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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Alles weg, was queer wirkt

    Alles weg, was queer wirkt

    Die Zensur ist zurück im russischen Verlagswesen. Ihr größter Feind: vermeintliche LGBTQ-Geschichten. 

    Die staatliche Verfolgung nicht-heteronormativer Ideen, also jeglicher Lebensentwürfe, die nicht der „traditionellen Partnerschaft“ oder Vater-Mutter-Kind-Familie entsprechen, zieht sich seit Langem durch die sowjetisch-russische Geschichte. Unter Putin nehmen die Repressionen seit über zehn Jahren immer strengere Formen an. 

    2013 wurde sogenannte „Propaganda von Homosexualität“ 2013 verboten. Durch den Krieg gegen die Ukraine und die damit einhergehende Militarisierung der Gesellschaft nimmt queerfeindliche Gewalt zu. Seit November 2024 gilt eine angebliche „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“.  

    All diese Verbote betreffen auch die Kulturszene. So hat der Expertenrat beim Russischen Buchverband bereits in Ein Zuhause am Ende der Welt von Michael Cunningham, den letzten Roman Das Erbe aus der Schneesturmtrilogie von Wladimir Sorokin und Giovannis Zimmer von James Baldwin angebliche LGBTQ-Propaganda entdeckt und die Bücher vom Markt verbannt – sowohl die gedruckte wie die digitale Ausgabe. Andere Werke werden aus dem Schulprogramm genommen. Immer wieder tauchen Listen von Büchern auf, von deren Verkauf abgeraten wird. Die Biografie des italienischen Filmemachers und Publizisten Paolo Pasolini ist kürzlich in Russland mit geschwärzten Seiten erschienen – denn diese Passagen handelten vom schwulen Privatleben des Regisseurs. 

    Im Interview mit T-invariant erläutert der Kulturhistoriker und Philologe Michail Edelschtejn, was diese Maßnahmen bewirken wollen, wie sich die Lage heute von der Kriegszensur im 20. Jahrhundert unterscheidet und welche Rolle dabei „beleidigte Literaten“ spielen. 

    Die Pasolini-Biografie von Roberto Carnero erschien im russischen AST-Verlag mit Schwärzungen. © Foto T-Invariant
    Die Pasolini-Biografie von Roberto Carnero erschien im russischen AST-Verlag mit Schwärzungen. © Foto T-Invariant

    T-invariant: Die Verfolgung von LGBTQ begann 2013, als das Gesetz zum Schutz von Kindern vor „homosexueller Propaganda“ verabschiedet wurde. Ab 2022 wurden die Repressionen auf alles ausgeweitet, was „nicht–traditionell“ ist. Höhepunkt war die Einstufung der sogenannten und nicht existierenden „internationalen LGBTQ-Bewegung“ als extremistische Organisation. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach hierbei der Krieg? Oder ist man einfach vorher nicht dazu gekommen? 

    Michail Edelschtejn: Ich glaube, eine Logik haben alle diese Kampagnen gemein. Ende der 1920er Jahre wurde zunächst nur Trotzkis engster Kreis verhaftet, und es lief auch nur auf Verbannung heraus. 1937 wurde bereits jeder Alt-Bolschewik erschossen und dann auch völlig Unbeteiligte.  

    Jede ideologische Kampagne hat die Tendenz, sich auszuweiten. Erst wird der Boden bereitet, quasi Versuchsballons gestartet, damit die Menschen nicht das Gefühl haben, über Nacht aller Rechte beraubt zu werden. Da fallen der Kampagne weniger bekannte Personen und Bewegungen zum Opfer. Später dann kommen die Repressionen ins Rollen, wie ein Schneeball, der immer größer und schneller wird. So ähnlich war es ja schon bei den „ausländischen Agenten“

    Der Kampf gegen LGBTQ ist zu einer nationalen fixen Idee geworden. 

    Was den Krieg angeht, so spielt hier die inländische Propaganda eine entscheidende Rolle, die auf den sogenannten skrepy (dt: Heftklammern, verbindende Elemente) aufbaut. Und davon haben wir heute genau zwei: den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und die Homophobie. „Wir haben die Welt von den Faschisten befreit, sie ist uns zu ewigem Dank verpflichtet“ und „Gayropa will uns alle kastrieren“ – um diese beiden Säulen versucht der Staat die Menschen zu vereinen. Der Kampf gegen LGBTQ ist zu einer nationalen fixen Idee geworden. 

     

    Im denkwürdigen Jahr 2022 zählte der Roman Leto w pionerskom galstuke [von Elena Malissowa und Katerina Silwanowa, auf Deutsch als Du und ich und der Sommer erschienen, ebenso Band 2 und 3 – dek] zu den meistverkauften Büchern. Darin geht es um eine Liebesbeziehung zwischen zwei Jungen. Hängt der Erfolg mit dem Thema der „nicht–traditionellen“ Beziehungen zusammen, und inwiefern hat die Hetzjagd gegen den Roman mit seiner Popularität zu tun? 

    Der Erfolg hängt zweifellos mit dem Thema zusammen. Es war ein ziemlich überraschender Blick auf die Kindheit im Pionierlager, an die sich viele voller Nostalgie erinnern. Der Roman ist eine Art „alte Lieder über das Wichtige“, aber in einer transgressiven Verpackung, das hat die Leserschaft abgeholt.  

    Als das Buch verboten wurde, sagten viele: „Das ist falsch, aber andererseits ist der Roman auch nicht von herausragendem literarischen Wert. Die richtig großen Werke werden sie nicht anrühren.“  

    Wie es danach weiterging, wissen wir alle. Jetzt wird deutlich, dass die Hetze gegen den Roman so eine Art Versuchsballon war: Sie wollten nicht gleich an die Klassiker ran, sondern erst mal etwas nehmen, das zwar viral ging, aber literarisch nicht von allzu großer Bedeutung. Und es hat funktioniert, die meisten haben die Pille geschluckt. Jetzt, nachdem sie an diesem Roman geübt und den herausgebenden Verlag Popcorn Books praktisch vernichtet haben, nehmen sie sich größere Fische vor. 

     

    Gibt es in der russischen Literaturgeschichte vergleichbare Beispiele von LGBTQ-Zensur? 

    Soweit ich weiß, nein. Natürlich herrschte in der UdSSR Zensur, und im Strafgesetz gab es den Paragrafen für „Unzucht zwischen Männern“. Die Bücher, über die wir heute reden, hätten damals nicht erscheinen können. Aber es fand kein öffentlicher Diskurs statt, es gab keine großangelegten Hetzkampagnen. Das Thema wurde eher totgeschwiegen. 

    Heute herrscht selbst in muslimischen Ländern, wo z. B. Gayprides unvorstellbar sind, keine solche Massenpsychose wie in Russland. Die Idee, dass wir uns gegen Schwule vereinen, dass das der Zusammenhalt der Nation ist, ist weitgehend Putins Verdienst. 

     

    Die Geschichte mit Pasolinis Biografie erinnerte mich daran, dass auch Fragmente von Michail Kusmins Gedichtband Seti [dt. Netze] in der Ausgabe von 1915 aus demselben Grund geschwärzt wurden. Das war der Kriegszensur zu verdanken. 

    Ja. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde Kusmin noch gedruckt, wenn auch nicht ganz problemlos. 1907 wurden Dokumente zum Verbot von Kusmins Komödie Opasnaja predostoroshnost [dt. Gefährliche Vorsicht] veröffentlicht. Sie habe nach Ansicht der zaristischen Zensoren „die homosexuelle Liebe verherrlicht und enthält Argumente, die den Leser davon überzeugen sollen, dass Homosexualität ebenso natürlich sei wie normale sexuelle Beziehungen und dieselben hohen Freuden bereitet“. Aber die meisten von Kusmins Werken erreichten den Leser ungehindert, einschließlich der skandalisierten Erzählung Krylja [dt. Flügel], einem durchaus offenherzigen Manifest der Homoerotik. 

    Das Gleiche gilt für andere Schriftsteller jener Zeit. So wurde die vielleicht erste lesbische Novelle der russischen Literatur, Tridzat tri uroda [dt. 33 Monstren] von Lidija Sinowjewa-Annibal, der Ehefrau des Dichters Wjatscheslaw Iwanow, von der Zensur als Verstoß gegen die öffentliche Moral verboten („Auch wenn die Zärtlichkeiten, die von einer Frau einem Mädchen dargebracht werden, unter sorgfältiger Vermeidung von Schmutz geschildert werden, wirkt das Gift der widernatürlichen Perversität umso subtiler“ – eine hübsche Formulierung, oder?). Aber einen Monat später entschied das Gericht, dass das Buch doch nichts allzu Unsittliches enthielt, und die beschlagnahmte Auflage wurde an die Buchhandlungen verschickt. 

    1915 entschied wiederum die Kriegszensur, dass man sich so etwas in einer Zeit, in der „unsere Jungs“ an der Front sterben, nicht leisten könne. So wurden in der zweiten Auflage von Kusmins Gedichtband die entsprechenden Fragmente gestrichen. Wenn ich mich recht entsinne, wurde bei einer Auktion einmal ein Exemplar versteigert, das Kusmin einem seiner Freunde schenken wollte. Darin hatte er die fehlenden Zeilen anstelle der Aussparungen per Hand ergänzt. 

     

    Wie könnte sich die Situation mit der LGBTQ-Zensur künftig auf den Literaturbetrieb und den Buchmarkt auswirken? Was haben wir zu erwarten? 

    In erster Linie Selbstzensur durch Verlage und Autor*innen. Im Moment ist völlig unklar, wo die Grenzen des Erlaubten liegen. Solche Grenzen sind an sich natürlich schlimm, aber wenigstens ist dann klar, was man darf und was nicht. Wenn es sie nicht gibt, wenn alles im Nebel liegt und die Repressionen jedes Buch und jede*n Autor*in treffen können, ein Erstlingswerk genauso wie einen anerkannten Klassiker, werden sich die Verlage absichern und alles Mögliche aus dem Programm nehmen.  

    James Baldwin, der Autor von Giovannis Zimmer, gilt z. B. seit langem als einer der größten Stilisten der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Über seine Werke wurden Dissertationen geschrieben, Monografien verfasst. Sogar im sowjetischen Literaturlexikon der 1970er Jahre wird er als „bedeutender Romancier und Kämpfer für die Rechte der schwarzen Bevölkerung Amerikas und als Mitstreiter Martin Luther Kings“ geführt. In der späten Sowjetzeit hat ihn das gerettet, heute nicht mehr. 

    Je mehr du verbieten kannst, desto mehr Macht hast du. 

    Alles hängt von ungebildeten Zensoren und ihren noch ungebildeteren Helfershelfern ab. Wie soll man nach der Geschichte mit Pasolini Biografien von z. B. Marcel Proust, Oscar Wilde, Thomas Mann, Evelyn Waugh veröffentlichen oder deren Texte erforschen? Und was, wenn jemand herausfindet, dass Zwetajewas Gedicht Pod laskoi pljuschtschewogo pleda … [dt. Unter der Liebkosung der Plüschdecke …] an eine Frau gerichtet ist? Lasst uns dann Zwetajewa verbieten, und [den Film – dek] Schestoki romans [dt. Eine bittere Romanze] gleich dazu! Das ist ein unheimliches Fass ohne Boden. 

    Hinzu kommt ein weiteres Problem: Der russische Staat ist so aufgebaut, dass dein Status weitgehend durch deine Verbieterfunktion bestimmt wird. Je mehr du verbieten kannst, desto mehr Macht hast du. Die „Experten“ in so einem Gremium brauchen das persönlich alles nicht, es ist eine zusätzliche Belastung, das alles zu lesen, sich Begründungen auszudenken usw. Aber sie müssen es tun, weil das ihre Position in der Machthierarchie legitimiert. 

    Weil niemand freiwillig ihren Rat einholt, müssen sie auf Razzien und Expertenräte zurückgreifen. 

    In der jüngeren Geschichte des Kampfs der Behörden gegen die Verleger gibt es eine Episode, die das ganz gut illustriert. Vor genau 20 Jahren führte [die Drogenaufsicht] Gosnarkokontrol eine Reihe von Razzien in Buchläden durch und beschlagnahmte Bücher, die „Drogenkonsum propagieren“. Jemand fragte den stellvertretenden Direktor von Gosnarkokontrol, General Alexander Michailow, wie man Propaganda von bloßer Beschreibung unterscheiden könne. Der antwortete sehr treffend: „Wenn ein Verleger überlegt, ob er ein Buch veröffentlichen will, hat er die Wahl: das Risiko eingehen und erwischt werden oder sich beraten lassen und nicht erwischt werden. Es gibt immer die Möglichkeit, sich beraten zu lassen.“  

    Diese Leute wollen unbedingt, dass man sich mit ihnen „berät“, sie können nicht anders, das ist für sie wie die Luft zum Atmen. Aber weil niemand freiwillig ihren klugen Rat einholt, müssen sie auf Razzien und Expertenräte zurückgreifen. 

     

    Offenbar muss man auch mit Konsequenzen im Bildungssektor rechnen? 

    Das können wir bereits jetzt beobachten. Die Erzählung Kawkaski plenny [dt. Der kaukasische Gefangene] von Wladimir Makanin ist z. B. aus dem Lehrplan geflogen. Obwohl sie verfilmt und Makanin von Putin persönlich mit dem Nationalpreis der Russischen Föderation ausgezeichnet wurde. Aber in der neuen Realität ist das unwichtig. Wichtig ist nur, ob es darin irgendwelche „ungesunden, gleichgeschlechtlichen Neigungen“ gibt. Dabei ist Makanins Erzählung in keinster Weise schwule Literatur, im Gegensatz beispielsweise zu Giovannis Zimmer, das wirklich „davon“ handelt. 

     

    Jedes Verbot erhöht schlagartig das Interesse am Verbotenen. Ist das denjenigen bewusst, die über Beschlagnahmungen entscheiden? Das ist doch auch eine Art Propaganda: Wenn du willst, dass möglichst viele Menschen ein Buch lesen, dann lass es verbieten. 

    Dem bürokratischen System ist die Effektivität in dem Sinne, den Sie meinen, unwichtig. Es ist ihm egal, ob das Buch gelesen wird oder nicht. Wichtig ist, sich in den nationalen Trend einzufügen, Rechenschaft abzulegen und seinen „Patriotismus“ zu zeigen, um den Vorgesetzten Beflissenheit zu demonstrieren usw. Da herrscht eine ganz andere Logik. Die Bücher werden heruntergeladen? Na und?! Vielleicht sperren sie die eine oder andere Seite. Oder richten eine Unterabteilung bei [der Medienaufsicht] Roskomnadsor ein, die dafür sorgt, dass Online-Bibliotheken diese Bücher aus ihrem Sortiment entfernen. Eine weitere gute Gelegenheit, um die eigene Nützlichkeit zu demonstrieren und dem Staat zusätzliche Finanzen aus den Rippen zu leiern. 

    Was das Interesse an Verbotenem angeht, stimmt das durchaus. Ich kenne Leute, die jetzt voller Stolz erzählen, wie sie das letzte Exemplar von Sorokin ergattert haben, obwohl sie seine Bücher früher nie in die Hand genommen hatten. Pasolinis Biografie war bei manchen Onlineshops innerhalb von einem Tag ausverkauft. Übrigens verhalf der Skandal von 1907 auch den 33 Monstren von Sinowjewa-Annibal zum Bestsellerstatus; drei Auflagen hintereinander gingen weg wie warme Semmeln. 

    Die Bibliothekare werden eine kollektive Neurose entwickeln. 

     

    Was sollen jetzt Bibliotheken tun, die dazu verpflichtet sind, ein Exemplar von jedem Buch frei zugänglich zu führen? 

    Ich nehme an, die Mitarbeiter werden ihre Bestände mit allen möglichen Listen abgleichen müssen, Bücher aus den Katalogen streichen, wie es schon mit Werken passiert, die durch die Soros-Stiftung und andere unerwünschte Organisationen finanziert wurden. Wer weiß, vielleicht wird es wie in guten alten Sowjetzeiten Spezialschränke geben, in denen in Erwartung der nächsten Perestroika Michael Cunningham, Hanya Yanagihara usw. liegen werden.  

    Die Bibliothekare werden eine kollektive Neurose entwickeln, was im Grunde auch genau das Ziel der Kampagne ist. Sie sollen zittern wie Espenlaub und vorauseilenden Gehorsam leisten. 

     

    Man könnte sich vorstellen, dass in der gegenwärtigen Realität jemand die Situation ausnutzt – nicht, weil er oder sie so viel Wert auf die skrepy legt, sondern aus Neid auf erfolgreiche Autoren und Verlage, um Rache zu nehmen, die Konkurrenz auszubremsen. 

    Natürlich, das sind sehr starke Motive. Ein Bestseller-Autor hat keinen größeren Neider als den Autor, dessen Bücher keine Bestseller geworden sind. 

    Viele Literaten rechtfertigen ihre Misserfolge damit, dass die „liberale Mafia“ ihnen Steine in den Weg legt und verhindert, dass ihre brillanten Romane die breite Masse erreichen. Und jetzt versuchen sie, so etwas wie eine Verbotslobby zu bilden. 

    Das bedeutet, dass kein*e Autor*in und kein Buch sicher sind. 

     

    Ich würde Sie noch gerne fragen, welche Bücher und Autoren in Zukunft betroffen sein könnten, aber es wäre wohl unklug, unnötig Tipps zu geben? 

    Ja, erstens möchte ich tatsächlich nichts beschreien. Und zweitens hängt alles vom Verdorbenheitsgrad der Fantasie der „Experten“ ab. Ich bin sicher, dass sie in jeden Text etwas hineinlesen können, worauf Psychoanalytiker und Philologen, die sich ihr ganzes Leben damit beschäftigt haben, niemals kommen würden. Das bedeutet, dass kein*e Autor*in und kein Buch sicher sind. 

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  • Das Staatsgeheimnis

    Das Staatsgeheimnis

    Seit seinem fünften Lebensjahr begleitet Nikolai Lukaschenko seinen Vater bei offiziellen Auftritten und Staatsbesuchen. Im Vorfeld der Scheinwahlen Ende Januar 2025 war der 20-Jährige in Belarus unterwegs, um im Rahmen einer groß angelegten Propaganda-Show Klavierkonzerte zu geben. Der jüngste Sohn von Alexander Lukaschenko hilft seit langem, das Image des Langzeit-Diktators aufzupolieren und die Diktatur für junge Menschen attraktiver zu machen. Auch halten sich Vermutungen, dass der Sohn den Vater irgendwann beerben könnte. 

    Wer aber ist die Mutter von Nikolai Lukaschenko? Bis heute hat das Regime ihren Namen nicht offiziell bestätigt, wobei es eindeutige Hinweise gibt. Das Online-Portal Zerkalo ist den Hinweisen nachgegangen und erzählt eine Geschichte, die tief in die Funktionsweisen von autoritären Systemen blicken lässt. 

    Irina Abelskaja während eines Interviews am 12. Februar 2018 in Minsk / © Foto Tut.by
    Irina Abelskaja während eines Interviews am 12. Februar 2018 in Minsk / © Foto Tut.by

    Irina Abelskaja wurde 1965 in Brest geboren. „Ich bin Ärztin in dritter Generation, mein ältester Sohn schon in vierter. Meine Großmutter war Feldscherin, ihre ganze Verwandtschaft hatte auf die eine oder andere Weise mit Medizin zu tun. Meine Mutter und meine Tante sind ebenfalls Ärztinnen, genauso mein Bruder und seine Frau. Mein Sohn ist Augenarzt in einem Ärztezentrum“, erzählt sie Tut.by im Interview. 

    Im Verlauf unseres Gesprächs verliert Abelskaja kein Wort über ihren Vater. Das mag damit zu tun haben, dass er tatsächlich aus der Mediziner-Reihe ausschert, aber der Grund könnte auch ein anderer sein: Stepan Postojalko war zu Sowjetzeiten ein politischer Häftling. Er kam 1933 in der Oblast Brest zur Welt, in einem Dorf namens Batareja im Bezirk Beresowski. Während des Zweiten Weltkriegs war in dieser Gegend, wie in ganz West-Polesien, die Ukrainische Aufstandsarmee UPA beliebt: Viele identifizierten sich als Ukrainer, und vor dem Krieg hatte es auf politischer wie kultureller Ebene gut organisierte ukrainische Strukturen gegeben. 

    Die Familie Postojalko – Stepan, sein älterer Bruder und die Eltern – arbeitete zwei Jahre lang der UPA zu. Sie nahmen nur einmal an einer größeren Aktion teil: der Verteilung von Flugblättern in Berjosa. Trotzdem wurden 1952 Stepan, sein Bruder und ihr Vater wegen Unterstützung der UPA zu je 25, Stepans Mutter zu zehn Jahren Haft verurteilt. Auch nach dem Tod Josef Stalins 1953 musste die Familie drei weitere Jahre im Lager bleiben und kam erst im Sommer 1956 durch eine Amnestie frei. Stepan kehrte nach Belarus zurück, zog nach Brest und nahm eine Stelle bei Brestenergo an, wo er später verschiedene Führungspositionen innehatte. Erst 1992 wurde die ganze Familie rehabilitiert. 

    In Brest lernte Stepan seine zukünftige Frau Ljudmila kennen. Sie wurde 1941 in der ukrainischen Oblast Poltawa geboren und hatte in Kyjiw Medizin studiert. Sie arbeitete viele Jahrzehnte als Kinderärztin in der Brester Kinderklinik, zuletzt als Chefärztin. Das alles wohlgemerkt, bevor Lukaschenko an die Macht kam.  

    Lukaschenko wurde 1994 Präsident. Stepans und Ljudmilas Tochter Irina war damals 29 Jahre alt. Sie hatte in Minsk an der heutigen BGMU (Belarussische Staatliche Universität für Medizin) Pädiatrie studiert und arbeitete zunächst als Kinderärztin an einer Minsker Poliklinik, dann als Fachärztin für Endokrinologie in einem Behandlungszentrum und später in einem Minsker Diagnosezentrum. Aus ihrer kurzen Ehe ging ein Sohn namens Dmitri hervor; den Nachnamen ihres Mannes hat sie nach der Scheidung behalten. 

    Irinas Sohn ist heute promovierter Augenarzt. Im Oktober 2020 meldete er der Polizei eine weiß-rot-weiße Flagge, die in der Wohnanlage Kaskad hing. Heute veröffentlicht er auf TikTok und Instagram skurrile Werbe-Videos für die private Minsker Klinik, für die er arbeitet. Gegen ihn liegen über dreißig Strafverfahren wegen Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung vor. 

     

    Lukaschenkos Leibärztin 

    Doch zurück in das Jahr 1994. Gleich nach Amtsantritt suchte sich Lukaschenko einen Leibarzt. Sein Management fand offenbar, am besten wäre eine unverheiratete oder geschiedene Frau um die 30 geeignet, die nett anzuschauen ist und ein Kind hat. Irgendwann landeten auf dem Schreibtisch von Gesundheitsministerin Inessa Drobyschewskaja, die mit dem Recruiting betraut worden war, drei Bewerbungsmappen. Die Wahl fiel auf Irina Abelskaja. Im Herbst 1994 übernahm sie ihre Funktion in der Ärztekommission. 

    Das Konzept der Ärztekommissionen stammt aus dem Jahr 1931, als sie in praktisch allen Republiken der UdSSR zur medizinischen Behandlung hochrangiger Beamte eingerichtet wurden. Zu den „Klienten“ gehörten auch Volkskünstler und -schriftsteller, Träger staatlicher Auszeichnungen und dergleichen. Die belarussische Ärztekommission befand sich auf der Krasnoarmejskaja-Straße im Zentrum von Minsk, ganz in der Nähe des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei auf der Karl-Marx-Straße 38, wo heute die Präsidialadministration ihren Sitz hat. Allerdings engagierte Abelskaja sich de facto nicht in der Ärztekommission, sondern begleitete auf Schritt und Tritt den Präsidenten. Bald kamen Gerüchte auf, dass ihr Verhältnis über das dienstliche hinausging.     

    „Dass Irina nicht nur für Lukaschenkos Gesundheit zuständig ist, konnte man bei seinem ersten und einzigen offiziellen Besuch in Frankreich sehen“, schrieb die [staatsnahe – dek] russische Zeitung Moskowski Komsomolez. „Entgegen allen Regeln der diplomatischen Etikette ließ Lukaschenko den Außenminister aus dem benachbarten Hotelzimmer ausquartieren, um dort Platz für Irina zu schaffen. Als Irina Abelskaja dann nach Drosdy in die Präsidentenresidenz zog, wunderte das keinen mehr.“ 

    „Die medizinische Elite des Landes hatte damals von einer Irina Abelskaja noch nicht einmal gehört, sie war eher bei Journalisten bekannt, die das Staatsoberhaupt auf seinen Reisen begleiteten“, bemerkte die Belaruskaja Delowaja Gaseta. „Diese Frau, die immer nur lieb lächelte und nicht viel sagte (vielleicht, weil sie einen leichten Sprachfehler hat), wusste zu gefallen: Mal lotste sie ihn durch die Absperrungen der Wachdienste, mal zauberte sie Tabletten oder Heftpflaster aus ihrem ‚Präsidentenköfferchen’. Einige Male vergaß sie ihren ‚hohen Patienten‘ und eilte Zartbesaiteten zu Hilfe, die beim Anblick ihres Idols in Ohnmacht fielen. So geschehen etwa Anfang der Nullerjahre auf dem Platz des Sieges, als Alexander Lukaschenko vor Veteranen sprach und bei einem der Kriegshelden das Herz nicht mehr mitspielte.“ 

    Der Journalist Pawel Scheremet erinnert sich: „In den ersten Jahren von Lukaschenkos Regierungszeit konnte man während seiner stundenlangen Besprechungen ein paar Worte mit ihr auf dem Korridor wechseln. Sie wirkte sympathisch.“ Gelegentlich wurde die Leibärztin des Politikers an delikaten Entscheidungen beteiligt, die über ihr eigentliches Aufgabenfeld weit hinausgingen. Iwan Titenko, in Lukaschenkos frühen Jahren einer seiner engsten Mitstreiter, erzählte, dass er nach seinem Rücktritt erst über Abelskaja einen Termin bei seinem ehemaligen Chef bekam. Es wurde auch gemunkelt, dass sie auf Lukaschenkos Anweisung Tamara Winnikowa, die ehemalige Vorsitzende der Nationalbank, in der Untersuchungshaft besuchte. Und dass Abelskaja ein gutes Wort für Galina Shurawkowa bei Lukaschenko eingelegt habe: Seiner „Betriebswirtschafterin“ wurde Korruption vorgeworfen, aber nach dieser Intervention wurde sie wieder aus der Haft entlassen. 

    Irina Abelskajas Einfluss wuchs. 2001 wurde sie Chefärztin am Republikanischen Klinisch-Medizinischen Zentrum der Präsidialverwaltung (so heißt heute die Ärztekommission offiziell). Der alte Chefarzt wurde mit einem Skandal entlassen, und die Staatsanwaltschaft leitete ein Strafverfahren wegen Unterlassung und Fahrlässigkeit der Krankenhausbediensteten ein. Lukaschenko verlautbarte, Abelskaja käme, um dort eine „Schule der modernen Medizin“ aufbauen. Die Klinik wurde mit den modernsten medizinischen Geräten ausgestattet und bekam neue Flächen hinzu, nämlich die Gebäude, in denen sich das Zentrum für Radiologie und die Kinderklinik Nr. 4 befunden hatten. Sie bestand nun aus ganzen sechs Gebäudetrakten.      

            

    Familienbande 

    Parallel zu Abelskajas Höhenflug gewann auch ihre Mutter an Einfluss. Laut der Zeitung Narodnaja Wolja habe Lukaschenko Ljudmila Postojalko schon 2001 zur Gesundheitsministerin ernennen wollen. Doch die Chefärztin des Brester Kinderkrankenhauses hatte keinerlei Erfahrung mit der Hauptstadt und mit großen, „erwachsenen“ Strukturen. Da wandte er einen schlauen Trick an und ernannte Wladislaw Ostapenko, Doktor der Medizin, Mitglied der Belarussischen Akademie der Wissenschaften sowie Facharzt für Radiologie und Endokrinologie zum Gesundheitsminister. Er hatte mehrere Jahrzehnte lang verschiedene Forschungsinstitute geleitet. Postojalko wurde seine erste Stellvertreterin. 

    Narodnaja Wolja zufolge war es eigentlich Postojalko, die die Linie des Ministeriums vorgab, auch wenn sie nur Stellvertreterin war. Sie tadelte die angesehensten Experten, und die Ministeriumsmitarbeiter achteten darauf, nur ja nicht aufzufallen. Als im März 2002 in Mahiljou eine akute Darminfektion ausbrach, war es nicht Ostapenko, sondern Postojalko, die damit drohte, alle zu entlassen. Damals wurden innerhalb von 48 Stunden 140 Kindergartenkinder hospitalisiert, über weitere 100 Kinder wurden ambulant behandelt, ohne dass das lokale Seuchenschutzzentrum den Grund für die massenhafte Vergiftung hätte ausfindig machen können.         

    Ende April 2002 berichtete die Narodnaja Wolja, Lukaschenko habe Ostapenko aus einer Sitzung geworfen und ihn wegen „erheblicher dienstlicher Versäumnisse, die sich in mangelhafter Ausführung der Dienstpflichten zeigten“, seines Amtes enthoben. Er war gerade mal ein halbes Jahr im Amt gewesen. „Nach der aufsehenerregenden Entlassung von Wladislaw Ostapenko hat es niemand eilig, seine Funktion zu übernehmen. Angeblich hoffen manche hochrangigen Ärzte inständig, dass man sie bloß nicht anfragen möge“, schrieb die Narodnaja Wolja Anfang Mai. 

    So trat Postojalko, die damals bereits im Rentenalter war, das Amt der Ministerin an. Wie enorm ihr Einfluss war, konnte man an der Entlassung von Alexander Kosulin sehen, der als Rektor der Belarussischen Staatlichen Universität (BGU) sehr beliebt gewesen war. Laut dem Politologen Alexander Feduta wollte Kosulin aus der Institution eine „Universität im klassischen Sinn“ machen, wofür es seiner Ansicht nach unbedingt eine Fakultät für Alternativmedizin brauchte. Diese zugegebenermaßen fragwürdige Idee (die Alternativmedizin ist wissenschaftlich nicht anerkannt) kam 1998 auf und wurde im darauffolgenden Jahr in die Tat umgesetzt. 

    Präsidentschaftskandidat Alexander Kosulin (Mitte) im Jahr 2006 auf dem Minsker Oktoberplatz / © Foto naviny.by
    Präsidentschaftskandidat Alexander Kosulin (Mitte) im Jahr 2006 auf dem Minsker Oktoberplatz / © Foto naviny.by

    Die Fakultät war Postojalko ein Dorn im Auge. „Diese Schlacht wirst du nicht gewinnen“, soll der Schriftsteller Jewgeni Budinas laut Feduta zu Kosulin gesagt haben. „Doch das war Alexanders wunder Punkt, er blieb stur, wollte nichts hören. ‚Keine Ahnung‘, sagte er, ‚ob sie sich mit Medizin auskennt, aber mit Hochschulbildung bestimmt nicht‘. Das sagte er leider nicht zu mir, sondern zur Ministerin, und zwar nicht zu irgendeiner, sondern einem Quasi-Familienmitglied. So etwas ist unverzeihlich, ein Sakrileg. Das Einzige, was er jetzt noch tun konnte, war zurückzurudern und sich mit allem einverstanden zu erklären.“ 

    Das verweigerte der Rektor. Im November 2002 erklärte der Vorsitz des Ministerrats die Ausbildung von Fachkräften für Heilkunde und Pharmazie an der Fakultät für Grundlagen- und Alternativmedizin der BGU für „nicht zielführend”. Formal wurde zum Anlass genommen, dass die Universität keine Lizenz zur Bildungstätigkeit in diesen Fächern habe. Die Fakultät wurde im Februar 2003 geschlossen, ohne dass die Studenten noch die Möglichkeit hatten, ihr Studium abzuschließen.                   

    Kosulins Schicksal wurde im November 2003 besiegelt. Er war ein paar Tage früher aus dem Urlaub zurückgekehrt, um sich ein klares Bild zu verschaffen. Inzwischen hatte er aus dem Fernsehen erfahren, dass ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet wurde – wegen Diebstahls von Gold in einer der Betriebsstätten der BGU. In der darauffolgenden Woche wurde der Rektor suspendiert. Einige Wochen später wurde die Anklage gegen Kosulin fallengelassen. Doch seine Suspendierung blieb bestehen. 

    Ljudmila Postojalko war bis 2005 Ministerin. Noch während ihrer Amtszeit wurde Alexander Kossinez Vizepremier für soziale Fragen, einschließlich Medizin. Feduta zufolge sei es Kossinez gelungen, Postojalkos Reformen ein wenig abzumildern und die belarussische Medizin zu retten. Konkrete Maßnahmen nennt er dabei nicht, aber vermutlich bezieht er sich darauf, dass Kossinez bei einigen von Postojalkos strittigen Vorschlägen auf die Bremse trat. Zum Beispiel wollte sie mehrere Forschungsinstitute auflösen, Patienten nur noch in den Bezirken ihrer Meldeadressen behandeln lassen und die Dauer von bezahlten Klinikaufenthalten und Krankenständen verkürzen. All das klang abenteuerlich und realitätsfern. Da ein hoher Prozentsatz der Belarussen nicht an der Meldeadresse wohnt, hätte das Hunderttausenden Menschen erhebliche Probleme beschert. 

    Lukaschenkos Söhne: Dmitri, Nikolai und Viktor (v. l. n. r.) bei der Parade zum Tag der Unabhängigkeit am 3. Juni 2020 in Minsk / © Foto Natalia Fedosenko/ Tass Publication/ Imago 

     

    Ein neuer Sohn 

    In den Nullerjahren ging die Beziehung zwischen Lukaschenko und Abelskaja auf und ab. „Einmal vertrug Irina einen Flug schlecht und stieg ganz grün im Gesicht aus dem Hubschrauber“, schrieben damals die Zeitungen. „Ihr war so übel, dass sie sich übergeben musste. Lukaschenkos Kommentar zum Zustand seiner Begleiterin war so schroff, dass seine Bodyguards sie beruhigen mussten … Im selben Jahr, 2005, herrschte er sie auf der berühmt-berüchtigten Präsidentenloipe so wirsch an, dass er damit sogar seine Minister vor den Kopf stieß.“ Trotzdem begleitete Abelskaja den Politiker überallhin: „Sie ist bei allen von Lukaschenkos Treffen mit hochrangigen Vertrauensmännern dabei. Irina Stepanowna sitzt immer neben ihm, und wenn Alkohol ausgeschenkt wird, achtet sie darauf, dass Alexander Grigorjewitsch stets ausschließlich Mineralwasser im Glas hat.“ 

    2004 kam Nikolai Lukaschenko zur Welt. Die russische Zeitung Kommersant schrieb, Abelskaja hätte Gerüchten zufolge versucht, auf dem Standesamt Lukaschenko als Vater anzugeben, ihr das aber verweigert worden sei. Erst 2007, fast drei Jahre nach der Geburt, wurde offiziell bestätigt, dass Lukaschenko ein drittes Kind hat. Am 12. April gab der Präsident eine Pressekonferenz. Auf die Frage, ob er seinen ältesten Sohn Viktor als seinen Nachfolger sehen würde, antwortete Lukaschenko, nicht seine zwei Erstgeborenen kämen dafür in Frage, sondern sein dritter Sohn: „Den Kleinsten werde ich zum Nachfolger erziehen“, sagte er. Dabei waren bis dahin nur zwei Söhne offiziell bekannt gewesen: Viktor und Dmitri. Beide hatte ihm seine offizielle Ehefrau Galina bereits vor seiner politischen Karriere geboren (soweit bekannt, ist diese Ehe bis dato nicht geschieden). 

    Ob Zufall oder nicht, diese Information kam nach zwei besonderen Ereignissen ans Licht: Im März 2007 war Ljudmila Postojalko gestorben. Und am 10. April 2007 wurde Abelskaja als Vorsitzende der Ärztekommission entlassen. Zuvor hatte sie einen Teilzeitjob in einer Ordination für Ultraschall angenommen, um in ihrer Verwaltungsfunktion die medizinische Qualifikation nicht zu verlieren und Dienstjahre als Ärztin zu sammeln. Nun blieb ihr nur noch dieser Job. 

    Zu guter Letzt kritisierte Lukaschenko sie auch noch, sagte, die Präsidialklinik müsse eine Vorreiterrolle einnehmen, medizinische Versorgung auf höherem Niveau bieten und den anderen ein Vorbild sein. Zwei Tage später bekundete er die Existenz eines dritten Sohnes. Offenbar musste erst die mutmaßliche Großmutter verstorben sein und die Mutter auf sichere Distanz gebracht werden, bevor er den Sohn der Öffentlichkeit präsentieren konnte. 

    Ein Jahr später, im April 2008, erschien Lukaschenko mit dem kleinen Nikolai beim Subbotnik (das war dessen erster öffentlicher Auftritt). Am selben Tag lief der Knirps vor dem Spiel von Papas Hockeymannschaft übers Eis. 2008 bestätigte der Politiker, dass die Mutter seines Sohnes Ärztin sei. Abelskajas Name wurde bisher jedoch nie offiziell genannt. Über Abelskajas beruflichen Werdegang nach dem Ausscheiden aus der Ärztekommission ist nicht viel bekannt. Es gab zwar Gerüchte, dass sie eine Weile Oberärztin im Sanatorium Belarus in Sotschi war, aber die wurden nie bestätigt. „Heute ist sie einfach Ultraschall-Ärztin in einem Minsker Diagnosezentrum“, schrieb 2009 Pawel Scheremet. „Man kommt nur per Überweisung zu ihr, in der Regel behandelt sie nur Männer. Im Diagnosezentrum heißt es, Irina Stepanowa arbeite schichtweise und fahre zwischendurch immer wieder nach Europa. Ihre Ordination hat keine Kontaktnummer. Man weiß nicht, wie viel Zeit sie mit Kolja verbringt, wenn er von den gemeinsamen Reisen mit Alexander Lukaschenko zurück in Minsk ist.“ 

    Immerhin durfte sie in ihrem Elitedomizil bleiben, einem kleinen Landhaus in Drosdy, das für hochrangige Beamte vorgesehen war. 

     

    Karriere-Sprünge 

    Zwei Jahre später war die Zeit der Ächtung plötzlich vorbei. 2009 kehrte Abelskaja als Chefin der Ärztekommission zurück und trat bei diversen medizinischen Konferenzen auf. Obwohl sie noch im Mutterschutz war, verteidigte sie 2004 – gerade mal einen Monat nach der Entbindung – erfolgreich ihre Dissertation am Institut für Onkologie und Strahlenmedizin zum Thema Strahlendiagnostik bei Osteochondrose an der Halswirbelsäule. 2011 beendete sie auch noch eine Habilitationsschrift, woraufhin ihr 2012 der Professorentitel verliehen wurde. 

    „Irina Stepanowa hat fünf Jahre an ihrer Dissertation gearbeitet“, sagte ihr Doktorvater Anatoli Michailow, Mitglied der belarussischen Akademie der Wissenschaften, gegenüber der Zeitung Narodnaja Wolja. „Als sie 2007 ihre Chefarzt-Stelle am Republikanischen Klinisch-Medizinischen Zentrum verließ, wandte sie sich der Praxis zu und bereitete ihre Dissertation vor. Sie hat vier Patente, ist Verfasserin von drei Monografien. In den größten russischen und belarussischen Fachzeitschriften wurden 60 wissenschaftliche Artikel von ihr veröffentlicht. Sie nahm an zwei staatlichen Programmen für Wissenschaft, Technik und Innovation teil. Sie hat unter anderem einen enormen Beitrag für die Bestimmung des Behinderungsgrades und die Entwicklung eines Therapieplans für Patienten geleistet.“     

    Nach Abelskajas Rückkehr wurde die Ärztekommission erneut vergrößert. Zu den sechs bestehenden Trakten kamen zwei weitere hinzu: ein Therapie- und Diagnosezentrum sowie eine Intensivstation mit Operationssälen. Hier stand das landesweit erste Computertomografie-Gerät von General Electric, das hohe Bildqualität bei geringer Strahlendosis liefert. Außerdem ein Magnetresonanztomograf, ein vollständig digitaler Röntgenapparat von Siemens und ähnliche Apparaturen. In dieser Klinik wurde zum ersten Mal in Belarus eine künstliche Aortenklappe eingesetzt, und auch die erste von einem Roboter durchgeführte Operation fand hier statt. 

    2018 zog die Ärztekommission nach Shdanowitschi. In den Bau der neuen Klinik flossen 100 Millionen Euro, nach zwei Jahren war sie schlüsselfertig. Die früheren Räumlichkeiten bezog das städtische Krankenhaus Nr. 2. Trotz ihrer hohen Positionen scheint Abelskaja recht zugänglich geblieben zu sein. So erzählt die Kulturwissenschaftlerin Julija Tschernjawskaja von ihrem Mann, dem Tut.by-Gründer Juri Sisser: „Er ließ sich damals in der Ärztekommission behandeln und operieren. Auf Irina Abelskaja hielt er große Stücke, er sagte, sie sei eine freundliche, liebe Frau, die täglich alle Patienten der Intensivstation besuchte.“  

    Warum hat Lukaschenko Abelskaja zur Senatorin gemacht und angefangen, sie in die öffentliche Politik einzubeziehen? 

    An Abelskajas Geburtstagswünsche 2010 auf der Intensivstation erinnerte sich auch der Schriftsteller Ryhor Baradulin, auch wenn er kein Freund von Lukaschenko war: „Abelskaja gratulierte mir mit einem Blumenstrauß, siebzehn Rosen. Sie wünschte mir gute Besserung, ich bedankte mich. Dank ihr wurde ich sehr gut betreut, alle kümmerten sich um mich – dafür bin ich ihr wirklich dankbar.“ Wenn Abelskajas Name in den Zehnerjahren in den Medien genannt wurde, dann vor allem im medizinischen Kontext. Im November 2020 war sie wenig überraschend eine der Verantwortlichen für den Umgang mit der COVID-19-Pandemie in der Oblast Minsk. 

    Doch allmählich trat sie immer öfter in einer anderen Rolle auf. Im Februar 2023 unternahm Lukaschenko einen Staatsbesuch in Simbabwe und nahm nicht nur seinen Sohn Nikolai mit, sondern auch Abelskaja. Im April 2023 empfing sie bereits die Gattin des Präsidenten von Simbabwe in der belarussischen Ärztekommission. Und sie leitete eine auf Anweisung von Lukaschenko gegründete Arbeitsgruppe zur Qualitätssicherung der medizinischen Versorgung.  

    Im Januar 2024 flog Abelskaja bereits allein nach Simbabwe und wurde dort vom Präsidenten und seiner Frau empfangen. Im Grunde waren das ihre ersten Schritte in der offiziellen Politik. Im April wurde sie Mitglied des Rats der Republik, des Oberhauses im belarussischen Parlament (ihre Kandidatur hatte offenbar den Segen der Staatsspitze). Im Juni besuchte Abelskaja ein Krankenhaus für Notfallmedizin in Witebsk, um die Qualität der medizinischen Versorgung dort zu überprüfen, woraufhin einige Angestellte entlassen wurden (unter anderem der Chefarzt, eine Oberschwester sowie die Leitung der Station für Anästhesie und Reanimation).      

    Warum hat Lukaschenko Abelskaja zur Senatorin gemacht und angefangen, sie in die öffentliche Politik einzubeziehen? „Er will seinen Beamten und Funktionären zeigen, dass er treue Gefährten nicht nur nicht im Stich lässt, sondern sie auch beruflich voranbringt“, meint Alexander Friedman Zerkalo gegenüber. „Wenn man sich die Liste der Personen ansieht, die es ins Repräsentantenhaus geschafft haben, dann kann man praktisch von allen sagen, dass sie sich irgendwann einmal besonders hervorgetan haben. Sie fielen positiv auf und wurden als Gegenleistung befördert. Bei Irina Abelskaja gibt es vieles, wofür Lukaschenko sich bedanken muss. Sie begleitet ihn quasi ihr ganzes Leben lang. Sie ist keine Skandalnudel, die seinen Ruf beeinträchtigen könnte. Sie ist mit ihrer Rolle und der Rolle ihres mutmaßlichen Sohnes einverstanden, wir haben nie gehört, dass sie dagegen protestiert hätte. Die ganze Zeit über hat sie so gelebt, gehandelt und gearbeitet, wie Lukaschenko das wollte. Also, wieso sollte er sich in so einem wichtigen Moment nicht mit dieser Ernennung erkenntlich zeigen?“ 

    Dabei wird Abelskaja, offenbar auf Geheiß von oben, immer aktiver. Stehen dahinter etwa weiterführende Pläne? Soll sie zum Beispiel bald den Rat der Republik leiten? „Klar, wenn Lukaschenko Natalja Kotschanowa zur Leiterin der Allbelarussischen Volksversammlung ernennt, dann muss sie im Rat der Republik jemand ersetzen“, mutmaßt Friedman. „Die eine Vertraute durch eine andere Vertraute zu ersetzen wäre durchaus Lukaschenkos Stil. Wenn dieser Fall eintritt, müssen wir unser Bild vom Lukascheno-Klan überdenken. Wenn Irina Abelskaja, die als Nikolais Mutter und Lukaschenkos Freundin gilt, einen verfassungsrechtlich so wichtigen Posten einnimmt, dann lässt sich daraus ableiten, dass der Klan tatsächlich langfristig an der Macht bleiben und sich zu diesem Zweck absichern will.“             

    Diese Meinung äußerte Friedman im März 2024. Seitdem hat Irina Abelskaja keine neuen Sprossen auf der politischen Karriereleiter erklommen. Aber das Leben der Ärztin, die Lukaschenko praktisch seit Beginn seiner Amtszeit begleitet, hält bestimmt noch einige Überraschungen bereit. 

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  • Ein Schweißer auf Abwegen

    Ein Schweißer auf Abwegen

    Das war der Stoff, aus dem Helden gemacht werden: Ein bekannter junger Regimekritiker wird festgenommen, indem das Flugzeug, in dem er sitzt, zur Landung genötigt wird. Roman Protassewitsch wurde so zum bekanntesten politischen Gefangenen des Regimes von Alexander Lukaschenko, das ihn auf die Liste gesuchter „Terroristen” gesetzt hatte. Sein Vergehen: Der damals 26-Jährige war zeitweise Chefredakteur von Nexta, einer digitalen Plattform, die während der Proteste 2020 in Belarus zu einem der wichtigsten Medien avancierte.    

    Dann aber bekam die Geschichte einen gewaltigen Knick. Was ist passiert? Für das russische Online-Portal Novaya Gazeta Europe geht die belarussische Journalistin Iryna Chalip der Verwandlung des Roman Protassewitsch nach. 

    Die Verhaftung von Roman Protassewitsch und seiner Freundin Sofia Sapega war filmreif: Am 23. Mai 2021 machte ein Flugzeug der Ryanair, das von Athen nach Vilnius flog und sich gerade in belarussischem Luftraum befand, auf Anweisung der Flugsicherung eine Notlandung in Minsk. Angeblich bestand Verdacht, ein Sprengsatz sei an Bord. Alle Passagiere durften später nach Vilnius weiterreisen, nur Protassewitsch und Sapega wurden festgenommen.  

    Der Westen reagierte prompt: Der einzigen belarussischen Fluggesellschaft Belavia wurden nicht nur Flüge nach Europa verboten, sondern auch das Durchqueren des EU-Luftraums. Auf europäischen Flughäfen tauchten Porträts von Roman Protassewitsch auf, an Minsker Balkonen hingen Plakate mit einem einzigen Wort: Roma. Und schließlich erschien Roman höchstselbst.  

    Am 14. Juni versammelten sich Journalisten zu einer Pressekonferenz über den Zwischenfall mit dem Flugzeug. Das Aufgebot der Redner konnte sich sehen lassen: Igor Golub, Kommandeur der belarussischen Luftstreitkräfte und Flugabwehr, Dmitri Gora, Vorsitzender des Ermittlungskomitees, Artjom Sikorski, Chef der Abteilung für den Flugverkehr im Transportministerium, Andrej Filatow, Leiter der Ersten Hauptverwaltung des staatlichen Grenzkomitees – und der verhaftete Protassewitsch. 

    Roman war gutgelaunt und optimistisch, sagte, keiner würde ihm was tun, seine Kooperation mit den Ermittlern sei absolut freiwillig, das Wichtigste sei für ihn, den Schaden wiedergutzumachen, den er als Chefredakteur von Nexta seinem Heimatland zugefügt habe, er fordere seine Eltern zur Rückkehr nach Belarus auf, denn hier seien sie vollkommen außer Gefahr.  

    Damals hätte niemand gewagt, Protassewitschs Auftritt zu verurteilen oder auch nur schief zu gucken: Der Mann war im Gefängnis, und alle kennen die Methoden, mit denen Schuldeingeständnisse, Zusammenarbeit mit den Behörden und Reuebekundungen erzielt werden. Zehn Tage später wurde bekannt, dass Protassewitsch und Sapega in den Hausarrest wechseln durften, nämlich in ein Landhaus im Grünen, das die Silowiki den beiden zur Verfügung stellten.

     

    Ein Mann zeigt ein Plakat mit dem Porträt von Roman Protassewitsch auf dem Marsch der Solidarität mit Belarus am 29. Mai 2021 in Krakau / © Foto Beata Zawrzel/ NurPhoto/ Imago 

    Ein erfolgloser Telegram-Kanal 

    Im darauffolgenden Sommer 2021 gab Roman Protassewitsch reihenweise Interviews für Propagandamedien, in denen er genüsslich erzählte, wer von den Oppositionellen im Exil heftig trinke, wer Geldprobleme habe und wer Orgien feiere. Er stellte Nexta-Gründer Stepan Putilo bloß, der Roman zufolge gar nichts gegründet und geleitet habe, sondern nur ein Großmaul sei. Seine Behauptungen, die Proteste von 2020 in Belarus hätten westliche Geheimdienste organisiert und finanziert, waren Musik in den Ohren der Propagandisten. Alexander Lukaschenko war begeistert von Protassewitschs „eisernen Eiern“. 

    Im August gründete Protassewitsch seinen eigenen Telegram-Kanal, auf dem er Insiderwissen und exklusive Details versprach. Er kündigte an, auf seinem Kanal werde es „keine Feindseligkeit, keine ungesicherten Informationen und keinen Platz für unverblümte Propaganda“ geben. Der Hintergedanke des Regimes lag somit offen. Wer in Belarus unter Hausarrest steht, hat kein Recht auf Kontakte und darf keine Kommunikationsmittel benutzen. Interviews für Propagandamedien sind allerdings eine Ausnahme, für die auch Gefängnisse ihre Tore öffnen. Doch wenn einer unter Hausarrest einen Telegram-Kanal gründet, bedeutet das, dass er damit eine Aufgabe erfüllt, die ihm jene stellen, die ihn verhaftet haben.            

    In Protassewitschs Fall ist alles klar: Er ist der berühmteste Häftling von Belarus (niemand wurde je mit einer erzwungenen Landung eines Flugzeugs und unter Begleitung eines Kampffliegers MiG-29 im Abfangmodus verhaftet), sein Foto ist in der ganzen Welt bekannt, alle machen sich Sorgen um ihn. Immerhin war er Chefredakteur von Nexta, das 2020 über Belarus hinaus auf der ganzen Welt eines der beliebtesten Medien war. Und auch diesmal würden alle Belarussen und die ganze progressive Menschheit Roman Protassewitschs Telegram-Kanal abonnieren. Das ist kein Propagandist wie Asarjonok mit seinen anderthalb Bauarbeitern, die ihm folgen, und das nur zum Spaß. Das ist eine echte Chance, staatliche Lügen in einem riesigen Publikum zu verbreiten.        

    Doch dazu kam es nicht. Die Hoffnung wurde enttäuscht. Roman Protassewitschs Kanal folgten gerade mal zweieinhalbtausend Abonnenten – offenbar aus Mitgefühl. Die überwiegende Mehrheit der Belarussen, auch jene, denen er leidtat, ignorierten seinen Versuch, ein „alternatives“ Medium zu gründen: die einen, weil sie davon ausgingen, dass er das sowieso alles unter Folter macht, die anderen, weil sie den wahren Sinn dahinter schon begriffen hatten und nicht einmal mit simplen Views daran beteiligt sein wollten.  

    Zumal gleich der erste Post davon handelte, dass die Befreiung politischer Häftlinge kein Märchen sei, sondern Realität, aber unter der Bedingung, dass sie ihre Schuld eingestehen und ehrlichen Herzens bereuen. Und davon, dass auf Lukaschenkos Schreibtisch bereits die Liste der Menschenrechtler, Journalisten und engagierten Bürger liege, die demnächst das Gefängnis verlassen würden. Darunter auch der Blogger Ihar Losik, der seine Schuld gestehe und bereue. (Übrigens befindet sich Ihar Losik seit zwei Jahren in völliger Isolationshaft, sodass er diese Meldung nicht einmal dementieren oder bestätigen kann.)  

    Generell sind angesichts der Tatsache, dass noch nie eine Journalistin oder ein Menschenrechtsaktivist ohne [Lukaschenkos – dek] „Anruf“ freigekommen ist, die Informationen auf Protassewitschs Telegram-Kanal keinen roten Heller wert. Das haben wohl auch die Erfinder des Plans mit diesem alternativen Medium kapiert, denn der Kanal ist längst verstummt. 

    Im Mai 2022 gingen sogar den paar Wenigen die Augen auf, die noch glaubten, Protassewitsch werde auf der Folterbank dazu gezwungen, Posts über die notwendige Reue vor dem Staat zu verfassen. Gerade mal drei Tage, nachdem Sofia Sapega wegen „Anstiftung zum sozialen Unfrieden“ zu sechs Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurde, sagte Roman sich von ihr los und publizierte einen Post mit dem Text: „Sonja wurde für ihre reale Tätigkeit verurteilt und nicht dafür, dass sie eine Beziehung mit mir hatte.“ Er beschrieb detailreich, wie Sapega den Telegram-Kanal Tschjornaja kniga Belarusi (dt. Schwarzbuch Belarus) betrieb, auf dem persönliche Daten von Silowiki veröffentlicht wurden: Er berichtete von Spam-Angriffen und Drohanrufen an Telefonnummern aus diesem „Schwarzbuch“ und von „Brandstiftungen und diversen anderen Aktionen“.  

    Überhaupt, schrieb Protassewitsch, sei er nicht mehr mit ihr zusammen, er habe geheiratet, und außerdem sei er politisch engagiert, während sie immer ganz direkt gegen die Silowiki agiert habe.  

    Apropos, auch Protassewitsch hatte inzwischen vor Gericht gestanden und war sogar zu acht Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden. Wobei er nicht inhaftiert wurde, sondern nach Hause gehen durfte. Zehn Tage später wurde er begnadigt. 

    Der letzte Verrat 

    Die Belarussen sind in den vergangenen Jahren zu einer Nation von Gefangenen geworden. Und haben vor allem eines verinnerlicht: Man darf sein Leben und seine Freiheit mit allen Mitteln verteidigen – man darf öffentlich Reue bekunden, Gnadengesuche schreiben, seine Schuld bekennen, gegen sich selbst aussagen. Nur eines darf man nicht: Man darf keine anderen Menschen preisgeben. Man darf nicht denunzieren. Man darf sich nicht durch Petzen freikaufen. Mit seinen Berichten auf Propagandasendern darüber, wer säuft, wer schnieft und wer in einer zu teuren Wohnung wohnt, hat Roman diese Grenze überschritten. Sein Post über Sofia nach dem Urteil gegen sie war sein letzter Verrat – danach hielt ihn endgültig niemand mehr für ein Opfer.          

    Wenn 2021 die Hochsaison des Bloggens war, so stand 2022 der Versuch im Vordergrund, Protassewitsch zum staatlichen Rechtsvertreter zu machen. Das Regime versuchte, ihn in der Wirtschaft einzusetzen, und im Januar 2022 wurde Roman, der offiziell noch unter Hausarrest stand, Mitarbeiter des regierungstreuen Zentrums Sistemnaja prawosaschtschita (dt. Systemische Menschenrechtsarbeit). 

    Zusammen mit „System-Kollegen“ begann er, eine Klage gegen die Fluggesellschaft Ryanair vorzubereiten und gleichzeitig seine ehemaligen Anhänger zu beschuldigen, den belarussischen Geheimdiensten die Informationen zu seinem Flug „gesteckt“ zu haben. Das Schicksal dieser Klage ist nicht bekannt, im Mai 2023 allerdings kommentierte Dmitri Beljakow, Direktor von Sistemnaja prawosaschtschita, Roman Protassewitschs Begnadigung durch Lukaschenko mit den Worten: „Wir sind sehr froh, dass unser Freiwilliger Roman Protassewitsch begnadigt wurde.“  

    Eigentlich hatten ein Jahr davor noch beide gesagt, dass Roman dort angestellt sei und nicht nur ehrenamtlich helfe. Aber egal, schon hatte die nächste Saison angefangen, und die vorige war wieder gescheitert, da Protassewitsch als staatlicher Rechtsschützer auch nicht wirklich „glänzte“. Also gaben sie ihm Helm und Visier und sagten: Du wirst jetzt Schweißer, du hast ja eh von nichts ‘ne Ahnung. 

    Als Schweißer in den Diensten der Propaganda tauchte Protassewitsch wieder öfter im belarussischen und russischen Fernsehen auf – bei Asarjonok, Sobtschak, Pridybajlo. Er erzählte, dass Schweißer in Belarus so viel verdienten, wie angehende IT-Fachkräfte nicht mal zu träumen wagten. Dass bei ihm in der Fabrik lauter starke, echte Männer arbeiteten, die viel schafften, viel verdienten und sich einen Dreck um Politik scherten.  

    Nach eineinhalb Jahren Stille holte Protassewitsch seinen verstaubten Telegram-Kanal wieder hervor und postete dort seine Urlaubsfotos aus den Emiraten: Seht alle her, ein einfacher belarussischer Arbeiter kann sich locker einen Urlaub in den Emiraten leisten, also, wer im Exil ist – beneidet uns. Wer in Belarus bleibt, schätzt bitte das, was ihr habt, und wer hinter Gittern sitzt – zeigt Reue!     

    Man muss ihm lassen, das Schweißer-Image zeigte in den ersten Wochen fast Wirkung: Protassewitsch bekam wieder Aufmerksamkeit. Aber nicht lange.              

    Fotos wie von Zauberhand 

    Das Problem mit den schlauen Köpfen der belarussischen Regierung ist, dass sie nicht über den nächsten Tag hinausdenken können, für übermorgen fehlt ihnen die Fantasie. Vom Schweißer haben sie genug gesehen, also widmen sie sich wieder wichtigeren Dingen. Aber so viel Aufwand, so viel Mühe, so viel Sendezeit, so viele Projekte – das schmeißt man doch nicht einfach weg, für nichts und wieder nichts.  

    Und da ließen sich Lukaschenkos Superköpfe einen schlauen Plan einfallen. Denn wer die Belarussen am allermeisten interessiert, um wen sie sich Sorgen machen und über wen sie mehr wissen wollen, das sind die politischen Häftlinge. Vor allem jene, die inkommunikado, also völlig isoliert, inhaftiert sind. Und wenn es Protassewitsch ist, der die Eisentür zur Gefängnisbaracke öffnet, dann kriegt eben er die Lorbeeren und die Aufmerksamkeit des Publikums, und alles, was er sagt, wird gierig verschlungen.  

    Der 12. November 2024 brachte dann eine Sensation: Die Belarussen bekamen ein Foto von Maria Kolesnikowa gezeigt, die seit 22 Monaten inkommunikado inhaftiert war. Der Kontakt zu ihr war im Februar 2023 abgerissen: Es kamen keine Briefe mehr, der Anwalt wurde nicht vorgelassen, und Frauen, die aus der Strafkolonie in Homel entlassen wurden, erzählten, Maria sei in eine Isolationszelle gesperrt worden und niemand habe sie gesehen. Es gab nur schreckliche Gerüchte, dass man sie verhungern lasse, sie wiege 45 Kilogramm. Im September veröffentlichte Kolesnikowas Schwester Tatjana Chomitsch auf Facebook die Forderung nach Nahrung und ärztlicher Versorgung für Maria. 

    Am 12. November 2024 konnten alle sehen, dass Maria am Leben ist. Roman Protassewitsch brachte ihren Vater in die Strafanstalt, und das Tor öffnete sich wie von Zauberhand. Der Schweißer wurde in das Gefängnis eingelassen und durfte Vater und Tochter fotografieren. Später nahm Roman im Auto ein Video auf, in dem Marias Vater sagt, sie habe ihm versprochen, über ein Gnadengesuch nachzudenken. Insofern wurden dank Protassewitsch nicht nur zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, sondern ein ganzer Fliegenschwarm. Inkommunikado? Ach was, der Papa war da, die Tür ging auf, alle sind happy. Maria wiegt nur 45 kg? Aber seht doch, wie rosig ihre Wangen sind. Ihr Anwalt hat sie zwei Jahre nicht gesprochen? Offenbar war er nicht sehr hinterher. Protassewitsch wurde ja auch reingelassen, dabei ist er für Kolesnikowa ein Niemand – nur so ein Schweißer. Dann noch dieses Versprechen, über ein Gnadengesuch nachzudenken: einfach nur Bingo.                          

    Am 8. Januar 2025 war Protassewitsch wieder in einer Strafkolonie, diesmal in Nowopolozk. Und veröffentlichte Fotos und Videos des ebenfalls seit fast zwei Jahren isolierten Viktor Babariko. Genau wie Kolesnikowa war Babariko im Februar 2023 verschwunden. Kein Anwalt, kein Brief, kein Anruf, keine Besuche. Doch dann kam Roman Protassewitsch, und die Türen gingen sperrangelweit auf. Und alle sahen, wie gut es Viktor Babariko geht, wie freundlich er lächelt und wie er überhaupt nicht aussieht wie einer, der hinter Mauern gemartert wird. In dem Video gratulierte er seiner Tochter und seiner Enkelin, und auf dem Foto sah man, wie er etwas schrieb.       

    Protassewitsch erklärte: Ich bin hier, um Babariko schöne Grüße von seinen Lieben zu überbringen und umgekehrt einen Brief von ihm mitzunehmen. Die Botschaft war klar: Ihr Menschenrechtler und Anwälte, ihr Journalisten und Politiker, internationale Gemeinschaft und Zivilgesellschaft, ihr seid alle Loser. Ihr habt in zwei Jahren nicht geschafft, was Roma Protassewitsch elegant und mühelos zuwege bringt: die Betonmauern zu durchbrechen. „Wir haben uns ziemlich lange unterhalten, haben gescherzt, sogar das eine oder andere Mal gelacht“, sagte Protassewitsch übermütig. Solche Töne schlugen früher gern die Erzieherinnen auf Pionierlagern an – glückliche Herrscherinnen über Trommel und Horn, für kleine Pioniere unerreichbar. Protassewitsch ist nun der Herrscher über den Zugang zu isolierten politischen Gefangenen, deren Angehörige in ihrem Unwissen seit zwei Jahren am Durchdrehen sind. 

    In Belarus wird nicht mehr darüber diskutiert, ob Protassewitsch trotzdem noch als Opfer gelten kann. Selbst die mit den weichsten Herzen haben zugegeben, dass die Opferstory an dem Punkt zu Ende war, als kübelweise Schmutz aus dem Fernsehen quoll. Einer, der auf allen möglichen Sendern genüsslich erzählt, wer von den Oppositionellen kokst, wer einen Preis abgeräumt hat und wer für den Geheimdienst arbeitet – der ist kein Opfer mehr. Die Belarussen sind in den letzten Jahren zu einer Nation von Häftlingen geworden. Sie sind nett zu Mithäftlingen und böse auf Verräter.  

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  • Wie viel Gulag steckt im russischen Strafvollzug?

    Wie viel Gulag steckt im russischen Strafvollzug?

    Menschenrechtler vergleichen das Strafvollzugssystem in Russland häufig mit dem sowjetischen Gulag. Anlass dazu bieten Folterskandale und Ideen des FSIN (Föderaler Strafvollzugsdienst), Häftlinge in Bauprojekten auszubeuten.  

    Das russische Onlinemedium Verstka erläutert, was FSIN und Gulag verbindet: Wie in der Sowjetunion einst Zwangsarbeitslager entstanden und inwieweit der Vergleich des damaligen Gulag mit heutigen Strafkolonien passt.  

    Eine Einführung in unseren neuen Themenschwerpunkt: Archipel Gulag-FSIN

    Illustration © Alissa Kananen / Verstka
    Illustration © Alissa Kananen / Verstka

    Das heutige russische Haftsystem des Föderalen Strafvollzugsdiensts FSIN ist gewissermaßen der Nachfolger des sowjetischen Gulag. Die Zahl der Inhaftierten war jedoch in den sowjetischen Gefängnissen deutlich höher als heute.  

    Laut Historikern sind insgesamt etwa 20 bis 25 Millionen Menschen seinerzeit durch den Gulag gegangen, zwei Millionen davon im Lager gestorben. Berechnungen des Instituts für Demografie der Higher School of Economics ergeben, dass im Gulag jeder 15. Häftling ums Leben gekommen ist.         

    Der Gulag war ein Netz aus rund 500 Lagerverwaltungen, dem jeweils Hunderte Zweigstellen und Zentren untergeordnet waren – insgesamt über 30.000. Am höchsten war die Zahl der Lagerhäftlinge im Jahr 1953 mit bis zu 2,6 Millionen. 

    Der Gulag-Überlebende und Schriftsteller Alexander Solschenizyn verarbeitete in seinem berühmten Werk „Der Archipel Gulag“ seine eigene Gulag-Erfahrung und die Erinnerungen Hunderter anderer Opfer der Repressionen.  

    Das heutige russische Strafvollzugssystem umfasst dagegen etwa 550 Strafkolonien (Stand 1. Januar 2023). Im Oktober 2023 verkündete Russlands Vize-Justizminister Wsewolod Wukolow, die Insassenzahlen in russischen Gefängnissen seien so gering wie nie zuvor. In den russischen Strafkolonien hätten sich zu dem Zeitpunkt 266.000 Personen befunden. Zehn Jahre früher seien es noch rund 700.000 gewesen.  

    Zwangsarbeit auf Großbaustellen 

    2021 stand erneut die Frage zur Diskussion, ob Gefängnisinsassen zu Bauarbeiten an der Baikal-Amur-Magistrale (BAM) herangezogen werden sollten. Damals bekundete der FSIN die Bereitschaft, in der Nähe großer Baustellen, auf denen Arbeitskräfte gebraucht werden, Arbeitslager zu errichten. Abgesehen von der BAM waren auch der Autonome Kreis der Nenzen, die Tajmyr-Insel (im Norden des Gebietes Krasnojarsk – dek), die Oblast Magadan und Norilsk als potenzielle Standorte für solche Lager im Gespräch.  

    Die Arbeitskraft von Gefangenen russischer Strafkolonien wird heute ohnehin genutzt, meist in der Leichtindustrie, etwa in der Herstellung von Berufskleidung. In manchen Kolonien nähen die Insassen auch Uniformen oder knüpfen Tarnnetze für das russische Militär in der Ukraine.  

    Olga Romanowa, Vorsitzende der Stiftung Rus sidjaschtschaja, nennt einige Faktoren, die das moderne Strafvollzugssystem vom Gulag „übernommen“ hat: die marode Infrastruktur in den Haftanstalten, das geringe Ausbildungsniveau des Personals, Intransparenz, vorsintflutliche Auffassungen vom Sinn einer Strafe sowie das Fehlen von Resozialisierungsprogrammen.               

    Heute jedoch hätten der administrative Druck auf die Verurteilten und die flächendeckende Missachtung ihrer Rechte nicht mehr nur das Ziel, sie im allgemeinen Interesse – zur Industrialisierung des Landes beispielsweise – einen Belomorkanal oder eine BAM bauen zu lassen. „Das ganze System ist so konstruiert, dass es die privaten, kommerziellen Interessen einer Personengruppe erfüllt, die ihre Gehälter aus dem Staatshaushalt beziehen“, erklärt Romanowa.   

    Zunehmende Repressionen 

    In modernen russischen Strafkolonien werden – genau wie früher in stalinistischen Lagern – Opfer politischer Repressionen gefangengehalten. Memorial zufolge waren in der UdSSR elf bis 11,5 Millionen Menschen von politischen Repressionen betroffen. 

    Das Menschenrechtszentrum setzt seine Zählung fort: Derzeit gelten 769 Personen als politische Gefangene (weitere 605 Personen werden verfolgt, sind aber nicht in Haft). 

    Als Wladimir Putin 1999 an die Macht kam, gab es in Russland nur einen einzigen politischen Gefangenen. Während Putins Amtszeit zählten Menschenrechtsaktivisten insgesamt 1500 politische Häftlinge. Die meisten politisch motivierten Verhaftungen gab es in Russland 2019. Seit Beginn des vollumfänglichen russischen Kriegs gegen die Ukraine 2022 nimmt der Frauenanteil unter den politischen Gefangenen deutlich zu, nämlich auf 27 Prozent.  

    Die Liste der Personen, die in Russland aus politischen Gründen verfolgt werden, sei allerdings nicht vollständig, so Memorial, weil die Einstufung als politischer Gefangener nach bestimmten Kriterien erfolge und eine gewisse Zeit in Anspruch nehme, weswegen viele noch „unsichtbar“ blieben.          

    „Wir bemühen uns, es jedes Mal überzeugend zu begründen und maximal objektiv nachvollziehbar zu machen, wenn wir jemanden als politischen Häftling anerkennen“, heißt es von Memorial. Die Untersuchung jedes Freiheitsentzugs, bei dem ein politisches Motiv vermutet wird, erfordere die Vorlage von Dokumenten und ausreichend Zeit. „Allein das Zusammentragen des Materials dauert oft schon ziemlich lange, vor allem, wenn die Ermittlungen und Verhandlungen geheim sind.“  

    Was FSIN und Gulag auf jeden Fall gemeinsam haben, seien Folterpraktiken in den Strafkolonien: Die Gefangenen würden physisch misshandelt und zu übermäßiger Arbeit gezwungen, ohne freien Tag und angemessene Vergütung.        

    Wie die UdSSR das Gulag entwickelte 

    Die Abkürzung Gulag steht für Glawnoje uprawlenije lagerej (dt. Hauptverwaltung der Lager) – eine Organisation dieses Namens wurde 1934 geschaffen, doch die Abkürzung ist in Dokumenten bereits ab 1930 zu finden. Die Entwicklung eines solchen Systems begann gar bereits viel früher, nämlich ab 1919.  

    Ab 1934 kontrollierte der Gulag – geleitet von Genrich Jagoda – praktisch alle Haftanstalten der Sowjetunion und war unmittelbar dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten unterstellt.  

    Bereits 1918 begannen die Revolutionsanführer Wladimir Lenin und Leo Trotzki, damals tatsächlich noch „Konzentrationslager“ genannte Gefangenenlager zu planen, in denen man die Arbeitskraft der „Klassenfeinde“ nutzen wollte. Am 15. April 1919 wurde der Beschluss zur Schaffung von Zwangsarbeitslagern gefasst, und bereits im darauffolgenden Jahr entstand am Weißen Meer das erste Lager des zukünftigen Gulag. 

    1929 wurde die bisherige Unterteilung in Lager für politische und kriminelle Häftlinge aufgehoben, sie wurden in einem gemeinsamen System vereint. Im Zuge der Kollektivierung und Industrialisierung wuchs dieses Lagernetz : Allein in den ersten Monaten der Kollektivierung der Landwirtschaft wurden rund 60.000 „Kulaken“ inhaftiert. 

    Zusätzliche Lager wurden nach Möglichkeit dort errichtet, wo Arbeitskräfte gebraucht wurden: in den Goldminen am Fluss Kolyma, am Bau des Belomorkanals zwischen dem Weißen und dem Baltischen Meer und am Bau der Baikal-Amur-Magistrale. An dieser Eisenbahnstrecke entstand 1932 das BAMlag, dessen Insassen 190 Kilometer Schienen verlegten, die die BAM mit der Transsibirischen Magistrale verbanden. 

     

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    Werden die Repressionen in Belarus nun nachlassen?

     

    „Lukaschenko hat heute eine Wahlfarce veranstaltet, und wir fliegen mit der Person nach Brüssel, die wirklich zum Präsidenten gewählt wurde. Frau Präsidentin, herzlich willkommen.“ Das sagte der polnische Außenminister Radosław Sikorski am Abend des 26. Januar 2025 kurz vor seinem Flug in die belgische Hauptstadt. Seine Begleitung: Swetlana Tichanowskaja. In Belarus hatte sich der Langzeit-Diktator gerade zum Sieger einer Pseudo-Wahl küren lassen. 

    Gab es bei dieser Scheinwahl überhaupt Überraschungen? Unter welchen Bedingungen fand die Wahl-Inszenierung statt? Konnte die Demokratiebewegung im Exil in irgendeiner Form profitieren? Wird das Regime die Repressionen nun abmildern? 

    Auf diese und andere Fragen antwortet die belarussische Politologin Victoria Leukavets vom Stockholm Centre for Eastern European Studies (SCEEUS).

    Eine Gruppe junger Leute passiert ein Plakat, das die „Präsidentschaftswahlen” in Belarus bewirbt. Oktoberplatz, Minsk / © Foto IMAGO / ITAR-TASS Vladimir Smirnov

     

    dekoder: Was sagt das offizielle Ergebnis bei den Scheinwahlen aus? 

    Victoria Leukavets: Das Ergebnis von 86,82 Prozent, das sich das Regime selbst zuerkannt hat, zeigt den völligen Mangel an Glaubwürdigkeit und den zutiefst undemokratischen Charakter der Wahl. Schließlich hat das Regime die Gesellschaft in den vergangenen Jahren mit schrecklichen Repressionen überzogen. Eine solche Zahl deutet eindeutig darauf hin, dass die Wahl manipuliert wurde und das Ergebnis im Voraus feststand. Dies ist typisch für autoritäre Regime, in denen die offiziellen Ergebnisse von jeglichem echten Wahlprozess abgekoppelt sind. 

    Gab es tatsächlich keinerlei Überraschungen? 

    Die wahre Überraschung wäre, wenn die Wahl fair verlaufen wäre. Da es keine legitime Opposition gab und abweichende Meinungen unterdrückt wurden, war diese Wahl alles andere als frei und fair. Die Vorstellung, dass es „keine Überraschungen“ gab, zeigt nur, wie gründlich das System manipuliert ist.

    Wie sehen diese Manipulationen aus?

    Unter der Herrschaft von Aljaksandr Lukaschenka, der seit über drei Jahrzehnten an der Macht ist, wurden Oppositionelle systematisch zum Schweigen gebracht, entweder durch Inhaftierung, Exil oder Einschüchterung. Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen unterliegen mittlerweile strengen Beschränkungen, so dass die Wähler keinen Zugang zu alternativen Meinungsäußerungen hatten. Darüber hinaus mangelte es dem Wahlprozess an Transparenz und Fairness, es gab weit verbreitete Wahlmanipulationen und staatliche Kontrolle über die Wahlergebnisse. In einem solchen Umfeld, in dem echte Wahlmöglichkeiten und demokratische Grundsätze unterdrückt wurden, waren diese Wahlen weder frei noch rechtmäßig. 

    Die Parlamentswahlen Anfang 2024 fanden bereits unter enormen Sicherheitsvorkehrungen statt – wie sah es diesmal aus? 

    Es ist sehr wahrscheinlich, dass sowohl Schüler der Oberstufe als auch Studenten ideologisch geschult wurden, um auf die bevorstehenden Wahlen eingeschworen zu werden. Eine ähnliche Praxis gab es bereits vor den Wahlen 2020, und es wird erwartet, dass sie sich nach den Protesten von 2020 noch intensiviert hat. Der Staatssekretär von Lukaschenkas Sicherheitsrat, Aljaksandr Wolfawitsch, hat versucht, die Gesellschaft in Angst und Schrecken zu versetzen. Er hat vor möglichen Provokationen im Zusammenhang mit den Wahlen gewarnt. Die Staatsmedien und die „alternativen“ Kandidaten führten eine gedämpfte Agitationskampagne, vermieden Kundgebungen und Kritik an den Mitbewerbern. 

    Ab dem 20. Januar wurden die Miliz und die Truppen des Inneren in Erwartung der Wahl am 26. Januar rund um die Uhr in einen verstärkten Einsatzmodus versetzt. Mobile Einsatzteams, ausgerüstet mit Maschinenpistolen, waren zur Unterstützung in den Wahllokalen eingesetzt. Die vorzeitige Stimmabgabe begann am 21. Januar. Wjasna berichtete, dass die Belarussen gezwungen wurden, vor den Wahlen ein Dokument zu unterzeichnen, in dem sie sich verpflichteten, nicht zur Machtergreifung aufzurufen. Vor dem finalen Wahltag war von den Behörden angekündigt worden, dass der Zugang zu Webseiten in Belarus aus dem Ausland blockiert werde. 

    Welche Rolle haben Lukaschenkas Mitkandidaten gespielt? 

    Dieses Mal hat die Zentrale Wahlkommission nur regimetreue Kandidaten zugelassen. Insgesamt wurden fünf Kandidaten registriert – Lukaschenka selbst und Hanna Kanapazkaja – eine regimetreue Kandidatin – traten als Unabhängige an. Die anderen drei Kandidaten gehörten regimefreundlichen Parteien an: der Kommunistischen Partei, der Liberaldemokratischen Partei von Belarus und der Republikanischen Partei für Arbeit und Gerechtigkeit. Diese streng kontrollierte Kandidatenliste ließ wenig Raum für echten Wettbewerb und sicherte Lukaschenkas anhaltende Vorherrschaft.

    Die Spoiler-Kandidaten spielten für das Regime eine entscheidende Rolle, indem sie die Illusion eines politischen Wettbewerbs erzeugten und gleichzeitig die Macht der Herrschenden sicherten. Ihre Präsenz trug dazu bei, die das Bild als Mehrparteiensystems zu stärken, und vermittelte die Illusion einer Wahlmöglichkeit. In Wirklichkeit trugen diese Kandidaten jedoch dazu bei, die Legitimität der Wahlen aufrechtzuerhalten, die streng kontrolliert und manipuliert wurden, um jede ernsthafte Herausforderung der Regierung zu verhindern. 

    Im Vorfeld der Wahlen tourte ein „Marathon der Einheit“ durch das Land – eine Propagandashow mit Musikern, Kinderunterhaltung und Auftritten von Propagandisten. Einheit ist ein zentrales Konzept in Lukaschenkos Propaganda: Was verbirgt sich dahinter? 

    Der Marathon der Einheit war ein groß angelegtes soziales und kulturelles Ereignis, das am 17. September 2024 begann und sich über wichtige Städte und Regionen in ganz Belarus erstreckte. Er wurde bis zu den Wahlen fortgesetzt und fand seinen Höhepunkt in einem großen Konzert und einer Reihe von Aktivitäten in der Hauptstadt Minsk. Die Veranstaltung umfasste eine Vielzahl von Programmpunkten, wie beispielsweise die Vortragsreihe KEINE langweilige Vorlesung, Stadtspaziergänge mit dem Titel Das ist alles mein Geburtsland, Ausstellungen wie Belarus. Takeoff und Souveränes Belarus, eine mobile Ausstellung des Belarussischen Staatlichen Museums für die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges und eine Konzertreihe mit dem Titel Die Zeit hat uns erwählt.  

    Das Lukaschenka-Regime nutzte diesen Propaganda-Marathon, um Einigkeit zu demonstrieren und zu zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung hinter seiner Führung steht. Einige Veranstaltungen im Programm zielten ausdrücklich darauf ab, den Staat als gegensätzlich zu den demokratischen Kräften im Exil zu sehen. So wurde in der Ausstellung Parallelwelten der belarussische Staat als Symbol für positive Entwicklung und Fortschritt dargestellt, während die Opposition für Zerstörung und Verfall steht. 

    Plakat an einer Bushaltestelle mit den Kandidaten und ihren Wahlprogrammen / © Foto Gazetaby.com  

     

    Hat Lukaschenkos Staat außer Propaganda-Slogans irgendwelche konkreten Ideen für die Zukunft?   

    Eines der Schlüsseldokumente ist das Konzept für die sozioökonomische Entwicklung, das in sowjetischer Tradition als Fünfjahresplan konzipiert ist. Im Dezember letzten Jahres wurde ein Konzeptentwurf für das die Jahre 2026–2030 erstellt, der dem Ministerrat im Frühjahr vorgelegt werden soll. In dem Entwurf werden mehrere Prioritäten genannt: 1. Technologischer Aufschwung – Sicherung der Souveränität in strategisch wichtigen Branchen, insbesondere durch den Einsatz künstlicher Intelligenz. 2. Investitionsmanöver – die Priorisierung von Investitionen in Projekte mit hohem Multiplikatoreffekt. 3. Humanressourcen der Zukunft  – die Entwicklung von Humankapital, um den Anforderungen der digitalen Wirtschaft gerecht zu werden. 4. Proaktiver Export – die Ausweitung des Handels und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit aufstrebenden Märkten in Südostasien, dem Nahen Osten, Afrika und Lateinamerika. 5. Regionalentwicklung – die Schaffung umweltfreundlicher, gut entwickelter Regionen mit hohem Lebensstandard. 

    Diese Ziele mögen erstmal vernünftig klingen, aber sie stehen nur auf dem Papier und adressieren die aktuell drängenden Probleme von Regime und Land. Das Konzept ist also dazu da, die Gesellschaft zu beruhigen und sie hinter sich zu scharen. In der Praxis wird jedoch eine der dringlichsten Herausforderungen und künftigen Ziele für das Lukaschenka-Regime darin bestehen, seine Souveränität zu bewahren und eine stille Übernahme durch Russland in allen Bereichen – Kultur, Wirtschaft, Militär und Politik – zu verhindern. 

    Konnte die Demokratiebewegung im Exil in irgendeiner Weise von den Wahlen profitieren? 

    Die Demokratiebewegung hat die „Wahlen” vor allem genutzt, um das internationale Bewusstsein für die Lage in Belarus zu schärfen und auf die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen. Am Wahltag gab es in Warschau eine Großdemonstration, eine Konferenz mit dem Titel Belarussen haben Besseres verdient und hochrangige Gespräche am Rande des Rates für Auswärtige Angelegenheiten in Brüssel. Das Europäische Parlament hat bereits eine Resolution verabschiedet, die die EU dazu aufruft, die Wahlen in Belarus nicht anzuerkennen. Mit großer Sicherheit werden weitere nationale Parlamente dieser Resolution folgen. 

    Seit letztem Sommer sind über 240 politische Gefangene freigelassen worden – von Kalesnikawa und Babaryka gab es Lebenszeichen. Wie können diese Zeichen gedeutet werden? 

    Das Regime verfolgt mit dieser Politik möglicherweise mehrere Ziele. Innenpolitisch ging es Lukaschenka womöglich darum, die Spannungen innerhalb der belarussischen Gesellschaft im Vorfeld der Wahlen zu verringern. Darüber hinaus könnte er auch versuchen, den Dialog mit dem Westen wieder aufzunehmen. Seine Bemühungen um eine subtile Liberalisierung könnten als Versuch gewertet werden, den westlichen Ländern zu signalisieren, dass er für Verhandlungen offen ist, insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Lockerung oder Aufhebung der Sanktionen.  

    Außerdem könnte Lukaschenka seine Aussichten auf einen Dialog mit dem Westen in einem breiteren regionalen Kontext sehen. Angesichts der sich möglicherweise anbahnenden Verhandlungen über einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine verfolgt er diese Entwicklungen genau und kalkuliert ihre Auswirkungen. Möglicherweise geht er davon aus, dass Verhandlungen über die Ukraine unvermeidlich sind, und sein Handeln könnte ein frühzeitiger Versuch sein, sich auf eine mögliche Veränderung der regionalen Gegebenheiten vorzubereiten. 

    Viele fragen sich: Werden die Repressionen nach der Scheinwahl nachlassen?  

    Es ist höchst unwahrscheinlich, dass das Regime wirklich eine Liberalisierung oder eine Annäherung an den Westen anstrebt. Stattdessen wird sich das Lukaschenka-Regime mit ziemlicher Sicherheit darauf konzentrieren, die Kontrolle über die Lage im Land zu behalten, wobei die Wahlen nur einer von vielen Schritten in diesem Prozess waren. Tatsächlich könnte sich die Phase nach den Wahlen als noch kritischer erweisen als die Wahlen selbst, wie frühere Wahlzyklen gezeigt haben. Historisch gesehen ist die Zeit nach den Wahlen die Zeit, in der das Regime mit seinen größten Herausforderungen konfrontiert ist, mit möglichen Unruhen oder Versuchen, seine Macht in Frage zu stellen. In Anbetracht dessen ist Lukaschenkas Vorgehen eher Teil einer strategischen Bemühung, die Situation zu stabilisieren und dadurch sicherzustellen, dass jeglicher Dissens sowohl während als auch nach den Wahlen schnell eingedämmt wird. 

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  • Podcast mit dem ZOiS: Scheinwahlen in Belarus

    Podcast mit dem ZOiS: Scheinwahlen in Belarus

    Noch bis zum 26. Januar 2025 hält das Lukaschenko-Regime in Belarus „Präsidentschaftswahlen“ ab. Ohne transparente Formen der Wahlbeobachtung, ohne unabhängige Medien-Berichterstattung, ohne nennenswerte Konkurrenz, ohne die Möglichkeiten für Exil-Belarussen zu wählen oder zu kandidieren. Währenddessen sind Repression und Verfolgung im Land allgegenwärtig. Die sogenannten „Wahlen“ sind offensichtlich inszeniert statt demokratisch.  

    Und doch ist Amtsinhaber Lukaschenko bemüht, die Inszenierung aufrechtzuerhalten. Warum? 

    Ein Roundtable-Podcast des Zentrums für Osteuropa und internationale Studien (ZOiS) mit dekoder-Redakteur und Belarus-Experte Ingo Petz und den Wissenschaftlerinnen Nadja Douglas und Nina Frieß über die politischen Hintergründe der vorgezogenen „Wahlen“, darüber, wie europäische Staatsführungen mit der Inszenierung umgehen können und welche Rolle Lukaschenko in möglichen Verhandlungen über ein Kriegsende spielen könnte.

    ZOiS-Podcast #Roundtable_Osteuropa abonnieren:

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  • „I can almost hear the birds”

    „I can almost hear the birds”

    Zehntausende Menschen wurden bis November 1943 in Maly Trostenez erschossen oder in Gaswagen erstickt, darunter vor allem Juden aus dem Minsker Ghetto sowie aus mitteleuropäischen Städten wie Wien. Auschwitz, Bergen-Belsen oder Treblinka sind fester Bestandteil der Erinnerungskultur rund um die mörderische Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten. Das kleine Dorf Maly Trostenez nahe der belarussischen Hauptstadt Minsk mit seinem Wald Blagowschtschina ist als NS-Vernichtungsstätte weniger bekannt. Der belarussische Fotograf Maxim Sarychau hat sich auf den Weg gemacht, um Maly Trostenez im kollektiven Bewusstsein zu verankern. In seinen Bildern für das Projekt I can almost hear the birds visualisiert er die Auswirkungen und Spuren des Massenmordes, indem er Vergangenes und Gegenwärtiges verbindet.  

    Fragment eines offiziellen Denkmals, 2018 errichtet im Wald von Blagowschtschina, 74 Jahre nachdem die Massenmorde bekannt wurden. Das Denkmal ist das Ergebnis einer belarussisch-österreichisch-deutschen Kooperation, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau
    Fragment eines offiziellen Denkmals, 2018 errichtet im Wald von Blagowschtschina, 74 Jahre nachdem die Massenmorde bekannt wurden. Das Denkmal ist das Ergebnis einer belarussisch-österreichisch-deutschen Kooperation, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau

     

    dekoder: Wie entstand die Idee zu dem Projekt I can almost hear the birds

    Maxim Sarychau: Alles begann mit der Idee, eine Reportagen-Serie zu Maly Trostenez zu machen, die wir 2017 gemeinsam mit der österreichischen Journalistin Simone Brunner im Rahmen des Stipendiums Reporters in der the Field verwirklicht haben. Wir brachten eine Reihe von Beiträgen in deutschsprachigen Publikationen in Österreich und Deutschland heraus. Das Thema hat mich mit seiner historischen und politischen Vielschichtigkeit nicht mehr losgelassen, ich wusste, dass ich weiter daran arbeiten und ein Kunstprojekt dazu machen will, das von den Ereignissen in Maly Trostenez in der Sprache zeitgenössischer Fotografie erzählt. 

    Wann und wie sind Sie persönlich auf die Geschichte von Maly Trostenez gestoßen?  

    Zu meiner Schulzeit haben wir nichts über Maly Trostenez gelernt. In Geschichte nahmen wir den Holocaust nur flüchtig durch, im Kontext des Zweiten Weltkriegs, wobei der Fokus immer auf den Opfern der sowjetischen Bevölkerung lag: die verbrannten Dörfer, der heldenhafte Kampf der Partisanen, der sowjetischen Armee und so weiter. Die Todeslager waren irgendwo „weit weg“ in Europa, und ich hatte keine Ahnung, dass einer dieser schrecklichen Orte mitten in Minsk liegt, meiner Heimatstadt. 

    Als ich 2015 Maly Trostenez zum ersten Mal mit einer Exkursion besuchte, war ich erschüttert von dem Kontrast, den ich dort sah und hörte. In den 70 Jahren, in denen sich Stadt und Natur weiterentwickelt hatten, waren sämtliche Spuren dessen, was hier geschehen war, verschwunden. Die Führung erinnerte an eine Pfadfinderwanderung: Man zeigte uns die schöne Natur- und Stadtlandschaft und erzählte gleichzeitig von den grausamen Methoden des Massenmords. Das Verborgene und Unsichtbare der Geschichte, wo doch jeder Stein von ihr erzählen sollte, wurde zu einem der Konzepte und Themen meines Projekts. 

    Für das Projekt haben Sie Verwandte von Todesopfern in Maly Trostenez getroffen. Wie haben die auf Ihr Projekt reagiert? 

    Von den Angehörigen der Opfer habe ich nicht direkt Feedback zur Ausstellung selbst, da sie nur an zwei Orten gezeigt wurde: im Lettischen Museum für Fotografie in Riga (2020) und in einer gekürzten Version in der digitalen KX- Galerie in Brest (2021). Aber während der Arbeit am Projekt habe ich mit einigen Angehörigen gesprochen, und sie waren alle interessiert daran, die Geschichten ihrer Verwandten, die in Maly Trostenez umgekommen sind, zu erzählen und waren sehr offen, wofür ich sehr dankbar bin. Die jetzige Ausstellung ist die finale Form des Projekts. Sie ist relativ umfangreich, und wenn man den Rezensionen glauben darf, bringt sie die Idee gut rüber. Im Moment habe ich keine Kraft, nach Räumen oder Institutionen zu suchen, die sie noch zeigen könnten, aber ich hoffe, dass sich mit der Zeit etwas ergibt. 

    Was hat es mit dem Titel auf sich: I can almost hear the birds

    2017 besuchte ich das Waldstück Blagowschtschina, den Ort mit den meisten Erschießungsplätzen und Gräbern. Es war ein wunderschöner warmer Sommertag. Ich stand mitten in einem Märchenwald, umgeben von Pflanzen und Vogelgezwitscher. Und wieder war ich erschüttert von der Diskrepanz zwischen der Schönheit der Umgebung, der Ruhe des Ortes und dem, was hier 1942/43 geschehen ist. Als ich dann das Reisetagebuch von Vienna Duff las, die in Maly Trostenez ihre damals 22-jährige Großtante Adele Steiner verloren hat, fiel mir sofort ein Satz ins Auge, weil er so genau wiedergab, was ich an diesem Ort gefühlt hatte: „I can almost hear the birds, feel the gentle sunshine and breeze and sense the presence of the tall, straight pine trees as I write these words.“ 

    Welche ästhetischen Überlegungen leiteten Sie bei der Visualisierung?  

    Vom Konzept her habe ich hier mit der Unsichtbarkeit gearbeitet, die sich aufdrängt, von welcher Seite auch immer man auf die Vernichtungsstätte Trostenez schaut. Angefangen bei den naturgegebenen Vorgängen – der Natur und der Zeit, der Transformation der europäischen Städte, in denen die Opfer vor der Deportation gelebt haben, bis hin zu den verdeckten Mechanismen der Spezialoperation der Nazis und der Manipulation des historischen Gedenkens an diesem Ort. 

    Wir reagieren alle unterschiedlich stark auf fremdes Leid, das ist normal. Ich fühle mich zum Beispiel nicht bereit, nach Auschwitz zu fahren, um etwas zu begreifen oder zu erspüren. Das könnte eine traumatische Erfahrung sein. Bei diesem Projekt versuche ich, in der Sprache der Kunst über den Holocaust zu sprechen, ohne unmittelbar Bilder von Gewalt zu zeigen oder zu verwenden, sondern indem ich dem Zuschauer aus sicherer Distanz einen Raum für Reflexion und Anteilnahme anbiete. Anstatt zu rekonstruieren oder zu erklären, was in Maly Trostenez geschehen ist, versuche ich mich durch das Mittel der Dokumentarfotografie dem Geschehen anzunähern. Ich sammele visuelle Artefakte und Motive auf verschiedenen Ländern, Epochen, Institutionen und Archiven, die ich dem Publikum präsentiere. Damit möchte ich Fantasie und Einfühlungsvermögen anregen und eine neue Erfahrung ermöglichen. Ich gebe Hilfestellung und lade ein, einen eigenen Weg zu gehen bei dem Versuch, ins Dickicht von Blagowschtschina zu blicken. 

     

    Nicht identifizierter Knochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Aufschüttung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Nicht identifizierter Knochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Aufschüttung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Der Fluss Trostjanka, an dem das Dorf Maly Trostenez gelegen ist. Das Dorf wurde von den Nazis genutzt, um Lebensmittel zu produzieren und SS-Einheiten mit Essen zu versorgen. Es war auch ein militärischer Unterstützungspunkt, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Der Fluss Trostjanka, an dem das Dorf Maly Trostenez gelegen ist. Das Dorf wurde von den Nazis genutzt, um Lebensmittel zu produzieren und SS-Einheiten mit Essen zu versorgen. Es war auch ein militärischer Unterstützungspunkt, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Yael Kurzbauer im Wald von Blagowschtschina. Sie verlor ihre Urgroßmutter Sofie Tauber (47) und all deren Kinder: Ruth (14), Joseph (13), Erich (11) und Sonia (10), Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Foto vom Wald von Blagowschtschina, aufgenommen von der Staatlichen Sonderkommission, die die Vernichtungsstätte seit dem 14. Juli 1944 untersuchte (zwei Wochen nach der Befreiung von Belarus durch die Rote Armee). Markierungen und Beschriftungen wurden von der Kommission gemacht. Lettisches Nationalarchiv, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau
    Foto vom Wald von Blagowschtschina, aufgenommen von der Staatlichen Sonderkommission, die die Vernichtungsstätte seit dem 14. Juli 1944 untersuchte (zwei Wochen nach der Befreiung von Belarus durch die Rote Armee). Markierungen und Beschriftungen wurden von der Kommission gemacht. Lettisches Nationalarchiv, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau

    Legende zum Bild: Kreuzung 

    1. Die Straße zum Erschießungsplatz  

    2. Erschießungsplatz 

    3. Die Stelle, an der das Auto mit den Gefangenen anhielt. 

    4. Aufenthaltsorte der Strafeinheiten 

    5. Die Stelle, wo Albert Saukitens jeden Morgen Stellung bezog. Saukitens war ein lettischer Kollaborateur, der an den Massenerschießungen beteiligt war.  

     

    Aufgang zu Gleis 17 am Bahnhof Grunewald in Berlin, von wo aus Züge mit Menschen Richtung Osten abfuhren. Seit 1998 ist dies eine Gedenkstelle. Die Wahl fiel seinerzeit auf den abseits gelegenen Bahnhof am Stadtrand von Berlin, um die langen Schlangen mit Juden zu verbergen, die auf den Abtransport warteten, Berlin 2019 / © Foto Maxim Sarychau
    Aufgang zu Gleis 17 am Bahnhof Grunewald in Berlin, von wo aus Züge mit Menschen Richtung Osten abfuhren. Seit 1998 ist dies eine Gedenkstelle. Die Wahl fiel seinerzeit auf den abseits gelegenen Bahnhof am Stadtrand von Berlin, um die langen Schlangen mit Juden zu verbergen, die auf den Abtransport warteten, Berlin 2019 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Wald von Blagowschtschina, Minsk2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Wald von Blagowschtschina, Minsk2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Eingang des Wohnhauses Wollzeile 9 in Wien, eine der so genannten „Sammelwohnungen”, in denen mehrere Familien gezwungen wurden, zusammen auf sehr engem Raum zu leben. Diese Wohnungen entstanden im Rahmen der Zwangsumsiedlung von Juden im Rahmen der antijüdischen Wohnungsgesetze in Wien. Als 1941 die Deportationen begannen, waren sie für viele Juden vor der Deportation oft die letzte offizielle Adresse. 
    In diesem Haus wohnten mindestens elf Personen – deportiert und in Maly Trostinez umgebracht wurden: Johanna Kulka (52), Johanna Mahler (42), Elsa Friedmann (60), Emil Friedmann (59), Spitz Alice (40), Adolf Mahler (63), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Vienna Duff (57) verlor ihre Großtante mütterlicherseits Adele Steiner (22).   „Während ich diese Worte schreibe, höre ich beinahe die Vögel, fühle die sanfte Sonne und atme und spüre die Anwesenheit der hohen, geraden Kiefern.” Aus einem Tagebuch von Vienna während ihrer Gedenkfahrt nach Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Vienna Duff (57) verlor ihre Großtante mütterlicherseits Adele Steiner (22). „Während ich diese Worte schreibe, höre ich beinahe die Vögel, fühle die sanfte Sonne und atme und spüre die Anwesenheit der hohen, geraden Kiefern.” Aus einem Tagebuch von Vienna während ihrer Gedenkfahrt nach Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Hüftknochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Böschung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Hüftknochen. Gefunden in der Nähe einer künstlichen Böschung im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Mitglieder der Staatlichen Sonderkommission untersuchen eine Leiche auf dem Gebiet der Vernichtungsstätte. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau
    Mitglieder der Staatlichen Sonderkommission untersuchen eine Leiche auf dem Gebiet der Vernichtungsstätte. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Die Anthropologin Olga Emeljantchik während ihrer Arbeit im Lagerraum der Akademie der Wissenschaften von Belarus beim Identifizieren menschlicher Überreste, gefunden in Maly Trostenez, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau
    Die Anthropologin Olga Emeljantchik während ihrer Arbeit im Lagerraum der Akademie der Wissenschaften von Belarus beim Identifizieren menschlicher Überreste, gefunden in Maly Trostenez, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Wohnhaus Alser Str. 41, in dem Valerie Rören (57) vor dem 5. Oktober 1942 lebte, als sie nach Maly Trostenez deportiert und dort am 9. Oktober 1942 ermordet wurde, Wien 2020 / © Foto Maxim Sarychau
    Wohnhaus Alser Str. 41, in dem Valerie Rören (57) vor dem 5. Oktober 1942 lebte, als sie nach Maly Trostenez deportiert und dort am 9. Oktober 1942 ermordet wurde, Wien 2020 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Susanne Scholl (71) verlor ihre Großeltern mütterlicherseits in Maly Trostenez: Rudolf Werner (59) und Emilie Werner (59), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Blumen und Steine, die die Gedenkstätte im Wald von Blagowschtschina bei der Eröffnung schmückten, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau
    Blumen und Steine, die die Gedenkstätte im Wald von Blagowschtschina bei der Eröffnung schmückten, Minsk 2018 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Überreste eines Hangars, in dem die Nazis ungefähr 6000 Menschen lebendig verbrannten, bevor sie aus Minsk abzogen. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau
    Überreste eines Hangars, in dem die Nazis ungefähr 6000 Menschen lebendig verbrannten, bevor sie aus Minsk abzogen. Archiv des Staatlichen Belarussischen Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs, Minsk 1944 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Bäume mit den Namen und Portraits europäischer Juden, die im Wald von Blagowschtschina getötet wurden, einem Ort der Massenermordungen in der Vernichtungsstätte von Maly Trostinez. Diese selbsterrichtete Gedenkstätte wurde von der österreichischen Initiative IM-MER im Jahr 2010 organisiert, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Bäume mit den Namen und Portraits europäischer Juden, die im Wald von Blagowschtschina getötet wurden, einem Ort der Massenermordungen in der Vernichtungsstätte von Maly Trostinez. Diese selbsterrichtete Gedenkstätte wurde von der österreichischen Initiative IM-MER im Jahr 2010 organisiert, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Femur (Oberschenkelknochen) eines menschlichen Erwachsenen. Gefunden im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau
    Femur (Oberschenkelknochen) eines menschlichen Erwachsenen. Gefunden im Wald von Blagowschtschina. Fotogramm, Minsk 2017 / © Foto Maxim Sarychau

     

    Wohnung am Petersplatz 9 in Wien, eine weitere der so genannten „Sammelwohnungen”, wo mehrere jüdische Familien gezwungen wurden, auf sehr engem Raum zusammenzuleben. In diesem Haus wohnten mindestens 14 Menschen – deportiert und in Maly Trostinez umgebracht wurden: Johanna Blumenfeld (49), Käthe Trepler (38), Helene Weiss (49), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Ein Lichtstrahl aus der Eingangstür des Wohnhauses in der Wollzeile 9 in Wien, einer „Sammelwohnung”. In diesem Haus wohnten mindestens 14 Menschen – deportiert und in Maly Trostinez umgebracht wurden: Johanna Kulka (52), Johanna Mahler (42), Elsa Friedmann (60), Emil Friedmann (59), Spitz Alice (40), Adolf Mahler (63), Wien 2021 / © Foto Maxim Sarychau 

     

    Fotografie: Maxim Sarychau 
    Bildredaktion: Andy Heller 
    Interview: Ingo Petz 
    Veröffentlicht am 27.01.2025 

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  • „NADO!” – im Geiste Orwells

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    Nado! Muss sein! – ist einer der zentralen Propaganda-Slogans der sogenannten Präsidentschaftswahlen am 26. Januar 2025 in Belarus. Man sieht die Parole auf riesigen Billboards und Leinwänden im ganzen Land. Aus Sicht des Regimes ist es notwendig, Lukaschenko einmal mehr zum Staatsführer zu krönen. Aber muss die belarussische Gesellschaft dafür in Angst und Schrecken leben? Der zynische Unterton des Slogans ist nur allzu deutlich.  

    Der Herrschaftsapparat tut alles dafür, dass die Wahl-Inszenierung ohne Störungen abläuft – Massenproteste wie im Jahr 2020 soll es schließlich nicht geben. Militär, Miliz und OMON werden im Einsatz sein, Schüler der Oberstufe bekommen Besuch von Ideologen, die die jungen Leute einschwören. Die Demokratiebewegung veranstaltet am Wahltag in Warschau das Festival Die Belarussen haben Besseres verdient, auf dem bekannte Politiker und Aktivisten über ihre Zukunftsvision von Belarus sprechen. Die belarussischen Sicherheitsbehörden warnen Teilnehmer und Streaming-Zuschauer des Festivals schon im Vorfeld, man werde sie dafür strafrechtlich verfolgen.  

    Lukaschenkos Mit-Kandidaten – es sind vier – sind handverlesen, alle Oppositionsparteien wurden längst verboten. Neben dem blassen Alexander Chischnjak, Vorsitzender der unbedeutenden Republikanischen Partei, und dem Dauer-Mitkandidaten Oleg Gaidukewitsch stehen der Stalinist Sergei Syrankow und eine Frau auf dem Wahlzettel: Anna Kanopazkaja. Der Sieger steht heute schon fest. 

    Der Journalist Alexander Klaskowski gibt für das Online-Portal Pozirk Einblicke in ein absurdes Wahltheater.

    Lukaschenko im renovierten Stadion „Traktor” in Minsk / © Foto president.gov.by 

     

    Als Alexander Lukaschenko am 14. November 2024 das frisch sanierte Stadion „Traktor” in Minsk besuchte, prahlte er scheinbar nebenbei mit der Menge an Unterstützungsunterschriften für seine Kandidatur: „Gestern wurde ich informiert, dass zum aktuellen Zeitpunkt mehr als 700.000 Stimmen gesammelt wurden.“ 

    Nonchalant merkte er noch an, er habe ja kaum Zeit für den Wahlkampf, sei er doch ständig im In- und Ausland unterwegs und müsse den erfolgreichen Abschluss der Erntekampagne im Blick behalten. Als ob für einen derart machtbesessenen Menschen wie ihn die Erntekampagne wichtiger sein könnte als der Wahlkampf.  

    Mit stalinscher Bescheidenheit 

    Tatsächlich muss er sich um die Unterschriften keine Sorgen machen. Erstens hat der Herrscher den Schätzungen unabhängiger Experten zufolge ohnehin die Unterstützung von 25-30 Prozent der Bevölkerung, und auf diese Wählerschaft ist Verlass. 

    Zweitens arbeitet die Verwaltungsebene auf vollen Touren. Der Vorsitzende der Oblast Witebsk, Alexander Subbotin, sagte offen im Fernsehen, beim Unterschriftensammeln für Lukaschenko entstehe traditionsgemäß ein Wettbewerbseffekt zwischen den Oblasten. Im Namen der Initiativgruppen des Herrschers werden zahlreiche Kundgebungen organisiert. Und in den Organisationen und Einrichtungen werden die Unterschriften in einer Atmosphäre gesammelt, in der eine Weigerung zu unterschreiben ein Risiko bedeutet.  

    Drittens arbeitet die Zentrale Wahlkommission nach dem Prinzip „wie es euch beliebt“ und verkündet jedes von oben gewünschte Ergebnis. 

    Lukaschenko demonstriert dabei stalinsche Bescheidenheit. Bekanntermaßen gab schon jener „Vater der Völker“ vor, den Kult um seine Person nur mit Mühe zu ertragen und sich ihm gar zu widersetzen. So teilte der belarussische Staatsführer im Stadion mit, er habe die Unterschriftensammlung für seine Person eigentlich schon beenden wollen, aber sein Administrationschef Dimitri Krutoi habe ihn überzeugt, dass man den Menschen die Möglichkeit geben müsse, ihren Anführer zu unterstützen. Gekünstelt gibt sich Lukaschenko besorgt darüber, dass die Leute nicht gerade darauf aus seien, für andere Kandidaten zu unterschreiben. Wie sollen sie das auch wagen, nach den Repressionen gegen diejenigen, die 2020 für alternative Kandidaten unterschrieben hatten. 

    Tatsächlich sind alle „Konkurrenten“ nur Staffage, dennoch gehen die Bürger lieber kein Risiko ein. Natürlich wird man Lukaschenkos Namen nicht als einzigen auf dem Stimmzettel stehen lassen. Zur Zierde werden vier Pseudokandidaten ergänzt, denen man die notwendige Anzahl an Unterschriften für die Nominierung zugesteht. 

    Lukaschenko beim Wahlkampf und Holzhacken zusammen mit seinem weißen Spitz / Screenshot Sendung RTR Belarus, 7.11.2024 

     

    „In Belarus wird keinesfalls eine Frau gewählt“ 

    Mit solchen Sparringspartnern ergibt sich natürlich der reinste Zirkus. Lukaschenko kommentierte den „Ausstieg aus dem Rennen um das Präsidentschaftsamt“ (eine Formulierung der staatlichen Nachrichtenagentur Belta) von Olga Tschemodanowa, Milizoberst der Reserve, und Sergej Bobrikow, Generalmajor der Reserve. Die Staatsmedien spielen mit der Lexik echter Wahlen wie in den USA. Aber was für ein beknacktes Rennen, bei dem das Ergebnis schon vorher feststeht? 

    „Klar stehen sie auf meiner Seite. Sie dachten: ‚Wir wissen, dass der Präsident gewinnen wird, aber wir lassen nicht zu, dass er diskreditiert wird.‘ Als würde ich mich diskreditieren lassen. Doch dann sahen sie: Innerhalb der Organisation hat man nicht so recht Verständnis. Also beschlossen sie: ‚Besser, wir steigen aus‘“, versuchte Lukaschenko, die seltsamen Manöver von Tschemodanowa und Bobrikow zu erklären. 

    Bobrikow selbst, der Vorsitzende des Belarussischen Offiziersverbandes, hatte zuvor erklärt, er sei ausgestiegen, „um die Geschlossenheit innerhalb des Offizierskorps zu wahren, kein Doppeldenk im Militär zu erzeugen und das amtierende Staatsoberhaupt, unseren Anführer zu unterstützen.“ 

    Warum war er überhaupt angetreten? Offenbar hatte er zunächst das eine, kurz darauf das andere Kommando erhalten. Irgendwas werden sich die Polittechnologen schon dabei gedacht haben. Der General ahnt indes möglicherweise gar nicht, dass er die Terminologie reproduziert, die in Orwells Dystopie 1984 den totalen Staat beschreibt: „Doppeldenk“, „Gedankenverbrechen“. 

    Das System hat sich in eine tragikomische Ecke manövriert. Es ist klar, dass es eine Lukaschenko-Wahl ist, ein anderes Ergebnis ist bei diesem Spektakel nicht in Sicht. Doch man muss das Ritual befolgen, den Anschein von Pluralismus und Spannung erwecken. Am Ende – Gelächter im Saal – begründen die Sparringspartner ihren Eintritt und ihren Austritt aus dem Wahlkampf mit demselben Argument: Wir unterstützen Lukaschenko.  

    Es gibt noch weitere vier Anwärter auf das Amt. Nach dem Ausscheiden von Oberst Tschemodanowa aus dem „Rennen“ ergatterte auch die extravagante Anna Kanopazkaja  einen Platz auf dem Stimmzettel. Die Kandidatur von Kanopazkaja, die früher Mitglied der mittlerweile vom Obersten Gerichtshof liquidierten Vereinigten Bürgerpartei war, ist ein Zeichen, dass die Staatsmacht beschlossen hat, auch das Feld der Opposition ein wenig zu bespielen. Vielleicht muss Lukaschenko auch unbedingt eine Frau überholen, als Trost für 2020, als ihm die „Hausfrau” Swetlana Tichanowskaja das Wasser abgrub. 

    Apropos, unter dem Deckmantel der Sorge um das „schwache Geschlecht“ tat sich Lukaschenko während seines Auftritts im Stadion wieder mal mit Sexismus hervor: „In Belarus wird keinesfalls eine Frau gewählt […] In den USA hat der Präsident keinen so weitreichenden Auftrag wie in Russland oder Belarus. Bei uns muss man alles können: alle füttern und tränken… Das ist Schwerstarbeit. Eine Frau darf man nicht so belasten. Das ist hier kein zeremonielles Amt.“ 

    Er beklagte sich auch über die Schwäche der europäischen Staatsoberhäupter: „Die Amerikaner behandeln Scholz doch schon wie den letzten Dreck.“ Mithin äußerte er aber Hoffnung: „Es werden wieder Männer wie de Gaulle auftauchen, ganz sicher. Oder Kohl, so einer wird auch wiederkommen. Auch Chirac war ein ganzer Kerl, einer fürs Volk.“ Über starke Frauen an der Spitze von Regierungen schwieg er. Dabei haben Margaret Thatcher oder Angela Merkel keineswegs nur zeremonielle Funktionen ausgeübt und waren dabei sehr erfolgreich.  

    Lukaschenkos Logik ist hier eine andere, sie resultiert aus dem Gefühl, einzigartig und unersetzlich zu sein. Nachdem er den Mechanismus der echten Wahlen zerschlagen hat, schaut er von oben auf die europäischen Politiker herab, die sich ernsthaft wählen lassen müssen und in der Regel auf zwei Amtszeiten beschränkt sind. Diese verfaulte Demokratie! 

    Wahlwerbung in Minsk / © Foto gazetaby

     

    Dystopie als Propaganda 

    Die aktuelle Wahlkampagne bildet im Grunde die Veränderungen im System Lukaschenko seit 2020 ab. Ja, die Opposition wurde auch früher diskriminiert und kleingehalten, aber ihre Kandidaten wurden noch zur Wahl zugelassen. Doch dann führten die Wahlen fast zum Umsturz. Also wurden Nägel mit Köpfen gemacht. Der schwere Brodem des Totalitären trat immer deutlicher hervor.       

    So wird das Absurde zur Norm. Die drei Wahlsprüche der herrschenden Partei in Orwells Roman 1984 lauten: „Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke.“ Lukaschenkos Propaganda arbeitet tatsächlich im Geiste dieser Dystopie, übertrifft teilweise sogar die künstlerische Vorlage. 

    Ein Beispiel: Das Regime beteiligt sich am Krieg, scharenweise fliegen Shahed-Dronen über das Land, und gleichzeitig inszeniert man Lukaschenko als Garanten eines friedlichen Himmels. Er selbst beteuert blauäugig, Wladimir Putin hätte seine Truppen 2022 nach den Übungen in Belarus wieder in den Fernen Osten verlegt, wenn ihn die bösen Ukrainer nicht provoziert hätten.  

    Lukaschenko und seine Propaganda malen zudem ein Bild, auf dem im Westen (vor allem in Polen und Litauen) die Massen unter dem Joch der Regierungen ächzen, während Belarus, das tatsächlich ein einziges großes Gefängnis ist, als Reich der wahren Freiheit erstrahlt. Schaut nur, sagen sie, wie furchtlos sich die Kandidaten ins Rennen um die Präsidentschaft stürzen!  

    Schließlich schneidet das Regime die Gesellschaft auch von alternativen Informationsquellen ab, vernichtet „aufrührerische“ Literatur: „Unwissenheit ist Stärke“. Im Geiste derselben Dystopie schreiben die Machthaber die Geschichte um, verbreiten ihre eigene Version der Ereignisse von 2020: Ein Teil der Gesellschaft sei geistig umnachtet gewesen, jetzt aber wieder zur Besinnung gekommen. Seht nur, sie schreiben Gnadengesuche. 

    Nado! (Muss sein!): der Propaganda-Slogan der Wahlkampagne von Lukaschenko im Dezember 2024 auf einem Bildschirm in der Capital Mall in Minsk / © Foto gazetaby 

     

    Belta zeigt eine Fotoreportage von einer Kundgebung der Lukaschenko-Initiativgruppe auf dem Gelände des High-Tech-Parks in Minsk. Auch das ist eine Botschaft. 2020 hatten sich hier die IT-Leute aktiv an den Protesten beteiligt, hier waren sie vom OMON verprügelt worden. Nun stehen die Menschen am Zelt mit dem Propaganda-Motto Nado gehorsam Schlange. Wieder ein Nest der Aufständischen zertreten – diese Botschaft sendet die Propaganda. Lukaschenko ruft seine Untergebenen immer wieder dazu auf, wachsam zu bleiben, und erinnert an die Feinde: die offensichtlichen (im Ausland) und die verdeckten (die sich ihm zufolge im Inland „unter der Scheuerleiste“ verstecken).  

    Er wittert in der unterdrückten Gesellschaft noch eine verborgene Bedrohung. Anscheinend hat er nicht begriffen, dass die Ursache dafür nicht in Machenschaften des „kollektiven Westens“ und der „Ausgebüchsten“ liegt, sondern in der Tatsache, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung aus seinem System herausgewachsen ist. Lukaschenko behauptet nach wie vor, er müsse das Volk „füttern und tränken“. Dabei haben Millionen von Belarussen im Jahr 2020 gezeigt, dass sie kein Stallvieh sind.  

    Man kann die Menschen im Land einschüchtern, man kann sie brechen, apathisch machen. Aber wie in einer Dystopie das Bewusstsein der Massen umzuformatieren, das wird wohl nicht gelingen.  

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  • Error 505 – Teil 2/2

    Error 505 – Teil 2/2

    Ein ukrainischer Kriegsveteran hat russische Gefangenschaft, Folter, eine Freundschaft mit einem russischen Major und die Flucht nach Europa hinter sich. Jetzt sitzt er mit seiner Familie in einer deutschen Flüchtlingsunterkunft und schimpft auf alle – und will trotzdem zurück.  

    Viele der seltener publizierten individuellen Kriegserfahrungen erscheinen auf den ersten Blick wenig heldenhaft. Oft widersprüchlich, anstößig, unbequem und für Menschen jenseits der Kampfzone schwer nachvollziehbar. Das bringt auch die in der Kriegsrealität alles bestimmende Gewalt mit sich.  

    Olessja Gerassimenko und Ilja Asar haben für Novaya Gazeta Europe eine solche Geschichte dokumentiert: Hier berichtet der ehemalige ukrainische Soldat Witali Manshos von seinem Leben – in teils derben Ausdrücken und mit brutalen Details. Dekoder veröffentlicht diese Geschichte in zwei Teilen auf Deutsch. 

    Teil 1: Mit sowjetisch geprägtem Lebenslauf über missglückten Widerstand hinein in den russischen Folterkeller

    Hier ist Fortsetzungsteil 2: Raus aus dem Folterkeller durch die russische Besatzung bis zur Flucht nach Deutschland

    Als Witali von den russischen Besatzungstruppen festgenommen wurde, trug er einen roten Wollfaden um sein Handgelenk. Das sollte gegen Kopfschmerzen helfen, hatte ihm seine Großmutter beigebracht. Als ihm Handschellen angelegt wurden, waren sie sehr eng, aber an seiner rechten Hand schlossen sie sich über dem Faden, der so verhinderte, dass die Blutzufuhr abgequetscht wurde. Seitdem nimmt Witali den roten Wollfaden nie ab. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow
    Als Witali von den russischen Besatzungstruppen festgenommen wurde, trug er einen roten Wollfaden um sein Handgelenk. Das sollte gegen Kopfschmerzen helfen, hatte ihm seine Großmutter beigebracht. Als ihm Handschellen angelegt wurden, waren sie sehr eng, aber an seiner rechten Hand schlossen sie sich über dem Faden, der so verhinderte, dass die Blutzufuhr abgequetscht wurde. Seitdem nimmt Witali den roten Wollfaden nie ab. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow

    Ein paar Tage später kommt der russische Soldat mit Rufnamen 505 wieder zu Witali in den Folterkeller: „Wir haben wieder von den Dichtern und so angefangen“, erinnert sich Witali. „Und da geht plötzlich das Kriegsschiff Moskau unter. Das vermieste ihm die Stimmung. Er fing an: ‚Wer braucht das alles, wie hat das überhaupt angefangen …‘ Ich wusste es auch nicht.“ 

    Bis zum 14. April bekam Witali nichts zu essen. Zu trinken gab es nur Wasser aus der Kanalisation. Über zwei Wochen war er nicht auf der Toilette, er konnte nicht. Auf dem Kellerboden standen auch so knöcheltief Kot und Urin. Witali sagt, die Militärs hätten die Klos kaputtgeschlagen. „Sie haben ins Loch geschissen, kein Papier benutzt. Es lief alles in den Keller.“ 

    Irgendwann erzählte 505 Witali, da würde jeden Tag eine Frau Essen für ihn zum Stabsquartier bringen. Als er hörte, dass Witali nichts davon bekam, versprach er, sich darum zu kümmern.  

     

    Kapitel 6: „Ihr Schweine, ihr habt ihn gebrochen, oder?“ 

    Wynohradne, Mai 2022 

    Irina Manshos kam wirklich jeden Tag zur ehemaligen Stadtverwaltung von Molotschansk. Sie stand um fünf Uhr morgens auf, molk und tränkte die Ziegen, kochte frisch – „eine Suppe, damit er was Flüssiges hat, oder Nudeln mit Fleisch oder Frikadellen mit Kartoffelbrei, legte ein Stück Schokolade und Zigaretten dazu“ – und fuhr zum Stabsquartier. Die Soldaten nahmen die Behälter und die Thermoskanne an und gaben sie ihr am nächsten Morgen leer zurück. „Ich dachte, das isst alles Witali.“ 

    Über einen jungen Mann aus der Nachbarschaft, der aus dem Keller freikam, richtete Witali ihr aus, dass er am Leben sei und Zigaretten brauche. 

    „Dabei hab ich ihm jeden Tag welche zum Essen dazugelegt … Vielleicht haben sie das weggekippt, vielleicht haben sie es selbst gegessen. Die waren hungrig. Ich habe gesehen, wie sie unsere wilden Rebhühner gefangen und selbst gerupft haben, gleich dort im Amtsgebäude.“ 

    505 hielt Wort: Ab nun kamen Essen und Zigaretten im Keller an. Eines Abends entdeckte Irina beim Abwaschen der Thermoskanne unter dem Deckel auch einen Zettel. Witali hatte ihr auf einem Fetzen Zeitungspapier mit Putin auf der Titelseite eine Botschaft hinterlassen. Er schrieb, sie soll die Reisepässe vergraben und die Bankkarten verstecken. So begann ihre Korrespondenz. Im zweiten Briefchen bat er um eine Bibel. Irina besorgte beim Priester kleine Heftchen. 

    Tochter Sascha munterte Irina manchmal auf: „Es wird alles gut mit Papa“, und tauchte wieder in ihren Computerspielen ab. So habe sie abschalten können, erklärt Irina. Manchmal legte sie mit einer Freundin Tarotkarten. Sie sagten, ihrem Vater würde die Kraft der Diplomatie in die Hände spielen. 

    Seine Augen waren traurig, er konnte kaum sprechen. Steht vor mir, als würde er sich verabschieden.

    Noch mal zwei Wochen später ließ Stabsleiter 505 Witali zum ersten Mal seine Frau anrufen. Dann kam er mit einer guten Nachricht: Am nächsten Tag würden sie sich sehen dürfen. „Aber erzähl nicht zu viel“, ermahnte er ihn. „Das wäre sowieso nicht gegangen“, erinnert sich Irina. Das fünfminütige Treffen fand im Beisein eines bewaffneten Wachmanns statt. 

    „Witali kam in denselben Sachen, die er vor einem Monat getragen hatte. Pullover, Hose, Armeeunterhose und grüne Socken mit Dreizack …“ Sie tauschten nur ein „Hallo, wie geht’s dir?“ und „Gut“ aus. Aber alles in Irinas Innerem schrie: „Ihr Schweine, ihr habt ihn gebrochen, oder?“ Irina erinnert sich: „Seine Augen waren traurig, er konnte kaum sprechen. Stand vor mir, als würde er sich verabschieden. Anfassen durfte ich ihn nicht. Er fragte nach seiner Tochter.“ 

    Weil Witali seltsam schief stand, entdeckte Irina die Einschusslöcher in der Hose. Bei nächster Gelegenheit brachte sie ihm Wunddesinfektionspulver. Witali schüttete das Pulver in die Einschusslöcher im Schritt, und es kamen verrottete Stofffetzen zum Vorschein.  

    Nach diesem Treffen legte Irina ihre ukrainische SIM-Karte ein, rief im Verteidigungsministerium in Kyjiw an und meldete, dass ihr Mann gefoltert wird. Es war Anfang Mai 2022. Witali saß immer noch im Keller. 

    „Lasst mich doch wenigstens zum Tag des Sieges raus. Wer bin ich denn schon?“, bat Witali Georgi. – „Du weißt zu viel, der FSB ist an dir dran, dein Bruder ist bei der Armee, die pfuschen uns in den Vormarsch. Du wirst sowieso nicht eingetauscht, und ausreisen darfst du auch nicht.“ 

    Am 15. Mai ließen sie Witali schließlich doch für einen Tag nach Hause. Zum ersten Mal seit März konnte er duschen. Dann sagte der Stabsleiter, er solle Kartoffeln setzen, schließlich sei schon Mai. 

     

    Im Süden der Karte befinden sich Tokmak und Molotschansk, das Dorf Wynohradne liegt etwas nordwestlich davon. Seit März 2022 sind diese Orte von der russischen Armee besetzt. Ebenso Enerhodar im Westen der Karte. Die Gebietshauptstadt Saporishshja (hier im Norden) ist nicht von Russland besetzt, aber häufiges Ziel russischer Raketen-, Drohnen- und Gleitbombenangriffe. © Deep State

    Ich schulde dir noch drei Kugeln

    Zwei Wochen später ließ ihn 505 aus dem Keller, unter der Bedingung, sich einmal am Tag im Stab zu melden und sich höchstens fünf Kilometer von seinem Haus zu entfernen. Deswegen fuhr Witali nicht ins Krankenhaus – das nächste war 12 Kilometer entfernt, dazwischen 14 Checkpoints. Der Entlassungsschein ist immer noch im Garten hinter ihrem Haus in Wynohradne vergraben, erzählt Witalis Frau. 

    Als Witali aus dem Stabsquartier kam, sah er den Kommandanten, der ihm in Knie und Schritt geschossen hatte: „Ich sagte zu ihm, ich schulde dir noch drei Kugeln. Da zuckte er zusammen. Ich werde ihm das noch heimzahlen“, sagt Witali. 

    „Haben Sie die Kartoffeln gesetzt?“ 

    „Und geerntet.“ 

    „Mit angeschossenen Beinen?“ 

    „Ich hab einen Traktor.“ 

    Witali Manshos zeigt seine Beine mit den Folterspuren. Foto von Iwan Pugatschjow
    Witali Manshos zeigt seine Beine mit den Folterspuren. Foto von Iwan Pugatschjow

    Kapitel 7: „Die Dorfälteste blieb auch unter den Russen die Dorfälteste“ 

    Wynohradne, 2023 unter Besatzung 

    Stabsleiter 505 gab Witali vor seiner turnusmäßigen Abreise dessen Handy, SIM-Karte und Papiere zurück. Dazu legte er eine Wurst und eine Schachtel Fruchtpastillen. Witali briet ihm zum Abschied eine Ente: „Danke, Georgi, wenigstens ein Mensch hier.“ Das Essen schlug 505 allerdings aus. 

    „Ich sag zu ihm: Georgi, sei mal ehrlich, wie soll ich die Ukraine nicht lieben? Wir gehen zu meinem Haus. Ich zeig ihm meinen Hof, meine Puten. Sag zu ihnen: ‚Slawa Ukrajini!‘ Und die Vögel so: ‚Iu-iu-iu!‘“ Witali imitiert das Gekacker. „Da zischt Georgi, ich soll bloß leise sein. Aber ein Pfundskerl, echt! Wenn ich ihn finde, gibt’s was zu feiern. Er sagte, ich soll die Seite wechseln, für die arbeiten. Aber ich lehnte ab.“ 

    „Haben Sie mit ihm über die Folter gesprochen?“ 

    „Nein, nie. Wir haben über Majakowski, Twardowski, Borodino geredet. Und die globale Kastration von Russland. Er hat alles verstanden.“ 

    „Über die globale Kastration?“ 

    „Er hat gesagt, die Ukraine wär am Arsch, sie würden uns flächendeckend niederbomben. Wie Amerika Vietnam. Dann gäb’s die Ukraine schlichtweg nicht mehr. Und ich: Träum weiter! Wir werden auferstehen und euch alle umbringen.“ 

    Unsere Jungs ließen grüßen, mit Beschuss. Die ganze Technik war im Arsch. 

    Im September 2023 hat Witali den russischen Pass und eine Arbeit als Elektriker in der Kolchose angenommen: „Ich musste ja irgendwie meine Familie ernähren. Also hab ich als Systemadministrator diesen ganzen russischen Dreck eingerichtet, S1, Kontur.Fokussy und wie sie nicht heißen. Die ganze Kolchose kam zu mir. Den Omas half ich mit den ukrainischen Banken, damit sie ihre Rente bekamen.“ 

    Am 6. Mai 2023 war die Kolchose von der ukrainischen Armee beschossen worden: „Unsere Jungs ließen schön grüßen, mit Beschuss. Aber das Ding ist, solange die Russen da waren, war Ruhe. Kaum waren die abgezogen, schlug es bei uns in die Kolchose ein, die ganze Technik war im Arsch.“ 

    Sofort kam ein Zugriffstrupp zu ihm nach Hause. Sie verdrehten Witali die Arme und zerrten ihn in den Gemüsegarten. „Du hast unsere Koordinaten ausgeliefert“, sagten sie und schlugen zu. 

    Irina leistete indes stillen Widerstand: weigerte sich zu arbeiten, den russischen Pass anzunehmen und ihre Tochter zur Schule zu schicken. Dem Referendum blieb die Familie fern. Abends stritten sie: „Wir müssen weg!“ – „Wie soll ich weg? Sie lassen mich nicht raus! Fahr alleine …“ Die Dorfälteste setzte sie unter Druck: „Warum geht ihr nicht wählen? Ihr müsst zur Wahl!“ 

    „Die Dorfälteste Nina Wassiljewa blieb auch unter den Russen die Dorfälteste. Der Mann unserer Nachbarin ist abgehauen und dient jetzt in der ukrainischen Armee, sie hat den russischen Pass angenommen und lebt im besetzten Dorf. Die Feldscherin Sneshana Iwantschidse spielt jetzt in Propagandafilmchen der russischen Staatssender mit“, zählt Irina auf und zeigt uns einen Nachrichtenbeitrag. 

    Auch Witali gehört formell zu den Kollaborateuren, weil er als Elektriker beim Werk gearbeite hat: „Man hat natürlich gesehen, dass ihm das alles, gelinde gesagt, nicht gefällt“, erklärt aber sein Chef in der Kolchose und bekräftigt damit Witalis Aussage. 

    Dreckskerle, wie ich sie hasse. Erst unsere Leute beschießen, dann humanitäre Hilfe verteilen.

    Irina Manshos erinnert sich, wie russische Soldaten einmal 20 Eier von ihr haben wollten und zum Tausch 15 Dosen Kondensmilch, Konserven und fünf Kilo Zucker angeschleppt haben. Sie nahm es an. In den Dorfladen brachten sie Waffeln, Kekse und Bonbons, damit sie gratis verteilt wurden. 

    „Ich hab dieses System in den zwei Jahren, die ich dort gelebt habe, nicht kapiert. Dreckskerle, wie ich sie hasse. Erst unsere Leute beschießen, dann humanitäre Hilfe verteilen. Dann machten sie so Zentren auf – ‚Unser Russland‘ – die Kinder durften kostenlos ins Ferienlager, auf die Krym, nach Moskau …“, erzählt Irina.  

    „Selbst der Patenonkel meiner Frau …“, fährt Witali über die Kollaborateure fort. „Als sie mich schlugen, sollte ich sagen, wer bei der Polizei war. ‚Verrat es uns, und wir lassen dich laufen.‘ Dieser Patenonkel war zum Beispiel Polizist, aber ich hab noch letztens auf seiner Hochzeit getanzt, sie haben gerade ein Kind bekommen. Ich denk, Scheiße, die killen den armen Kerl doch, und halt meine Klappe … Dann komm ich aus dem Keller, und er sitzt da und trinkt mit denen Tee. Immer noch Polizist, nur jetzt für die Russen.“ 

    Irina Manshos. Foto von Iwan Pugatschjow
    Irina Manshos. Foto von Iwan Pugatschjow

    Unter der Besatzung stellte Witali eine Fernsehantenne so ein, dass er ukrainische Sender empfangen konnte. Da kam in den Nachrichten gerade die Meldung, dass der Staat knapp eine Milliarde Hrywnja [ca. 22,9 Millionen Euro – dek] für Militäruniformen ausgegeben habe. 

    „Verstehst du, mein Neffe ist mit 18 an die Front gegangen. Er hat mir Videos geschickt, überall Leichen, verdammte Scheiße, Mann. Und er sagt: Na, wenigstens muss ich nicht für den Bus bezahlen … Kacke, verfickte.“ Witali bricht in Tränen aus. „Sie bringen die Menschen tonnenweise ins Grab, tonnenweise … Ich hab dieser Armee 7,5 Jahre geopfert … Ich will nicht mehr …“ 

    Obwohl über seinem Haus in Wynohradne auch nach der Rückkehr von der Front die ukrainische Flagge weht, hält Manshos von den ukrainischen Soldaten fast genauso wenig wie von den Russischen, die ihn beinahe umgebracht hätten. 

    „Waren es nicht die Russen, die das alles angefangen haben?“, fragen wir nach. 

    „Es waren die Chochly. 2013. Die verfickten Chochly aus Donezk und Dnipropetrowsk: Kolomoiski und Janukowytsch. Damit fing die ganze Scheiße an“, antwortet er. 

    „Welche Scheiße?“ 

    „Der Krieg. Die Aufteilung der Macht. Verstehst du, die wollten in Kyjiw keine Nummernschilder aus Donezk und Dnipro sehen. Was sollen die mit der Südostukraine? Lieber weg damit und keine Renten mehr bezahlen. Weißt du, wie viel die sich sparen?“ 

    Die Leute wechseln schnell die Lager. 

    Die Gebiete, die jetzt von Russland okkupiert sind, sollten Witalis kruder Theorie nach an die USA gehen, weil die das fruchtbare Land brauchen würden; auf die Menschen würden „die Chochly scheißen“. Seine Theorie sieht er darin bestätigt, dass es die Russen in vier Tagen bis nach Tokmak geschafft haben. 

    „Wissen Sie, was einen Chochol von einem Ukrainer unterscheidet? Ein Ukrainer lebt in der Ukraine, und der Chochol dort, wo es am besten ist. Aber momentan kennt sich keiner aus: Wo ist es denn am besten, vielleicht doch drüben? Die Leute wechseln schnell die Lager. Das sind diese Shduny. Bequem haben Sie’s ja: bekommen russische und ukrainische Rente. Natürlich schreien sie da: Slawa Rossii! Dann hauen sie mich noch an, ich solle ihnen russisches Fernsehen einstellen. Und ich: ‚Wenn du noch einmal ankommst, knall ich dich eigenhändig ab!‘“ 

    „Wären Sie geblieben, wenn Ihre Frau nicht darauf bestanden hätte?“ 

    „Nein. Ich wollte schon über die Minenfelder laufen. Aber die Besatzer haben gesagt: Du kannst nur nach vorne raus, über die Frontlinie. So lässt dich hier niemand durch. Oder du nimmst den Weg durch den Kachowka-Stausee.“ 

     

    Kapitel 8: „Militärkreis Turkestan, Einheit 791518“ 

    Flucht über Krym und Belarus, Januar 2024 

    Ende 2023 beharrte Irina Manshos immer dringlicher auf der Abreise. Am 10. Dezember unternahmen sie den ersten Versuch: Ukrainische Freiwillige schickten ein Auto. Das ganze Dorf kam, um die Familie zu verabschieden, alle weinten, erzählt Witali. Er rasierte sich ordentlich, ließ sich die Haare schneiden, zog einen neuen Pullover an. Gleich beim ersten Checkpoint bei Nowoasowsk ließen die Posten seine Frau und Tochter zwar durch – aber er musste in den Keller. 

    Witali hatte die Facebook-App vom Handy gelöscht, aber an sein Profil hatte er nicht gedacht. Bei der Überprüfung der Papiere entdeckten die russischen Soldaten dort das unglückselige Foto mit dem abgebrannten Panzer. 

    „Hat man Sie dort geschlagen?“ 

    „Ein bisschen. Ins Gesicht, in die Brust, dann legten sie mir wieder Handschellen an: Du bist ein Verräter, hast den Donbas bombardiert. Sie sagten, ich käme in Russland vor Gericht und sie würden mich nicht laufen lassen. Dann holten sie ein paar Tschetschenen und sagten denen, die könnten mit meiner Frau und meiner Tochter machen, was sie wollen, wenn ich nicht sofort hier verschwinde und in mein Dorf zurückgehe.“ 

    Wir haben doch gesagt, du sollst hierbleiben, du Penner! 

    Also lief die Familie die 13 Kilometer über Eis und Schnee zurück. Um vier Uhr nachts kamen sie in Nowoasowsk zu einem Hostel, das noch geöffnet war, und checkten dort ein. Drei Tage lang schliefen sie sich aus. Dann fuhren sie mit einem Taxi durch die Ruinen von Mariupol nach Wynohradne zurück. Der Ortsvorsteher schickte ihnen Geld, damit sie den Fahrer bezahlen konnten. 

    Witali lacht: „Aber die Weiber im Dorf waren zufrieden: ‚Wir haben doch gesagt, du sollst hierbleiben, Witalik, du Penner! Hast wohl gedacht, du kannst dich aufspielen? Ohne dich haben wir nicht mal Internet!‘ Die haben sich gefreut.“ 

    Einen Monat später beschlossen die Manshos, es noch mal zu versuchen, diesmal über die Krym. Um ausreisen zu können, ließen sich auch Witalis Frau und die Tochter einen russischen Pass ausstellen. Am 8. Februar packte Witali, mittlerweile mit Bart und langen Haaren, seine Sachen, erzählte noch mal seine Geschichte – „wir müssen nach Simferopol ins Krankenhaus“ – und setzte sich ins Freiwilligenauto. Ein Rucksack, eine Tasche und ein Notebook. Diesmal fuhren sie stillschweigend los, niemand verabschiedete sie, die Nachbarn dachten, die Manshos wären zu Hause. Nach zehn Stunden Warten an der Grenze wurde Witali zum Verhör abgeholt. 

    Sie fuhren nach Simferopol, von dort nach Belarus und weiter nach Polen. 

    „Wieder den Bock geschossen, aber sowas von“, sagt der ehemalige Soldat. „Der Posten fragt mich: ‚Witali Wladimirowitsch?‘ – ‚Jawohl!‘ – ‚Haben Sie gedient?“ –‚Jawohl!‘ Ich denke, jetzt bin ich am Arsch. Und sage: ‚Militärkreis Turkestan, Einheit 701518, Obergefreiter.‘ Aber der Grenzer sagt nur: ‚Gute Reise‘, und gibt mir meinen Pass zurück.“ 

    Sie fuhren nach Simferopol, von dort mit dem Zug nach Belarus und weiter nach Polen. Die Freiwilligen hatten ihnen zuvor geraten, dass sie beim Grenzübergang in Brest kein einziges russisches Dokument dabeihaben dürften. Also zerrissen sie auf der Zugtoilette ihre russischen Pässe, Steuer- und Rentennachweise und spülten alles im Klo runter. Die ukrainischen Pässe hatte Irina am Tag zuvor im Garten ausgegraben. 

    So kam die Familie nach Europa: zum ersten Mal im Leben im Ausland, ohne jegliche Sprachkenntnisse. 

    Witali mit seiner Frau und Tochter. Foto von Iwan Pugatschjow
    Witali mit seiner Frau und Tochter. Foto von Iwan Pugatschjow

     

    Epilog: „Von einem Gefängnis ins andere“ 

    Ludwigshafen, Juni 2024 

    Von Polen aus machte sich die Familie auf den Weg nach Berlin: „Am Bahnhof lauter Araber, Türken, Kanaken. Ich denk, Scheiße, wo bin ich denn hier gelandet …“ 

    Witali lässt sich noch eine Weile xenophob über Migranten aus. Seit Februar hat die Familie Manshos drei Flüchtlingsunterkünfte gewechselt, ohne ein Wort Deutsch zu verstehen. Alles mit Hilfe von Freiwilligen. 

    Wir treffen die Manshos im vierten Lager in Ludwigshafen. Witali ist abgemagert, die Spuren der Folter sind immer noch sichtbar. Die dunkelhaarige Irina hat einen schneeweißen Ansatz: In den zwei Jahren Okkupation ist sie ergraut. 

    Die dreiköpfige Familie ist nun in einem verlassenen Supermarkt untergebracht. Die Menschen leben hier in Metallkäfigen, voneinander mit schwarzer Plastikfolie abgeschirmt. Man hört jedes Geräusch. In Witalis Abteil stehen zwei Stockbetten, auf dem freien Bett liegt ein Kleiderhaufen: „Wir sind mit einer Reisetasche gekommen, das hier haben wir aus dem Müll gefischt.“ 

    Flüchtlingslager in Ludwigshafen, wo Witali und seine Familie untergebracht sind. Foto von Iwan Pugatschjow
    Flüchtlingslager in Ludwigshafen, wo Witali und seine Familie untergebracht sind. Foto von Iwan Pugatschjow

    Witali und die anderen 14 Ukrainer, die hier wohnen, sind von den Geflüchteten aus arabischen Ländern, die hier in der Mehrheit sind, und deren Gebeten zunehmend genervt: „Ich kann nachts nicht schlafen. Ich kann gar nicht so viel saufen, dass ich umkippe und das nicht mehr höre.“ Er beklagt sich auch über verdreckte Toiletten: „Sie benutzen kein Papier, genau wie die im Keller.“ 

    „Wieder lebe ich jetzt unter der Aufsicht solcher Leute, Allahu Akbar. Ich bin von einem Gefängnis ins andere gekommen, erlebe den zweiten Ramadan im Keller, nur jetzt mit Frau und Kind“, sagt Witali. 

    Eine richtige Wohnung müssten sie selbst suchen. Das Jobcenter übernimmt die Kosten (ca. 50 m² für drei Personen, maximal 560 Euro im Monat), aber ohne Sprachkenntnisse gestaltet sich die Suche schwer. Deutschkurse besuchen sie trotzdem nicht: „Du schläfst zwei Stunden pro Nacht, und dann sollst du noch Deutsch lernen“, beklagt eine Ukrainerin. 

    Wir gehen raus rauchen, und Witali erzählt zu den Klängen arabischer Musik, die aus einem Handy schallt: „Was das Schlimmste im Keller war? Wenn die gesagt haben, wir geben deine Frau und Tochter den Tschetschenen, deine Frau bekommt eine Granate und wird Terroristin, dein Kind töten wir. Verfluchte Scheiße. Dann sitzt du da, und sie kommen zwei, drei Tage lang nicht wieder. Weißt du, was da in deinem Kopf für ein Kino abgeht?“ 

    Als wir zum zweiten Mal rauchen gehen, kommen wir an zwei Ukrainern vorbei. Sie fragen Witali, wie die Wohnungssuche läuft: „Keine Chance. Ich geh zurück in die Ukraine, meine Frau und mein Kind sollen hierbleiben. Was soll ich sonst tun? Ich hab kein Geld, nichts, wovon ich leben könnte“, sagt Witali plötzlich. „Wenn ich keine Wohnung bekomme, wartet die 53. Brigade [der ukrainischen Streitkräfte] schon auf mich, die stehen in der Nähe von Awdijiwka. Ist das hier etwa besser?“ 

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    Error 505 – Teil 1/2

  • Error 505 – Teil 1/2

    Error 505 – Teil 1/2

    Ein ukrainischer Kriegsveteran hat russische Gefangenschaft, Folter, eine Freundschaft mit einem russischen Major und die Flucht nach Europa hinter sich. Jetzt sitzt er mit seiner Familie in einer deutschen Flüchtlingsunterkunft und schimpft auf alle – und will trotzdem zurück.  

    Viele der seltener publizierten individuellen Kriegserfahrungen erscheinen auf den ersten Blick wenig heldenhaft. Oft widersprüchlich, anstößig, unbequem und für Menschen jenseits der Kampfzone schwer nachvollziehbar. Das bringt auch die in der Kriegsrealität alles bestimmende Gewalt mit sich.  

    Olessja Gerassimenko und Ilja Asar haben für Novaya Gazeta Europe eine solche Geschichte dokumentiert: Hier berichtet der ehemalige ukrainische Soldat Witali Manshos von seinem Leben – in teils derben Ausdrücken und mit brutalen Details. Dekoder veröffentlicht diese Geschichte in zwei Teilen auf Deutsch. 

    Hier ist Teil 1: Mit sowjetisch geprägtem Lebenslauf über missglückten Widerstand hinein in den russischen Folterkeller. 

    Fortsetzungsteil 2: Raus aus dem Folterkeller durch die russische Besatzung bis zur Flucht nach Deutschland – ab dem 23. Januar. 

    Witali Manshos. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow
    Witali Manshos. Collage mit Foto von Iwan Pugatschow

    Als sie Witali Manshos die Tüte vom Kopf gezogen hatten, schossen sie ihm ins Knie und zwischen die Beine; dann schlugen sie die Kellertür hinter sich zu. Doch Witali Manshos blieb bei Bewusstsein. 

    „Ich schau an mir runter, das eine Hosenbein voller Blut, das andere auch. Ich bringe meine gefesselten Hände am Hintern vorbei nach vorn. Taste mich an der Wand lang. Ein Stromschlag. Oh, bljad’, Kabel! Ich reiße die Kabel raus, drehe die Aluminiumenden ab, die aus der Wand ragen. Ich binde das Bein oben ab, es blutet weiter. Ich binde weiter unten ab. Die Zehen werden langsam taub, aber es hört halbwegs auf zu bluten.“ Anstatt sich mit seinem abgebundenen Bein hinzulegen, humpelte Witali Manshos nun die Wand entlang; versuchte sich zu orientieren: Wie viele Sonnenaufgänge, wie viele Sonnenuntergänge. Es vergingen drei Tage.  

    Der 29. März 2022 war ein klarer Morgen in Molotschansk: Durch einen Spalt unter der Decke sah Witali gegen sechs Uhr das Morgenrot. Jemand schaute zur Tür herein: 

    „Noch nicht verreckt, du Hund?“ 

     

    Kapitel 1: „Papa, ich will eine Ratte, basta!“ 

    Wynohradne, 23. Februar 2022 

    Der 53-jährige Obergefreite Witali Manshos wurde im Frühjahr 2021 mit dem Status eines Vaterlandsverteidigers aus der ukrainischen Armee entlassen. Er musste eine Verletzung an der Wirbelsäule operieren lassen, bevor er ins Dorf Wynohradne in der Oblast Saporishshja fuhr, zu seiner Familie. 

    „Ich sagte mir, Schluss, ich pfeif auf diese Armee, keine zehn Pferde bringen mich da nochmal hin. Also fuhr ich nach Hause. Und dann, was war das Erste? Ich hab mich zugelötet und das Auto meiner Frau zu Schrott gefahren. Mehr ist mir nicht geblieben. Ich hatte nichts, keine Kopeke“, erzählt Manshos. 

    Etwas später kam dann Geld. Für die 32.000 Hrywnja, die ihm für nicht genommenen Urlaub gezahlt wurden, kaufte er seiner Tochter weiße Sneakers und seiner Frau Stiefel. Für den Rest schaffte er vier Ziegen an. Die brachte er zu den Puten, Enten, Gänsen und Hühnern, die es bereits auf dem Hof gab. Bis zum Winter kaufte er mit Geld von seinem Bruder und seiner Invaliden-Entschädigung noch ein Nachbarhaus. 

    „Es hat acht Zimmer, vier Öfen auf 52 Quadratmeter. Ich hab das alles eingerissen und drei Zimmer daraus gemacht, einen Ofen hab ich als Kamin gelassen“, erinnert sich Witalij. 

    „Unsere Tochter wollte unbedingt ein eigenes Zimmer, wir wollten ihr die Zimmerdecke mit Sternen schmücken“, seufzt Witalis Frau Irina. 

    Am 23. Februar 2022 fordert die Tochter von Witali: „Papa, ich will eine Ratte, basta!“ 

    Also fuhren Witali und Irina zum Markt nach Tokmak. Eine Ratte fanden sie nicht, kauften aber ein Chinchilla und ein Paar Liebesvögel mit roten Köpfen gleich dazu. 

    Abends mussten sie nochmal los, um Gitter für den Käfig zu besorgen. 

    Im Süden der Karte befinden sich Tokmak und Molotschansk, das Dorf Wynohradne liegt etwas nordwestlich davon. Seit März 2022 sind diese Orte von der russischen Armee besetzt. Ebenso Enerhodar im Westen der Karte. Die Gebietshauptstadt Saporishshja (hier im Norden) ist nicht von Russland besetzt, aber häufiges Ziel russischer Raketen-, Drohnen- und Gleitbombenangriffe. © Deep State

    Raketen flogen, und ich betrank mich.

    „Ich schnitt die Gitter zurecht und bastelte den Käfig. Und am Morgen ging es schon los“, erzählt Witali. „Raketen flogen, ich brachte die Familie in den Keller, und betrank mich. Ich habe 500 Liter Wein da unten.“ 

    Die Männer aus Wynohradne fuhren zusammen zum Rekrutierungsamt in Tokmak – um Waffen zu holen.  

    „Und ich auch, besoffen wie ich war, rein ins Auto und nichts wie hin“, sagt Witali. „Auf in den Kampf, verdammt! Also, wir kommen an, der Kommandeur kommt raus – Oberst Witer, Veteran der Antiterroroperation (ATO), verdammt … Wir fordern Waffen: ‚Wir wollen kämpfen‘, und der so: ‚Habt ihr ‘ne Einberufung? Nein? Dann zieht Leine!‘ Der hat uns einfach weggeschickt!“ 

    Laut dem Datenportal Myrotworets und ukrainischen Medienberichten lief jener Oberst Wadim Witer eine Woche später zu den russischen Truppen über und steckte Routen für deren Kolonnen ab. 

    Wieder zu Hause rief Witali seinen älteren Bruder Eduard an, der als Offizier Soldaten der ukrainischen Streitkräfte im Donbas kommandierte. Der sagte: „Witacha, du bist kriegsversehrt, das ist nichts für dich, bleib zu Hause.“  

    Heute fühle sich sein Bruder schuldig, meint Witali: „Na ja, weil er mir sagte, ich soll hierbleiben. Die Jungs hatten mich ja damals angerufen: ‚Witacha, es gibt ‘nen Korridor. Zehn Minuten über Orichiw, mach dich bereit …‘ Aber wissen Sie, das war alles so irreal, was sollte das, dieser Überfall auf uns?“ 

     

    Kapitel 2: „Die Leute hatten den Staat satt“ 

    Enerhodar, 2014 

    Witali Manshos wurde in Saporishshja geboren. Den Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte er als Wehrpflichtiger aber in Ferghana (er sagt, dort seien den Soldaten grüne Pionierspaten ausgegeben worden, mit denen sie „aufständische Usbeken erschlagen“ sollten). Witali lebte viele Jahre in Russland. Er arbeitete am Bau eines Wasserkraftwerks an der Angara, löschte Ölbrände in Urengoi, Tjumen und Salechard, fuhr Holztransporte in der Region Krasnojarsk. An die 1600-Kilometer-Trasse durch die Taiga erinnert er sich mit einem Seufzen: 

    „Da gibt’s Orte … Ich liebe diese Strecke bis heute. Nachts wachte ich mit der Frage auf: ‚Warum kann ich nicht dort sein?!‘ Jetzt aber nicht mehr, ich wache nicht mehr auf. Jetzt kann ich überhaupt nicht mehr schlafen.“ 

    1996 machte Manshos mit einem Freund in Moskau eine Firma auf. Sie bauten Stahltüren aus Joschkar-Ola ein: „Nach den Terroranschlägen, als der zweite Tschetschenienkrieg begann, gab’s ‘ne große Nachfrage nach gepanzerten Eisentüren.“ 

    2002 zog er zu seinem älteren Bruder Eduard, nach Enerhodar im Gebiet Saporishshja. 

    „Wenn ich frei hatte, fuhr ich zum Angeln ans Asowsche Meer. Wir haben Grundeln gefangen, die wir in der Stadt verkauften. Aber keiner kaufte sie, die Grundeln wurden schlecht. Ich schenkte sie meiner Freundin, die ich damals gerade erst kennengelernt hatte. Sie war 14 Jahre jünger als ich, und ich beschloss, ihr Mann zu werden“, erzählt Witali. 

    Natürlich war ich gegen die Annexion der Krym. Was sonst? Das ist mein Territorium.

    Dann ließen sich Witali und Irina in Enerhodar nieder. 

    „Was ich über unseren Putsch denke? 1991 kam der Sampolit  zu uns, zerriss das Gorbatschow-Porträt und sagte, der sei ein Vaterlandsverräter und ein Mistvieh. Fünf Tage später hängte er das Porträt wieder auf. Das war der ganze Augustputsch.“ 

    Zum Euromaidan meint Witali: „2014 hatten die Menschen es einfach satt, sie wollten nicht mehr in so einem Staat leben.“ Er war damals Systemadministrator beim Sender Orion Media in Enerhodar. Witali und seine Kollegen sammelten Geld für Zelte und Zigaretten für die Demonstranten; er war aber nicht auf dem Maidan: „Ich war mit allem zufrieden – ich hatte einen stabilen Job und ein normales Leben.“ 

    Die Annexion der Krym tat ihm weh: „Natürlich war ich dagegen. Was sonst? Das ist mein Territorium. Als sie die Krym abzwackten und all das andere, haben wir von jedem Lohn fünf Hrywnja per SMS an die Armee gespendet. “ 

    2015 begriff Witali, dass das „ein heftiger Krieg“ wird. Er brachte seine Frau und das Kind nach Wynohradne (rund 100 Kilometer von Enerhodar). Dort kaufte er ein Haus, anderthalb Hektar Land und legte zusammen mit seinem Bruder einen Garten an. 

    „Mein Bruder ist zwar Soldat, hat aber sehr viel für Gartenarbeit übrig. Er blüht einfach auf dabei. Er hat 300 Apfelbäume gepflanzt, die Äpfel wogen 450 Gramm das Stück. Weinstöcke hat er gepflanzt, Mandelbäume. Und ich wollte leben. Ich wollte einfach leben“, klagt Witali. „Jetzt ist das alles Russische Föderation, verdammt.“ 

     

    Kapitel 3: „Fuck you, Moskali!“ 

    Wynohradne, 26. März 2022 

    In den ersten Tagen des Einmarschs „benahmen sich die Männer wie kleine Kinder, stellten sich vor die Panzer, fuhren in den Wald und gaben sich Verfolgungsjagden“, erinnert sich Irina Manshos. Sie erzählt, wie Witali sich einen 20-Liter-Kanister griff und auf die Straße lief: Er wollte eine Kolonne russischer Panzer anzünden, die an seinem Haus vorbei Richtung Bohdaniwka unterwegs waren. Irina erzählt, wie sie ihn ins Haus zurückzerrte und schrie: „Die überfahren dich einfach, die kannst du nicht allein aufhalten.“ 

    Auch nach dem Einmarsch blieb Witali im Dorf. Am hinteren Scheibenwischer seines Hyundai Santa Fe hatte er eine große ukrainische Flagge befestigt: „Sie flatterte hinten am Auto, und ich saß in Armeekleidung am Steuer.“ Andere Kleidung trug er seiner Frau zufolge gar nicht mehr; er hatte von seiner Dienstzeit noch Hosen, Unterhosen und Socken mit ukrainischen Armeesymbolen. „Leute sagten mir: ‚Du bist vollkommen übergeschnappt!‘, aber ich fuhr weiter, mir doch scheißegal, ich war besoffen. Und dann kam ich mit einigen ATO-Jungs nach Molotschansk und kapiere auf einmal, dass das schon Russland ist. Bei der Brücke sitzt er schon, der Wichser.“ 

    „Ein Russe?“, fragen wir nach. 

    „Ja, ein Maschinengewehrschütze.“ 

    Ich schnappte mir ‘ne Jagdflinte und wollte den MG-Schützen umlegen. 

    „Der wievielte Tag war das?“ 

    „Keine Ahnung, ich war schon dunkelblau. Vielleicht schon der dritte oder sogar vierte. Ich war schon komplett hinüber, verstehste? Nichts mehr gecheckt, gar nichts. Das Rekrutierungsamt hat uns verarscht. 

    „Nicht die beste Zeit zum Trinken.“ 

    „Was blieb denn sonst?“ 

    „Alles Mögliche: sich retten, die Familie in Sicherheit bringen …“ 

    „Mit einem Liter Wein intus bis du nicht mehr du selbst. Und es war mir scheißegal. Ich schnappte mir ‘ne Jagdflinte und wollte den MG-Schützen umlegen. Bloß gut, dass die Jungs sie mir aus der Hand geschlagen haben. Der Schütze beachtete uns nicht mal; aber hinter ihm stand eine ganze Einheit. Die Jungs sagten: ‚Drück aufs Gas, Witacha‘. “ 

    Als sie in sicherer Entfernung waren, nahm Manshos die Flagge vom Auto ab. Aber auf dem Weg zündete er noch mit einem Molotow-Cocktail einen liegengebliebenen Schützenpanzer an: „Den haben sie voll ausgestattet zurückgelassen, weil irgendwas kaputt war. Ich hab das alles aufgenommen und das Video auf Facebook gestellt. Hab ihnen beide Mittelfinger gezeigt, die sie mir später abschneiden wollten: ‚Fuck you, Moskali!‘“ 

    „Allerdings haben mir die Tschetschenen im Keller dann auch gesagt, dass sie die Moskali selbst hassen, weil das alles Schwuchteln sind. Und der Panzer, den ich abgefackelt habe, war längst abgeschrieben.“ 

    Zunächst seien die Russen nicht nach Wynohradne gekommen, sagt Witali: „Das interessierte die ‘nen Scheißdreck“, sie fuhren nur immer wieder die Strecke Moskau–Simferopol. 

    Ich hab alles gefilmt, die Koordinaten durchgegeben: die Standorte und ihre beschissenen Waffendepots. 

    „Sie zogen einfach kolonnenweise durch, mit 200, 300 … Ich hab das alles gefilmt, die Koordinaten durchgegeben, fuhr umher, versuchte ihre Stellungen zu finden. Wo die Geräte für die elektronische Kampfführung stehen. Hab die Standorte abgefilmt und ihre beschissenen Waffendepots“, sagt er. 

    Nach rund einem Monat, am 26. März, saß Witali, der gewöhnlich früh aufstand, auf einer Bank vorm Haus und rauchte. Plötzlich sah er, wie die Zu- und Ausfahrt aus dem Dorf mit Schützenpanzern blockiert wurde und Soldaten von Haus zu Haus gingen.  

    Witali rief seinen Bruder an: „Die Russen gehen durchs Dorf … Soll ich abhauen? –  „Nein, bleib zu Hause, du bist Invalide, dein Krieg ist zu Ende.“ 

    „Ein gepanzerter Wagen schlich hinter den Soldaten her, zu jedem durchsuchten Haus“, erinnert sich Witali.  

    Er rief seinen Bruder nochmal an: „Sie checken schon die Häuser, brechen die Schlösser und Türen auf …“ – „Dann bist du am Arsch.“ 

    „An dem Tag hat mich die Scheiße echt voll getroffen“, betont Witali. 

    Witali Manshos. Foto von Iwan Pugatschow
    Witali Manshos. Foto von Iwan Pugatschow

    Kapitel 4: Borja und das Achmat-Dreieck 

    Keller in Molotschansk, 26. März 2022 

    Am 26. März wurde Irina Manshos um sechs Uhr früh vom Dröhnen der Awtosak geweckt. Sie versteckte Witalis häusliche Armeeklamotten und seine Auszeichnung von Poroschenko, aber die Tasche mit den Armeedokumenten und der Pensionsbescheinigung übersah sie. Als die Soldaten in den Hof kamen, hörte Irina vor Schreck nicht, was sie sagten. Sie seien etwa zu fünft gewesen, erinnert sie sich, „bärtige Kaukasier, mit Akzent“: 

    Witali musste sich ausziehen, die Männer durchsuchten die Schränke. Irina hat noch heute vor Augen, wie sie die saubere Bettwäsche mit dem Pistolenlauf anhoben und auf den Boden warfen. Sascha, die Tochter, lag im Zimmer auf dem Sofa. In der Schublade darunter waren ein Gummiknüppel von der Polizei und ein Luftdruckgewehr. Irina sagt, das hätten sie mal von einem Bekannten bekommen, um Wildenten aus dem Gemüsegarten zu verscheuchen. Sascha weigerte sich aufzustehen. 

    Plötzlich entdeckte Irina, gleichzeitig mit den Soldaten, wie die khakifarbene Tasche aus der Kommode herausragte. „Da waren alle Bescheinigungen: Teilnahme an Kriegshandlungen, Rente …“ Das hat gereicht: „Du kommst mit.“ Die Tochter filmte die Festnahme mit dem Handy. Die Soldaten schrien sie an, zielten auf sie. Während Irina ihre Tochter beruhigte, wurde Witali abgeführt. 

    „Wohin?“, schrie Irina und rannte ihnen nach. 

    „Wir lassen ihn wieder gehen, keine Sorge, wir müssen was klären und lassen ihn dann frei.“ 

    Wenn du genau weißt, die bringen dich um, dann bist du ganz entspannt.

    Mit einem Sack über dem Kopf wurde der ehemalige Kämpfer der ukrainischen Streitkräfte in den Gefangenentransporter gesteckt. Witali erinnert sich, dass er dort drinnen kaum den Boden berührte: Er wurde so sehr verprügelt, dass er von Wand zu Wand flog, von einem Soldaten zum anderen. Sie brachten ihn zu einem Bach, gaben ihm eine Schaufel und sagten, er soll sich sein Grab schaufeln. 

    „Sie nannten mich Abschaum und Bastard. Während sie mich schlugen, sagten sie, dass sie salo [ukrainischer Speck – dek.] aus mir machen. Salo aus einem Chochol.“ 

    „Und Sie haben gegraben?“ 

    „Nee, ich hab gesagt: Wozu graben? Ist doch ein Fluss da, ich füttere lieber die Krebse. Verstehst du, wenn du genau weißt, die bringen dich um, dann bist du ganz entspannt. Außerdem hatten die mich so verdroschen … Ich war blutüberströmt, da macht noch mehr Schmerz keinen Unterschied. Sie schlugen mir die Zähne aus … Ich konnte nichts machen.“ 

    „Erinnern Sie sich an Namen?“ 

    „Sie sagten, sie seien von der OMON in Dagestan. Ich war allein, ohne Zeugen. Wer den Befehl gab, mich zu schnappen und fertig zu machen, weiß ich nicht.“ 

    Witali wurde nicht umgebracht. Stattdessen brachten sie ihn ins Gebäude der Stadtverwaltung von Molotschansk. Zogen ihm den Sack vom Kopf, aber die Handschellen blieben dran. 

    „Ich steh im Korridor, alles fließt aus mir raus: Rotz, Blut, Sabber, Pisse. Wieder musste ich mich ausziehen und durchsuchen lassen.“ 

    Er wurde in den Keller gebracht. Sein Handy rutschte ihm aus der Unterhose. Darin fanden sie ein Foto seines Bruders mit Scharfschützengewehr in der Hand. 

    „Das volle Programm, ich hab versucht, mich zu schützen, mal den Kopf, mal die Beine, die Arme, wo ich eben gerade Halt fand.“ 

    „Hatten Sie denn keinen Pin-Code am Handy?“ 

    „Hatte ich nicht, wozu auch. Die haben mein ganzes Geld vom Konto abgebucht. Hätte nichts genützt, wenn’s gesperrt gewesen wäre.“ 

    ‚Du bist ATO-ler? Dann lernst du jetzt mal meinen Borja kennen.‘ Borja war eine Pistole. 

    ZSU-Socken, ungesichertes Handy, Sie waren eindeutig nicht auf eine Verhaftung vorbereitet.“ 

    „Auf was bitte? Ich hatte keine Angst, hab geglaubt, unsere Leute lassen das nicht zu. Uns kann man nicht aufhalten, uns kann man nicht verraten. Ich war doch in Tschonhar, in Armjansk, dort war alles vermint, al-les vol-ler Mi-nen. Da brauchst du nur eine Selbstfahrlafette hinzustellen, und keiner kommt mehr durch, durch diese Hölle. Alle zehn Minuten – Kawumm! Aber sie haben uns einfach hängenlassen.“ 

    „Sie haben doch selbst gesagt, dass es auch viele prorussische Leute gab.“ 

    „Na ja, ich konnte das trotzdem nicht so recht glauben. Ich war schon zu Hause, raus aus der Armee. Ich hab diesen Wichsern auch gesagt: Ich kämpfe nicht gegen euch. Aber dann haben sie auf meinem Handy den brennenden Schützenpanzer auf Facebook gefunden. Und was ich auf WhatsApp rumgeschickt habe: ‚Hängt euch auf, ihr Russenwichser‘.“ 

    „Sie waren wieder zu fünft. Wieder Sack übern Kopf, und dann volles Rohr: Prügel, Prügel, Prügel.“ Dann kam der Kommandeur dieser OMON aus Machatschkala und sagte: ‚Du bist ATO-ler? Dann lernst du jetzt mal meinen Borja kennen.‘ Und er holte Borja.“ 

    Borja war eine Pistole. Der Kommandeur schlug Witali damit ins Gesicht, sodass er hinfiel. Dann begann er zu schießen: „Er sagte, das heißt Achmat-Dreieck: beide Knie und Pimmel. Ich hatte die Hände am Rücken, konnte nichts machen.“ 

    „Er schoss mir nacheinander in die Knie, zielte mir zwischen die Beine. Aber ich wich aus. Er traf mich am Oberschenkel. Dann wummerte mir ein Rucksack an den Schädel. Einer stach mir mit einem Messer in die Arme.“ 

    Witali streicht sich über die Arme. Er hat Dutzende kleine Narben, von den Handflächen bis zu den Ellenbogen. Am Oberschenkel haben die Kugeln Spuren hinterlassen. 

     

    Kapitel 5: „Da bin ich mal einem Guten begegnet …“ 

    Keller in Molotschansk, 10. April 2022 

    Im März 2022 zog vor Witalis innerem Auge seine gesamte Dienstzeit vorüber. Was ihn rettete, war, dass die Pistole Borja keine tödlichen Geschosse hatte und es im Keller kalt war. Und, dass er selbst halb nackt war (Den Verletzungen nach zu urteilen war es eine Pistole vom Typ Osa, die Gummigeschosse hatten einen Metallkern – Novaya). 

    „Anscheinend hat mein Körper jede Menge Adrenalin ausgestoßen. Ich kam zu mir, guckte: Meine Schuhe sind voller Blut. Ich brachte meine gefesselten Hände am Hintern vorbei nach vorne.“ 

    Drei Tage lang blieb er auf den Beinen, lief im Kellerraum umher. Am Morgen kam der Wächter und wunderte sich, dass Witali noch lebt. 

    „Ich wundere mich selbst, dass ich nicht verreckt bin … Dann wieder Prügel. Und Folter mit Strom. Mit Tapik (Feldtelefon der Armee, das auch zur Folter mit Stromstößen eingesetzt wird – dek), das ist echt scheiße, da musst du zeigen, dass es dich zerreißt, musst dich winden und schreien. Dann drehen sie die Spannung nicht hoch und du überlebst.“ 

    Die einen droschen los, während sich die anderen unterhielten, dann droschen die anderen. 

    „Sie fragten, wen ich in der Stadt vom Militär kenne … Ich sagte, ich bin nicht von hier, ich war in Enerhodar beim Militär. In Molotschansk kenn ich keinen, was wollt ihr von mir? Dann fragten sie nach Geschäftsleuten. Einer der Russen sagte: ‚Zu mir haben sie schon Bauern in den Keller gebracht. Einer wurde einen ganzen Tag verprügelt. Seine Frau brachte 2000 Bucks, und er kam frei. Zwei Tage später wurde er wieder gebracht, wieder verprügelt. Seine Frau brachte nochmal 2000, und er wurde freigelassen.“ 

    Sie hätten mal sehen sollen, wie die teilen …

    Witali hatte da schon gelernt, woran er den Morgen erkannte, weil dann nämlich die Leute „zur Bearbeitung gebracht werden“: „Wenn sie zurückkamen, konnte ich die einzelnen Leute an den Schreien erkennen. Nach dem Mittag fing das an.“ 

    Am 10. April 2022 waren in Molotschansk Explosionen zu hören. Witali erinnert sich, wie alle, die ihn vorher geschlagen hatten, in den Keller gelaufen kamen und sich dort bei ihm versteckten. 

    Sie fingen an: „Witacha, du kennst doch bestimmt diesen Punja aus deinem Dorf?“ – „Kenn ich nicht, wer ist das? (Ich kannte ihn natürlich, aber warum sollte ich …)“ – „Der soll vier Autos haben, Geld ohne Ende, 150 Stück Hornvieh und 200 Schweine. Wir teilen.“ 

    „Sie hätten mal sehen sollen, wie die teilen …“, schnaubt Witali. „OMON-Leute gegen Infanteristen … Sie schrien: Wir haben den zuerst geschnappt. Die anderen: Nein, wir waren die Ersten … Und Punja saß nebenan und brüllte, dass alle ATO-Veteranen Junkies und Mörder sind und er sie hasst … Dann kam der Bürgermeister, der schon vor 2022 Bürgermeister von Molotschansk gewesen war, und nahm Punja mit: Hat ihn gerettet.“ 

    Unter denen, die sich vor dem Beschuss im Keller versteckten, war auch ein Soldat Namens Georgi, Rufname „505“. 

    „Da bin ich mal einem Guten begegnet. Während die anderen über Punjas Besitz stritten, saßen wir nebeneinander und redeten“, erzählt Witali.  

    Georgi fragte: „Was bist du für einer?“ – „ATO-ler.“ – „Dann bist du am Arsch“, schlussfolgerte 505, brach das Gespräch aber nicht ab. 

    Natürlich kooperiere ich zum Wohle meiner Heimat. Der Ukraine.

    Sie kamen drauf, dass Witalis Bruder, der für die ukrainischen Streitkräfte kämpfte, in der gleichen Saratower Militärschule ausgebildet worden war wie Georgi. Sie redeten über die Armee in den 1990ern. Georgi reagierte schockiert darauf, dass man Witali in die Beine geschossen und ihn mit einem Messer malträtiert hatte. 

    „Er brachte mir einen Verbandskasten russischer Produktion. Ich nahm Elastikbinden und wickelte sie mir um die Beine.“ 

    „Danke, Major.“ – „Woher kennst du dich mit Rängen aus?“ 505 hatte keine Abzeichen.  – „Ich spür das.“ 

    Dann erzählte Georgi, dass er Stabsleiter ist, und Witali rezitierte das Gedicht „Wassili Tjorkin“ von Alexander Twardowski

    Als eine halbe Stunde später alle weg waren, musste Witali hoch in das Zimmer von 505 im ersten Stock: „Der Stabsleiter hat gesagt, wir müssen ein Video aufnehmen.“ 

    „‚Ich, Manshos Witali Wladimirowitsch, verpflichte mich, zum Wohle meiner Heimat mit der russischen Armee zu kooperieren.‘ Das habe ich aufs Handy aufgesprochen. Na und? Natürlich kooperiere ich zum Wohle meiner Heimat. Der Ukraine.“ 

     

    Fortsetzung folgt … am 23. Januar 2025. 

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