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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Verbannt und verboten

    Verbannt und verboten

    Der freie Geist und das geschriebene Wort sind seit jeher Feinde von autoritären Systemen und Diktaturen. Auch das System Alexander Lukaschenko ist in den Jahren seiner Existenz immer wieder gegen die unabhängige Literatur vorgegangen. Es gab zwar keine offizielle Zensur wie in der Sowjetunion, dennoch übten die Machthaber eine gewisse Kontrolle über unabhängige Verlage aus, die beispielsweise eine offizielle Herausgeberlizenz brauchten, um ihrer Arbeit nachgehen zu können. Auch wurden Bücher nicht genehmer Autoren nicht in den staatlichen Buchhandlungen verkauft, die lange Zeit den Markt im unabhängigen Belarus dominierten. Die Existenz eines unabhängigen Schriftstellerverbandes, unabhängiger Verlage und Buchhandlungen wurde lange geduldet, auch wenn sie von Zeit zu Zeit mit Repressionen attackiert wurden, wie im Fall des Verlags Lohvinau. All das ist vorbei, seitdem der Staat nach den Protesten von 2020 die Gesellschaft, Medien, Kultur und Zivilgesellschaft massiv bekämpft. Seitdem gehen die Machthaber auch gezielter gegen Literatur, Verlage und Autoren vor.

    Die belarussische Journalistin Anna Wolynez erzählt die Geschichte des Verlags Januškevič, der in seiner Heimat liquidiert wurde und der ins Exil nach Polen ging, um dort weiterarbeiten zu können.

    Русская версия

    Der britische Botschafter verkleidet als Professor für Zauberkunst, Andrang beim Butterbierausschank, Aufteilung der Gäste nach den Hogwarts-Häusern – so sah Anfang 2020 die Harry-Potter-Nacht in Minsk aus. Zu den Organisatoren gehörte neben der Britischen Botschaft auch der unabhängige belarussische Verlag Januškevič

    Anlass für das Fest war die Veröffentlichung der belarussischen Übersetzung von Harry Potter und der Stein der Weisen. Die erste Auflage, 2000 Exemplare, verkaufte sich innerhalb von drei Monaten. Die zweite Auflage wurde ein halbes Jahr später an der litauischen Grenze vom Zoll beschlagnahmt. Die belarussischen Zöllner hätten sich davon überzeugen wollen, dass das Buch keinen Aufruf zum Sturz der Regierung enthält, erklärte der Verlag Januškevič in den sozialen Netzwerken. 

    Von allen anderen Harry-Potter-Bänden, die in Belarus verkauft wurden, unterschied sich dieser nur dadurch, dass er auf Belarussisch anstatt auf Russisch erschienen war. Schließlich durfte das Buch doch ins Land. Doch schon im Frühjahr 2021 konfiszierte der Zoll einen weiteren Titel des Verlags – den Roman Die Hunde Europas von Alhierd Bacharevič. Der Verkauf des Buchs wurde verhindert, ein Jahr später kam es auf die sogenannte republikanische Liste extremistischer Materialien
     

    Der Verleger Andrej Januschkewitsch / Foto © Andrej Radoman

    Die Eintagsbuchhandlung von Minsk

    Die Regierung hatte den Verlag Januškevič schon lange im Visier. Im Januar 2021 fand eine Durchsuchung in den Büroräumen statt, der Verlagsgründer Andrej Januschkewitsch wurde festgenommen. Nach der Befragung kam er wieder frei, doch die Technik des Verlags wurde konfisziert und die Konten gesperrt. Erst ein halbes Jahr später wurden sie wieder freigegeben. Im März 2022 musste der Verlag sein Büro räumen. Als die Bücher abverkauft wurden, standen die Leute stundenlang danach an.

    „Wir dachten, die Räumung wäre auf Initiative der Stadtverwaltung erfolgt, aber tatsächlich hatten viel höhere Stellen ihre Hände im Spiel“, erinnert sich Andrej Januschkewitsch. „Wir nahmen das nicht ernst und wussten nichts Genaues über die Hintergründe.“

    Der kleine unabhängige Verlag ließ sich nicht unterkriegen. Am 17. Mai 2022 eröffnete im Minsker Stadtzentrum die Buchhandlung Knihauka mit Büchern des Verlags Januškevič, seinen Freunden und Partnern. Der Name bedeutet „Kiebitz“ [doch auch das Wort kniha – „Buch“ – steckt darin – Anm. dekoder]. „Uns war nicht bewusst, dass es sich um eine systematische Attacke auf den belarussischen Buchdruck handelte“, räumt Januschkewitsch ein. 

    Die Buchhandlung Knihauka existierte genau einen Tag. Zuerst kamen Propagandisten vom staatlichen Fernsehen zur Eröffnung, kommentierten die Bücher und versuchten, darin Fotos der SS oder Texte über Nazismus zu finden. Dann kam die Antikorruptionsbehörde GUBOPiK mit einem Durchsuchungsbeschluss – Silowiki aus der Unterabteilung des Innenministeriums, die seit 2020 mit politischer Verfolgung befasst sind. Sie teilten mit, dass die Buchhandlung unter dem Verdacht stehe, „extremistische Literatur“ zu verbreiten, und konfiszierten zweihundert Bücher.

    „Ich hatte damals ein interessantes Gespräch mit dem Offizier. Er teilte Bücher offenbar in ‚richtige‘ und ‚falsche‘ ein. Wir befassten uns, seiner Ansicht nach, mit ‚falschen‘ Büchern. Tja, so ist das … Dem belarussischen Leser genügt Harry Potter auf Russisch, und wer braucht schon das [belarussischsprachige] Kupala-Theater, wenn es Gastspiele aus Moskau gibt“, bemerkt der Verleger sarkastisch. 

    Was in Belarus vier Jahre dauerte, gelang in Polen in weniger als einem Jahr

    Der Verlag Januškevič existierte von 2014 bis 2021 und gab in dieser Zeit etwa 150 Bücher von Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Ländern in belarussischer Sprache heraus. Es war ein privatwirtschaftliches Unternehmen, auch wenn der Verlag Fördermittel für einzelne Bücher bekam, etwa vom deutschen Goethe-Institut, der Stiftung Ireland Literature, dem polnischen Buchinstitut oder dem tschechischen Kulturministerium. Der Übergriff der Silowiki 2022 brachte die Arbeit zum Erliegen. Weitere Festnahmen folgten: Diesmal verbrachten eine Mitarbeiterin der Buchhandlung 23 Tage und der Verleger 28 Tage in Haft. Im Juni 2022 emigrierte Andrej Januschkewitsch nach Polen. 

    „Alles passierte plötzlich und war nicht geplant. Aber ich kenne Polen schon lange und spreche Polnisch. Ich habe hier Bekannte, Kollegen und Freunde“, erzählt er. Nach dem Umzug musste er praktisch bei Null beginnen. Das Team war in Belarus geblieben, so dass der Verlagsinhaber die Arbeit gemeinsam mit Lektoren, Korrektoren, Übersetzern und Designern aus verschiedenen Ländern nun selbst übernahm.

    Auch die Leserschaft half dabei, den Verlag wieder aufzubauen. Ein halbes Jahr nach dem Umzug initiierte der Belarusian Council for Culture eine Spendensammlung zur Unterstützung des Verlags, und zwar in der für Belarus neuen Form des Magistrats, einer Art Genossenschaft, die über einen definierten Zeitraum hinweg ein Projekt unterstützt. Im Rahmen des Magistrats Knihauka spendeten 325 Personen innerhalb eines halben Jahres 23.000 Euro. Der Verlag hat keine eigene Buchhandlung, die Bücher werden über das Internet vertrieben, zum Beispiel über die Online-Plattform allegro. Geplant sind auch der Verkauf über Amazon und die Eröffnung eines Büros mit Direktvertrieb. Im August 2023 ging der eigene Webshop an den Start, der wie die ehemalige Buchhandlung in Minsk heißt – knihauka.com. „Ein Haufen Probleme musste und muss noch immer gelöst werden, verbunden mit der Legalisierung, der Geschäftseröffnung und dem Geschäftsbetrieb. Aber Schritt für Schritt findet sich alles“, so Januschkewitsch. 

    Im Vergleich zu Belarus sind die Arbeitsbedingungen in Polen günstiger, findet der Verleger: kostenlose ISBN-Nummern, einfache Unternehmensregistrierung, eine große Auswahl an Druckereien, günstige Preise, viele Optionen für den Buchvertrieb. „So konnten wir gleich effizient an die Arbeit gehen. In Belarus haben wir drei bis vier Jahre gebraucht, um eine Webseite aufzubauen und bekannt zu werden oder Kontakte mit ausländischen Druckereien aufzubauen, weil die belarussischen nicht die gewünschte Qualität liefern konnten“, erzählt Januschkewitsch. 

    In Belarus müssen sich Verleger zudem beim Informationsministerium registrieren und eine Prüfung ablegen, um eine spezielle Zulassung zu erhalten. Im Januar 2023 wurde Andrej Januschkewitsch diese Zulassung entzogen – als erstem privaten Verleger in Belarus. „Diese Prüfung ist absoluter Schwachsinn und dient als ideologischer Filter, um unerwünschte Verleger aussortieren zu können“, meint er. 

    Bücher sind kein Brot – wer kein Geld hat, kommt auch ohne sie aus

    Während der Zeit in Polen sind bereits an die 20 Titel erschienen, darunter George Orwells Farm der Tiere und eine Neuauflage des legendären Romans Die Hunde Europas von Alhierd Bacharevič (in Zusammenarbeit mit dem Verlag Vesna). Die Auflage im Umfang von 1000 Exemplaren verkaufte sich innerhalb von sieben Monaten. 

    In Belarus hätte der Verlag diese Menge etwa in einem Jahr verkauft. Januschkewitsch erklärt das damit, dass die Leserschaft in Polen „konzentrierter“ sei: „In Belarus verlor sich der belarussische Leser in einem Meer aus russischsprachigen Büchern. Die Menschen wussten nicht, dass es uns gab. Hier aber gibt es kein russisches Monopol, zudem wächst das Bewusstsein dafür, Belarusse zu sein, nicht Russe. Diese Identität will gefördert werden, dadurch wächst das natürliche Interesse an der belarussischen Kultur.“
     
    Im Angebot sind nicht nur Bücher für Erwachsene. Eine Auflage von 200 Stück des Jugend-Fantasy-Romans Wolnery [dt. Die Freiwilligen] von Waler Hapejeu verkaufte sich innerhalb von zwei Monaten. Ebenso der Jugendroman Kasik s kamennaj horki i Wjadsmak Schawanaha Horada [dt. Kasik aus Kamennaja Horka und der Zauberer der Verborgenen Stadt] von Ales Kudryzki. 

    „Das ist etwas ganz Neues. Wir haben nicht viel in die Werbung investiert und hatten Angst, auf einer Auflage von 700 oder 1000 Stück sitzenzubleiben. Deshalb haben wir mit einer Probeauflage von 250 Exemplaren begonnen, und in weniger als zwei Monaten waren alle verkauft“, sagt der Verleger. Für 2023 und 2024 stehen Der Herr der Ringe und der nächste Band von Harry Potter auf dem Programm. Ein weiterer Erfolg des Verlags ist die Vertragsunterzeichnung mit dem „King of Horror“ Stephen King, dessen Bücher nun in belarussischer Übersetzung erscheinen werden. King hatte im Februar 2022 untersagt, dass seine Bücher ins Russische übersetzt werden.
     
    Januschkewitsch ist überzeugt: Die aktuell hohe Nachfrage nach belarussischsprachigen Titeln darf man nicht ungenutzt vorbeiziehen lassen. „Das Publikum ist da, es verlangt nach neuen Büchern, es hungert richtiggehend danach. Dabei erreichen wir noch gar nicht die großen Länder, wie Großbritannien, die USA und Frankreich, in denen viele Belarussen leben“, sagt er. 

    Es sei also höchste Zeit, die kulturelle Produktion intensiv anzukurbeln, um den günstigen Moment nicht verstreichen zu lassen. „Bücher sind kein Brot und keine Wurst, wer kein Geld hat, der kommt auch ohne sie aus … Aber die Belarussen wollen das Eigene und sind bereit, dafür Geld auszugeben“, meint Januschkewitsch. 

    Das belarussische Regime ist antibelarussisch

    Eines der jüngsten Bücher des Verlags ist Chloptschyk i sneh [dt. Der kleine Junge und der Schnee] von Alhierd Bacharevič. Es sollte ursprünglich bereits im Frühjahrsprogramm 2021 erscheinen, doch dann dauerte es bis zum Sommer 2023. Damals, erklärt der Verleger, habe er mit dem Autor lange über einige scharfe Formulierungen diskutiert. „Der Autor sagte offen, dass im Land Faschismus herrsche und die Situation schrecklich sei. Ich wusste, dass man das unmöglich drucken konnte, die Selbstzensur setzte ein, und ich konnte den Autor, dessen Bücher bereits aus den Bibliotheken und Buchhandlungen verschwanden, überzeugen. Aber dann wurde klar, dass das Problem nicht einzelne Formulierungen waren, sondern dass Bacharevič insgesamt in Belarus verboten werden sollte“, sagt Januschkewitsch. „Ich bin froh, dass wir das Buch jetzt unzensiert herausgeben konnten.“

    Die aktuelle Situation in Belarus, den Einfluss von Ideologie und Kulturpolitik auf den Buchmarkt, sieht der Verleger kritisch. Seiner Meinung nach waren der Besuch des GUBOPiK, die Schließung seiner Buchhandlung und die Ermittlungen gegen seinen Verlag damit verbunden, dass er belarussische Bücher vertreibt. „Ich werde nicht müde zu wiederholen, dass das belarussische Regime antibelarussisch ist. Sie brauchen das Belarussische nur als Vorwand, wie die Fassaden der potemkinschen Dörfer“, sagt Januschkewitsch. Nach diesem Prinzip arbeiten alle staatlichen Verlage. 

    „Ich muss lachen, wenn ich höre, dass auf der Bestsellerliste ein Buch mit dem Titel Der Genozid am belarussischen Volk während des Großen Vaterländischen Krieges steht. Was für ein Unsinn! Ich stelle mir vor, wie die Belarussen an einem ruhigen Familienabend gemütlich im Sessel sitzen und diesen trockenen, vom Generalstaatsanwalt redigierten Text lesen“, sagt der Verleger ironisch. In Belarus könne man sich entweder mit ideologischer Dienstleistung beschäftigen oder neutrale Bücher und Kinderbücher herausgeben. Den Finger am Puls der Zeit haben, sozialkritische oder tagesaktuelle Bücher bringen, das sei verboten. 

    „Es würde mich nicht wundern, wenn sie das Werk von Erich Maria Remarque für unerwünscht erklären. Seine Bücher haben einen stark pazifistischen Anklang, und warum sollte der belarussische Bürger unnötig an den Krieg in der Ukraine erinnert werden?“, sagt Januschkewitsch. Unerwünschte Autoren würden aus den Buchhandelsketten und den Bibliotheken verbannt, die unabhängigen belarussischen Verlage könnten zum großen Teil nicht mehr im Land selbst arbeiten. Gegen sie werde ein systematischer Feldzug geführt, erklärt der Verleger. Dadurch mussten 2022 mehrere Verlage ihre Tätigkeit einstellen: Knihasbor, Halijafy, Medysont und Limaryjus.

    Das ist Putins Rückkehr ins 19. Jahrhundert

    Könnte der Verleger heute nach Belarus zurückkehren? Bislang gebe es keinen Grund dafür, sagt Januschkewitsch. Bücher im Untergrund zu drucken, wie es die Bolschewiki und andere Revolutionäre vor 120 Jahren taten, werde heute nicht gelingen. Und auf offiziellem Weg könne man es aufgrund der Politik nicht tun, die darauf abzielt, alles Belarussische zu vernichten. In kultureller Hinsicht entwickelt sich Belarus zu einer russischen Provinz, resümiert der Verleger. 

    „Das ist Putins Rückkehr ins 19. Jahrhundert … Das Russische Imperium nannte man ‚Völkergefängnis‘, und in dieses Gefängnis kehren wir nun zurück, bloß in neuer Form“, sagt Januschkewitsch. „Das muss sich ändern: Das Nationale sollte für die belarussische Regierung Priorität haben. Um sich von Moskau loszureißen, müssen dieselben Schritte unternommen werden, die die Ukraine in den letzten fünfzehn Jahren gegangen ist. Unter anderem wurde dort ein eigener Buchmarkt auf die Beine gestellt.“

    Bis es soweit sei, würde eine Rückkehr bedeuten, sich in einem Dorf zu verstecken und die verlegerische Tätigkeit einzustellen. „Aber ich bin emigriert, um weiterhin frei arbeiten zu können“, sagt der Verleger. „In Polen kann ich herausgeben, was ich möchte. In Belarus ist das momentan unmöglich.“

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  • Bilder vom Krieg #14

    Bilder vom Krieg #14

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Bartosz Ludwinski

    Diana, acht Jahre alt, vor dem Haus ihrer Großeltern im Donbass. Diana wurde gezwungen, ihr Zuhause im russisch besetzten Gebiet zu verlassen. Als sie an einem vermeintlich sicheren Ort in der Ukraine ankam, begannen die Kinder, sie als „Separatistin“ zu beschimpfen. Sie entgegnete ihnen, dass ihr Vater in Bachmut für das Land kämpfe. Jetzt ist ihr Vater tot. Aufgenommen am 2. August 2023. / Foto © Bartosz Ludwinski

    dekoder: Erinnerst du dich an den Tag, an dem du das Foto gemacht hast?

    Bartosz Ludwinski: Am 2. August 2023 fuhr ich mit zwei anderen Freiwilligen einer NGO, die Evakuierungen und Hilfseinsätze im Donbass durchführt, in die Frontstadt Tschassiw Jar. Ich habe mich der NGO im Sommer 2023 angeschlossen. Vorher, kurz nach Beginn des Krieges, hatte ich mich als Fahrer für Hilfskonvois gemeldet. Für mich ist es wichtig, etwas zurückzugeben, sonst fühle ich mich schnell als Nutznießer. Am Tag zuvor hatten wir also von einer möglichen Zwangsevakuierung der verbliebenen Kinder in der Umgebung erfahren. Zwischen 60 und 70 Kinder waren aber noch vor Ort. Also machten wir uns auf die Suche nach ihnen.

    Was für einen Eindruck hattest du von Tschassiw Jar?

    Während wir durch den Ort fuhren, schlug unweit von uns eine Granate ein. Es müssen etwa 200 Meter gewesen sein. Eine Frau kam uns auf ihrem Fahrrad entgegen und fuhr einfach geradeaus durch eine weiße Rauchwolke. Die Granate hatte sie nur knapp verfehlt, aber sie beeilte sich nicht einmal. Viele der Menschen, die nahe der Front geblieben sind, sind schwer traumatisiert und nehmen die Gefahr um sie herum nicht mehr wahr, es sei denn, sie betrifft ihr direktes Zuhause. In solchen Momenten versuchen wir, die Menschen zur Flucht zu motivieren. 

    Schließlich traft ihr auf das Mädchen auf dem Foto, die achtjährige Diana. Was ist ihre Geschichte?

    Diana war gerade mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Hause. Wir sprachen sie an und erfuhren von ihrer Geschichte. Auch ihre Großeltern kamen heraus und zeigten uns das Haus, das mehrfach von Grad-Raketen getroffen worden war. Diana war zuvor in einen anderen Teil der Ukraine geflohen, der als relativ sicher gilt. Dort wurde sie in der Schule von den anderen Kindern als „Separatistin“ beschimpft. Sie antwortete zwar, dass ihr Vater in Bachmut für die Ukraine kämpfe, aber das interessierte die anderen Kinder nicht. „Du bist eine Separatistin“, sagten sie immer wieder. Als wir sie trafen, war Diana gerade wieder in den Donbass zurückgekehrt. Heute ist ihr Vater tot und mit ihm sein Bruder. Beide sind an der Front gefallen. Diana hat nur noch ihre Großeltern. Die wiederum befinden sich in einem Rechtsstreit mit der eigenen Familie um das Land des verstorbenen Vaters. Das war eine Realität, die mich sehr bewegt hat. Wenn ich an diesen Moment zurückdenke, begleitet mich ein Gefühl der Ohnmacht und Fassungslosigkeit.

    Wie war es für dich, als Fotograf in der Ukraine zu arbeiten?

    Es ist schwierig, zu beschreiben, wie es ist, in einem vom Krieg zerrütteten Land zu leben. Man lernt, seine Gedanken und Ängste zu kontrollieren, einige besser als andere. Während meiner Zeit dort habe ich jedoch vor allem viel Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft erfahren und enge Freundschaften geschlossen. Mir war es wichtig, den Krieg authentisch und ehrlich aus meiner Perspektive zu zeigen, aber natürlich auch aus der Perspektive der Ukrainer. Dafür habe ich Wochen und Monate mit ihnen zusammengelebt und konnte so ihre alltäglichen Gedanken, Ängste und Hoffnungen besser verstehen. Das erfordert natürlich viel Zeit und ist nicht jedem möglich. 

    Was wünschst du dir hinsichtlich des Fotojournalismus in Kriegsregionen?

    Generell wünsche ich mir mehr Zeit für den Journalismus. Das Bild eines Fotografen, der sich kurz in ein Kriegsgebiet abseilt und dann für immer von dort verschwindet, gefällt mir nicht. Dennoch ist mir klar, dass es oft unvermeidbar ist. 

    Inwiefern haben diese Erfahrungen dich als Fotografen und deine Arbeitsweise beeinflusst? 

    Natürlich beeinflussen all diese Erlebnisse, wie man auf unsere Welt blickt. Gerade der westliche Lebensstil mit all seinem Konsum und seinen Sorgen erscheint einem absurder denn je. Man hinterfragt sich und seine Umwelt nach der Rückkehr. Für kurze Zeit hatte ich das Gefühl, mich innerlich aufzulösen, bevor ich mich wieder an das Leben zu Hause gewöhnen konnte. Durch meine Erfahrungen im Krieg sehe ich aber auch Ereignisse oder Probleme zu Hause viel gelassener. Als Fotograf bin ich natürlich gewachsen und habe mich weiterentwickelt. Im Grunde hat sich an meiner Arbeitsweise nichts geändert. Aber ich denke, ich bin heute besser in der Lage zu erkennen, wann ich visuell überreizt bin und die Kamera für eine Weile weglegen muss. 

    BARTOSZ LUDWINSKI, geboren 1983 in Stettin, verbrachte seine Kindheit und Jugend in Münster. Das Fotografieren brachte er sich selbst bei. In der Ukraine dokumentiert er das Leben der Menschen im Krieg. Seine Werke und Reportagen wurden in verschiedenen deutschen und internationalen Medien veröffentlicht, darunter etwa der Spiegel und das Magazin der Süddeutschen Zeitung.


    Fotos: Bartosz Ludwinski
    Bildredaktion: Andy Heller
    Veröffentlicht am 16.10.2023

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    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Nazar Furyk

    Ein alter Mann namens Tarassowitsch holt eine Waschmaschine aus einem zerstörten Hochhaus. Das Haus wurde zu Beginn der Invasion von russischer Artillerie getroffen. Tarassowitsch hatte darin gewohnt. Irpin war im vergangenen Jahr intensivem Beschuss ausgesetzt. Unter der heftigsten Zerstörung litten das Stadtviertel Irpinsky Lypky und seine Vororte, denn die befanden sich während der Schlacht um Kyjiw im Epizentrum der Kämpfe. Beide Fotos wurden im Mai 2023 im Stadtviertel Irpinsky Lypky aufgenommen.  / Foto © Nazar Furyk

    dekoder: Erinnerst du dich an den Tag, an dem du die Fotos gemacht hast?

    Nazar Furyk: An dem Tag war ich zum vierten Mal in dem Stadtteil Irpinsky Lypky. Ich hörte die Ankündigung, dass mehrere Hochhäuser in diesem Gebiet abgerissen werden sollten. Nachdem die Russen diese Gebäude teilweise bombardiert hatten, konnte niemand mehr darin wohnen. Die Abrissarbeiten zogen sich über mehrere Wochen. Jedes Mal, wenn ich dorthin kam, konnte ich sehen, wie das baufällige Haus nach und nach dem Erdboden gleichgemacht wurde. Manchmal standen auch Einheimische neben mir und beobachteten den Abriss. So lernte ich einen Mann kennen, der sich mit dem Namen Tarassowitsch vorstellte. Er ging in das Haus, in dem seine Wohnung gewesen war, um nachzusehen, ob er noch etwas mitnehmen könnte.

    Hast du mehr von der Geschichte dieses Mannes erfahren?

    Tarassowitsch ist während der gesamten Zeit der Besatzung in Irpin geblieben. Überlebt hat er nur durch einen glücklichen Zufall. Seine Wohnung wurde zwar durch den Beschuss beschädigt, aber er ging trotzdem dorthin zurück und versteckte sich. Immer mehr streunende Hunde kamen in das Haus. Einer von ihnen zog bei Tarassowitsch ein, und sie lebten zusammen. So verbrachte der Mann dort einige Tage und beobachtete, wie russische Bomben auf die Wohngebiete der Stadt fielen. Nach einem weiteren Beschuss brannte schließlich fast seine gesamte Wohnung ab – mitsamt dem Hund, der sich unter seinem Bett versteckt hatte. 

    Wie bildest du den Krieg in deinen Arbeiten ab?

    Wenn ich in befreite Gebiete zurückkehre, ist es mir wichtig, die Geschichte der Menschen und ihrer Umgebung aus einer zeitlichen Perspektive heraus zu erzählen. 
    Auf diese Weise ist es mir möglich, unsere Tragödien und unseren Schmerz im individuellen und kollektiven Gedächtnis festzuhalten. Man könnte sagen, dass die meisten meiner Arbeiten ein kontinuierlicher Prozess sind. Es ist ein endloser Zyklus, der mit unserem Gedächtnis und unseren Bildern arbeitet. 

    Aus welchem Motiv heraus fotografierst du die Auswirkungen des Krieges?

    Ich möchte zeigen, wie sich die grausamen und verheerenden Folgen des Krieges in den Menschen und in der Umgebung manifestieren. Und ich denke, dass alles, was Fotografen jetzt dokumentieren oder filmen, nicht nur ein Beweis für die Verbrechen ist, die Russland an der Ukraine und den Ukrainern begangen hat, sondern auch ein Teil des Prozesses der Herstellung von Gerechtigkeit und einer zukünftigen Bestrafung der Russen. Es ist für uns alle eine Möglichkeit zu erkennen, dass dieser grausame Krieg Menschen auf ganz unterschiedliche Weise zerstört. Auch wenn die Verletzungen nicht immer sichtbar sind, zerstören sie uns sowohl von innen als auch von außen.

    An welchem Projekt arbeitest du aktuell? 

    Seit über einem Jahr arbeite ich an einer großen Fotoserie. Ich fotografiere die Region Kyjiw und ihre Städte und Dörfer. Ich kehre häufig dorthin zurück. In Irpin, dort, wo die Fotos aufgenommen wurden, war ich schon häufiger, ebenso wie in den anderen Städten der Region. Ich beobachte und dokumentiere die Veränderungen der Umgebung, der Menschen dort und ihre Einstellung zu dieser Umgebung. Als der Wiederaufbau der Kyjiwer Region nach der Besetzung begann, wurde mir klar, dass sich die Dinge, die ich jetzt fotografiere, in ein paar Wochen vielleicht schon wieder verändert haben werden. Die Bilder dieser Veränderungen werden dann wahrscheinlich aus unserem Gedächtnis verschwinden. Aber die Bilder aus dieser Zeit und die Erfahrung dieser Transformation – die bleiben erhalten.

    Nazar Furyk, geboren 1995 in Kolomyia im Westen der Ukraine, lebt und arbeitet als unabhängiger Fotograf in Kyjiw. Seine Werke wurden international in renommierten Galerien und Museen ausgestellt und in zahlreichen Magazinen veröffentlicht.

    Bildredaktion: Andy Heller
    Fotos: Nazar Furyk
    Veröffentlicht am 10.10.2023

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  • In den Sümpfen Polesiens

    In den Sümpfen Polesiens

    Polesien, eine zwischen Belarus und der Ukraine gelegene Sumpflandschaft, ist eine Art kulturelle Schatzkammer für Ethnologen. Die Abgeschiedenheit der dortigen Kommunen wird im Frühling durch den schmelzenden Schnee und die dann entstehenden Inseln in der verzweigten Wasserlandschaft verstärkt. Das hat über die Jahrhunderte dazu geführt, dass sich dort vorchristliche Traditionen und archaische Lebensweisen erhalten haben und eine eigene Kultur ausformen konnte. Aber der grenzüberschreitende Raum zwischen Polen, Belarus und der Ukraine habe verhindert, dass sich „eine Monokultur“ entwickelt hat, wie der belarussische Historiker Pawel Tereschkowitsch sagt, „da dort permanente Kulturschwankungen und Fremdeinflüsse bestehen, aus denen sich eine hybride Kultur entwickelt“. Der polnische Ethnologe Józef Obrębski (1905–1967) hielt die Bewohner von Polesien weder für Ukrainer, noch für Belarussen, sondern für ein eigenes Volk. Obrębski gilt bis heute als einer der bedeutenden Erforscher dieser geheimnisvollen Landschaft.

    Das belarussische Online-Medium Zerkalo hat Fotos von Obrębski ausfindig machen können, die die Bewohner des westlichen Polesien, ihre Häuser und ihren Alltag in den 1930er Jahren zeigen, als die Region zur Zweiten Polnischen Republik gehörte. Wir zeigen eine Auswahl dieser Fotos, die wir durch weitere Fotos aus dem entsprechenden Archiv ergänzt haben. Es ist nach Menschen im Sumpf der zweite Teil einer Reihe mit historischen Fotos aus Belarus.

    Fotos zu finden, die zeigen, wie die Belarussen vor dem Zweiten Weltkrieg lebten, ist schwierig, da sich viele Bilder aus dieser Zeit im Ausland in privaten Sammlungen oder Museen befinden. Wir können eine Sammlung von Fotografien des polnischen Ethnologen Józef Obrębski präsentieren mit Genehmigung des Robert S. Cox American Research Centre for Special Collections and University Archives an der Bibliothek der University of Massachusetts Amherst
    Von April 1934 bis September 1936 führte der Wissenschaftler im Auftrag des Polnischen Instituts für die Erforschung nationaler Probleme und der Kommission für wissenschaftliche Forschungen in den östlichen Ländern eine Forschungsexpedition durch das westliche Polesien durch. Ein bedeutender Teil seines Schaffens, das der Untersuchung der sozialen Struktur des polesischen Dorfes und seines Wandels gewidmet war, bezieht sich auf das Territorium unseres Landes. Schauen Sie sich an, wie dieser Ethnologe das Leben in den belarussischen Dörfern des westlichen Polesiens in den 1930er Jahren festgehalten hat.

     

    Polesierinnen: Mutter und Tochter in festlichen Kleidern, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Trocknen von Heu auf einem Reiter, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Molkerei, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries

    Familie: Der Hausherr bei …, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Trocknen von Getreide (auf dem Hof ausgelegte Matten mit Getreide), ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Familie: Großes Wohnhaus, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Ernte (Männer und Frauen ernten Getreide), ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Familie: Getreidespeicher und Lager auf einem großen Bauernhof, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Familie: Großer Bauernhof, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Gesellschaft: Schaukel im Wald, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Typen: Ältere Männer, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Eingang zum Bauernhof (Schweine werden am Zaun eines Bauernhauses gefüttert), ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Ein Mann sät Getreide, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Familie: Familiensitz – eine Frau steht auf einem Weg neben reetgedeckten Bauernhäusern, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Familie: Haus einer Baptisten-Familie, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Familie: Große Baptisten-Familie – Söhne im Haus, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Vortrieb des Viehs zum Wasser (während der Fliegenplage, Vieh trinkt in einem See), ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Gesellschaft: Schlägerei auf dem See  auf einem Fischerboot in Ufernähe, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Der Babrowitskaja-See: Fischer holen ihre Netze ein, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Ansicht: Reet-Hütte auf einem Floß, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Wirtschaft: Gerstenernte, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries
    Schweine am Fluss, ca. 1934 / Foto © Joseph Obrebski Papers, Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries

    Im Original erschienen bei Zerkalo
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am: 10.10.2023

    Mit freundlicher Genehmigung der Robert S. Cox Special Collections and University Archives Research Center, UMass Amherst Libraries

     

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  • Das Ende der Republik Arzach und die Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach

    Das Ende der Republik Arzach und die Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach

    Mit einer handstreichartigen Operation hat das aserbaidschanische Militär am 19. September 2023 die Regierung der selbsternannten Republik Arzach in Bergkarabach zur Kapitulation gezwungen. Der Quasi-Staat hört zum Jahresende auf zu existieren. Fast alle Armenier sind aus der Enklave geflohen. Die Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft blieben gleichwohl verhalten. Welche Rolle spielen Russland, die Türkei und der Iran bei dem Konflikt, und wie groß ist die Gefahr für Armenien? 
    Sieben Fragen an die Politikwissenschaftlerin Cindy Wittke, die sich am Leibnitz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung mit eingefrorenen Konflikten in der Region beschäftigt. 

    1. Am 19. September, als Aserbaidschan die Enklave eroberte, waren Sie zu einem Forschungsaufenthalt in Jerewan. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

    Die Stimmung war bereits angespannt, als ich Anfang September nach Armenien eingereist bin. Ich führe für meine Forschung unter anderem Interviews mit lokalen Expert*innen und auch mit Vertreter*innen von internationalen Organisationen in der Region. Meine Gesprächspartner*innen hatten für den September mit einer erneuten Eskalation des Konfliktes um Bergkarabach gerechnet. Schon der letzte Krieg um die zumeist von Armenier*innen bewohnte Region im Jahr 2020 hatte im September begonnen und wurde im November durch das von Russland vermittelte Trilaterale Statement zunächst beendet. Aserbaidschan sah sich selbst als Sieger des sogenannten 44-Tage Kriegs. Ein weiterer Ausbruch des Konfliktes war jedoch absehbar, da Aserbaidschan noch immer keine effektive politische und militärische Herrschaft über die Region Bergkarabach hatte. Im September 2022 gab es aserbaidschanische Angriffe auf das armenische Kern-Territorium an der Kontaktlinie und seit Dezember 2022 wurde der Latschin-Korridor, der Zugang von Armenien nach Bergkarabach, trotz der Anwesenheit sogenannter Friedenstruppen aus Russland durch Aserbaidschan blockiert. Die Lage war also seit 2020 nie vollkommen befriedet, sondern hatte stets Eskalationspotential.

    Dass der Konflikt immer im September eskaliert, hat unter anderem mit dem Klima zu tun: In den Bergen sind die Sommer sehr heiß und die Winter sehr kalt. Der Übergang zwischen den Jahreszeiten ist kurz. Die Situation, die man von September bis November militärisch schafft, wird sehr wahrscheinlich den ganzen Winter und darüber hinaus politisch eingefroren. Dazu kommt, dass der Winter den Armenier*innen in Bergkarabach und auch in Armenien jedes Mal ihre Verletzlichkeit vor Augen führt. Die Bevölkerung von Bergkarabach litt im vergangenen Winter unter Strom- und Gasmangel aufgrund der Blockade und auch Armenien selbst ist arm an Ressourcen und abhängig; die Energie-Infrastruktur ist weitgehend in russischer Hand.

    Eine weitere Rolle unter den Eskalationsfaktoren wird gespielt haben, dass sich in der Woche um den 19. September die internationale Staatengemeinschaft zur jährlichen Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York getroffen hat. Schon im Vorfeld gab es eine Sondersitzung des Sicherheitsrates zur Situation in Bergkarabach, auf der die Frage behandelt wurde, ob es sich bei der Blockade von Bergkarabach durch Aserbaidschan um einen Genozid durch Aushungern handelt, wie es der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Moreno Ocampo, in einem öffentlichen Statement schrieb. Letztlich ging es Aserbaidschan meiner Ansicht nach darum, mit militärischen Mitteln Fakten zu schaffen und vor neuen international vermittelten Verhandlungen, sei es in Moskau, Washington oder Brüssel, faktisch das ganze Gebiet von Bergkarabach unter seine politische und militärische Kontrolle zu bringen.

    2. Tatsächlich gab es aus New York kaum Reaktionen. Der Sicherheitsrat hat nicht einmal ein Statement veröffentlicht. Liegt der Karabach-Konflikt zu sehr im Schatten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine?

    Die gleiche Frage habe ich meinen Gesprächspartner*innen in Jerewan auch gestellt. Einige waren der Ansicht, der 44-Tage-Krieg Aserbaidschans gegen Armenien 2020 sei der eigentliche Auftakt für die Zeitenwende gewesen. Damals habe Russland gesehen, dass die internationale Staatengemeinschaft weder mit Sanktionen und schon gar nicht militärisch einschreitet, wenn ein Land entscheidet, in einem ungelösten Territorialkonflikt, oder sogenannten eingefrorenen Konflikt, mit militärischen Mitteln abseits von Verhandlungen Fakten zu schaffen. Daraus schloss man, dass sich die Welt – insbesondere der sogenannte Westen – auch im Hinblick auf die Ukraine weitgehend auf Appelle beschränken und nicht militärisch intervenieren würde. Aktuell steht meiner Ansicht nach dieser Konflikt und sein Eskalationspotential über die humanitäre Katastrophe in Bergkarabach hinaus im Schatten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Die überregionalen Verflechtungen werden übersehen.

    3. In Aserbaidschan werden seit einiger Zeit Stimmen laut, die behaupten, es gäbe gar kein Armenien und keine Armenier. Sie bezeichnen Armenien als „West-Aserbaidschan“. Das erinnert an die russische Propaganda, die das Existenzrecht der Ukraine infrage stellt. Muss man fürchten, dass Aserbaidschan seine Angriffe auf armenisches Territorium ausweitet?

    Ich denke, dass man hier tatsächlich in gewisser Hinsicht dem Moskauer Vorbild folgt: Rhetorisch und diskursiv werden Bilder und Narrative geschaffen, denen dann militärische Operationen folgen – interessanterweise wurde das Vorgehen gegen Bergkarabach als militärische Anti-Terror-Operation bezeichnet. 2020 konnte Präsident Ilham Alijew argumentieren, dass Aserbaidschan lediglich seine territoriale Integrität in den international anerkannten Grenzen herstellen wolle und Bergkarabach von Armenien okkupiert sei. Das war nun in 2023 schon anders, und selbst wenn Bergkarabach de jure aserbaidschanisches Territorium ist und die Verfassung des Landes Aserbaidschan zum Beispiel keinen Autonomiestatus für ethnische Minderheiten vorsieht, heißt das nicht, dass Aserbaidschan mit den auf diesem Gebiet lebenden Menschen – also den Armenier*innen – tun und lassen kann, was es will. Trotzdem ist auch dieser weitere „Test“ aus aserbaidschanischer Sicht erfolgreich verlaufen; innerhalb von 24 Stunden hat Bergkarabach kapituliert und die de facto Regierung hat die Auflösung der selbsternannten, nicht anerkannten Republik Arzach für 2024 verkündet.

    International gab es im Vergleich zum Krieg gegen die Ukraine nur leisen oder mahnenden Protest im Hinblick auf die humanitäre Lage der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach, die nach heutigem Stand weitgehend nach Armenien geflohen ist. Die dringende Frage ist jetzt aber, ob Aserbaidschan noch weiter geht, und mit militärischer Gewalt etwa einen Korridor in die Exklave Nachitschewan herstellt, die von Armenien und Iran umschlossen ist und nur eine sehr schmale Grenze mit der Türkei hat. Wenn man Alijew zuhört – und ich glaube, das sollte man genauso tun, wie man Wladimir Putin vor 2022 hätte aufmerksam zuhören sollen – dann gibt es gute Gründe hier tatsächlich um die territoriale Integrität des armenischen Staates besorgt zu sein.

    Die Niederlage von 2020, der effektive Verlust Bergkarabachs im September 2023 und die verkündete Auflösung der Republik Arzach führen zu einer politischen und gesellschaftlichen Identitätskrise und setzen die Regierung von Nikol Paschinjan unter enormen Druck / Foto © Cindy Wittke

    4. Wer könnte Alijew stoppen?

    Die Akteure, die das tun könnten, sind zuvorderst unmittelbar in der Region zu suchen: die Türkei, Russland und der Iran. Ich fand es bemerkenswert, dass der russische Verteidigungsminister, einen Tag nachdem Aserbaidschan seine militärische Operation gegen Bergkarabach begonnen hatte, in Teheran war. Ich denke, dass man hier eventuell versichert hat, dass iranische Interessen hinsichtlich des Transits von Gütern durch Armenien oder Aserbaidschan gewahrt werden, und dass es keinerlei Ambitionen gibt, Aserbaidschans Territorium auch auf iranisches Territorium auszudehnen. Man darf nicht vergessen, dass im Iran eine Minderheit von circa fünf Millionen Aserbaidschaner*innen lebt. Wenn Alijew seine Visionen eines größeren Aserbaidschans skizziert, wird man in Teheran natürlich hellhörig. Die Balance der Kräfte ließe durchaus zu, dass unterschiedliche Akteure sich dafür einsetzen, dass Aserbaidschan nicht noch den nächsten Schritt tut.

    5. Das hört sich nicht so an, als könnte das die Armenier wirklich beruhigen.

    Armenien ist in einer der misslichsten politischen Lagen, die man sich denken kann. Die armenische Innen- und Außenpolitik hat das Schicksal des Landes immer eng mit dem der Karabach-Armenier*innen verbunden. Die Niederlage von 2020, der effektive Verlust Bergkarabachs im September 2023 und die verkündete Auflösung der Republik Arzach führen zu einer politischen und gesellschaftlichen Identitätskrise und setzen die Regierung von Nikol Paschinjan unter enormen Druck.

    In dieser Situation muss das Land nun noch Hunderttausend Flüchtlinge aufnehmen. Armenien hat Erfahrungen mit dem Zuzug von Flüchtlingen. Es hat eine große Zahl von Christen aufgenommen, die vor dem Krieg in Syrien geflohen sind. Vor einem Jahr sind dann viele Russen vor der Mobilmachung und im Zuge der Sanktionen gegen Russland aus ihrer Heimat nach Jerewan gekommen. Armenien hat von den Sanktionen gegen Russland indirekt profitiert. Die IT-Branche boomt, die Wirtschaft wächst, und die Währung ist stark. Aber das ist kein nachhaltiges Wachstum, von dem die Gesamtbevölkerung und das Land nachhaltig profitieren. Die Mehrzahl der Menschen, die jetzt aus Stepanakert und anderen Orten aus Bergkarabach ankommen, haben oftmals alles zurückgelassen und blicken auf Krieg und Blockade zurück. Sie brauchen Unterkunft, sie müssen versorgt werden und irgendwann werden sie auch Wohnungen brauchen. Bei den Protesten, die ich in Jerewan mitbekommen habe, haben die Demonstrant*innen der Regierung vorgeworfen, das Land nicht ausreichend auf diese Situation vorbereitet zu haben.

    Sicherheitskräfte vor dem Regierungsgebäude in Jerewan, auf deren Schildern die Arzach-Flagge zu sehen ist, werden von aufgebrachten Demonstrierenden mit Bildern aus Karabach konfrontiert und als „Türken“ beschimpft / Foto © Cindy Wittke

    6. Wird die Regierung Paschinjan das überstehen?

    Ich war schon früher in Krisensituationen in Armenien, aber ich habe noch nie erlebt, dass sich Armenierinnen und Armenier auf der Straße angesichts ihrer unterschiedlichen Positionen anschreien. Diese emotionale Aufgeladenheit und Aggressivität kannte ich nicht; mir wurde berichtet, dass es 2020 nach dem Abschluss des Trilateralen Statements in Moskau – aus dem verlorenen Krieg – bereits ähnlich war. Menschen, die eine besonders starke Position für Arzach einnahmen, beschimpften gemäßigtere Armenier*innen sowie Polizei und Sicherheitskräfte als „Türken“. Das Land ist wirklich in einer Identitätskrise. Wenn das jetzt in einen politischen Selbstzerstörungsmodus umschlägt, käme das Moskau zupass, das gern wieder eine pro-russische Führung unter seiner Kontrolle installieren würde. Andererseits muss man sagen, dass die Regierung die Situation derzeit noch relativ gut gemanagt hat. Es wurden keine Wasserwerfer oder gepanzerten Fahrzeuge gegen Demonstrant*innen eingesetzt, die den Sitz der Regierung auf dem Platz der Republik stürmen wollten. Die Plätze der Hauptstadt wurden nicht gesperrt, die Regierungsgebäude wurden mit Menschenketten geschützt und die nach 2018 neu aufgestellte Polizei hat auf Dialog gesetzt, auch wenn es zu gewaltsamen Zusammenstößen und Verhaftungen kam. Die Situation ist existenziell für Armenien. Dennoch möchte ich die Hoffnung auf die Resilienz der Armenier*innen und des Demokratieprozesses nicht aufgeben. 

    7. Was war eigentlich Ihre Forschungsfrage, mit der Sie nach Jerewan gereist sind? 

    Seit mehreren Jahren untersuche ich die oft widersprüchlichen Völkerrechtspolitiken von Staaten im sogenannten postsowjetischen Raum aus einer vergleichenden Perspektive. Meine Fallstudien sind Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldau, die Ukraine und Russland. Das Projekt basiert auf der Beobachtung, dass die Staaten, die aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion (wieder) hervorgegangen sind, seit 1991 vor der enormen Herausforderung stehen, im Rahmen ihrer Staatsbildungs- und umfassenden Transformationsprozesse ihre eigene Völkerrechtspolitik zu formulieren und umzusetzen. Konflikte um Territorien wie um Bergkarabach haben diese Prozesse entscheidend geprägt. Für meine Forschung führe ich unter anderem Experten-Interviews mit Völkerrechtler*innen in der Region durch; so auch in Armenien. Die jüngere Generation – häufig im Westen ausgebildet – hat sich sehr dafür eingesetzt, Armeniens Position und die der in Bergkarabach lebenden Armenier*innen mithilfe des Völkerrechts zu stärken und Aserbaidschans politischen und vor allem militärischen Handlungsspielraum einzuschränken. Aber wenn es um mögliche politische Verhandlungslösungen zwischen Armenien und Aserbaidschan geht, herrscht auch unter diesen Expert*innen keine Einigkeit. Das unterstreicht einmal mehr die Zerrissenheit des Landes in dieser konflikthaften Gemengelage. Im Moment schauen wir vor allem auf die Vertreibung der Karabach-Armenier*innen und auf die humanitäre Katastrophe. Aber es geht noch um mehr. Es geht wirklich auch um den demokratischen Weg und letztlich um die bedrohte Staatlichkeit Armeniens.

    Expertin: Cindy Wittke
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am 04.10.2023

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  • Ein Theaterstück vor Gericht

    Ein Theaterstück vor Gericht

    Ein Moskauer gericht hat die beiden Theatermacherinnen Swetlana Petriitschuk und Shenja Berkowitsch am 8. Juli 2024 zu sechs Jahren Haft verurteilt. Ihr Theaterstück Finist jasny sokol (dt. Finist, heller Falke) soll nach Auffassung des Gerichts Terrorismus gerechtfertigt haben. Es basiert auf einem klassischen russischen Märchen und handelt von russischen Frauen, die über das Internet mit Männern des IS in Kontakt kommen, nach Syrien reisen und dort heiraten. Swetlana Petriitschuk hatte das Stück auf der Grundlage von Gerichtsakten aus Verfahren gegen solche Frauen geschrieben. Shenja Berkowitsch hatte es inszeniert. Die Uraufführung war 2020.

    Im Frühjahr 2022 erhielt es den größten nationalen Theaterpreis, die Goldene Maske (Solotaja maska). Swetlana Petriitschuk wurde im Rahmen der Goldenen Maske außerdem persönlich für das beste dramatische Werk ausgezeichnet. 2023 zeichnete die Novaya Gazeta die Inszenierung mit dem Kammerton-Preis aus. In der Begründung der Jury heißt es: „… für die Wahrheit im Leben und auf der Bühne.“ Zum ersten Mal wurde der Preis nicht an Journalisten verliehen – und außerdem in Abwesenheit der Preisträgerinnen. Denn die saßen zu diesem Zeitpunkt bereits in Untersuchungshaft. 

    Mit Finist wurde erstmals in Russland ein Theaterstück vor Gericht gebracht. Das Gericht stützte sich auf Paragraph 205.2 Absatz 2 des russischen Strafgesetzbuchs. Darin geht es um „öffentlichen Aufruf zu terroristischen Aktivitäten, öffentliche Rechtfertigung des Terrorismus oder Propaganda für den Terrorismus“.

    Entlastende Aussagen von Zeugen sowohl der Verteidigung als auch der Anklage wurden nicht berücksichtigt. Stattdessen stützte sich die Anklage auf ein „destruktologisches Gutachtens“ des Religionswissenschaftlers Roman Silantjew, der ein entsprechendes Fach der Moskauer Staatlichen Linguistischen Universität lehrt. „Destruktologie“ ist weder international noch in Russland als Wissenschaft anerkannt. dekoder-Gnosistin Henrike Schmidt hat gemeinsam mit anderen Mitgliedern des Verbands der deutschen Slavistik  ein Gegengutachten erstellt. 

    Die Slavistinnen und Slavisten zeigen als Experten für Literatur und damit für fiktionale Texte, wie in dem Gutachten die Aussagen von literarischen Figuren willkürlich als solche der Autorin beziehungsweise der Regisseurin missinterpretiert werden. Sie unterstreichen, dass die „Destruktologie“ eine Pseudowissenschaft ohne ausformulierte Methode ist. Das wurde im Juni 2023 sogar vom Zentrum für gerichtliche Expertisen des russischen Justizministeriums in einer schriftlichen Stellungnahme bestätigt.

    Zu Darstellung des behaupteten Straftatbestands veröffentlicht dekoder einen Ausschnitt aus dem Theatertext in deutscher Übersetzung.

    Shenja Berkowitsch und Swetlana Petriitschuk werden der „Rechtfertigung von Terrorismus“ beschuldigt / Foto © Stanislav Krasilnikov/SNA/imago images 

    PERSONEN

    MARJUSCHKA (steht stellvertretend für etwa 2000 junge Frauen, die innerhalb der letzten Jahre [vom IS – dek] angeworben wurden)
    RICHTERIN
    AUGUSTINUS VON HIPPO
    ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
    ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
    ANGEKLAGTE [Name gelöscht]

    Dramaturgische Notiz

    Zum Märchen

    Zentral für das Stück ist das russische Zaubermärchen Die Feder von Finist, dem lichten Falken aus der Märchensammlung Narodnyje russkije skaski (1855–1863; Russische Volksmärchen) von Alexander Nikolajewitsch Afanassjew sowie Finist, heller Falke von Nikolaj Schestakow (1894–1974). Das Märchen gehört zur russischen Volksliteratur. Es ähnelt in den Motiven am ehesten dem Märchen der Brüder Grimm Das singende, springende Löweneckerchen.

    Die jüngste von drei Töchtern wünscht sich von ihrem Vater eine Feder von Finist, dem hellen Falken. Als die jüngste Tochter die Feder abends fallen lässt, verwandelt sie sich in einen Zarensohn. Ihre Schwestern sind eifersüchtig und verletzen den Falken, der daraufhin fortfliegt und der jüngsten Tochter nur noch zurufen kann, dass sie hinter dreimal neun Ländern nach ihm suchen soll, dass sie drei Paar eiserne Schuhe durchlaufen, drei eiserne Wanderstäbe durchbrechen und drei eisenharte geweihte Brote essen muss, bevor sie ihn finden kann. Sie macht sich auf den beschwerlichen Weg, um ihn zu finden und muss viele Hindernisse überwinden, bis beide endlich heiraten können.

    Zu den Namen [Name gelöscht]

    Die Autorin hat sich entschieden, den Angeklagten keine Namen zu geben, die Personen heißen Angeklagte oder [Name gelöscht]:

    Swetlana Petriitschuk: „[Name gelöscht] ist eine häufig verwendete Formulierung in gerichtlichen Entscheidungen, die in Russland veröffentlicht werden, wenn die Ermittlungen nicht vollständig abgeschlossen sind. Solche Formulierungen finden sich häufig in Sätzen über Fälle, in denen Terrorismus unterstützt wird – einschließlich den realen Dokumenten, die im Stück vorkommen. Diese Formulierung ist eine Metapher für die jungen Frauen selbst, die ihren richtigen Namen verweigern, zu einer anderen Religion konvertieren und, beeinflusst von neuen Ideen, ihre Persönlichkeit auslöschen.“

    Marjuschka steht stellvertretend für alle Angeklagten, sie steht für etwa 2000 junge Frauen, die innerhalb der letzten Jahre angeworben wurden. Die Gerichtsurteile, die in dem Stück genannt werden, sind dokumentarisch und basieren unter anderem auf der Geschichte der damals neunzehnjährigen Warwara Karaulowa, die vom IS angworben und von Interpol zunächst als vermisst gesucht wurde, später als Zeugin vernommen und dann selbst angeklagt wurde.

    Zum dreißigsten Königreich

    Der Ausdruck wird synonym für „In einem fernen Land“ oder „Hinter den sieben Bergen“ gebraucht. Im Russischen ist er zugleich ein Synonym für den IS und wird immer mit dem Hinweis versehen, dass die Organisation in Russland verboten ist.


    1
    Anweisung №1:
    Wie der Ritus der islamischen Ehe, Nikāḥ, über Skype durchzuführen ist

    Viele islamische Wissenschaftler erkennen die islamische Ehe, Nikāḥ, über Skype nicht an. Dies wird mit Stellen aus der Schrift „Rawzat at-Talibin“ begründet:

    Das Angebot und die Annahme von Nikāḥ müssen in Anwesenheit von Zeugen im selben geografischen Raum erfolgen. „Wenn eine Person die Worte der feierlichen Eheschließung an jemanden geschrieben hat, der nicht anwesend ist, dann wird eine solche Ehe nicht als gültig angesehen …, da sie unter eine Kategorie fällt, die als Kinayat bekannt ist, was ein indirekter Ausdruck ist. Und die Ehe durch indirekte Wörter wird nicht als gültig angesehen. Die technischen Neuheiten unserer Zeit eröffnen allerdings ganz andere Möglichkeiten, als die erste Generation von Muslimen überhaupt erahnen konnte. Grundlegend bei der Eheschließung ist die Anwesenheit des Bräutigams, der Braut und der Zeugen; die Zeugen sollen den Heiratsantrag hören können und bestätigen, dass sie ihn gehört haben. Wenn die eheschließenden Parteien und die Zeugen an einer gemeinsamen Skype-Sitzung teilnehmen, wenn die Zeugen die Braut und den Bräutigam „live“ sehen und gleichzeitig die Rede der beiden hören, ist eine solche Eheschließung gültig, da Schummeln oder blindes Vertrauen in eine Stimme ausgeschlossen werden können. Die Verfahrensweise des Online-Ritus ist äußerst einfach. Am vereinbarten Tag wird in unserem Büro ein Notar für Eheangelegenheiten anwesend sein. Die Zeremonie findet in einer geschmückten Empfangshalle statt, wo Sie und Ihr Bräutigam auf einem Bildschirm mit einer Diagonale von mindestens 72 cm zu sehen sein werden. Die Halle ist mit technischen Neuheiten für Ton- und Videoübertragung eingerichtet, so dass Sie ohne jegliche Hindernisse die nötigen Worte austauschen können. Nach der Zeremonie erhalten Sie ein Zertifikat und, falls erwünscht, das Video der Frontkamera. Bei Fragen wenden Sie sich bitte telefonisch an unsere Firma [Name gelöscht].

    2

    RICHTERIN
    Angeklagte, unter welchen Umständen haben Sie versucht, unbefugt die Grenze der Türkei und der Syrischen Arabischen Republik zu überqueren und ins Territorium zu gelangen, welches von der in Russland verbotenen terroristischen Vereinigung kontrolliert wird?

    ANGEKLAGTE
    Es war neben der Stadt Batman. Die Kurden nennen sie Elich. Wir fuhren lange mit dem Auto. Der Innenraum roch nach Benzin, alle Türgriffe waren abgesprengt, neben mir saßen zwei Frauen, bei einer ist das Kind müde vom Weinen eingeschlafen. Es wurde dunkel. Der Fahrer stoppte, zeigte in Feldrichtung, sagte: „Dahin gehen wir“. Es war nichts zu sehen, ich musste pinkeln. Das Kind begann wieder zu weinen. Die Grillen schrillten. Der Rock hakte an den Dornen. Ich fürchtete, auf eine Schlange zu treten. Damit ich mich nicht so furchtbar fühlte und um mich zu beruhigen, wiederholte ich den Abzählreim „Aten Baten, ging´n Soldaten“, – kennen Sie den? Der Fahrer sagte, uns treffe ein bestimmter Mann. Deshalb freuten wir uns, als die Lichter auftauchten und der Hund bellte. Aber es war die kurdische Streife. Sie begannen zu schreien, alle sollten sich auf den Boden hinlegen, sie stießen uns mit den Gewehrläufen, ich fiel hin und mein Gesicht wurde zerkratzt. Wir wurden verhaftet.

    RICHTERIN
    Sie sind nach Syrien gefahren, um eine Terroristin zu werden?

    ANGEKLAGTE
    Ich bin hingefahren, um zu heiraten.

    RICHTERIN
    Wen?

    ANGEKLAGTE
    Finist. Wlad. Karim. Nadir – ich kenne seinen Namen nicht. Aber er ist mein Zukünftiger, mein Glück, mein heller Falke.

    RICHTERIN
    Unter welchen Umständen haben Sie beide sich kennengelernt?

    ANGEKLAGTE
    Er hat mir in der Gruppe Spartak auf Vkontakte geschrieben. Er hat gesagt, er ist 21 und Nationalist. Wir? Wir haben über das Leben und über Fußball gesprochen. Ich ging mit meinem Hund etwas früher raus, sperrte mich dann im Zimmer ein, machte den Laptop an, und ein Supertyp erschien am Bildschirm. Ich habe mich sofort in ihn verliebt.

    RICHTERIN
    Wegen Fußball?

    ANGEKLAGTE
    Wegen dem Schaumkuchen. Er hat nie über seine Familie gesprochen, aber einmal hat er gesagt, als er klein war, hat seine Mutter für ihn immer Schaumkuchen gebacken. Und seine Frau soll ihm auch Schaumkuchen backen. Ich habe mir dann vorgestellt, wie ich für ihn Schaumkuchen backe, das Rezept habe ich im Internet gefunden. Ich habe mich dabei so gut gefühlt. Und da habe ich verstanden, dass wir beide seelenverwandt sind.

    RICHTERIN
    Was wissen Sie noch über ihn?

    ANGEKLAGTE
    Da, wo er geboren wurde, ziehen die Frauen Ende März ihre Stiefel aus und ihre Schuhe an. Es bedeutet, dass Frühling ist. Dass alle Männer aus seiner Familie mal graue, mal grüne Augen haben, abhängig vom Wochentag. Dass er ein Held ist, und dass ich ein Nichts bin, er mich aber so liebt, so minderwertig wie ich bin. Vorgestellt hat er sich unterschiedlich. Ein Videobild von ihm habe ich nie gesehen. Hat er nicht geschickt, weil die Kamera lügt und das Herz – nicht. Finist hat mir verboten, mit anderen Männern zu sprechen, und ich habe verstanden, dass er es ernst meint mit mir.

    Einmal hat er mich geblockt dafür, dass ich einen Wanja in Vkontakte als Freund bestätigt habe. So sind drei Jahre vergangen. Dann begann er über den Islam zu sprechen. Am Anfang nur ab und zu und danach immer häufiger. Über andere Dinge zu sprechen, weigerte er sich. Er erklärte mir alles so schön, und alles war für mich interessant. Besonders über die Frauen. Er sagte, dass die Rechtlosigkeit der Frauen im Islam nur ein Klischee sei, dass eine Frau immer von ihrem Mann behütet wird und wenn sie arbeiten möchte – dann arbeitet sie, wenn nicht, dann nicht, und der Mann soll sie umsorgen. Ich mochte diese Ideen. Und dann habe ich mich dafür entschieden, mich zu seiner Religion zu bekehren. Er sagte, dafür bräuchte ich niemanden, in die Moschee müsse ich auch nicht gehen, man müsse lediglich spezielle Worte sprechen und eine Waschung in einer Waschschüssel machen. Ich habe mir einen neuen Namen ausgedacht, habe beschlossen, dass ich [Name gelöscht] genannt werde. Er hat es genehmigt.

    RICHTERIN
    Wie sind Sie zu dem Entschluss gekommen auszureisen?

    ANGEKLAGTE
    Finist mein Falke verschwand auf einmal – kein Brief, keine Nachricht. Ich habe kiloweise Schaumkuchen gegessen, bin nicht mehr mit meinem Hund Gassi gegangen, habe fünf Mal am Tag gebetet und sündhafte Gedanken vertrieben, er tauchte aber nicht mehr auf. Und nach einigen Monaten kam eine Nachricht von einem neuen Profil, in dem stand, dass er sich in das Dreißigste Königreich aufgemacht hat, um für sein Glauben zu kämpfen. Er begann, mich einzuladen. Sagte, ich würde seine Frau sein, ich würde behütet sein, ich würde viele Freundinnen haben und das Leben würde schön sein, mit dem Krieg hätte ich nichts zu tun. Er sagte, im Dreißigsten Königreich lebten die echten Muslime, kein Trinken, kein Rauchen, die Leute behandelten einander gut, ohne Ausnahme. Er hat gefragt, ob ich ihn liebe. Er hat gesagt, wenn eine ihn liebt, findet sie ihn, und wenn sie dabei drei Paar eiserne Schuhe auftragen, drei eiserne Wanderstäbe zerbrechen, drei eiserne Kappen abreißen und drei eisenharte geweihte Brote essen müsse.

    RICHTERIN
    Und da haben Sie beschlossen, sich auf den Weg ins Dreißigste Königreich zu machen?

    ANGEKLAGTE
    Ich habe mir drei Paar eiserne Schuhe, drei eiserne Wanderstäbe, drei eiserne Kappen bestellt, habe 20 Dollar, die von meinem Geburtstag übrig waren, aus der Spardose genommen. Am vereinbarten Tag wurde ich kontaktiert, mir wurde das Flugticket geschickt und gesagt, ich solle abreisen. Ich hab meiner Mutter geschrieben, dass ich in die Uni fahre, habe einen zweiten Rock in die Tasche gepackt, und neue Dessous auch – die hatte ich schon länger mal bei Intimissimi für eine besondere Gelegenheit gekauft – und habe mich auf den Weg über Berg und Tal gemacht, um den ersehnten Finist, den hellen Falken, zu suchen. Im Flughafen von Istanbul, nach der Passkontrolle, Tuch übergezogen, festgesteckt, Handy angeschaltet – und da waren bereits alle weiteren Anweisungen.

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    Anweisung № 2:
    Wie ein Hidschab richtig anzuziehen ist

    Sie brauchen ein Tuch viereckiger Form. Wählen Sie ein Tuch aus Satin oder Baumwolle für warme und heiße Tage und ein dichteres Wolltuch für kalte Tage. Sie benötigen auch zwei Haarklammern oder Haarnadeln. Falten Sie die obere rechte Ecke mit der unteren linken Ecke. So wird das Tuch in Form eines Dreiecks gefaltet. Legen Sie das Tuch über den Kopf. Zwei Spitzen sollen auf die Schultern fallen. Heften Sie das Tuch unter dem Kinn fest. Öffnen Sie den Mund in der Weise, als ob Sie ein „O“ sagen, so ist es Ihnen möglich, Ihren Kiefer zu bewegen, ohne dass der Hidschab verrutscht. Legen Sie die linke Spitze des Tuches nach rechts um und die rechte Spitze nach links. Vergewissern Sie sich, dass der Hidschab festsitzt und nicht rutscht. Denken Sie daran, dass die Haare und der untere Teil des Kinns nicht zu sehen sein sollen: dieser Bereich gehört zum Gesicht und soll folglich bedeckt bleiben, genau wie der Hals. Die Frauen, deren Hals und Haare zu sehen sind, sind Sündige, da sie von fremden Männern gesehen werden.

    ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
    Ich bin in der Familie eines Chirurgen aufgewachsen, am Gymnasium hatte ich Mathe und Physik als Schwerpunkt, ich habe Punk und Hardcore gehört und die Filme von DC und Marvel geliebt. Und danach habe ich den Koran gelesen, und es wurde zum Schock: Dort steht geschrieben, dass unser Weltall sich ausdehnt, dass unser Himmel und unsere Erde am Anfang eine einheitliche „Wolke“ waren und danach getrennt wurden, dort ist der Ursprung der Fötus-Entstehung und noch vieles andere. Und ich habe gespürt, dass diese Lehre keine Schöpfung eines Menschen sein kann, dass es etwas unvergleichbar Größeres ist. Auf diese Weise nahm ich den Glauben an, habe die Schahāda gesprochen, bin Muslima geworden, habe begonnen den Salāt zu lesen. Die Frage nach dem Hidschab habe ich wie die Sorge des Schöpfers über mich wahrgenommen. Ich begann zu beten, damit der Schöpfer mir helfen würde mich so zu verschleiern, dass es ein Segen für mein jetziges Leben und für das nächste nach dem Tod werde.

    ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
    In einem Hidschab fühle ich mich unter göttlicher Schirmherrschaft, geborgen vor der äußeren Hektik. Er gibt mir eine Empfindung von Einheit, von Ruhe. Keine Sehnsucht danach, dass der Wind durch mein Haar weht. Selbst im Sommer juckt die Kopfhaut nicht. Manchmal fahre ich U-Bahn und es scheint mir ein Wahnsinn, dass die Frauen sich zeigen. Alle Religionen sagen doch, dass eine Frau wie in einem Kokon sein muss, umhüllt sein muss. Der Hidschab schützt Frauen nicht nur vor fremden Blicken, sondern auch vor sich selbst. Eine Frau ist eben ein schwaches Wesen, von ihr geht die meiste Verwirrung und das Schlechte aus, darum obliegt uns eine große Verantwortung – wir sollen unsere Schönheit lieber nicht zur Schau stellen.

    ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
    Hätte ich figurbetonte Kleidung an, würde ich mich wie eine Diebin fühlen. Ich hätte das Gefühl, meinem Mann etwas zu stehlen und es einem Fremden zu schenken, einem, der in keiner Weise Sorge um mich getragen und mir nie einen Cent gegeben hat. Der Hidschab schützt vor den Blicken der Männer, vor denen, die dich wie ein Stück Fleisch anschauen, und verbirgt dich vor den Sünden der Welt. Der Hidschab hat mich glorifiziert und nicht erniedrigt. Falls ich eine Tochter bekomme, erkläre ich ihr von Kindheit an, dass ein Hidschab eine Verpflichtung ist, die ihr selbst zugute kommt.

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    Anweisung № 3:
    Wie man eine Halal Torte backt

    Damit Backwaren den Halal-Anforderungen entsprechen, vergewissern Sie sich, dass bei der Zubereitung keine alkoholischen Zutaten verwendet werden. Auch geringe Mengen von Alkohol, zum Beispiel wenn der Fondant damit bestrichen oder Lebensmittelfarbe verdünnt wird, sind verboten und die Torte darf nicht verzehrt werden. Oft wird Gelatine verwendet, die aus Schweineknorpel zubereitet wird, was sie auch verboten macht. Auf dem Produkt sollen keine Bildnisse lebender Kreaturen angebracht sein. Wichtig ist zudem, dass während jeder Essenszubereitung der Name des Schöpfers erwähnt wird.

    RICHTERIN
    Nach dem bisherigen Ermittlungsstand des Strafverfahrens hat das Tljaratinsker Bezirksgericht bezüglich der Angeklagten, geboren 1990, gebürtig und wohnhaft in der Siedlung Wizjatli, Kreis Zuntin, wegen des Verdachts einer Straftat gemäß Artikel 208 Punkt 2, Absatz 33, Satz 5 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

    a) die Angeklagte habe eine die Mitglieder einer illegalen, bewaffneten Vereinigung fördernde Handlung verübt, unter folgenden Umständen:

    aa) Im November 2011, ein genaueres Datum und die Zeit wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt, kam die Angeklagte zu Ihrer Schwester zu Besuch. In derselben Nacht, gegen 23 Uhr, kamen zu dem oben genanntem Haushalt vier Mitglieder der illegalen, bewaffneten Vereinigung Zuntinskaya, und zwar [Name gelöscht]. Aus eigenem Antrieb, mit dem Ziel, die Tätigkeit der Vereinigung zu unterstützen, habe die Angeklagte den obengenannten Mitgliedern der Vereinigung Zuntinskaya zugesagt, Hilfe zu leisten. Und zwar habe sie für sie den Tisch gedeckt: zwei Brote, acht Stücke Käse, eine Dose Salzgurken. Aus persönlichen religiösen Motiven, im Bewusstsein ihrer rechtswidrigen Tätigkeit, buk die Angeklagte für die oben genannten Mitglieder der illegalen bewaffneten Vereinigung Zuntinskaya einen Kuchen, den sie dann verzehrten.

    Rezept des Halal Schokoladenkuchens mit Mandeln und kandierten Früchten

    Um den Kuchenboden zuzubereiten, Mehl, Butter, Zucker und ein Ei zufügen, alles verrühren, den Teig mit einer Folie umhüllen und für 30 Minuten in den Kühlschrank stellen. Den Ofen auf 190 °С anheizen, den Teig ausrollen, in eine Form legen, den Rand drei Zentimeter nach oben einrollen, dann 30 Minuten im Ofen backen. Für die Füllung Nelken in einer Kaffeemühle oder einer Mühle zermahlen, die Schokolade zerbröckeln, Butter und Schokolade in einem Wasserbad schmelzen lassen. Die Mandeln und einen Teil der kandierten Früchte zerkleinern, der Schokocreme zufügen, verrühren. Eier mit Zucker schlagen, mit der Schokocreme verrühren. Die Torte zwei Stunden nach der Zubereitung servieren. Ein Stück Halal-Torte aus Mürbeteig, gefüllt mit einer Schoko-Mandel-Creme und verfeinert mit kandierten Früchten ist ein Liebesbeweis und eine Aufmerksamkeit für Angehörige und Freunde.

    RICHTERIN
    In tatsächlicher Hinsicht legt das Gericht der Angeklagten im Wesentlichen folgendes zur Last:

    a) Die Angeklagte hat vorsätzlich eine nach Artikel 208, Punkt 2, Absatz 33, Satz 5 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation verbotene Straftat begangen – Unterstützung einer illegalen, bewaffneten Gruppierung. Mit Rücksicht auf den Charakter und den Grad der Gesellschaftsgefährlichkeit der begangenen Tat, auf den Charakter und auf den faktischen Grad der Mitwirkung der Angeklagten, die Bedeutung dieser Mitwirkung zur Durchsetzung der kriminellen Ziele der Straftat, beschließt das Gericht:

    aa) es ist von einer fehlenden Besserungsaussicht auszugehen, was die Freiheitsstrafe unentbehrlich macht
    bb) die Angeklagte wird zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr in der Ansiedlungsstrafkolonie verurteilt.

    5.
    RICHTERIN
    Ist es Ihnen Recht, wenn wir Sie weiter Marjuschka nennen?

    MARJUSCHKA
    Ich brauche mich nicht daran zu gewönnen.

    RICHTERIN
    Was planten Sie im Dreißigsten Königreich zu tun?

    MARJUSCHKA
    Zu kochen. Kleidung zu waschen. Eine Frau zu sein, wie der Schöpfer und meine Physiologie es befehlen. Und den Schaumkuchen zu backen, nun das habe ich bereits gesagt.

    RICHTERIN
    Gab es denn in Ihrem Heimatland niemanden daheim, für den Sie Kleidung waschen konnten?

    MARJUSCHKA
    In meinem Heimatland gibt es keine Männer, nur Steppenroller. Pflanzen ohne Wurzeln, vom Wind getrieben. Keine Überzeugungen, nur Halbherzigkeiten. Finist dagegen ist das Ideal eines Mannes, das äußerst schwierig zu finden ist in der modernen westlichen Gesellschaft, er ist die Gestalt eines kräftigen, furchtlosen Mannes, der bereit ist zu töten und für seine Ideale zu sterben.

    RICHTERIN:
    Nehmen wir also Folgendes an. Sie sind am Istanbuler Flughafen angekommen. Sie sind durch die Ebenen, durch den dunklen Wald und über hohe Gebirge gewandert. Der fröhliche Gesang der Vögel erfreute Ihr Herz, die Bäche wuschen Ihr Gesicht, die dunklen Wälder grüßten Sie. Niemand konnte Marjuschka etwas zuleide tun: Die grauen Wölfe, die Bären, die Füchse – alle Tiere sind ihr zugelaufen. War das alles so?

    MARJUSCHKA:
    Fast. Am Flughafen habe ich ein Taxi genommen. Dem Fahrer habe ich die Nummer gegeben, die mir per WhatsApp noch während des Fluges zugesandt wurde. Der Taxifahrer hat die Nummer gewählt und ihm wurde erklärt, wohin zu fahren ist. Er wollte zunächst nicht, doch es wurde ihm ausreichend Geld versprochen. Während er mich gefahren hat, habe ich meiner Mutter ein SMS gesandt, damit sie nicht vergessen würde, mit dem Hund rauszugehen. Bei der Einfahrt zum Haus hat mich ein Tschetschene empfangen, meine Tasche hat er nicht genommen, die habe sie selbst aus dem Kofferraum geholt. Der Taxifahrer ist sehr schnell weggefahren, ich glaube nicht, dass er nach Geld gefragt hat. Der Tschetschenen-Bruder hat gesagt, ich sei jetzt unter Gleichgesinnten und hat mich in die Wohnung geführt. Hinter der Tür waren viele Schuhe und in der Wohnung war es total still. Die Sofas waren durchgelegen, es war heiß und den Ventilator durfte man nicht benutzen. Es roch nach Erbsen und nach gewaschener Wäsche. In der Wohnung waren sechs Frauen, viele mit Kindern. Aus Russland, aus Kasachstan und auch aus Aserbaidschan. Mir wurde gesagt, meine SIM-Karte sei wegzuwerfen und Surfen im Internet sei verboten. Das Verlassen der Wohnung war untersagt. Ein Mädchen aus Baku hat die ganze Zeit geweint und mir war auch sehr nach Weinen zumute, aber ich hatte Angst, dass es jemand dem Finist erzählt. Zum Schlafen haben wir uns auf den Boden gelegt – alle Frauen in einem Zimmer, und die Kinder in der Mitte. Ich habe geträumt, dass ich an der Uni in der Philosophie Vorlesung sei. […] 
     

    Ende des Textausschnitts. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Drei Masken Verlags

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  • Debattenschau № 90: Welchen Sinn haben Wahlen in einer Diktatur?

    Debattenschau № 90: Welchen Sinn haben Wahlen in einer Diktatur?

    Am Wochenende wurde in Russland der sogenannte „einheitliche Wahltag” veranstaltet: In 21 Regionen wurde über die Regionsoberhäupter entschieden und die Zusammensetzung von 16 Regionalparlamenten neu bestimmt. Vor der Präsidentschaftswahl 2024 testet der Staat seine Kontrolle über das Land. Und die Opposition testet seine Schwachstellen. Unter Menschen, die dem Kreml gegenüber kritisch eingestellt sind, wird schon lange debattiert, ob die unfairen und manipulierten Wahlen boykottiert werden sollten, oder ob man sich allen Wahlfälschungen zum Trotz beteiligen sollte, um den Betrügern wenigstens so viele Schwierigkeiten zu machen wie möglich. Auch der prominenteste Oppositionspolitiker Alexej Nawalny forderte aus dem Gefängnis heraus seine Unterstützer auf, zur Wahl zu gehen und für die Kandidaten zu stimmen, die der Kreml-Partei Einiges Russland am ehesten Konkurrenz machen.

    In der Debattenschau stellt dekoder die Argumente der politischen Beobachter Alexander Kynew und Grigori Judin und der Moskauer Lokalpolitikerin Julia Galjamina vor. Ihre Beiträge haben sie bereits vor der Wahl für den Think Tank Kollektiwnoje deistwije (dt. kollektives Handeln) verfasst. Darüber, dass die Scheinwahlen, die in den besetzten Gebieten auf ukrainischem Staatsgebiet inszeniert wurden, illegal sind und boykottiert werden sollten, herrschte unter demokratischen Oppositionellen Einigkeit.

    Alexander Kynew: Die Wahlen sind eine Gelegenheit, etwas über die russische Gesellschaft zu erfahren

    [bilingbox]Wahlen sind keine bloße Formsache, sondern eine Gelegenheit, die Stimmung in der Gesellschaft zu messen, eine riesige soziologische Umfrage. Wie soll man etwas über eine Gesellschaft erfahren, wenn man sich nicht die Wahlen anschaut? Bei allen Problemen mit Wettbewerb und Abhängigkeit von der Staatsmacht zeigen Wahlen, wie repressiv ein System ist. Und sie spiegeln wider, wie homogen oder heterogen eine Gesellschaft ist. Selbst wenn das Messinstrument nicht ideal ist, kann es bei regelmäßiger Benutzung eine Dynamik aufzeigen.

    Wenn wir von den Wahlen sprechen, müssen wir zunächst die föderalen Wahlzyklen verstehen. Ein Zyklus dauert fünf Jahre und beginnt mit den Wahlen in die Staatsduma. Innerhalb dieses übergeordneten föderalen Zyklus finden alljährlich in unterschiedlich vielen Verwaltungseinheiten Regionalwahlen statt. 2021, im ersten Jahr des aktuellen Wahlzyklus, haben 39 Regionen ihre Parlamentswahlen zeitgleich mit den Wahlen in die Staatsduma abgehalten. Das erhöht den Einfluss der landesweiten Propaganda insbesondere in Regionen wie Sankt Petersburg, Perm und Krasnojarsk. Die Wahlen im zweiten Jahr betrafen die wenigsten Regionen und waren am unspektakulärsten: Von sechs Regionen sind vier in fester Hand der Regierungspartei, und die Höhe der Wahlbeteiligung entspricht dem Wahlergebnis für den Sieger.

    Es ist nun das dritte Jahr des Zyklus, in dem die Regionen wählen, die 2018 gewählt haben. Damals war gerade die Rentenreform beschlossen worden und Leute wie Sergej Furgal (Chabarowsk) und Walentin Konowalow (Republik Chakassien) wurden regionale Oberhäupter. Diesmal wurden 16 Parlamente neu gewählt, wenn man die annektierten Regionen in der Ukraine einmal beiseite lässt.

    Was die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk und die Oblaste Cherson und Saporischschja angeht, die Russland unrechtmäßig angegliedert hat: Dort gibt es keine klaren Grenzen, es gibt keine Wählerlisten, viele Menschen sind auf der Flucht, niemand weiß, wie viele Wahlberechtigte es dort überhaupt gibt. Wie soll ein Wahlkampf unter den Bedingungen von Kämpfen, Kriegszustand und Ausgangssperre aussehen? Ich bezweifle, dass überhaupt eine Wahl im eigentlichen Sinne stattfindet. Natürlich bekommen wir Protokolle, aber was bei diesen Wahlen wirklich passiert, bleibt ein Geheimnis.

    Was das russische Staatsgebiet betrifft: Nur zwei der 16 teilnehmenden Subjekte wurden fest von der Regierungspartei kontrolliert – die Republik Baschkirien und die Oblast Kemerowo. Auch die Oblast Rostow gehörte bis zuletzt dazu, aber jetzt pendelt sie in Richtung Protest. Dort ist die Situation wegen der Flüchtlingsströme und der wachsenden Kriminalität angespannt, nicht zuletzt hatte Prigoshins Aufstand dort seinen Anfang genommen.

    In den übrigen 13 Regionen gibt es im Zuge der Wahlen durchaus einen gewissen Wettbewerb. Die meisten dieser Regionen liegen in Sibirien oder Fernost, wie die Republiken Chakassien, Burjatien und Jakutien, die Region Transbaikalien und die Oblast Irkutsk. Auch in vielen Gemeinden, etwa in Krasnojarsk oder Abakan, gibt es unter den Kandidaten eine gewisse Konkurrenz.  So auch in der Oblast Archangelsk und dem Autonomen Kreis der Nenzen, wo 2020 die Mehrheit gegen die Verfassungsänderungen stimmte. Weliki Nowgorod und Jekaterinburg sind zwei Regionen, in denen die Fraktion Jabloko vertreten sind.

    In den Regionen, in denen es politischen Wettbewerb gibt, ist im Vergleich zu 2022 eine Belebung des politischen Lebens zu beobachten, wie man an den aktuellen politischen Kampagnen sehen kann. Ich sehe zwei Hauptgründe für diesen Aufschwung: Der erste Grund ist historisch und geografisch bedingt. Einige Regionen – wie der hohe Norden – waren schon immer protest- und wettbewerbsfreudiger, die dortige Bevölkerung ist aktiv. Der zweite Grund ist die Stabilisierung des politischen Systems. Im vergangenen Jahr standen viele Menschen unter Schock und wussten nicht, wie es weitergehen soll. Jetzt sehen sie, dass das Regime stabil ist und nicht einfach so verschwindet. Es wird sich wahrscheinlich von innen heraus verändern, seinen eigenen Gesetzen folgend.

    Unterschiede zwischen den Kandidaten in Bezug auf die „militärische Spezialoperation“ sucht man vergeblich. Die meisten sprechen darüber einfach nicht. Die Trennlinie verläuft zwischen denen, die sie aktiv unterstützen, und denen, die zur Normalität zurückkehren wollen. Niemand kämpft entschlossen für das Ende der Spezialoperation. Die Parteien verhalten sich unterschiedlich: Die einen verbünden sich mit der Regierungspartei, die anderen setzen auf die Unterstützung der Wirtschaft. Aber es gibt keine Partei, die sich für den Frieden einsetzt. 

    Insgesamt hat die außenpolitische Thematik nichts mit den Regionalwahlen zu tun: Die Organe auf dieser Ebene haben keinen Einfluss auf derartige Entscheidungen. Sie kümmern sich um lokale Probleme wie Straßensanierung oder den Bau von Krankenhäusern. 

    Bei den Gouverneurswahlen, bei denen es keinerlei Wettbewerb gibt, ist die Spezialoperation im Wahlkampf kein Thema, höchstens als Schutzreaktion: Viele Gouverneure haben Angst, jemand könnte sie denunzieren oder sich über sie beschweren, also sichern sie sich ab, ziehen Uniformen an, besuchen in Camouflage Krankenhäuser und fahren an die Front.

    Der Rest der Wahlkampagne dreht sich um die soziale Absicherung: Unterstützung für die Familien derer, die eingezogen oder getötet wurden, Ferienprogramme für Kinder aus solchen Familien oder Hilfe für bestimmte soziale Gruppen aus der Ostukraine. Es gibt viele solcher Initiativen, ich würde sie als Teil der Sozialpolitik betrachten. Lokale soziologische Studien zeigen, dass Bedarf an Hilfe für Kriegsgeschädigte besteht und von den Menschen positiv aufgenommen wird. Wenn man die globalen Dinge schon nicht beeinflussen kann, will man wenigstens den Opfern helfen – diese Überzeugung herrscht auf regionaler Ebene.~~~Выборы — это не просто формальность, — это уникальный способ измерения общественных настроений, гигантский соцопрос. Как вы что то можете знать об обществе, если вы не изучаете выборы? При всех проблемах с конкуренцией и зависимостью от власти, выборы показывают степень контроля над обществом, отражают степень однородности или разнообразия общества. Даже если инструмент измерения не идеален, он может показать динамику, если используется постоянно.

    Когда речь идет о предстоящих выборах, важно понимать концепцию федерального электорального цикла. Он длится пять лет и считается от выборов Государственную думу. Внутри этого федерального большого цикла ежегодно неравномерными группами проходят выборы по регионам. В 2021 году, в первый год цикла, 39 регионов провели выборы своего парламента одновременно с Госдумой. Так происходит в последние годы, чтобы использовать преимущества федеральной пропаганды, особенно в таких регионах как Санкт-Петербург, Пермский и Красноярский край. Потом идет второй год цикла, он самый маленький и самый неинтересный: из шести регионов, четыре — это жестко управляемые, где процент явки совпадает с максимальными процентами за победителя.

    Сейчас третий год цикла, завершается срок полномочий в тех регионах, которые голосовали после пенсионной реформы в 2018 году. В этот период были избраны такие фигуры, как Фургал (Хабаровский край) и Коновалов (Республика Хакасия). Выборы пройдут в 16 законодательных собраниях, и если учесть объявленные присоединенными области Украины, их станет 20. Кроме того, будут выборы в городские советы крупных городов.

    Что касается ЛНР, ДНР, Херсонской и Запорожской областей, объявленных присоединенными, тут есть много вопросов. В первую очередь, отсутствие четких границ делает невозможным формирование одномандатных округов. Поэтому выборы будут проводиться только по партийным спискам, как областных советах, так и на городских местных выборах. Еще одной проблемой являются списки избирателей: из-за миграции по линии фронта никто точно не знает, сколько людей находится на территории этих областей. Конкуренции там, вероятно, не будет. Какая может быть агитационная кампания в условиях военных действий, военного положения и комендантского часа? Я сомневаюсь в том, что голосование в привычном понимании этого слова вообще состоится. Конечно, будут оформлены протоколы, но что на самом деле произойдет на этих выборах, остается загадкой.

    Не считая эти территории, из 16 участвующих субъектов только два — Республика Башкортостан и Кемеровская область — строго контролируются властью. Такой была и Ростовская область, но сейчас она колеблется в сторону протестности. Там сложная ситуация из-за миграции, ухудшения криминогенной обстановки, плюс там как раз начинался Пригожинский мятеж.

    Оставшиеся 13 регионов являются конкурентными в плане выборов. Большинство из них находятся в Сибири и на Дальнем Востоке, включая Хакасию, Забайкальский край, Бурятию, Якутию и Иркутскую область. Кроме того, многие муниципалитеты, такие как Красноярска и Абакана, также являются конкурентоспособными. Также конкуренция есть в Архангельской области и Ненецком автономном округе — в 2020 году там голосовали против изменений в Конституции. Великий Новгород и Екатеринбург — два региона, где представлена фракция Яблоко.

    В конкурентных регионах происходит оживление политической жизни по сравнению с прошлым годом, если судить по текущим политическим кампаниям. Я вижу две основные причины этого оживления. Первая причина историко-географическая. Так сложилось, что некоторые регионы, например Крайний Север, всегда были более протестны и конкурентоспособны, там живут активные люди. Вторая причина — это стабилизация политической системы. В прошлом году многие были в шоке и не знали, что делать дальше. Сейчас же стало понятно, что режим устойчив и не собирается никуда исчезать. Он, скорее всего, будет меняться изнутри, следуя своим внутренним законам. Поэтому дискурс меняется в сторону того, как выживать, и какие должны быть ставки в этом выживании.

    Искать различия между кандидатами на основе их отношения к СВО бессмысленно, так как большинство из них об этом просто не говорят. Основное разделение происходит между теми, кто активно поддерживает спецоперацию, и теми, кто за возвращение к нормальной жизни. Радикальных борцов за прекращение СВО нет просто из-за рационального поведения игроков. Партии ведут себя по-разному: одни ассоциируют себя с властью, другие строят кампанию на поддержке бизнеса. Но нет такой партии, которая бы выступала за мир. Есть партии войны, которые конкурируют друг с другом. И есть несколько партий здравого смысла. 

    В целом, внешнеполитическая тематика не имеет никакого отношения к региональным выборам: органы этого уровня не влияют на принятие таких решений. Идти на местные выборы с внешнеполитической повесткой — это вводить избирателей в заблуждение. Региональные органы власти решают локальные задачи, такие как ремонт дорог или строительство больницы.

    Там, где это выборы неконкурентные, губернаторские, СВО в избирательной кампании не для избирателей, а для системы. Это защитная реакция: многие губернаторы боятся, что на них кто-то донесет, пожалуется, поэтому они перестраховываются, надевают камуфляж, посещают госпитали и ездят на фронт.

    В остальном, агитационная история касается социальной защиты. Защита семей тех кто призван или погиб, выделение путевок детям из этих семей или помощь конкретным социальным группам из Восточной Украины. Таких инициатив много, и я бы рассматривал их как часть социальной политики. Судя по локальным социологическим исследованиям, запрос на помощь пострадавшим существует и вызывает одобрение людей. Раз на глобальные вещи повлиять не могут, то надо помогать тем, кто пострадал — такое убеждение присутствует на региональном уровне.[/bilingbox]


     

    Die Verlesung der Wahlergebnisse am 11. September 2023 / Foto © Maksim Blinov/Sputnik Moscow Russia/imago-images

    Grigori Judin: Russland braucht erfahrene Demokraten in Freiheit, nicht im Gefängnis

    [bilingbox]Für die Regierung sind Wahlen unabdingbar, weil die Legitimität in Russland auf demokratischen Prinzipien basiert. Das bedeutet nicht, dass bei uns Demokratie herrscht, aber darauf basiert eben die Legitimität der Regierung. Die Regierung behauptet, allen Entscheidungen würden auf Grundlage des Volkswillens getroffen. Daher müssen regelmäßig Wahlen stattfinden. Der Erste, der ein solches System eingeführt hat, war im 19. Jahrhundert Napoleon III. in Frankreich. Es war dem im heutigen Russland sehr ähnlich. Das gesamte Verwaltungssystem des Landes ist an der Durchführung dieser Wahlen beteiligt, um die demokratische Legitimität der Regierung zu unterstützen.

    Andererseits sehe ich einen Bedarf an echter Demokratie in Russland, der vor allem von unten kommt, nämlich auf der Ebene der regionalen Selbstverwaltung. Das ist weniger die Forderung nach fairen Wahlen als vielmehr der Wunsch, auf regionaler Ebene selbständig entscheiden zu können. Vor dem Hintergrund der Wahlfälschungen bleibt dieses Bedürfnis nach Demokratie leider oft unbemerkt. Aber es ist real und stimmt optimistisch. 

    Ich bewundere das Engagement von Menschen, die sich derzeit aktiv am politischen Leben beteiligen, und glaube daran, dass gerade solche Menschen in der Zukunft etwas verändern können. Derzeit jedoch, unter den aktuellen Bedingungen, wird ihr Tun wohl kaum zu wesentlichen Veränderungen führen. Ich will die Aktivisten nicht kritisieren und sie nicht öffentlich von ihrer Mission abbringen, aber sie gefährden sich selbst: Während sie früher ihren Job riskierten, landen sie jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach im Gefängnis. Gerade weil ich ja glaube, dass sie die Zukunft in der Hand haben, will ich nicht, dass sie in Haft sitzen. 

    Was den Zusammenhang zwischen den aktuellen Wahlen und dem bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf betrifft, so sind die aktuellen Wahlen für die Verwaltung eine Art Probelauf. Es geht nicht nur um die Darstellung der Ergebnisse, sondern auch um das Funktionieren des Systems. Peskow nannte das eine „kostenintensive Bürokratie“, und ich gebe ihm Recht. Das ist nicht nur Bürokratie, sondern eine Investition ins System. Wenn man das billig machte, würde das System nicht funktionieren – nicht, weil es nicht billiger ginge, sondern weil genau das der Sinn dahinter ist. Jetzt, ein halbes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen, ist es an der Zeit, die Funktionsfähigkeit des Systems unter den neuen Bedingungen zu testen, vor allem mit Rücksicht darauf, dass das System unter Stress steht. Doch das nächste große Plebiszit wird unter einem ganz anderen Druck stattfinden. ~~~Для правительства выборы необходимы, потому что в России легитимность строится на демократических принципах. Это не означает, что у нас демократия, но именно так устроена легитимация правительства. Правительство утверждает, что все решения принимаются на основе воли народа. Поэтому требуется регулярное проведение голосований. Такая система была впервые введена Наполеоном III во Франции в 19 веке и очень похожа на то, что происходит в России сейчас. Вся административная система страны работает на проведение этих выборов, чтобы поддерживать демократическую легитимность правительства.

    С другой стороны, я вижу запрос на настоящую демократию в России, который исходит, прежде всего, снизу — с уровня местного самоуправления. Это не столько требование честных выборов, сколько желание иметь возможность самостоятельно принимать решения на местном уровне. Этот демократический запрос, к сожалению, часто остается незамеченным на фоне проблем с фальсификацией выборов. Но он реален и внушает оптимизм.

    Я уважаю усилия тех, кто сейчас активно участвует в политической жизни, и верю, что именно такие люди в будущем смогут что-то изменить. Однако сейчас, в сложившихся условиях, их действия, скорее всего, не приведут к существенным изменениям. Я не критикую и публично не отговариваю активистов, но считаю, что сегодня их деятельность просто опасна для них самих, — если раньше их просто снимали отовсюду, то сейчас, вероятней всего, будут сажать. Именно потому, что я считаю, что за ними будущее, мне не хочется, чтобы их сажали.

    Что касается связи между текущими выборами и предстоящей президентской кампанией, то в административной логике текущие выборы являются своего рода репетицией. Важно не просто рисование результатов, а работающая система. Песков назвал это «дорогостоящей бюрократией», и я согласен с ним. Это не просто бюрократия, это инвестиция в систему. Если делать это дешево, система не будет работать, — не потому, что нельзя сделать дешевле, а потому что именно в этом и смысл. Сейчас, за полгода до президентских выборов, — время для проверки функционирования системы в новых условиях, особенно учитывая, что система находится под стрессом. Но следующий, большой, плебисцит будет проведен с совершенно другим уровнем давления.[/bilingbox]


    Julia Galjamina: Die Teilnahme an Wahlen gibt Aktivisten und Wählern Hoffnung

    [bilingbox]Ich finde es wichtig, an den Wahlen teilzunehmen, weil das eine Möglichkeit ist, gegen den Autoritarismus zu protestieren. Wir können und dürfen die Hoffnung nicht verlieren und müssen jede Gelegenheit nutzen, für unsere Werte einzustehen – für Frieden, Demokratie und politische Teilhabe. In jeder Situation und in jedem Kontext kann und muss man für seine Werte einstehen und entsprechend handeln, statt nur zu warten. 

    Es gibt drei triftige Gründe, an den Wahlen teilzunehmen: die Unterstützung des aktiven Teils des politischen Spektrums in Russland, die Repolitisierung der Gesellschaft und die Einflussnahme in den jeweiligen Städten. Die Wahlkampagne der Jabloko-Kandidaten in Weliki Nowgorod zum Beispiel ist im ganzen Land bekannt und gibt allen ein Fünkchen Hoffnung – den Aktivisten genauso wie den einfachen Wählern. 

    Wie viele Kandidaten überhaupt zu den Kommunalwahlen zugelassen werden, ist regional unterschiedlich. In Krasnojarsk zum Beispiel wurden alle Kandidaten zugelassen, aber ihre Zahl lässt zu wünschen übrig. Einer der Gründe dafür ist, dass es keine politische Kultur und keine Akteure gibt, die systematisch und nicht nur vor den Wahlen an die Öffentlichkeit gehen. In Jekaterinburg im bereits erwähnten Weliki Nowgorod, und im erweiterten Stadtgebiet von Moskau, wo permanent und systematisch gearbeitet wurde, gibt es viele Kandidaten, und die meisten von ihnen wurden auch zugelassen. In Belgorod wurden die wenigen unabhängigen Kandidaten nicht zugelassen, aber dort ist die Situation auch sehr angespannt

    Generell werden derzeit nicht so viele unabhängige Kandidaten aufgestellt und registriert. Aber ich finde nicht, dass das nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. In einer konkreten Stadt kann sogar ein einziger Abgeordneter eine große Stütze für die Bevölkerung sein. So hat beispielsweise der einzige unabhängige Abgeordnete in meinem Bezirk geschafft zu verhindern, dass das Parken in den Innenhöfen kostenpflichtig wird. Auch wenn nur wenige handeln, schöpfen viele daraus Hoffnung. Deshalb muss man weiter mit gutem Beispiel vorangehen, in Übung bleiben und die über Jahre gesammelte Erfahrung mit Wahlkampagnen wachhalten.~~~Мне кажется, участие в выборах важно, потому что это один из способов сопротивления авторитаризму. Мы не можем и не должны терять надежду и использовать все возможности для продвижения своих ценностей, таких как мир, демократия и политическое участие. Сегодня с двух сторон нам навязывается двойственное видение мира: страшная тьма и прекрасный свет. Только стороны света и тьмы меняются в зависимости от того, чья это пропаганда. Но нужно противостоять этой большевистской логике. В любой ситуации, в любом контексте можно и нужно продвигать свои ценности и действовать, а не просто ждать.

    Можно выделить три главных смысла участия в выборах: поддержание активной части политического спектра России, реполитизация общества и локальное воздействие в каждом городе. Пример кампании, которую показывают, например, кандидаты от «Яблока» в Великом Новгороде (участники Земского съезда) становятся известными во всей стране и дают луч надежды всем — и активистам, и простым избирателям.

    Ситуация с количеством и регистрацией кандидатов на муниципальных выборах различается по регионам. В Красноярске, например, кандидаты были зарегистрированы, но их количество оставляет желать лучшего. Одна из причин — отсутствие сложившейся культуры политических партий и действующих игроков, которые работали бы системно, не только в период выборов. А вот в Екатеринбурге и упомянутом Великом Новгороде, в Новой Москве, где велась постоянная системная работа, — кандидатов много и большинство из них зарегистрировали. В Самаре и Воронеже, несмотря на системную работу оппозиции, просто мало мест разыгрывается, так как проводятся довыборы, поэтому кандидатов не регистрируют. В Белгороде немногочисленных независимых кандидатов тоже не зарегистрировали, но там ситуация тоже очень напряженная.

    В общем, независимых депутатов сейчас и выдвигается и регистрируется не так много. Но я не согласна, что это капля в море. В конкретном городе даже один депутат может стать большим подспорьем для местных жителей. Например, единственный депутат в моем районе смог остановить введение платных парковок во дворах. Пусть немногие действуют, но многие испытывают надежду. Поэтому важно продолжать показывать пример, сохранять практики, навыки и предвыборный опыт, наработанный годами.[/bilingbox]


    Übersetzung: Ruth Altenhofer und Jennie Seitz

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    Unbequeme Archive: Moskau im Krieg

    Alexander Gronsky ist einer der wenigen Fotografen, die nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in Russland geblieben sind. Er arbeitet an einer Serie von Bildern, auf denen der scheinbar kaum veränderte Moskauer Alltag untergründig im Zeichen unterschiedlicher Formen aggressiver militaristischer Propaganda verläuft. 

    dekoder sprach mit dem berühmten Moskauer Stadtlandschaftsfotografen über sein aktuelles Arbeiten, das anschließt an Moskau während des Krieges, eine Sammlung vom Juli 2022.

    Verteidigungsministerium der Russischen Föderation vom Gorki-Park aus gesehen, April 2023 / Foto © Alexander Gronsky

    dekoder: Hast du das Gefühl oder beobachtest du, dass sich die Atmosphäre auf den Straßen Moskaus in diesen eineinhalb Jahren Krieg verändert hat?

    Alexander Gronsky: Es wirkt, als hätte sich gar nichts verändert. Nur die Kriegspropaganda ist mehr geworden, aber davon gab es eigentlich auch vor dem 24. Februar 2022 schon viel, nur hat sie niemand ernst genommen. In vielerlei Hinsicht waren diese fehlenden sichtbaren Veränderungen in meinem Umfeld für mich der Ausgangspunkt meiner Arbeit. Ich befinde mich gewissermaßen inmitten der Prozesse und Ereignisse, doch die sind als solche fast unsichtbar. 

    Was bringen dir deine Streifzüge durch Moskau mit dem Fotoapparat persönlich, wofür nimmst du das alles auf, welchen Sinn siehst du darin?

    Für mich persönlich ist das eine Möglichkeit, mich zu konzentrieren und weniger in Panik zu geraten. Die Frage nach dem Sinn ist schwieriger, die verschiebe ich in die Zukunft. Das heißt, für mich ist klar, dass das Geschehen zur „unbequemen Geschichte“ gehören wird, die man lieber vergessen wollen wird, also müssen wir jetzt „unbequeme Archive“ für die Nachwelt anlegen.

    Fallen dir auf den Straßen Moskaus, abgesehen von den Propagandaplakaten und anderen „neuen“ Elementen „städtischer Ausgestaltung“ in Kriegszeiten, die deine Fotos zeigen, noch andere Spuren des Kriegs auf? Kriegsversehrte, Z-Aufkleber, Kriegsgerät, Folgen von Drohnenattacken, „Z-patriotische“ T-Shirts und dergleichen? Sind auf der Straße oder an sonstigen öffentlichen Orten Gespräche über den Krieg zu hören?

    Die Drohnenattacken sind die ersten Zeichen eines realen Kriegs, die in Moskau aufgetreten sind. Doch ich glaube, die, die hier geblieben sind, haben sich gedanklich schon auf das Schlimmste vorbereitet – diese Explosionen haben niemanden wirklich schockiert. Ansonsten ist alles wie immer, man geht shoppen und Cocktails trinken.

    Ist es im Vergleich zu den Jahren davor schwieriger geworden, auf der Straße zu fotografieren? Hat sich die Reaktion der Passanten oder vielleicht auch der Polizei auf einen Mann mit Fotoapparat verändert?

    Nein, den Eindruck habe ich nicht. 

    Wofür lebt derzeit die Moskauer oder generell die russische Fotografenszene?

    Die russische Fotografenszene lebt jetzt im Ausland. Die paar Fotografen, die geblieben sind, leisten eine wichtige Arbeit, aber sie bilden keine Szene. Es fühlt sich leer an. Allerdings hilft das, die Faulheit zu überwinden, auf einmal wirkt das Argument: „Wenn ich das jetzt nicht fotografiere, wird es womöglich keiner je fotografieren.“
         

    Gedenkmarsch „Unsterbliches Regiment“ auf der Twerskaja Straße, 9. Mai 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Riesiger Bildschirm an der Fassade eines Verwaltungsgebäudes zur Ausstrahlung von Putins alljährlicher Rede an sein „Parlament“ / Foto © Alexander Gronsky
    Bolschoi-Theater am 9. Mai 2022, zum Tag des Sieges „geschmückt“ mit einer vergrößerten Kopie des sowjetischen Marschallordens „Sieg“ und Bannern sowjetischer Fronten im Zweiten Weltkrieg / Foto © Alexander Gronsky
    Haus des Unternehmers. Das Plakat wirbt für die Teilnahme an einem Wettbewerb für Drohnenentwickler. Links eine Bushaltestelle mit Werbung für den Dienst als Vertragssoldat in der russischen Armee / Foto © Alexander Gronsky
    Reklametafel mit Werbung für den neuen russischen Propagandafilm „Nürnberg“ – laut Kritikern ein antiamerikanischer Blockbuster voller Verschwörungen, dessen Handlung vor dem Hintergrund der Nürnberger Prozesse spielt, März 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Probe für die Siegesparade am 8. Mai 2023 — Atomrakete „Jars“. Im Hintergrund ein Werbeslogan der staatsnahen Alfa-Bank: „Für die Klugen und Freien“ / Foto © Alexander Gronsky
    Militaristisches Wandbild, das auf „Die drei Recken“ von Viktor Wasnezow aus dem späten 19. Jahrhundert anspielt, wobei es eher wie eine Parodie darauf aussieht, Juli 2022 / Foto © Alexander Gronsky
    Figur eines altrussischen Kriegers mit einem Z, dem Symbol der Kriegspropaganda, auf dem Schild. Eisskulpturenausstellung im Museon-Park neben der neuen Tretjakow-Galerie, Dezember 2022 / Foto © Alexander Gronsky
    Erdbeer-Kiosk. Links daneben ein Stand, an dem man sich zur Armee melden kann, Mai 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Betonzaun mit propagandistischer Bemalung und Überschrift „Befreiung Europas“. Mit Georgsbändern, die zum Symbol der putinistischen Aggression und Propaganda geworden sind, und einem Wegweiser nach Berlin, März 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Bildschirm mit Werbung der Söldnertruppe Wagner mit dem Slogan „Schließ dich der Siegermannschaft an“, April 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Werbebildschirm auf der Eissportarena des Zentralen Sportclubs der Armee ZSKA. Vor dem Hintergrund eines noch aus vorrevolutionären Zeiten allen russischen Staatsbürgern bekannten Gemäldes von Iwan Schischkin und Konstantin Sawizki, „Morgen im Kiefernwald“, aus dem Jahr 1886. Dazu ein Zitat des sowjetischen Schriftstellers Michail Scholochow: „Geliebtes, lichtes Vaterland! All unsere unendliche Liebe gilt dir. All unsre Gedanken sind bei dir“, Juni 2022 / Foto © Alexander Gronsky
    Werbebildschirm mit dem Porträt eines russischen Soldaten mit der Losung „Dank der Heldentat“, Dezember 2022 / Foto © Alexander Gronsky
    Propagandistische „Installation“ zum Tag des Sieges. Im Hintergrund schimmert  durch ein Baustellennetz ein altes sowjetisches Propaganda-Wandbild: „Wir bauen den Kommunismus“, Mai 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Komposition: Fenster eines Verwaltungsgebäudes leuchten in Form des Buchstaben Z, dem Symbol der russischen Aggression, Mai 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Werbebildschirm mit dem Wort „Jetzt“ an der Wand eines Gebäudes aus der Breshnew-Zeit. Juni 2023 / Foto © Alexander Gronsky

    Fotografie: Alexander Gronsky
    Bildredaktion: Maksim Sher
    Übersetzung: Ruth Altenhofer
    Veröffentlicht am 31.08.2023

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  • Debattenschau № 89: Prigoshin tot?

    Debattenschau № 89: Prigoshin tot?

    Am Mittwochabend ist ein Privatjet der Wagner-Gruppe in der Region Twer abgestürzt, alle zehn Insassen sind laut russischen Medien ums Leben gekommen. An Bord soll sich der Chef der Söldnergruppe Jewgeni Prigoshin befunden haben, ebenso deren Kommandeur und Mitbegründer Dimitri Uktin.

    Genau vor zwei Monaten hatte Jewgeni Prigoshin seinen Aufstand der Wagner-Söldner gegen die russische Militärführung angeführt: Sie hatten die Millionenstadt Rostow am Don besetzt, Militärkolonnen rollten bereits auf Moskau zu, doch dann wurde der spektakuläre „Marsch der Gerechtigkeit“ überraschend abgeblasen. Vermittelt hatte das nach außen Alexander Lukaschenko, Alexej Djumin soll dabei eine zentrale Rolle gespielt haben. Putin hatte noch am Morgen des 24. Juni öffentlich von „Verrat“ und einer unweigerlichen Bestrafung gesprochen. Doch im Endeffekt konnte sich Prigoshin weiterhin frei in Russland bewegen, die Wagner-Söldner sind zum Teil wie vereinbart nach Belarus gegangen oder wurden in die russische Armee eingegliedert. 

    Angesichts dieser Vorgeschichte halten es viele Beobachter für ausgeschlossen, dass der Flugzeugabsturz ein Unfall war. dekoder hat erste Reaktionen von russischen und belarussischen Kommentatoren übersetzt.

    Alexander Baunow/Facebook: Mafia-Methode

    Russland wird schon seit über eineinhalb Jahrzehnten als ein Mafia-Staat beschrieben. Aus dieser Logik heraus erklärt auch der Analyst Alexander Baunow auf Facebook den Tod von Prigoshin.

    [bilingbox]Eine Bestrafungsmethode in Diktaturen besteht darin, den Feind/Verräter vor seiner Vernichtung für sich zu gewinnen oder sich zumindest mit ihm zu versöhnen, um so zu tun, als sei ihm vergeben worden. Das ist wie in Mafia-Filmen, wo sich rivalisierende Gruppen und ihre Bosse zusammentun, und anschließend die einen die anderen aus einer Torte erschießen, oder wie in Der Pate, wo sich alle versöhnen, bevor sie sich auslöschen.~~~Одна из технологий  наказания внутри диктатуры – приблизить врага/предателя перед уничтожением, или хотя бы помириться сделать вид, что прощен. Это как в фильмах про мафию, враждующие группы и их боссы собираются вместе, чтобы потом одни расстреляли других из торта, или в «Крестном отце» всё мирятся прежде чем  уничтожать.[/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Tatjana Stanowaja/Telegram: Eine Lehre für potenzielle Nachfolger

    Nicht einmal die russischen Propagandaorgane verbreiten die Version, dass der Absturz ein Unfall war. Die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja argumentiert auf Telegram, dass Prigoshins Ermordung eine Signalwirkung hat.

    [bilingbox]

    Was auch immer die Gründe für den Flugzeugabsturz sein mögen, jeder wird ihn als einen Akt der Rache und Vergeltung ansehen – und der Kreml wird das nicht groß verhindern. Aus der Sicht Putins – und vieler Silowiki und Militärs – soll der Tod Prigoshins allen potenziellen Nachfolgern eine Lehre sein […]

    Prigoshins Tod ist eine direkte Bedrohung für alle, die ihm bis zum Schluss treu geblieben sind oder ihn offen unterstützt haben. Dies wird eher abschrecken als zu Protesten anregen. Deswegen ist keine besondere Reaktion zu erwarten. Es wird Empörung und Unzufriedenheit geben, aber keine politischen Konsequenzen.

    ~~~

    Каковы бы ни были причины крушения самолета, все будут видеть это как акт возмездия и расправа, и Кремль не будет особенно мешать этому. С точки зрения Путина, а также многих среди силовиков и военных – смерть Пригожина должна быть уроком любым потенциальным последователям. […]

    Смерть Пригожина – прямая угроза для всех, кто оставался с ним до конца или открыто поддерживал. Это скорее напугает, чем вдохновит на протесты. Поэтому никакой особой реакции ждать не стоит. Негодование и недовольство будет, политических последствий – нет.

    [/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Ekaterina Schulmann/Telegram: Tarnung zum Untertauchen 

    In einer ersten Reaktion erinnert die russische Politologin Ekaterina Schulmann auf ihrem Telegram-Kanal daran, dass auch eine Inszenierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden kann.

    [bilingbox]Aber ein ausgebranntes Flugzeug ist auch eine gute Tarnung, um mit einem der vielen Ersatzpässe für immer unterzutauchen. Ab in die Pampa, wo keiner einen findet, bis Gras über die Sache gewachsen ist und die Spuren kalt sind. Mein Leben – ein Roman!~~~Но и для того, чтобы скрыться навсегда, взяв один из многочисленных запасных паспортов, сгоревший самолёт – тоже подходящий повод. Ворон костей не соберёт, концы в пепел, след простыл. Quel roman que ma vie![/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Michael Naki/Telegram: Alles ist so, wie es scheint 

    Manche witzeln über Michael Naki, er sei ein Prigoshinologe. Tatsächlich hat der populäre YouTuber und Militäranalyst schon im Februar 2023 vorhergesagt, dass Prigoshin keines natürlichen Todes sterben wird. Auf Telegram wendet er sich nun gegen die These, dass der Absturz eine Inszenierung sei. Für Naki ist alles in Wirklichkeit genauso, wie es auch scheint.

    [bilingbox]

    Erinnert ihr euch noch daran, als die Drohnen in den Kreml flogen? Da gab es alle möglichen Hypothesen, etwa dass der FSB da seine Finger mit drin hatte. Nichts davon konnte bestätigt werden, und ich denke, heute ist allen klar, dass es ukrainische Drohnen waren.

    Erinnert ihr euch noch an Prigoshins Meuterei? Damals hat kaum einer versäumt, sie als Inszenierung zu bezeichnen. Allerdings konnte niemand erklären, was der Zweck dieser Inszenierung war. Ich glaube, heute gibt es nur noch wenige Menschen, die an eine Inszenierung glauben.

    Jetzt haben wir die gleiche Situation. Ich kann weder zu 100 Prozent sagen, dass Prigoshin wirklich tot ist, noch, dass da irgendein raffinierter Plan dahintersteckt. Aber ich bin mir mehr als sicher, dass alles genauso ist, wie es auch aussieht. Putin hat Prigoshin demonstrativ getötet, und zwar auf eine Art und Weise, die keinen Raum lässt für Fantasien über einen Unfall oder Beteiligung der ukrainischen Streitkräfte.

    ~~~

    Помните, когда дроны прилетели в Кремль? Сколько там было всевозможных гипотез, что, мол, это дело рук ФСБ. Ни одна не подтвердилась, и, думаю, что сейчас всем очевидно, что это были украинские дроны.

    Помните мятеж Пригожина? Который только ленивый не назвал инсценировкой. Правда, никто не мог объяснить, в чем цель этой инсценировки. Думаю, что сейчас мало людей, которые все еще полагают, что это была инсценировка.

    Та же ситуация и здесь. Я не могу на 100% утверждать, что Пригожин точно мертв, и что нет каких-то хитрых планов. Но я более чем уверен, что всё именно так, как выглядит. Путин демонстративно убил Пригожина, причем способом, который не оставляет места фантазии на тему случайности или действий ВСУ.

    [/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Alexander Friedman/Telegram: Der Mann, der zuviel wusste

    Der belarussische Historiker und Analyst Alexander Friedman glaubt, dass der Tod Prigoshins auch als Warnung an Lukaschenko verstanden werden kann.

    [bilingbox]Auf jeden Fall wird Lukaschenko sagen können, dass seine Garantien für Prigoshin nur auf dem Territorium von Belarus und nicht für andere Teile des Unionsstaates galten. Der Tod von Jewgeni Prigoshin macht Alexander Lukaschenko in gewisser Weise zu einem „neuen Prigoshin”. Einerseits gibt ihm sein Tod die Möglichkeit (sollte der Kreml zustimmen), Teile der Gruppe Wagner unter seine Kontrolle zu bringen. Andererseits ist es die typische Geschichte eines Mannes, der zuviel wusste. Und das wird, wie wir heute gesehen haben, im Kreml nicht verziehen.~~~Александр Лукашенко в любом случае сможет сказать, что его гарантии Пригожину действовали только на территории Беларуси и не распространялись на другие части Союзного государства. Смерть Евгения Пригожина делает самого Александра Лукашенко в какой-то степени «новым Пригожиным». С одной стороны, она дает ему возможность (если будет на то согласие Кремля) поставить под свой контроль части ЧВК «Вагнер» в Беларуси. С другой стороны, это типичная история человека, который слишком много узнал. А такое, как мы сегодня увидели, в Кремле не прощают.[/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Alexander Klaskowski/Pozirk: Jede Menge Probleme für Lukaschenko

    Was passiert nun mit den Wagner-Söldnern in Belarus? Mit dieser Frage beschäftigt sich der belarussische Journalist Alexander Klaskowski auf Pozirk.

    [bilingbox]

    Lukaschenko kann den Tod des Wagner-Chefs nutzen, um die Spannungen in den Beziehungen zu den Nachbarländern der Europäischen Union und der NATO etwas zu senken.
    Eine andere Frage ist, ob Putin es eilig hat, diese toxische Mannschaft [die Wagner-Söldner – dek] einzusammeln oder dem belarussischen Machthaber zumindest Geld für den Unterhalt dieser problematischen Gäste zu geben. […]
    In jedem Fall hat der „kleine Bruder”, der in diesem Stück einen PR-Coup als Retter Russlands beim blutigen Aufstand leisten wollte, ordentlich viele Probleme übergeholfen bekommen.

    ~~~

    Лукашэнка можа скарыстаць смерць кіраўніка ПВК, каб трохі разрадзіць напружанне ў дачыненнях з суседнімі краінамі Еўразвязу і НАТО.
    Іншае пытанне, ці паспяшаецца Пуцін забіраць гэты таксічны актыў або хаця б даць грошай на ўтрыманне гэтых праблемных для беларускага правіцеля гасцей.

    В любом случае «младший брат», который хотел пропиариться в этом сюжете как спаситель России от кровавого бунта, получил на свою голову кучу проблем. 

    [/bilingbox]

    erschienen am 24.08.2023, Orignal

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