrund ihrer Nationalität konfrontiert. Ich denke, die Mehrheit der Menschen versteht, dass wir gute Gründe haben, noch hier zu sein. Wir alle helfen der Ukraine wie wir können – mit Taten, Informationen, Geld. Wir haben Kerzen für die Schützengräben gebastelt, Tarnnetze geflochten, manche haben auf dem Bahnhof geholfen. Als Autor habe ich meine Arbeiten bei wohltätigen Aktionen zugunsten der Unterstützung der Ukraine verkauft. Besonders möchte ich das Engagement unserer Freundin Tanya Hatsura-Yavorska hervorheben. Aktuell sammelt sie schon zum zweiten Mal Spenden für Vakuumpumpen für Unterdrucktherapie zur Behandlung von Kriegswunden. Zudem baut sie ein Rehazentrum für Soldaten, die gegen Russland kämpfen. Im November 2022 organisierte Tanja das belarussisch-ukrainische Filmfestival Na Mjashy (dt. An der Grenze), auf dem die ukrainischen Zuschauer mehr über Belarus erfuhren, und die belarussischen über die Ukraine.

    Welche künstlerische Herangehensweise ist Ihnen bei Ihrer Arbeit wichtig?

    Als ich die sozialen Reaktionen fotografierte, ging ich maximal auf Abstand. Ich fokussierte auf das Geschehen selbst, nicht auf den Menschen. Ich betrachtete die Prozesse, nicht das individuelle Heldentum. Wenn du vom Krieg weit entfernt bist, wird sein Bild oft von Bildern von der Front geprägt, von der Zone der aktiven Kampfhandlungen. Aber das Leben geht überall weiter, das ganze Land, in jedem Winkel, reagiert auf den russischen Angriff. Mir war es wichtig zu zeigen, dass das Leben im Krieg in erster Linie eben das Leben ist, in all seinen Ausprägungen, Leid, Freude, Kampf. Manchmal scheint es, dass gar nichts passiert, doch wenn du dann hinausgehst, kannst du nicht übersehen, in welchem Zustand sich das Land befindet: Plakatwände, Werbung, Radio, Fernsehen – überall Krieg; Menschen in Militäruniform, Panzerigel, mit Säcken verbarrikadierte Fenster – all das gehört gerade zum Bild einer jeden ukrainischen Stadt. All das hinterlässt ohne Frage Spuren bei den Menschen. Und bei alldem freuen wir uns, erholen wir uns, reisen wir. Dieses Gefühl wollte ich mit meinem Projekt vermitteln.

    Was planen Sie für die Zukunft?

    In Minsk hatte ich eine Schule für Fotografie, ФШ1 (FSch1). Neben der Ausbildung beschäftigten wir uns damit, ein Netzwerk aufzubauen, uns war es wichtig, junge Fotografen zu unterstützen. Wir organisierten Filmabende, gaben Fotografen eine Bühne, luden erfahrene Kollegen zu Artist Talks ein, organisierten Partys. Diese Arbeit würde ich gern wieder aufnehmen. Leider hat sich das Netzwerk seit 2020 auf verschiedene Länder verteilt. Ein Großteil der Leute war noch in Minsk und in Warschau. Ich würde die Kontakte gern wieder aufbauen. Es wäre großartig, wenn die Menschen sich wieder treffen und kreativ arbeiten könnten. Für diejenigen, die in der Heimat geblieben sind, will ich Online-Veranstaltungen organisieren, doch am wichtigsten sind persönliche Treffen. Wir haben ein solches Treffen bereits in Warschau durchgeführt, es war sehr herzlich und lebensbejahend.

     

    Julia und ihre Katze Fujuza flüchten während der Luftangriffe auf Lwiw ins Badezimmer. Das Bad ist der einzige Ort in der Wohnung, der dem Zwei Wände-Prinzip gerecht wird / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Katze Fujuza hat sich selbst in den Koffer gepackt / rechts: Oxana mit Blumenvase nach Alinas Geburtstag. Alina gehört zur belarussischen Community in Lwiw / Fotos © Yauhen Attsetski
    Julia kuschelt mit Katze Satana / Foto © Yauhen Attsetski
    Julia, Alina, Tanja und Jas arbeiten während eines Luftangriffs. In den ersten Kriegsmonaten wurde empfohlen, die Fenster zu verdunkeln, also auch das Licht auszuschalten / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Tanja und ihr Hund Kailas in ihrer Wohnung in Kyjiw / rechts: Tisch in Alinas Wohnung / Fotos © Yauhen Attsetski
    Alina umarmt Tanja bei einer Veranstaltung im Menschenrechtszentrum in Tschernihyw / Foto © Yauhen Attsetski
    Oleg ist Belarusse, er lebt in Charkiw. Im November 2022 wurde er Mitglied der belarussischen Community in Lwiw / Foto © Yauhen Attsetski
    Die Küche in Julias und Shenjas Wohnung in Lwiw nach einer Party / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Julia mit ihrer Katze Petra / rechts: Fujuza trinkt Wasser aus dem Hahn / Fotos © Yauhen Attsetski
    Ikonen in der Mietwohnung, in der Julia und Shenja leben. In Lwiwer Wohnungen sind Ikonen keine Seltenheit / Foto © Yauhen Attsetski
    Plausch auf dem Balkon: Alina, Danik, Julia, Jegor und Kätzchen Satana / Foto © Yauhen Attsetski
    Kater Uwashajemy (dt. Sehr geehrter) / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Sonniger Tag in Lwiw im Februar 2023 / rechts: Religiöse Malerei an einem Gebäude in Lwiw / Fotos © Yauhen Attsetski
    Anissa und Mascha auf einem Ausflug nach Werchowina, eine Stadt in den Karpaten / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Oxana auf einer Party / rechts: Anissa mit einem Kopfschmuck, den sie auf der Reise in die Karpaten in einem Haus gefunden hat / Fotos © Yauhen Attsetski
    Anissa und Jegor auf dem Balkon ihrer Mietwohnung in Lwiw / Foto © Yauhen Attsetski
    Blick aus dem Zugfenster, auf dem Weg in die Berge / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Fujuza versteckt sich hinter dem Vorhang / rechts: Urlaub nahe Kyjiw: Julia trinkt einen Cocktail / Foto © Yauhen Attsetski
    Blick auf Werchowina aus dem Gebäude des Busbahnhofs / Foto © Yauhen Attsetski
    Links: Shenjas und Julias Wohnung / rechts: Urlaub nahe Kyjiw: Julia entspannt im Pool / Fotos © Yauhen Attsetski
    Hund Kailas im Kofferraum / Foto © Yauhen Attsetski

    Fotografie: Yauhen Attsetski
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: Tina Wünschmann
    Interview: Ingo Petz
    Veröffentlicht am 04.07.2023

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    Bilder vom Krieg #11

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Lesha Berezovskiy

    Dom Kultury | Kulturhaus / Foto © Lesha Berezovskiy, 2. April 2023 in Derhatschi, Oblast Charkiw

    LESHA BEREZOVSKIY

    [bilingbox]Ich kam mit Freunden von der Freiwilligenorganisation Livyj Bereh in die Oblast Charkiw. Die vergangenen sechs Monate hatten sie vor allem Dächer in der Gemeinde Derhatschi repariert, die zu Beginn der Invasion heftig bombardiert worden war, als die Russen versuchten Charkiw einzunehmen. 

    Dieses Gebäude weckte meine Aufmerksamkeit. Erstens war es das Dom Kultury (Kulturhaus), das seit Anfang der Invasion als humanitäres Hilfszentrum genutzt worden war. Menschen aus allen naheliegenden Dörfern kamen und holten sich Essen, Medikamente und andere humanitäre Hilfsgüter. 

    Neben allem berührte mich vor allem die Flagge der EU zwischen all den ukrainischen Flaggen, was die Haltung der Ukrainer klar zeigt – worüber Russland offensichtlich nicht froh ist. Deswegen setzen sie ihre Kriegsverbrechen in der Ukraine fort.

    In meinen Bildern möchte ich die Wahrheit und Komplexität der Situation zeigen. Und auch meine eigenen Erfahrungen als Mensch, der diesen Krieg seit fast neun Jahren miterlebt. Er drang erstmals 2014 in mein Leben, als ich in Donezk lebte.

    Die russische Propaganda hatte schon seit Jahrzehnten nicht nur innerhalb Russlands hervorragend funktioniert, sondern auch in der Ukraine und der ganzen Welt. Sie haben sich unglaublich ins Zeug gelegt, um im Westen die Meinung zu etablieren, dass die Ukraine ein Teil von Russland sei. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben sie diesen Krieg vorbereitet. Und die ukrainische Identität schon lange davor angefangen zu zerstören, wie auch viele andere Nationalitäten auf dem Gebiet der Ex-UdSSR.

    Ich bin kein Fotoreporter oder Fotojournalist, sodass ich oft lieber nicht fotografiere, weil ich die Ereignisse zu verstörend finde und niemandem zu nahe treten möchte. Also versuche ich, eine tieferliegende Schicht des Krieges zu zeigen. In dem Schweizer Online-Magazin Republik mache ich seit dem ersten Tag der Invasion eine Kolumne und es kam viele Male vor, dass ich es vorzog, über Ereignisse zu schreiben, ohne davon Bilder zu machen.

    Wie sich meine Fotografie im Verlaufe des Kriegs verändert hat? Von der Technik her vielleicht: Ich fotografiere jetzt auch digital, zusätzlich zum Analogfilm, denn in den ersten Monaten nach dem 24. Februar 2022 war es einfach zu heftig: Mit einer analogen Kamera herumzulaufen und nicht zeigen zu können, was du gerade fotografiert hattest, war ein bisschen bedenklich. Also habe ich mich an eine kleine Digitalkamera gewöhnt, fotografiere aber immer noch lieber Mittelformat.

     

    LESHA BEREZOVSKIY

    Lesha Berezovskiy, 1991 geboren in der Oblast Luhansk, ist ein Fotograf aus der Ukraine. Der Autodidakt wuchs im Donbas auf, zwischen der rauen Industriestadt Jenakijewe und dem ruhig ländlichen Nowoaidar, wo seine Großeltern lebten und wohin die Mutter ihn und seine Schwester oft schickten, um ihn vor den harten Vibes der Stadt zu schützen. Dort verbrachte er die Tage mit Ziegenhüten und in der schönen Natur am Fluss Aidar. Hier entwickelte Lesha seine Liebe zur Natur und lernte es zu schätzen, Zeit allein und mit seinen Gedanken zu verbringen – etwas, das in seinen Fotografien von Beginn an spürbar war und sich in einer feinen Wahrnehmung der Atmosphäre eines Gegenstands oder einer Situation niederschlägt – und Leben in seine Bilder bringt.

    Lesha Berezovskiys Bildkolumne „Leben in Trümmern“ gibt es nun auch als Buch, derzeit arbeitet er unter anderem am Projekt „War Knocked On My Door Again“.~~~I went to Kharkiv region with my friends from volunteer organization Livyj Bereh. Over the past 6 months they were focused on fixing roofs in Derhachi hromada which was bombed heavily in the beginning of the full scale invasion when russians tried to occupy Kharkiv. 


    This particular building especially dragged my attention. First of all it was the house of culture which was actually used as a humanitarian hub since the full scale invasion began. People from all the nearest villages were coming there to get food, medicine and other humanitarian aid. Besides this what really touched me was the flag of EU along with Ukrainian flags which clearly shows the position of Ukrainians – and russia is obviously not happy with it. That’s why they keep committing war crimes in Ukraine.

    The truth and complexity of the situation are what I was trying to show in my pictures. Also my own experience as a person who experiencing this war for almost nine years. First it has broke in to my life in 2014 when I lived in Donetsk. 
    Russian propaganda worked very well for decades not only inside russia itself but also in Ukraine and all over the world. They’ve put so much effort to establish the opinion of Ukraine in the West like it’s a part of russia. They’ve been preparing for this war since the fall of USSR. And destroying Ukrainian identity even long before, as well as many other nationalities within the territory of ex-USSR. 


    I’m not a reportage photographer or photojournalist, so often I prefer not to photograph because I find the events too disturbing and don’t want to make anyone uncomfortable. So I try to show this war on a bit deeper level. I’ve been doing a column at Swiss magazine Republik since the first day of full scale invasion and there were many times when I chose to write about some events without taking pictures of it. 

    – Did your photography change in the course of the war? If so, in which way? 

    It may have changed a bit in technical aspect. I started using digital in addition to film because first months after 24.02.2022 were too incense and walking around with a film camera without ability to show what did you take a picture of was a bit risky. So I got used to small digital camera but I still prefer medium format on film. 

     

    LESHA BEREZOVSKIY

    Lesha Berezovskiy (*1991 Luhansk Oblast) is a photographer from Ukraine. The auto-didact grew up in Donbas, between the rough industrial city of Yenakijeve and the quiet, rural town of Novoaidar, where his grandparents lived and where his mother sent him and his sister as often as possible, in order to protect them from the tough city vibes. There, spending the days hoarding goats and enjoying nature by the Aidar River, Lesha developed his love for nature and learned to appreciate the time and space alone with his thoughts – a characteristic that has been recognizable in his photography from the very beginning, manifesting itself as a very fine sense for the atmosphere surrounding a subject or a situation, bringing his images to life.[/bilingbox]

    Foto: Lesha Berezovskiy
    Bildredaktion: Andy Heller
    Veröffentlicht am 28. Juni 2023

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  • Unter dem Einfluss der russischen Welt

    Unter dem Einfluss der russischen Welt

    In seiner Amtszeit seit 1994 hat Alexander Lukaschenko mit dem Einfluss Russlands in Belarus geschickt gespielt, den Kreml auch teilweise immer wieder ausgespielt, wenn er zumindest zeitweise der EU entgegengekommen ist. Der russischen Führung ist es nie gelungen, eine wirkliche Kontrolle über den Machtapparat Lukaschenkos aufzubauen. Im Zuge der Niederschlagung der Proteste im Jahr 2020, der Radikalisierung des politischen Systems in Belarus oder der Rolle der belarussischen Führung im russischen Krieg gegen die Ukraine hat Russland potentielle außenpolitische Ausweichmanöver für den belarussischen Machthaber aber deutlich eingeschränkt. 

    Kann Russland diese Situation soweit nutzen, um seinen ideologischen Einfluss in Belarus zu stärken? Mit dieser zentralen Frage beschäftigt sich der belarussische Journalist Alexander Klaskowski in seiner Analyse für dekoder.

    Das russische private Militärunternehmen Wagner hat eine finstere Reputation. Es ist in einer Reihe von Staaten als verbrecherische oder terroristische Organisation eingestuft. Seine Söldner sind jetzt in der Ukraine am Werk. Der Vorschlaghammer ist zu einem Symbol der Abrechnung mit jenen geworden, die die Wagner-Leute für „Verräter“ halten.

    Diese spezifische Reliquie der Russki Mir wird nun – signiert von einem der Wagner-Männer – in einem belarussischen Museum als Exponat ausgestellt. Dabei empören sich nur jene Belarussen laut, die sich in der politischen Emigration befinden. Wer vor Ort ist, schweigt lieber. Es wird gemunkelt, dass Wladimir Gabrows Initiativen unter der Schirmherrschaft des belarussischen KGB stehen.

    Der ehemalige Angehörige der Fallschirmjäger steht jedenfalls in der Gunst der Regierung und taucht regelmäßig im Staatsfernsehen auf. Ende vergangenen Jahres überreichte Bildungsminister Andrej Iwanez ihm die Urkunde Für die aktive Beteiligung an der militärisch-patriotischen Erziehung der jungen Generation. Gabrow kann sich auch mit der Dankbarkeit von Alexander Lukaschenkos Präsidialadministration brüsten.

    Das Experiment einer „sanften Belarussifizierung“ ist gescheitert

    Dabei hatten sich glühende Verfechter der Russki Mir in Belarus vor wenigen Jahren noch längst nicht so wohl gefühlt. Lukaschenko hatte zwar dem Kreml die Treue geschworen, war aber auch auf der Hut geblieben. Er widersetzte sich nach Kräften dem Vormarsch der russischen Soft Power, die er zu Recht als Bedrohung für seine Herrschaft ansah.

    Unter anderem bemühten sich die belarussischen Behörden, die Märsche am Tag des Sieges, die Moskau im Rahmen des Unsterblichen Regiments im gesamten nahen Ausland initiierte, wenn nicht zu verbieten, so doch möglichst klein zu halten. So verweigerte die Minsker Stadtverwaltung einem Verein mit diesem Namen die Registrierung. Lukaschenko erklärte, dass es in Belarus seit langem schon die Aktion Belarus gedenkt gebe und die Russen die Idee „einfach geklaut“ hätten.

    Die Geheimdienste des Regimes erstickten im Keim Kosakeninitiativen, mit denen belarussische Jugendliche geködert werden sollten. Lukaschenko erklärte klipp und klar: „Das sind gar keine Kosaken. Es gibt Menschen, denen ist völlig egal, wie sie ihr Geld verdienen. Die werden von jemandem in Russland bezahlt. Wir sehen das …“ Ende 2017 verurteilte ein Gericht in Minsk drei belarussische Autoren der russischen Nachrichtenagentur Regnum zu fünf Jahren Freiheitsentzug auf Bewährung. Sie wurden der Volksverhetzung angeklagt, weil sie – so die Gutachter – in ihren Beiträgen die Souveränität von Belarus in Frage gestellt und beleidigende Aussagen über das belarussische Volk sowie dessen Geschichte, Sprache und Kultur gemacht hätten.

    Eine Weile liebäugelte Lukaschenko sogar mit einer „sanften Belarussifizierung“. Dabei bemühte er nationale Narrative, um ein Gegengewicht zum Druck aus dem Kreml zu bilden. Die Regierung ließ etwas mehr Freiheit für Kultur- und Bildungsinitiativen des nationalbewussten Teils der Gesellschaft. 2018 wurden im Zentrum von Minsk sogar eine Demonstration und ein Gedenkkonzert anlässlich des hundertsten Jahrestages der Belarussischen Volksrepublik genehmigt. Zehntausende versammelten sich mit den historischen weiß-rot-weißen Flaggen.

    Als dann aber 2020 gleich Hunderttausende mit diesen Flaggen auf die Straße gingen, um gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen zu protestieren, verstand Lukaschenko, dass er einen Geist aus der Flasche gelassen hatte. Er griff zu brutalen Repressionen, und die historische Flagge wurde zu einem Symbol des Faschismus erklärt. Bis heute werden Teilnehmer der friedlichen Demonstrationen ausfindig gemacht und hinter Gitter gebracht.

    Aktivistin Bondarewa gegen Socken, Lateinisches und Denkmäler 

    Dafür sahen einige Adepten der Russki Mir ihre Zeit als gekommen. Ein Beispiel hierfür ist die unermüdliche Aktivität von Olga Bondarewa aus Hrodna. Unabhängigen Medien zufolge ist Bondarewa in Polen wegen Zigarettenschmuggels vorbestraft. 2020 jedoch kamen ihre Hasstiraden gegen Protestierende der Regierung ganz gelegen.

    Nachdem Bondarewa ein „aufrührerisches“ Gemälde in einer Ausstellung von Ales Puschkin, einem dezidiert nationalbewussten Künstler, gemeldet hatte, wurde der Künstler angeklagt und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Bondarewa erreichte auch, dass von dem Gelände des Privatmuseums von Anatoli Bely in der Stadt Staryja Darohi die Skulpturen einer Reihe belarussischer historischer Persönlichkeiten entfernt wurden.

    Sie führte einen leidenschaftlichen Feldzug gegen Socken mit belarussischen Aufschriften; gegen nicht genehme Bücher; gegen Exkursionsleiter, die Belarussisch sprachen und deren Auslegung der belarussischen Geschichte, die angeblich von der offiziellen abwich; gegen einen Priester, der eine Andacht „für die Krieger und Verteidiger der Ukraine“ abgehalten hatte. Die rastlose Aktivistin machte auch vor der lateinischen Schrift nicht Halt, die unter anderem für das Belarussische verwendet wird und die sie als Instrument der Polonisierung anprangerte.

    Irgendwann ging die übereifrige Aktivistin selbst den Bürokraten und Propagandisten des Regimes auf die Nerven. Umso mehr, als sie begann, führende Repräsentanten und Mitarbeiter staatlicher Medien, die ihren Kriterien nicht genügten, grob zu beschimpfen. „Was geht in ihrem kranken Hirn vor?“, empörte sich über Bondarewas Ausfälle Swetlana Warjaniza, stellvertretende Vorsitzende der Gebietsorganisation Hrodna der regimetreuen Bewegung Belaja Rus.

    Nicht, dass die Funktionäre unbedingt gegen Bondarewa wären. Aber sie wollen wegen ihrer Aufrufe auch nicht von ihren Vorgesetzten eins auf die Mütze bekommen. Nach dem Motto: Warum habt ihr sie nicht im Auge gehabt? Warum habt ihr den Aufruhr zugelassen? Also haben wohl einige von ihnen damit begonnen, diese Aktivistin dezent in die Schranken zu weisen.

    Im Februar verweigerte die Miliz Bondarewa die Einleitung eines Strafverfahrens, nachdem sie angeblich in einem Telegram-Kanal beleidigt worden sei. Auch könnte ihr Rechtsstreit mit dem Parlamentsabgeordneten Igor Marsaljuk in einem Fiasko enden. Der hatte ihre Ausfälle nicht länger ertragen und sich an den Generalstaatsanwalt gewandt, damit dieser eine rechtliche Bewertung der Aktivitäten von „pseudopatriotischen Bloggern“ vornimmt.

    Auf der anderen Seite scheinen sich lokale Behörden wohl doch ein wenig vor Bondarewa zu fürchten und ihren „Signalen“ lieber Folge zu leisten. So wurde kürzlich bekannt, dass in der Ortschaft Selwa auf geheimnisvolle Weise das Denkmal der Dichterin Laryssa Henijusch verschwand, die unter Stalin zu 25 Jahren Gulag verurteilt worden war.

    Die Propaganda des Kreml hat zusätzliche Freiräume bekommen

    Allerdings gibt es in Belarus nur wenige Verfechter der Russki Mir, die so besessen sind wie Bondarewa. Man kann sich denken, dass diese Leute in den Augen der meisten Belarussen wie skurrile Freaks wirken. Der Soziologe Filipp Bikanow, der im vergangenen Jahr eine Studie zur nationalen Identität durchführte, stufte lediglich vier Prozent der Befragten als „Russifizierte“ ein. Zahlreiche weitere Studien haben bereits festgestellt, dass die Wenigsten für einen Beitritt von Belarus zu Russland sind. Die erklärten Anhänger der Russki Mir bilden in Belarus also keine kritische Masse. Ganz anders als 2014 auf der Krim und im Donbass.

    Bikanows Kategorisierung zufolge gibt es im Land jedoch nicht wenige „sowjetische“ Belarussen (nach seinen Berechnungen rund 29 Prozent), die ebenfalls für russische Propaganda empfänglich sein könnten. Und für die gibt es seit 2020 mehr Freiräume. 

    Lukaschenkos Medien wiederholen zahlreiche Narrative des Kreml. Unabhängige belarussische Medien werden systematisch als extremistisch eingestuft und aus dem Land vertrieben; wer sie innerhalb des Landes liest, wird bestraft. Die Miliz überprüft bei ihren Opfern, welche Telegram-Kanäle sie abonniert haben, um „Aufrührer“ aufzuspüren. Es ist jedenfalls sicherer, nur konforme Inhalte zu konsumieren. Umfragen zufolge gewinnen die kremltreuen und die staatlichen belarussischen Medien, die ihnen nach dem Mund reden, infolge durchaus an Einfluss.

    Der Führer schaufelt der Unabhängigkeit des Landes ein Grab

    Nach 2020 haben die Verfechter der Russischen Welt ihre Position auch im Verwaltungsapparat merklich gefestigt, sowohl in Lukaschenkos unmittelbarer Umgebung als auch – und insbesondere – in den Sicherheitsbehörden.

    Der ehemalige politische Gefangene Konstantin Wyssotschin erinnert sich an seinen Aufenthalt in der GUBOPiK, der Hauptverwaltung zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und Korruption, einer Abteilung des Innenministeriums, die sich zur politischen Polizei gemausert hat: „Was mich verblüffte: An allen Bürotüren hängen Flaggen mit dem Z, und in den Räumen hängen zwei Portraits – eins von Lukaschenko und eins von Putin.“ Das Z nutzen die russischen Militärs zur Markierung ihres Geräts beim Einmarsch in die Ukraine. Es wurde auch zu einem propagandistischen Symbol der Aggressoren.

    Viele belarussische Offiziere erhielten ihre Ausbildung in Russland und haben dort noch Freunde. Manch einer, so wird gemunkelt, ist neidisch auf die Bezahlung der russischen Offiziere und Generäle. Verteidigungsminister Viktor Chrenin bezeichnete Lukaschenko und Putin öffentlich als „unsere Präsidenten“. Es stellt sich also die Frage, auf welcher Seite die Befehlshaber der belarussischen Armee und anderer Sicherheitsstrukturen (und nicht nur dort) im kritischen Moment stehen werden, wenn ihre Hirne von der Propaganda des Kreml gewaschen sind und sie praktisch in imperialen Kategorien denken.

    Als prorussisch gelten unter anderem der stellvertretende Innenminister Nikolaj Karpenkow (der früher die erwähnte GUBOPiK leitete), Oleg Romanow, der Chef der vor kurzem gegründeten Partei Belaja Rus, der Staatssekretär des belarussischen Sicherheitsrates Alexander Wolfowitsch sowie die Vorsitzende des Rates der Republik Natalja Kotschanowa. Letztere genießt das uneingeschränkte Vertrauen Lukaschenkos, der ihr verantwortungsvolle und heikle Aufgaben überträgt. Sie gilt sogar als mögliche Nachfolgerin des alternden Führers.

    Zum orthodoxen Weihnachtsfest entzündete Lukaschenko eine Kerze in der Kirche des am Stadtrand von Minsk gelegenen St. Elisabeths-Klosters, das als Hochburg von Anhängern der Russki Mir bekannt ist. Unter anderem wurden hier Spenden(gelder) für die russischen Aggressoren gesammelt, was bei den Opponenten des Regimes für Empörung sorgte. Das Staatsoberhaupt nahm das Kloster jedoch in Schutz: „Ihr macht das richtig. Achtet nicht auf dieses Dutzend gekaufter Leute.“

    Dabei ist offensichtlich, dass Lukaschenko Bauchschmerzen hat, den Aggressor uneingeschränkt zu unterstützen, weil ihm dafür perspektivisch ein Platz auf der Anklagebank im Internationalen Gerichtshof droht. Aber was soll er tun? Die Zeiten, da der belarussische Herrscher, wenn ihn der Kreml zu sehr bedrängte, die Zähne fletschen und sogar Wirtschaftskriege führen konnte, sind vorbei.

    Der Wendepunkt war die gewaltsame Niederschlagung der Proteste 2020. Um sich im Sattel zu halten, bat Lukaschenko Putin um Hilfe. Der bot ihm die starke Schulter und erntete dafür Begeisterung von Lukaschenkos Gefolgsleuten und Silowiki. Doch dann forderte Putin für die Rettung des verbündeten Autokraten einen grausamen Preis: Moskau nutzte Belarus als Aufmarschgebiet für den Überfall auf die Ukraine, beschmutzte das Regime durch die Beteiligung an seinem Eroberungskrieg und will jetzt in Belarus taktische Atomwaffen stationieren, wodurch der Nachbar noch stärker an Russland gefesselt wird.

    Angesichts dieser höheren Gewalt wählte Lukaschenko den Weg der Zugeständnisse an den Kreml – Zugeständnisse an den Westen und die Opposition kamen für ihn grundsätzlich nicht in Frage.

    Der belarussische Herrscher hat sich selbst in eine Zwickmühle gebracht: Obwohl er sich der Gefahr einer schleichenden imperialen Expansion durch Russland sehr wohl bewusst war, ist er jetzt dazu gezwungen, der Russki Mir immer weiter die Tür zu öffnen, damit er sich selbst hier und jetzt an der Macht halten kann. Somit schaufeln nicht die „prorussischen Freaks“ der belarussischen Unabhängigkeit das Grab, sondern der Führer des Regimes selbst.

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