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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Kampfplatz der Imperien

    Kampfplatz der Imperien

    Die Stadt Kars liegt im heutigen Ostanatolien. Bekannt wurde sie durch den Roman Schnee von Orhan Pamuk. Der türkische Nobelpreisträger macht darin politische und religiöse Spannungen zum Thema, die aus der wechselhaften Geschichte des Ortes und seiner Bewohner herrühren. Im Lauf der Jahrhunderte war die Region nacheinander Teil mehrerer Reiche: des armenischen Königreichs, von Byzanz, des georgischen Königreichs und des Osmanischen Reichs. Nach dem Russisch-Osmanischen Krieg von 1877/78 wurde Kars schließlich von Russland annektiert

    Um die Region zu „befrieden“, siedelte Russland religiöse Minderheiten wie Duchoborzen oder Molokanen aus anderen Teilen des Imperiums in Kars an. Die neuen Herrscher verpassten der Stadt ein neues Antlitz mit am Reißbrett geplanten Straßen als Symbol von Ordnung und Fortschritt. Die „Modernisierung“ bedeutete aber auch Vertreibung zehntausender muslimischer Bewohner.  

    Bis zum Ersten Weltkrieg war Kars von großer ethnischer Vielfalt geprägt. In der Stadt lebten Armenier, Türken, Kurden, Griechen, Russen, Juden, Esten, Deutsche und zahlreiche andere. Nach der Oktoberrevolution zogen die Bolschewiki die Truppen zurück und Kars kam wieder unter türkische Herrschaft.  

    Inspiriert von Pamuks Roman Schnee hat sich der Fotograf Max Sher 2009 in Kars auf Spurensuche gemacht. Ihm ging es darum, „das Orientalische ohne Klischees einzufangen“ sagt Sher. Er suchte nicht das Fremde, sondern das Vertraute.  

    Gemeinsam mit der Anthropologin Kübra Zeynep Sarıaslan entstand das Buch Snow, das 2025 erschien. Darin beschreiben Sher und Sarıaslan aus historischer, anthropologischer und künstlerischer Sicht, wie Kars zum Schauplatz imperialer Machtspiele zwischen Russland und der Türkei wurde. Die Geschichte der Stadt spiegelt geopolitische Interessen, koloniale Strategien und Migration wider – bis hin zur heutigen Isolation durch die geschlossene Grenze zu Armenien.  

     

    Wir zeigen eine Auswahl von Shers Bildern. 

    Das Buch ist über den Verlag The Velvet Cell erhältlich: Max Sher: Snow 

    Das heutige Dorf Akçalar hieß bis 1928 „Choroscheje“ (Russisch „gut“) und war eines von fünf russisch-orthodoxen Dörfern, die im Zuge der Kolonisierung rund um Kars gegründet wurden. Eine dieser Siedlungen erhielt sogar den großsprecherischen Namen „Wladikars“, Russisch für „Beherrsche Kars“. Er erinnert an zwei andere Außenposten des Imperiums: Wladiwostok („Beherrsche den Osten“) am Pazifik und Wladikawkas („Beherrsche den Kaukasus“) in Ossetien. Die Siedlungspolitik in der Region Kars zielte auf eine loyale russischsprachige Bevölkerung, auch mit religiösen Minderheiten wie Molokanen und Duchoborzen. Nach dem Rückzug Russlands 1921 verließen fast alle Siedler die Region / Foto © Max Sher 
    Ein Telefon mit gesperrter Wählscheibe in der mittlerweile geschlossenen Teestube Yeşilyurt Kıraathanesi. Sie wird in Pamuks Roman Schnee erwähnt / Foto © Max Sher
    In einer Trauer-Prozession über die Faikbey-Straße erinnern Mitglieder der Schia-Gemeinde an den Tod von Imam Hussein, dem Enkel des Propheten Mohammed. Etwa jeder vierte Bewohner von Kars gehört diese Strömung des Islam an. Die meisten von ihnen sind ethnische Aserbaidschaner / Foto © Max Sher 
    Blick über Kars mit den Vierteln Sukapı und Kaleiçi. Man erkennt mehrere Moscheen, darunter die frühere armenische Kathedrale, heute die Merkez-Kümbet-Moschee / Foto © Max Sher 
    Links: Der Landarbeiter Lawrenti lud uns zu sich nach Hause ein. Er wohnt etwa 20 Kilometer nordöstlich von Kars in Arpaçay. Er verstand Russisch, antwortete aber auf Türkisch. Er, seine Frau und sein Sohn waren wohl die letzten am Ort verbliebenen Nachfahren russischer Molokanen. Rechts: Eine Besucherin auf der Skipiste in den Allahuekber-Bergen / Fotos © Max Sher 
    Schneebedeckte Felsen im Viertel Sukapı. In der Nähe stand einst das Haus des armenischen Dichters Jeghische Tscharenz / Foto © Max Sher 
    Der Fluss Kars Çayı / Foto © Max Sher 
    Die Çamçavuş-Brücke auf der Straße von Kars nach Ardahan, über den Fluss Kars Çayı. Der Lkw-Fahrer und das Vieh, das er transportierte, kamen bei dem Unfall ums Leben – verursacht durch vereiste Fahrbahn. Das Gebiet wurde später vollständig vom Çamçavuş-Stausee überflutet, der 2020 gebaut wurde, um die Bewässerung in der Region zu verbessern. Der neue Stausee verschlang zwei Dörfer: Çamçavuş (ehemals Malo-Woronzowka) und Boğazköy (ehemals Prochladnoje). Beide wurden Ende des 19. Jahrhunderts von Molokanen gegründet – im Rahmen der russischen Kolonisation des Karser Grenzgebiets / Foto © Max Sher 
    Ruinen russischer Festungsanlagen aus dem späten 19. Jahrhundert / Foto © Max Sher
    Männer spielen Okey (vergleichbar Rummikub) in der Teestube Yeşilyurt Kıraathanesi, bekannt aus Pamuks Roman Schnee / Foto © Max Sher 
    Ein Autohalter hat seinen Wagen mit einem Teppich abgedeckt. Es steht in der Mimar Oktay Ekinci Straße nahe der Vaizoğlu-Moschee. Das umliegende Viertel wurde in den 2010er Jahren abgerissen, um das historische Zentrum von Kars für Touristen „attraktiver“ zu machen. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass dieses Projekt an die Versuche der russischen Kolonialherrscher zur „Neuordnung“ der Stadt im 19. Jahrhundert erinnert / Foto © Max Sher 
    Gendarmen am Kuyucuk-See, einem wichtigen Naturschutzgebiet nahe der armenischen Grenze / Foto © Max Sher 
    Links: Ein Mann mit heißem Tee im Skigebiet bei Sarıkamış 
    Rechts: Yavuz Uzgur, Schriftsteller und Imam der Evliya-Moschee. Die Moschee wurde im Jahr 2000 an der Stelle errichtet, wo zuvor eine Moschee aus dem 16. Jahrhundert stand, die jedoch während der russischen Invasion von Kars im Jahr 1877 zerstört worden war. Sie soll das Grab von Abul Hassan Harakani beherbergen, einem verehrten Sufi-Mystiker aus Chorasan / Foto © Max Sher 
    Die Festung von Kars thront über dem ältesten Stadtteil Kaleiçi. Heute ist sie ein Museum / Foto © Max Sher 
    Ein Blick auf Kars, wie er häufig auf Postkarten aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu sehen war. Zu sehen ist der Fluss Kars Çayı und – von links nach rechts: das verfallene Herrenhaus von Ahmet Tevfik Paşa, der laut einigen Quellen im 19. Jahrhundert Gouverneur der Provinz Kars war; die Steinbrücke aus dem 16. Jahrhundert, auch bekannt als Brücke von Vardan oder Vartan; die Merkez Kümbet Moschee aus dem 10. Jahrhundert (ehemals armenische Kathedrale der Heiligen Apostel), das Minarett der Evliya-Moschee aus dem 16. Jahrhundert und das Mazlum Ağa Hamamı, ein verlassenes öffentliches Bad aus dem 18. Jahrhundert. Alexander Puschkin erwähnte dieses Bad in seiner Reise nach Erzurum. Kars und Erzurum waren die einzigen Orte außerhalb Russlands, die Puschkin je bereiste – und auch das nur im Zuge eines imperialen Feldzugs / Foto © Max Sher 
    Ein Gedenkmarsch anlässlich des 95. Jahrestags der Schlacht von Sarıkamış in den Allahuekber-Bergen. Diese Schlacht zwischen osmanischen und russischen Truppen im Ersten Weltkrieg forderte zwischen Dezember 1914 und Januar 1915 auf beiden Seiten zehntausende Todesopfer. Sie begann mit einer Offensive unter der Führung des osmanischen Oberbefehlshabers Enver Paşa, der versuchte, das Gebiet um Kars von Russland zurückzuerobern. Die Aktion endete in einer verheerenden Niederlage der türkischen Armee – verursacht durch strategische Fehlentscheidungen, schlechte Kommunikation zwischen den Truppenteilen und fehlende Vorbereitung auf winterliche Kämpfe im Gebirge. Allein am 13. Dezember 1914 erfroren tausende türkische Soldaten bei dem Versuch, die Berge auf dem Weg zur russisch kontrollierten Grenzstadt Sarıkamış zu überqueren. Auf russischer Seite kämpften auch mehrere tausend armenische Freiwillige, was Enver Paşa dazu veranlasste, seine Niederlage allein ihnen zuzuschreiben. Historikern zufolge führte dies zu Deportationen und Massakern an osmanischen Armeniern – geplant und durchgeführt durch Enver Paşa und seine Verbündeten – und mündete schließlich im Völkermord an den Armeniern von 1915  / Foto © Max Sher 
    Der Fluss Arpaçay (armenisch: Akhuryan) markiert die Grenze zwischen der Türkei (linkes Ufer) und Armenien (rechtes Ufer), wie sie im Vertrag von Kars von 1921 festgelegt wurde. Das Abkommen wurde von der provisorischen Großen Nationalversammlung der Türkei und den neu geschaffenen sowjetischen Marionettenregierungen von Armenien, Georgien und Aserbaidschan unterzeichnet. Es beendete eine Serie blutiger Kriege und militärischer Konflikte, die nach dem Zusammenbruch des Russischen Reiches sowie der Aufteilung und Besetzung des Osmanischen Reiches durch die alliierten Mächte des Ersten Weltkriegs (Großbritannien, Frankreich, Italien und Griechenland) ausgebrochen waren. 
    Durch den Vertrag wurden die Provinz Kars sowie weitere Gebiete, die ursprünglich zur unabhängigen Republik Armenien gehören sollten, der Türkei zugesprochen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die türkische Armee bereits weite Teile des Südkaukasus erobert, und die kurzlebige Erste Republik Armenien war sowohl von der Roten Armee als auch von der türkischen Nationalbewegung überrannt worden. 
    Die Türkei erhielt damit fast alle Gebiete zurück, die sie 1878 an Russland verloren hatte – und darüber hinaus das benachbarte Iğdır (Surmalu), das vor der russischen Annexion 1828 zu Persien gehörte. Der Vertrag von Kars gilt auch als wichtiger Schritt zur Beendigung der jahrhundertelangen russischen Expansionspolitik in Ostanatolien (Westarmenien) und trug zur Annäherung zwischen zwei jungen Staaten bei: der Republik Türkei und der Sowjetunion. 
    Letztere erhob jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg erneut Gebietsansprüche auf Ostanatolien – unter dem Vorwand, es mit Sowjetarmenien und -georgien „wiederzuvereinigen“. Dies führte dazu, dass die bis dahin neutrale Türkei – militärisch unterlegen und nicht bereit, Territorium abzutreten – der NATO beitrat und Verbündeter der USA wurde / Foto © Max Sher 
    Die nebelverhangene Geisterstadt Ani und die Kirche des heiligen Gregor aus dem 13. Jahrhundert. Ani war von 961 bis 1045 Hauptstadt des Bagratiden-Königreichs Armenien und zählte damals zu den größten Städten der Welt. 1236 wurde sie von den Mongolen geplündert und 1319 durch ein Erdbeben schwer beschädigt. In den folgenden Jahrhunderten fiel Ani unter die Herrschaft verschiedener Reiche: Byzanz, Seldschuken, Georgier, Armenier, Timuriden, Safawiden, Osmanen. Nach und nach verfiel die Stadt und war spätestens im 17. Jahrhundert völlig verlassen. 2016 wurde Ani in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen Foto © Max Sher 

     

    Fotos und Texte: Max Sher 
    Bildredaktion: Andy Heller 
    Veröffentlicht am 24.04.2025 

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  • Zwischen den Fronten

    Zwischen den Fronten

    2014 versprach Wassil Werameitschyk seiner Familie, für die Verteidigung der Ukraine zu kämpfen, wenn einmal Panzer Richtung Kyjiw rollen sollten. Als 2022 tatsächlich Panzer Richtung Kyjiw rollten, löste er sein Versprechen ein. Als ausgebildeter Soldat schloss sich der Belarusse dem Widerstandskampf der Ukraine an. Dorthin war er geflohen, weil ihm in Belarus die Festnahme drohte. Während der Massenproteste 2020 war er bereits im Gefängnis gelandet.  

    Heute befindet sich Werameitschyk wieder in belarussischer Haft. Im November 2024 war er in Vietnam verhaftet und den belarussischen Behörden übergeben worden – es ist eine wilde Geschichte mit vielen Fragezeichen, die aber auch zeigt, wie belarussische Freiwillige aus jeglichem Raster herausfallen und zwischen die Fronten geraten können. 

    Seit der Festnahme setzen sich seine Frau und seine Mutter bei der ukrainischen Führung dafür ein, ihn auf die Listen zum Gefangenenaustausch zu setzen. Das belarussische Online-Portal Euroradio hat mit Werameitschyks Frau Jauhenija gesprochen und erzählt die tragische Geschichte ihres Mannes.  

    Mitte März wurde in der Ukraine der Tag des Freiwilligen begangen. Zu diesem Anlass wurde dem Kastus Kalinouski-Regiment, in dessen Reihen sich Wassil Werameitschyk an der Verteidigung der Ukraine beteiligte, die Auszeichnung Für eure und unsere Freiheit verliehen – die größte kollektive Auszeichnung der Ukraine.  

    Fast zeitgleich hielt der Abgeordnete Ihor Hrus eine Rede in der Werchowna Rada. Er wies auf die Notwendigkeit hin, belarussische Kriegsgefangene zu befreien: „Leider gibt es Jungs, die in den ukrainischen Streitkräften gekämpft haben und sich jetzt in Kriegsgefangenschaft befinden. Die müssen wir alle befreien“, sagte Hrus vor dem Parlament.  

    Abgesehen von Werameitschyk weiß man von zwei weiteren belarussischen Freiwilligen, die Kriegsgefangene sind – aber in Russland: Sergej Degtew (Kampfname Kleschtsch – dt. Zecke) und Jan Djurbejko (alias Trombli). Sie stehen zwar in den Austauschlisten, über ihr Schicksal ist jedoch seit mehr als zwei Jahren nichts bekannt. Seit Werameitschyk im November 2024 in Vietnam verhaftet wurde, klappert seine Frau Jauhenija die ukrainischen Instanzen ab, hat aber bisher auf alle ihre Schreiben nur maschinelle Antworten bekommen. Jetzt schöpft sie allerdings Hoffnung: 

    „Erstens signalisiert Lukaschenko seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten die Bereitschaft, Kontakt zu den USA aufzunehmen. So gab er dem US-amerikanischen Blogger Mario Naufal ein Interview. Offenbar sieht er in Trump ein würdigeres Gegenüber als in Joe Biden. Zweitens haben wir durch Trumps Zutun bereits die Befreiung von mehreren politischen Gefangenen in Belarus gesehen. Das bedeutet, dass Absprachen möglich sind. Natürlich sind politische Häftlinge etwas anderes als Kriegsgefangene, aber es zeigt doch, dass Lukaschenkos Regime gesprächsbereit ist.  

    Zudem tauchen in den Medien jetzt die Namen von Belarussen auf, die auf Seiten Russlands gekämpft haben und mittlerweile in ukrainischer Kriegsgefangenschaft sitzen. Manche von denen haben sich sogar schon an Lukaschenko gewandt. Und wir können nun den Austausch dieser Leute gegen jene anbieten, die die Ukraine verteidigt haben. Seit Wassilis Entführung im November haben wir verschiedene Strategien verfolgt. Wir hoffen, dass sich in der Ukraine Leute finden, die uns zuhören und gesprächsbereit sind.“  

    Wassil Werameitschyk mit seiner Familie. / Foto © privat
    Wassil Werameitschyk mit seiner Familie. / Foto © privat

    Werameitschyk hatte auch in der Armee von Belarus gedient 

    Wir sprachen mit Wassil Werameitschyks ehemaligem Kameraden, den er gleich in den ersten Kriegstagen kennenlernte. Wassili kam damals ins Quartier nach Kyjiw, wo die freiwilligen Kämpfer zwischen ihren Einsätzen untergebracht waren. Werameitschyk hatte früher einmal als Vertragssoldat in den belarussischen Streitkräften gedient, aber vor fast zehn Jahren gekündigt und dann in die IT-Branche gewechselt. Als ehemaliger Offizier konnte Werameitschyk professionell agieren. Er war gut im Organisieren von Abläufen und kannte viele nützliche Tipps – im Unterschied zu vielen anderen, die im Februar 2022 erstmals eine Armee von innen sahen. 

    „Ein tougher, selbstsicherer Mann mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn. Absolut verlässlich, ich hatte nie Zweifel an ihm. Er setzte sich für Disziplin ein, damit keine Machnowschtschina entsteht, sondern eine ordentliche Militärstruktur“, erzählt sein Kamerad. Ein anderer Kamerad von Werameitschyk, Bobr (dt. Biber) genannt, ließ sich von Wassilis Ausdauer inspirieren und erzählt folgende Erinnerung: 

    „Ein Bild ist mir geblieben: Wir saßen im Schützengraben in einem Dorf namens Losowa, es wurde geschossen. Wassili ging mal hierhin, mal dahin, kümmerte sich um die anderen, und wenn Geschosse flogen, zog er nur so ein bisschen den Kopf ein. Und dann war da noch ein ukrainischer Offizier, der gar nicht mehr reagierte. Ich war damals begeistert von ihrer Tapferkeit.“    

    „Leider betrachten viele Ukrainer heute Belarus als Aggressor-Land“ 

    In der Ukraine weiß man, welche Rolle Freiwillige aus Belarus spielen, aber Werameitschyks Fall ist dadurch komplizierter, dass ihm die Rückkehr in die Ukraine verboten wurde. Um der ukrainischen Gesellschaft derart seltsame Umstände zu erklären, brauche es viele Worte und viel Zeit, sagt Jauhenija Werameitschyk.  

    Nach Wassils Auslieferung an Belarus kursierte im Internet das Gerücht, sein Einreiseverbot in der Ukraine gehe von jener Militäreinheit aus, in der er gedient hat. Doch der Kommandeur des Kalinouski-Regiments, Pawel Schurmei, dementiert diese Gerüchte. Werameitschyk hatte, nachdem er die Ukraine verlassen hatte, versucht, in Litauen Fuß zu fassen, doch dort hielt man ihn für eine „Bedrohung der nationalen Sicherheit“. Vielleicht wegen seiner Vergangenheit als Vertragssoldat der belarussischen Armee, die er bei seinem Antrag auf einen temporären Aufenthaltstitel nicht verheimlicht hatte.  

    Wassil Werameitschyk bei seiner Ankunft am Flughafen Minsk, nachdem er in Vietnam belarussischen Behörden übergeben worden war. / Screenshot Video ONT 

    Wegen seiner Probleme mit dem Aufenthaltsrecht in der Ukraine und Litauen reiste Werameitschyk nach Vietnam, wo er schließlich festgenommen und an Minsk ausgeliefert wurde. Seine Frau sagt dazu: „Wassili wurde entführt.“ Bis zum heutigen Tag wisse keiner, wie die Ukraine einen, der sie verteidigt hat, als unerwünscht betrachten könne. „Die Ukrainer verstehen nicht, wieso sie diese Person austauschen sollten, wo sich doch Tausende ihrer Landsleute in Kriegsgefangenschaft befinden. Wir dachten, die Kommandeure seines Regiments könnten bei der Klärung der Situation behilflich sein, wir konnten aber keinen von ihnen erreichen. Daher würden wir uns mit der Bitte um Wassilis Austausch gern an belarussische und ukrainische Menschenrechtsaktivisten und an die Führung der ukrainischen Streitkräfte wenden.“ 

    Das sei wichtig, weil die Ukraine mit diesem Schritt für die gesamte belarussische Freiwilligenbewegung ein Zeichen des Respekts setzen würde.  

    „Das wäre nicht nur für die Belarussen eine wichtige Botschaft, sondern für die ganze ukrainische Gesellschaft. Leider betrachten viele Ukrainer heute Belarus als Aggressor-Land. Doch an den Freiwilligen sieht man, dass unsere Völker einander nicht fremd sind und die Ukrainer auch in so einer schwierigen Lage auf die Unterstützung der Belarussen zählen können“, sagt Jauhenija Werameitschyk. 

    Wir sehen, dass er sich nicht unterkriegen lässt 

    Wassils Briefe an seine Frau müssen durch die Zensur – dann ist etliches darin geschwärzt, aber sie kommen immerhin an. „Wir schreiben nicht oft, doch wir schreiben uns. Wir haben natürlich keine Möglichkeit, politische Themen zu besprechen, aber an diesen Briefen sehen wir, dass er sich nicht unterkriegen lässt“, erzählt Jewgenija. 

    Wassils Angehörige hoffen, dass er durchhält, bis die Ukraine sich endlich genauso für ihn einsetzt wie er sich für sie.   

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    Die unglaubliche Revolution

    „Die Belarussen müssen verstehen, dass unsere Zukunft von uns selbst abhängt”

    Kastus Kalinouski

  • Wurzeln und Flügel – Mein Weg zur Identität

    Wurzeln und Flügel – Mein Weg zur Identität

    Taciana Niadbaj, 1982 in Polazk geboren, ist eine belarussische Lyrikerin und Übersetzerin. 2014 debütierte sie mit dem Gedichtband Sirenen singen Jazz (belarus. Sireny spjawajuz dshas), für den sie mit dem Maxim Bahdanowitsch-Preis ausgezeichnet wurde. Der Einsatz für Menschenrechte und die belarusische Kultur ist immanenter Teil ihres Lebens und Schaffens, genau wie die Auseinandersetzung mit den Folgen russischer imperialer Politik für ihre Heimat. Aktuell steht Taciana Niadbaj dem PEN Belarus als Präsidentin vor, der mit Verfolgung und Repressionen aus dem Land getrieben wurde. Auch sie selbst musste ihre Heimat verlassen und lebt nun in Polen. 

    In ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft geht sie der Frage nach, was die belarusische Identität für sie und ihr Leben bedeutet und was getan werden kann, um die belarusische Kultur für die Zukunft zu erhalten.

    Беларуская версія

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    In diesem Text versuche ich zu verstehen, was mich zu der gemacht hat, die ich heute bin. Ich möchte nachvollziehen, woher dieses Gefühl des Belarusischseins kommt, wie es mich trägt und mich vorwärtskommen lässt. Nicht zuletzt möchte ich in meinen Erfahrungen Elemente ausmachen, die anderen bei der Suche und Entfaltung ihrer Identität helfen können. Es sind nicht nur Überlegungen, sondern der Versuch, etwas Größeres zu finden, das für den Aufbau der Kultur und Bildung der Zukunft inspiriert. 

     

    Anthropologische Grabungen im Gedächtnis: Der Ursprung  

    Wenn ich höre, unsere Gesellschaft sei durch und durch russifiziert und alles sei „verloren“, weise ich darauf hin, dass auch ich nicht zwangsläufig hätte Belarusin werden müssen. Ich wuchs nicht in einer belarusischsprachigen Familie auf, wusste unerhört wenig über die Geschichte des Landes, meine Familie pflegte keine explizit belarusischen Traditionen. Man hätte mich ohne Not eine Mankurtin und Renegatin nennen können – und einen Schlussstrich setzen. Was hat mich also zur Belarusin gemacht? Was nährte in meiner Kindheit und Jugend in mir ein Gefühl des Belarusischseins? 

    In der fünften Klasse wurden an meiner Schule zwei Klassen mit Belarusisch als Unterrichtssprache gebildet – die c und die d. Die Klassen a und b blieben russischsprachig. Ich erinnere mich kaum an die damaligen Diskussionen in der Familie, mit den Kindern wurde ohnehin nichts besprochen, aber aus den herumfliegenden Argumenten blieb bei mir hängen, dass man mit einem solchen Schulabschluss nicht an der Universität studieren könne, da es keine Universitäten mit Belarusisch als Unterrichtssprache gab. 

    Überhaupt kann ich mich nicht entsinnen, dass in unserer Familie über Nationalitäten gesprochen wurde. Wie fern mir dieses Konzept lag, zeigte sich gleich in mehreren Situationen. 

    In der Musikschule wurde ich einmal gefragt (es musste wohl in einem Formular eingetragen werden), welche Nationalität ich habe. Ich war verwirrt – ich wusste die Antwort nicht.  

    Die zweite Situation trug sich in der Sonntagsschule zu, die meine Klassenkameraden besuchten. Sie hatten mich eingeladen mitzukommen: Man lernte eine Sprache (Hebräisch, warum auch nicht), Tänze und Lieder. Manchmal wurde ich dort gefragt, ob es in meiner Familie Juden gäbe, und ich verneinte unsicher. Bei der Aufführung zum Purim-Fest gab man mir die Rolle des Haman: Im entscheidenden Moment musste ich betrunken wirken und mit dem Gesicht in den Salat fallen. Ich erfüllte den Auftrag gewissenhaft, obwohl ich die Bedeutung dieser Szene damals nicht verstand. Erst Jahre später wurde mir die Komik der Situation bewusst. 

    Nationalität war für mich lange Zeit keine Kategorie von Bedeutung.   

    Gleichzeitig drängte das Nationale aus den Lehrbüchern für belarusische Literatur ungestüm in den Raum. Und überzeugte nicht. Man hatte das Gefühl, es sei salonfähig und korrekt, Belarus zu lieben … Die 1990er waren voll mit der Rhetorik von „Wiedergeburt“ und „bewussten Belarusen“, aber das fand keine Resonanz. Das aus den Narrativen der Literaturlehrpläne hervorschwellende Pathos, „das harte Leid des Bauern“ und „die Arbeit auf der Scholle“, war mir fremd. Die erhabenen Worte von der Heimat flogen hoch oben vorbei, setzten sich kurz – wie Zugvögel auf Stromleitungen – auf die Zeilen der Schulaufsätze, nur um sofort wieder aus dem Blick zu verschwinden, sobald eine gute Note erteilt worden war. Dann kam die Zeit der Rebellion, in der wir unsere Lehrer fragten: Warum ist Belarusisch unsere Muttersprache, wo wir doch unsere ersten Worte auf Russisch gesagt haben? Die Schule bewirkte also eher eine Ablehnung des Belarusischen. 

    Wie bereits erwähnt, gab mir auch meine Familie keinen Rahmen für die Herausbildung einer nationalen Identität vor, obwohl in den Pässen meiner Eltern (und auch ihrer Eltern) formal eine Nationalität eingetragen war – Russen und Ukrainer. Weiter östlich als Brjansk und Smolensk sind meine Vorfahren meines Wissens aber nie gekommen. Die Situation mit den ukrainischen Verwandten ist klarer (sie waren auf ukrainischem Territorium verwurzelt), die „Russischen“ bleiben – für mich jedenfalls – ein Rätsel. 

    Ich bin indes in Polazk geboren. Diese Stadt lockt und leitet einen natürlich in ein spezielles Koordinatensystem, aber mein Lokalpatriotismus war nicht sonderlich mit der nationalen Identität verbunden. Wenn ich ehrlich mit mir bin, dann weiß ich: Weder der geografische Geburtsort meiner Vorfahren noch mein eigener haben große Bedeutung, solange ich sie ihnen nicht selbst gebe. Zudem gibt es genügend Beweise für das Gegenteil: Menschen, die „hier geboren“ sind, können sich als Subjekte anderer Ideen und Projekte betrachten. 

    Nichts schien also auf meine belarusische Vorbestimmung hinzudeuten – weder die Familie, noch die Schule, noch der Geist der ersten Hälfte der 1990er und die Belarusifizierung. Und doch wählte ich Ende der 1990er (als es schon gar nicht mehr im Trend lag) ganz bewusst das Belarusische. 

    Belarusischsein als bewusste Entscheidung 

    Irgendwann habe ich einmal gesagt, dass mich die Freundschaft zu Belarus gebracht hat. Das ist einerseits wahr, andererseits auch eine gewisse Vereinfachung: Menschen kommen und gehen, und die Ideen, die mit ihnen verbunden sind, müssen sich nicht festsetzen. Es braucht auch eine Umgebung, die dich mit ihrer Metaphysik verführt, mit der du dich identifizieren willst, sie ist fraglos der Nährboden, der – wie in Maxim Bahdanowitschs Sonett – die „Lebenskraft spendet, die Ähren üppig sprießen lässt“, bis es schließlich schon „kein Halten mehr gibt“. Es ist wie an Heiligabend, wenn die Weihnachtssänger an dein Fenster klopfen, du mit ihnen gehst und mit jeder einzelnen Pore die Magie spürst. Als würde man Mietwohnungen, Hostels und Hotelzimmer endlich gegen einen konkreten Ort eintauschen, an dem man sich nicht nur zu Hause fühlt, sondern auch verantwortlich für die Ordnung (oder eben Unordnung), zu der man als Subjekt und Eigentümerin mit den eigenen Händen beiträgt. Die belarusische Identität entbrennt in dir wie ein Stern, zusammen mit diesem Gefühl der Verantwortung – für das Getane und das Nicht-Getane. 

    Mit dieser Entscheidung zu leben ist dann gar nicht so einfach. Du kommst an einen Punkt, an dem du dieses Belarusischsein einfach als stabilen und wichtigen Teil deiner Identität haben willst – nicht als Flagge oder Transparent, und schon gar nicht als etwas, das verteidigt werden muss (für das Eigene einzustehen ist nicht schlimm – aber warum muss man dieses Recht denn erst erkämpfen, kann man nicht einfach sein, wer man will?). Du willst deine Sprache einfach als Kommunikationsmittel nutzen, ohne in der Kleinstadt zu einer Figur zu werden, der immer irgendjemand sagt, „wie schön du Belarusisch sprichst“, ein anderer wiederum sagt „sprich normal“, und noch ein anderer deine Fehler korrigiert und dir rät, erst einmal die Sprache richtig zu lernen, bevor du beginnst sie zu sprechen. Ich träume davon, dass eine Zeit kommt, in der Belarusisch auf unseren Straßen kein Aufsehen mehr erregt.   

    Weiter oben habe ich mir närrische Aussagen über das Pathos der belarusischen Literatur erlaubt – heute weiß ich natürlich, dass die Menschen für die Möglichkeit, Belarusen sein zu können, gestorben sind. Heute schätze und ehre ich die Erfahrung und die Errungenschaften der vorangegangenen Generationen, als deren Fortführung ich mich verstehe. Aber ich weiß auch, dass mich nicht der Lehrplan für belarusische Literatur (in dem genügend ehrenvolle Autoren und Werke vertreten sind) zu dieser Erkenntnis gebracht hat, sondern Freunde, Mitstreiter und Kollegen, die eine Matrix geschaffen haben. Schließt man sich ihr an, begreift man auch das unansehnliche schulische Literaturprogramm als etwas Eigenes, ebenso wie das, was nicht darin vorkommt. Man lernt dazu, begeistert sich und aktiviert in sich diese Möglichkeit – Belarusin zu sein. Du wirst Teil dessen, was vor dir da war, was es dir ermöglicht hat, heute so zu sein, wie du bist, und es das Eigene zu nennen. Du beginnst, in diesem Spiegel dein Abbild zu sehen, das du vorher nicht wahrgenommen hast.   

    Wir registrieren aktuell eine hohe Zahl an Verletzungen der kulturellen Rechte: die Vernichtung der belarusischen Kultur, die Einengung des Raumes, in dem die belarusische Sprache genutzt werden kann, sogar zusätzliche Repressionen und Folter für Belarusischsprechende. Dieser Zustand ist furchtbar und inakzeptabel. Aber ich blicke optimistisch in die Zukunft und bin sicher, dass wir auch unter den heutigen, ungünstigen Bedingungen überleben werden. Nicht nur deshalb, weil man uns bislang nicht erschießt (das könnte ein trauriger Witz sein, würden in den Gefängnissen nicht unsere Mitstreiter an den Repressionen sterben). Unsere Sache mag manchmal hoffnungslos erscheinen, aber tatsächlich sollten wir sie als Erfahrung der Unzerstörbarkeit und des unwahrscheinlichen Überlebens betrachten: Es scheint uns nicht zu geben, und doch – hier sind wir. Was uns nicht tötet, macht uns unsterblich. 

    Von Zeit zu Zeit beginnt ein neuer Zyklus, neue Anhänger kommen dazu. Diese Anfangszeit des Belarusischseins hat ohne Frage auch Nachteile: Wo man sich auf die Erfahrung der Vorgänger hätte stützen und das Wachstum schon auf einer bestimmten Höhe fortführen könnte, begreifen sich die Neulinge als Indexpatienten und beschreiten den Weg von Anfang an, holen sich Beulen, die mit dem Wissen der Vorgänger hätten vermieden werden können. Andererseits hat auch das Vorteile: Die Gewissheit verleiht der Entscheidung Sinn, stärkt die Beharrlichkeit. Nichts von den Niederlagen und Misserfolgen zu wissen, befördert Mut und Kühnheit – und das ist sehr hilfreich für das Fortkommen der Bewegung (vor allem, nicht zu denken, die Situation sei kompliziert und aussichtslos).  

    Wenn ich sage, dass das Belarusischsein unter unseren Gegebenheiten oft eine bewusste Entscheidung ist, erzähle ich gern die Geschichte von den Volkszählungen. Im Jahr 2019 bezeichneten 54 Prozent das Belarusische als ihre Muttersprache, 26 Prozent gaben an, Belarusisch zu sprechen (zum Vergleich: bei den Erhebungen 1999 und 2009 nannten 73 Prozent resp. 53 Prozent Belarusisch ihre Muttersprache, und 37 Prozent resp. 23 Prozent gaben an, Belarusisch zu sprechen). Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass 2019 jeder Vierte in unserem Land Belarusisch gesprochen hat – wenn es doch nur so wäre! Aber ich kann mir gut vorstellen, wie diese Konstruktion der Wirklichkeit zustande kommt: Die bewusst gewählten Antworten bei der Volkszählung sind Ausdruck der zivilgesellschaftlichen Position, eine Erklärung urbi et orbi, worauf es ankommt.  

    Wenn ich von der Aussichtslosigkeit der Sache spreche, weise ich darauf hin, dass 2020 nicht aus heiterem Himmel geschah, es wäre nicht möglich gewesen ohne die stete Vorarbeit der Zivilgesellschaft, darunter auch der kulturellen Projekte und Initiativen (selbst wenn die Neulinge von 2020 den Eindruck haben mögen, dass vorher alles falsch gemacht wurde). Ich erinnere mich gut an die Aktionen für Unabhängigkeit Ende 2019, als einige Dutzend Menschen mit weiß-rot-weißen Fahnen durch Minsk zogen. Ich erinnere mich an den Unwillen der demokratischen Kandidaten bei der Präsidentschaftswahl 2020, die weiß-rot-weiße Flagge zu benutzen. Und ich erinnere mich an den 16. August 2020, als ganz Minsk in Weiß-rot-weiß erstrahlte. Was das Regime heute mit unserer Flagge (und ihren Anhängern) macht, verstärkt nur das symbolische Gewicht und die Bedeutung der Flagge in der Zukunft. Bis dahin werden wir unsere tägliche Arbeit weiterführen. 

    Mein persönlicher Weg zur belarusischen Identität zeigt, wie wichtig es ist, Bedingungen zu schaffen, unter denen Menschen diese Entscheidung bewusst und rational treffen, und sie dann auch beibehalten und festigen können. 

    Oft ergeben sich Diskussionen darüber, ob die Belarusifizierung in den 1990ern erzwungen war – oder ob das nur ein Mythos ist, der zur Abschreckung dient. Ohne Gespräche darüber fallen auch Überlegungen schwer, wie die Zukunft aussehen könnte, wenn in Belarus demokratische Änderungen anstehen. Die Geschichte von der weiß-rot-weißen Flagge beweist meiner Ansicht nach eines: Der Staat muss einfach nur die Zügel lockern und nicht eingreifen – dann richtet sich alles mit der Zeit von selbst ein.   

    Die Förderung und Entwicklung der belarusischen Kultur muss natürlich auch durch die staatliche Politik erfolgen, und so denke ich mit Schrecken an unser Bildungssystem und die Ideologisierung der Kultursphäre. Ich vertraue nur in geringem Maße auf die Fähigkeit der aktuellen Beamten im Bildungs- und Kulturbereich, attraktive Lehrpläne gestalten zu können, die die Schülerinnen und Schüler nicht von der nationalen Kultur abschrecken. Das Problem liegt nicht darin, dass es keine entsprechenden Materialien gäbe (die gibt es), sondern in der Verknöcherung des Behördendenkens und überhaupt im niedrigen Niveau der humanistischen Bildung, das nicht so schnell zu beheben sein wird. 

    Als Ausweg für die Zukunft – auf diese Weise wird kein Zwang notwendig sein – sehe ich die finanzielle Unterstützung (Projektförderung) unabhängiger Kultur- und Bildungsinitiativen durch den Staat. Der Kulturhaushalt sollte also weniger in die Programme des Kultusministeriums fließen, sondern stärker an nichtstaatliche Initiativen gehen, denen es auch vor 2020 den Bedingungen zum Trotz gelang, das Feld der belarusischen Kultur reichhaltig, spannend, attraktiv und inspirierend für alle zu gestalten, die sich dieser Matrix anschließen wollten. Meiner Ansicht nach sollten dabei Projekte priorisiert werden, die auf die Bildung von Gemeinschaft und horizontalen Netzwerken abzielen und eine starke Werteorientierung aufweisen. 

    Zwei Beispiele 

    Ich möchte an dieser Stelle zwei positive Beispiele beschreiben, die konkret für meine persönliche und professionelle Entwicklung und meine Integration in die Berufswelt nicht weniger wichtig waren als die schulische und universitäre Bildung: Im Bereich der Literatur waren das die Werkstätten (Wettbewerbe) für junge Literaten. Im Bereich der Menschenrechtsarbeit – und weiter gefasst, eines Ansatzes, der auf den Menschenrechten als handlungsleitender Maxime beruht – war es die Belarusische Menschenrechtsschule. Ich bin überzeugt, dass viele, die heute eine zentrale Rolle in der belarusischen Bewegung spielen, ähnliche Seminare, Kurse und Projekte nennen können, die sie in den Orbit zogen und Wachstum und Aktivität ermöglichten. Ich beschreibe hier also zwei Beispiele unter vielen, weil sie für mich persönlich eine Schlüsselrolle spielten. 

    Die Wettbewerbe für junge Literaten waren drei- bis fünftägige Werkstätten, die der PEN Belarus zwischen 2000 und 2010 ausrichtete. Man stelle sich vor: Aus dem ganzen Land kamen zwei Dutzend junge Autoren und Autorinnen zusammen, die einander in der Regel noch nicht kannten und die älteren Kollegen auch nur vom Namen her. Für ein paar Tage vertiefen sich diese zwanzig Anfänger und die Riege der Meister völlig in die Literatur – Lyrik, Prosa, Übersetzung. Sie besprechen die vorab geschriebenen und für den Wettbewerb eingereichten Werke, geben einander praktische Ratschläge, es gibt Vorträge über Literaturgeschichte und die aktuelle Situation, es werden praktische Aufgaben gestellt, deren Ergebnisse ebenfalls präsentiert und diskutiert werden. Dieser Cocktail (andere Cocktails gibt es übrigens auch) gemischt mit dem informellen Austausch an den Abenden bis zum Morgengrauen, gibt nicht nur einen riesigen Schaffensimpuls, sondern integriert die Nachwuchsautoren auch in die literarischen Kreise, macht sie miteinander bekannt, schafft kreative, professionelle und freundschaftliche Verbindungen. Ich glaube, es ist vergleichbar mit einer Gruppe Absolventen einer guten Universität nach Jahren des gemeinsamen, anspruchsvollen Studiums. 

    Die Belarusische Menschenrechtsschule ist eine seit 2006 bestehende Bildungs- und Aufklärungsinitiative. Sie legt ein Wertefundament und vermittelt praktisches Wissen im Bereich der Menschenrechte. Mehrere Stufen der Ausbildung – Anfänger bis Fortgeschrittene – fördern mit einem Mix aus verschiedenen Formaten und Methoden, den Grundbestandteilen des nonformalen Lernens und der Kommunikation, nicht nur die Bildung der Teilnehmenden, sondern auch die Integration neuer Aktivisten und Aktivistinnen in die Zivilgesellschaft, ihr Kennenlernen untereinander und den Austausch mit erfahrenen Menschenrechtsaktivisten und Experten. Das Programm beruht auf einer soliden Wertebasis, vermittelt Wissen, das mit einem praxisorientierten Ansatz auf Schutz und Verteidigung der Rechte abzielt. Die Experten der Schule sind Vertreter der wichtigsten belarusischen Menschenrechtsorganisationen, was das Projekt und seine Erfolge zu einer gemeinschaftlichen Errungenschaft macht. Der menschenrechtsbasierte Ansatz ist nicht nur für Menschenrechtsschützer verpflichtend, sondern muss allen demokratisch orientierten Aktivitäten zugrunde liegen. Die Absolvent:innen dieser Intensivkurse werden also zu Trägern von Wissen, Kompetenzen und eines Wertegerüstes, die in allen Bereichen des gesellschaftlichen Engagements nützlich sind. 

    Ich denke, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass meine Tätigkeit beim PEN Belarus heute in weiten Teilen der Teilnahme an den PEN-Seminaren für Literaten zu verdanken ist. Die Menschenrechtsschule gab mir einen starken Start in die Arbeit als Menschenrechtsaktivistin. Die zukünftige Kultur- und Bildungspolitik muss daher meiner Überzeugung nach auf die Unterstützung solcher Projekte hinarbeiten, um Interesse für die belarusische Kultur zu wecken und ein menschenrechtsbasiertes Wertegerüst für jede Form des Engagements zu schaffen. Bis dahin müssen diese und andere Initiativen für die belarusische Zivilgesellschaft mit Unterstützung externer Geldgeber aufrechterhalten werden. 

    Schlussbetrachtung 

    Natürlich gibt es Familien, in denen die Kinder von Geburt an mit dem Belarusischsein aufwachsen, aber das ist nicht der einzige Weg. Wenn man keine belarusischsprachige Familie hat, kann das Umfeld die Möglichkeit geben, bezüglich der Sprache eine Entscheidung zu treffen, sie beizubehalten und auszubauen. Belarusischsein – das ist nicht nur etwas, das weitergegeben wird, sondern auch etwas, das bewusst gewählt wird, um Teil von etwas Größerem als man selbst zu sein. Es ist eine Entscheidung, die die Zukunft prägt. 

    Jeder neue Mensch, der das Belarusischsein wählt, macht sich zum Teil einer großen Geschichte, die auch unter den schwierigsten Bedingungen nicht abbricht. Diese Entscheidung kann er aber nur treffen, wenn es Unterstützung und Nährboden für Wachstum und Entwicklung gibt. Wir schaffen diesen Boden durch unsere tägliche Arbeit: durch Kultur, Bildung, Gemeinschaft. Diese Arbeit geschieht vielleicht unauffällig, aber sie sichert eine Zukunft, in der das Belarusischsein keine Ausnahme mehr sein wird, sondern die Norm. 

    Belarusischsein bedeutet heute nicht nur eine Entscheidung, sondern auch eine Verantwortung. Dafür, dass das vor uns Erreichte nicht verlorengeht, dass unsere Bemühungen zum Fundament für die nachfolgenden Generationen werden. Belarusischsein – das ist wie ein Feuer, das man nicht nur entzünden, sondern auch weitergeben muss. Und es ist kein Feuer der Auflehnung, sondern des Aufbaus, das selbst dann noch brennen wird, wenn ringsum nur noch Dunkelheit zu herrschen scheint. 

    Stark können wir nur zusammen werden. Belarusischsein ist keine Sache einer Einzelperson, sondern die einer Gemeinschaft, die den Menschen hilft, sich in dieser Welt zu finden. Wir brauchen einander, die Unterstützung und die Mitarbeit, damit jedes Jahr mehr Menschen fühlen, dass Belarus nicht nur ein Land ist, sondern ein Zuhause, das wir alle gemeinsam bauen. 

    Die aktuellen Rahmenbedingungen mögen ungünstig erscheinen, aber ich glaube daran, dass die Zukunft der belarusischen Kultur von uns abhängt. Von unserer Fähigkeit zu träumen, zu arbeiten und uns treu zu bleiben. Die Geschichte hat mehr als nur einmal gezeigt: Was wahrhaftig und lebendig ist, findet immer einen Weg zu bestehen. Und so wird Belarus seinen Weg finden, dank uns und allen, die nach uns kommen werden. 

     

    Anmerkung der Redaktion 

    Weißrussland oder Belarus? Belarusisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet. 

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  • Imperiale Spuren im „nahen Ausland“

    Imperiale Spuren im „nahen Ausland“

    Wenn russische Diplomaten vom „nahen Ausland“ sprechen, schwingen viele Bedeutungen mit. Gemeint sind die Staaten, die aus dem Zerfall der Sowjetunion hervorgegangen sind: Sie sind zwar formal unabhängig, doch erhebt Moskau weiter den Anspruch auf Mitsprache. In seiner aktuellen Ausstellung New Fatigue legt der Fotograf Eiko Grimberg offen, wo dieser imperiale Anspruch auch an der Oberfläche sichtbar wird: an Gebäuden und in Städten des ehemaligen Ostblocks, aber auch in öffentlichen Ritualen und Demonstrationen.  

    Zu Diptychen kombiniert, entfalten Grimbergs Bilder eine zusätzliche Bedeutungs-Dimension. Die Ausstellung mit Fotografien aus drei Jahrzehnten ist noch bis zum 10. Mai in der Galerie K‘ in Bremen zu sehen:  

    Galerie K’ 

    Alexanderstraße 9 b / Weberstraße 51 a 
    28203 Bremen 

    Weberstraße: Eiko Grimberg  
    New Fatigue 

    Alexanderstraße: Arne Schmitt
    viel oder wenig Bild oder Text 

    Odessa 1993 / Fotos © Eiko Grimberg
    Odessa 1993 / Fotos © Eiko Grimberg
    Simferopol / Kyjiw 1994 / Fotos © Eiko Grimberg
    Simferopol / Kyjiw 1994 / Fotos © Eiko Grimberg
    Sankt Petersburg 1994 / Fotos © Eiko Grimberg
    Sankt Petersburg 1994 / Fotos © Eiko Grimberg
    Sankt Petersburg 1994 / Fotos © Eiko Grimberg
    Sankt Petersburg 1994 / Fotos © Eiko Grimberg
    Moskau 2016 / Fotos © Eiko Grimberg
    Moskau 2016 / Fotos © Eiko Grimberg
    Prag 2024 / Fotos © Eiko Grimberg
    Prag 2024 / Fotos © Eiko Grimberg
    Warschau 2024 / Fotos © Eiko Grimberg
    Warschau 2024 / Fotos © Eiko Grimberg
    Moskau 2016/2017 / Fotos © Eiko Grimberg
    Moskau 2016/2017 / Fotos © Eiko Grimberg
    Berlin 2022 / Fotos © Eiko Grimberg
    Berlin 2022 / Fotos © Eiko Grimberg
    Berlin und Prag 2022 / Fotos © Eiko Grimberg
    Berlin und Prag 2022 / Fotos © Eiko Grimberg
    Zu Wasser, zu Lande und in der Luft / Fotos © Eiko Grimberg
    Zu Wasser, zu Lande und in der Luft / Fotos © Eiko Grimberg
    Berlin 2022 / Fotos © Eiko Grimberg
    Berlin 2022 / Fotos © Eiko Grimberg
    Sowjetisches Ehrenmal im Treptower Park Berlin 9. Mai 2022.  Berlin 24.8.2022 / Fotos © Eiko Grimberg
    Sowjetisches Ehrenmal im Treptower Park Berlin 9. Mai 2022. Berlin 24.8.2022 / Fotos © Eiko Grimberg
    Prag 2024. Berlin 2023 / Fotos © Eiko Grimberg
    Prag 2024. Berlin 2023 / Fotos © Eiko Grimberg
    Berlin 2016. Berlin 2024 / Fotos © Eiko Grimberg
    Berlin 2016. Berlin 2024 / Fotos © Eiko Grimberg

     

    dekoder: Ihre aktuelle Ausstellung trägt den Titel New Fatigue. Was steckt dahinter? 

    Eiko Grimberg: New Fatigue spielt auf eine Erschöpfung an, die gerade viele empfinden, und die aus der Flut schlechter Nachrichten resultiert: erst Corona, dann der russische Krieg gegen die Ukraine, der 7. Oktober und der Krieg in Gaza und ganz aktuell US-Zölle und Kurseinbrüche. Die Dichte an Nachrichten ist so hoch, dass man ihr manchmal kaum noch folgen, geschweige denn sie verstehen und verarbeiten kann. Das führt bei vielen Menschen zu einer Ermüdung, man spricht dann von „news fatigue“. In der Ausstellung gibt es ein Video mit dem Titel Journal, das diese Überforderung spürbar macht: eine schnelle Abfolge von Bildern und Videos, die kaum zu verarbeiten ist. Gleichzeitig entsteht daraus aber auch ein Sog, der den Betrachter hineinzieht. 

    Sie waren bereits in den 1990er Jahren mit Ihrer Kamera in der Ukraine und auch in Russland unterwegs. Jetzt kontrastieren Sie die Bilder von damals mit aktuellen Fotos. Was ist Ihnen dabei aufgefallen? 

    Mir ging es dabei um die Perspektive von heute auf das Damals. Ich habe mir meine alten Bilder angesehen und mich gefragt, ob man darin vielleicht Hinweise auf die Entwicklungen finden kann, von denen heute einige sagen, man konnte das nicht kommen sehen. Manchmal sieht die Kamera ja Dinge, die wir selbst nicht bemerken und die uns erst später auffallen. Gleichzeitig habe ich dadurch aber auch etwas über mich selbst gelernt und darüber, mit welchem Blick ich nach dem Untergang der Sowjetunion in diese Region gefahren bin. 

    Und was war das für ein Blick? 

    Ich würde ihn heute als tendenziell nostalgisch beschreiben. Als junge Männer Anfang 20 aus Westdeutschland haben meine Reisegefährten und ich nach den sichtbaren Manifestationen alles Sowjetischen gesucht. Ich habe die Treppe in Odessa fotografiert, die durch den Sergej-Eisenstein-Film Panzerkreuzer Potemkin weltberühmt wurde, rote Sterne und Stalinbauten. Mit der Perspektive von heute erkenne ich in diesen Monumentalbauten aber noch etwas anderes, nämlich eine imperiale Markierung, die Moskau an Orten hinterlassen hat, die das Regime heute als „nahes Ausland“ bezeichnet und es damit weiterhin als eigene Einflusszone beansprucht.  

    Moskau hat mit diesen Bauten seinen Einflussbereich also gewissermaßen visuell markiert? 

    Genau. Ich war im vergangenen Jahr zwei Mal in Warschau. Dort steht ja mitten in der Stadt der Kulturpalast, ein Geschenk der Sowjetunion im Stil des Sozialistischen Klassizismus, auch Zuckerbäckerstil genannt. Und mir ist klar geworden, warum die Polen nach dem Krieg den Wiederaufbau der von der Wehrmacht zerstörten Altstadt so vorangetrieben haben. Die wollten offensichtlich den Sowjets nicht so viel Raum geben. Die hatten sich schon den zentralen Platz direkt am Hauptbahnhof genommen, also guckt man, wie man das begrenzt. Das ist schon eine interessante Entgegnung.  

    Etwas Ähnliches sehen wir ja in der Ukraine: Dieses Wiederentdecken von nationalen Traditionen, die Suche nach den Wurzeln der eigenen Identität, um nicht eine fremde übergestülpt zu bekommen …  

    Es gibt noch einen anderen interessanten Trend: In Putins Erzählung ist Stalin stark und Lenin schwach. Lenin wird heute fast ausgeblendet, während Stalin als großer Verteidiger des Vaterlandes wieder gefeiert wird. Damit geht einher, dass die Architektur der Moderne der 1920er und frühen 1930er Jahre nicht besonders pfleglich behandelt wird. Vieles wird abgerissen, wenig steht unter Denkmalschutz. Das ist insofern bemerkenswert, als nicht wenige dieser Modernisten ukrainische Wurzeln hatten. Wladimir Tatlin etwa oder auch Kasimir Malewitsch. Das spielte damals vielleicht keine Rolle. Aber es ist spannend zu sehen, wie diese Künstler je nach politischer Konjunktur eingemeindet oder wieder ausgeblendet werden. Die Internationalität der Sowjetunion dieser Periode wird heute als Schwäche betrachtet. 

    Mit einem Ort in Moskau haben Sie sich sehr ausführlich beschäftigt: 1931 ließ Stalin die Christ-Erlöser-Kathedrale am Ufer der Moskwa sprengen. Am selben Ort sollte der Palast der Sowjets errichtet werden. Auf dessen Fundament entstand unter Chruschtschow dann ein riesiges Freibad mitten in der Stadt. Und 1995 begann dort der Wiederaufbau der Kathedrale. Was erzählt das über das Land? 

    Mich faszinierte an diesem Pool, dass er gewissermaßen in einer Falte der Geschichte lag. Er war groß, er war zentral, aber anders als die Sieben Schwestern erstreckte er sich nicht vertikal, sondern horizontal im Raum. Das kreisrunde Bassin Moskwa war ein Sieg über die Natur, weil man dort auch bei Minusgraden im beheizten Wasser das ganze Jahr über schwimmen konnte, umgeben von einer eindrucksvollen Dampfwolke. Fast wie durch Zufall hatte sich die Gesellschaft da etwas Tolles gebaut. Aber dann wurde das sofort wieder verdrängt und zurückgebaut. 

    Gar nicht weit von dieser Stelle, vor den Mauern des Kreml, steht seit 2016 die Statue des Großfürsten Wladimir. Welche Rollte spielt sie? 

    Auf die Statue bin ich gestoßen, während ich an dem Projekt über den Pool gearbeitet habe. Ich war zufällig gerade dort, als mit einem Kran das große Kreuz eingehängt wurde. Ich habe das fotografiert, aber mir wurde erst später klar, welcher Wladimir hier eigentlich gewürdigt wird und was das politisch bedeutet. Er schaut ja auf die Kathedrale, er schaut vor allen Dingen aber in die Ukraine, glaube ich. Das war für mich so ein Moment, da dachte ich: Das ist jetzt eine Zäsur. Die Kirche, das war noch Wiederaufbau. Aber hier kommt etwas Neues dazu, was absolut Gegenwart ist und gleichzeitig Anspruch auf eine bestimmte Lesart der Vergangenheit behauptet. 

    Der russische Deutungsanspruch und das Ringen darum begegnen uns auch hierzulande. Das wird besonders in dem Bilderpaar deutlich, das die Gedenkfeier zum 9.Mai 2022 am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park und eine Demonstration von Ukrainerinnen im gleichen Jahr zeigt. 

    Dieses Diptychon ist bewusst konfrontativ gesetzt, ein bisschen polemisch. Da ist einmal diese Riege von Männern in Anzügen, vorne der russische Botschafter Sergej Netschajew mit St. Georgs-Band, dahinter Soldaten und Popen. In der Nähe wurde protestiert von Leuten, die sagten, Russland kann nicht bei uns den Sieg im Weltkrieg feiern, wenn es gleichzeitig Krieg gegen die Ukraine führt. Die zweite Fotografie zeigt geflüchtete Frauen in ukrainischer Tracht, die für mehr Unterstützung für ihr Land demonstrieren. Über den Männern in ihren Anzügen und Uniformen sieht man im Hintergrund diesen metallenen Lorbeerkranz. Die Frauen tragen ein Tarnnetz wie einen Baldachin.  

    Wenn Sie nochmal an Ihre frühen Bilder von den Reisen von vor 30 Jahren zurückdenken. Könnte man solche Bilder heute noch machen? 

    Ich würde behaupten, wenn ich heute in Odessa oder in Moskau wäre, dass ich ähnliche Bilder wiederholen könnte. Es gibt große Veränderungen und gleichzeitig eine unheimliche Kontinuität im Stadtbild. Diese stalinistische Architektur war ja auf Dauer angelegt. Aber sie wird von Neuem überlagert. Das ehemalige Hotel Ukraina in Moskau – ebenfalls eine der Sieben Schwestern – steht heute durch die Skyline der modernen Moscow City im Hintergrund in einem neuen Kontext. Diese Schichtungen der Epochen zu zeigen, hat mich immer gereizt. 

     

    Fotografie: Eiko Grimberg 
    Bildredaktion: Andy Heller 
    Interview: Julian Hans 
    Veröffentlicht am: 15.04.2025 

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  • Odessa 2014: Die Proteste, das Feuer und die Schuldfrage

    Odessa 2014: Die Proteste, das Feuer und die Schuldfrage

    Der Brand im Gewerkschaftshaus von Odessa im Mai 2014 war ein Schlüsselereignis: Auf die Euromaidan-Revolution war Russlands Annexion der Krym und die pro-russische Besetzung von Verwaltungsgebäuden im Donbas gefolgt. Dann stand die Frage im Raum, ob weitere Orte im Osten oder Süden der Ukraine folgen würden. In diesem Moment kam es in Odessa zu Auseinandersetzungen zwischen gewaltbereiten Gruppen: Die einen unterstützten den Euromaidan, die anderen formierten den pro-russischen, sogenannten Antimaidan.  

    Bei Straßenschlachten und einem Brand im Gewerkschaftshaus am 2. Mai 2014 starben insgesamt 48 Menschen. Viele der Opfer waren Vertreter des Antimaidan. Die russische Propaganda nutzte die Tragödie sogleich, um den angeblich faschistischen Charakter der Kyjiwer Regierung zu untermauern. 

    Fast elf Jahre nach dem Brand hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) am 13. März 2025 sein Urteil zu den Ereignissen gesprochen. Es unterstützt weder die russische Version, noch entlässt es den ukrainischen Staat aus seiner Verantwortung.

    Der EGMR befand, dass die ukrainischen Behörden – damals noch die Regierung des bereits nach Russland geflohenen Präsidenten Viktor Janukowytsch – unzureichende Anstrengungen unternommen haben, um während der Ereignisse am 2. Mai 2014 in Odessa für Recht und Ordnung zu sorgen und eine Eskalation zu verhindern. Sie verzögerten die Brandbekämpfung und die Rettung von Menschen aus dem Gewerkschaftshaus und versäumten es im Nachhinein, die Verantwortlichen auf verschiedenen Ebenen zu ermitteln.

    Gleichzeitig betonte das Gericht, dass es auch die Interventionen Russlands berücksichtig habe, die die Zusammenstöße zwischen den Protestlagern provozierten und anschließend versuchten, die Tragödie von Odessa als Rechtfertigung für den jahrelangen Krieg im Osten der Ukraine sowie später auch für die vollumfängliche Invasion in die Ukraine zu missbrauchen. Die Urteilsbegründung erwähnte auch jene damals verantwortlichen lokalen Amtsträger, die heute in Russland leben und dort Karriere machen: zum Beispiel den damaligen Leiter des regionalen Katastrophenschutzes, der mittlerweile Vize-Chef der Okkupationsverwaltung im von Russland besetzten Teil der Region Cherson ist.

    Einen Tag nach der Veröffentlichung des EGMR-Urteils, am 14. März 2025, ist der damalige Euromaidan-Aktivist, später auch Mitglied des rechtsextremen Prawy Sektor, Demjan Hanul, im Zentrum von Odessa auf offener Straße erschossen worden. Hanul war früher schon angegriffen worden, laut seiner Ehefrau soll er in den Wochen vor seinem Tod erneut „pro-russische Verfolger“ erwähnt haben. Mutmaßlicher Täter ist ein ukrainischer Soldat, der sich unerlaubt seit längerer Zeit von seiner Einheit entfernt hat. Das Verfahren läuft noch, nach ersten Berichten soll er im nicht öffentlichen Prozess seine Schuld eingestanden haben. 

    Das ukrainische Onlinemedium Graty, das sich seit Jahren auf Gerichtsberichterstattung spezialisiert, hat das EGMR-Gerichtsurteil und seine Begründung untersucht und durch eine detaillierte Chronik der eskalierten Proteste eingeordnet. Es berichtet auch über den Prozess zur Ermordung von Hanul.

    Am 2. Mai 2014 starben bei eskalierten Protestaktionen vor und im Gewerkschaftshaus im südukrainischen Odessa 48 Menschen. / Foto © Denis Petrov/ SNA/ Imago

    Am 13. März verkündete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sein Urteil in der Rechtssache Wjatscheslawowa und andere gegen die Ukraine. Der Gerichtshof fasste sieben verschiedene Klagen von insgesamt 28 Personen zusammen, die 2016 und 2017 im Zusammenhang mit den Ereignissen des 2. Mai 2014 in Odessa eingereicht wurden. Sie alle betrafen die gewaltsamen Zusammenstöße auf dem Hrezka-Platz und dem Kulykowe-Feld sowie den Brand im Gewerkschaftshaus.

    Das Gericht verurteilte die Ukraine zu Entschädigungszahlungen zwischen je 12.000 bis 17.000 Euro an die Kläger.

    Bei der Feststellung des Sachverhalts im Zusammenhang mit der Tragödie von Odessa stützte sich der EGMR nicht nur auf die offiziellen ukrainischen Ermittlungen und Gerichtsentscheidungen, sondern insbesondere auch auf die Berichte der UN-Beobachtungsmission, des Büros des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, des ukrainischen Ombudsmanns sowie eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, als auch auf die Ergebnisse der unabhängigen Recherchen durch die Nichtregierungsorganisation Gruppe des 2. Mai und auf Zeugenaussagen der Geschädigten. Von diesen waren drei direkt an den Ereignissen in Odessa beteiligt, die übrigen waren Hinterbliebene, deren Angehörige an jenem Tag unter verschiedenen Umständen ums Leben kamen.

    Die Kläger zogen es vor, die politischen Ansichten ihrer Angehörigen nicht zu erwähnen

    „Unter den Hinterbliebenen der Opfer, die an diesem Tag starben, befanden sich sowohl Anhänger als auch Gegner des Maidan sowie unbeteiligte Dritte. Die Kläger zogen es oft vor, die politischen Ansichten ihrer Angehörigen nicht zu erwähnen“, schreibt das Gericht in seinem Urteil.

    Der EGMR wies in seinem Urteil außerdem auf die Hintergründe und den Kontext der Ereignisse hin: Nach dem Euromaidan und der Flucht von Präsident Viktor Janukowytsch aus der Ukraine im Februar 2014 kam es zu pro-russischen Protesten im Osten und Süden des Landes, oft unter Anwendung von Gewalt. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Annexion der Krym und der Einsatz des Militärs durch Russland sowie die Schaffung der selbsternannten Volksrepubliken „DNR“ und „LNR“ in den ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk und der Beginn der Kampfhandlungen zu nennen.

     

    Chronologie der Konfrontationen

    Anfang 2014 bildeten Protestierende in Odessa sogenannte Selbstverteidigungseinheiten: sowohl auf Seiten des Euromaidan als auch des Antimaidan. Letzterer war pro-russisch eingestellt und errichtete im März 2014 eine Zeltstadt auf dem Kulykowe-Feld (vor dem Gewerkschaftshaus – dek). Auf einem großen Bildschirm wurden Nachrichtensendungen des russischen Staatsfernsehens gezeigt und aus Lautsprechern ertönten Lieder über den Großen Vaterländischen Krieg, die zum Kampf gegen den Faschismus aufriefen.

    „Wie aus den Videoaufnahmen des Zeltlagers auf dem Kulykowo-Feld und verschiedenen von den Aktivisten organisierten Veranstaltungen hervorgeht, zeigten die Anhänger der Bewegung häufig Flaggen der Russischen Föderation und der ehemaligen Sowjetunion, skandierten oder zeigten Parolen, in denen sie die neue (Kyjiwer – dek) Regierung als ‚faschistische Junta‘ darstellten und ein Referendum und die Föderalisierung der Ukraine in halbautonome Regionen forderten. Einige Menschen zeigten Plakate, auf denen sie ihre Hoffnung auf eine Wiederholung des Krym-Szenarios in Odessa zum Ausdruck brachten und die Russische Föderation dazu aufforderten, auch ihre Stadt aufzunehmen“, so der EGMR in seinem Urteil.

    Am 2. März fand in Odessa eine Kundgebung zur Unterstützung der Einheit der Ukraine und gegen die Präsenz russischer Truppen auf der Krym statt, an der 7000 bis 10.000 Menschen teilnahmen. Am nächsten Tag versuchten pro-russische Demonstranten das Regionalparlament von Odessa in einer Dringlichkeitssitzung zu stürmen. Dem Gericht zufolge konnten gewalttätige Zusammenstöße mit proukrainischen Aktivisten vermieden werden, da Ordnungskräfte beide Lager voneinander trennten. Im März und April folgten wöchentlich friedliche Kundgebungen beider Gruppen.

    Im April richtete die Regionaldirektion des ukrainischen Innenministeriums in Odessa einen Operationsstab ein, um die Situation in der Stadt zu kontrollieren.

    Geheimdienst meldet Regionalbehörden Ende April erhöhtes Gefahrenpotenzial für den 2. Mai

    Ende April kündigten Fußballfans von Tschornomorez Odessa und Metalist Charkiw für den 2. Mai vor dem Spiel ihrer Mannschaften eine Demonstration „Für die Einheit der Ukraine“ an. Dies löste heftige Reaktionen bei Antimaidan-Anhängern aus, die in sozialen Medien zum Protest gegen den „Naziaufmarsch“ aufriefen.

    Den vom EGMR zitierten Informationen zufolge meldete der SBU dem Leiter der Regionaldirektion des Innenministeriums, Petro Luziuk, am 30. April ein erhöhtes Risiko von Zusammenstößen und Ausschreitungen am 2. Mai. Am selben Tag informierte die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der Hauptdirektion des Innenministeriums den Operationsstab über Pläne „subversiver Gruppen“, die Lage in der Region Odessa während der bevorstehenden Maifeiertage destabilisieren zu wollen. Etwa zur gleichen Zeit berichtete die Abteilung zur Bekämpfung von Cyberkriminalität des Innenministeriums über Posts in Sozialen Netzwerken durch Antimaidan-Anhänger, in denen die Möglichkeit von gewaltsamen Ausschreitungen in Odessa am 2. Mai 2014 erwähnt wurde.

    Luziuk und sein Stellvertreter Dmytro Futschedshi ordneten daraufhin an, Pläne zur Gewährleistung von Recht und Ordnung an jenem Tag in der Stadt zu erstellen. Laut Gericht enthielten diese jedoch nur Routinemaßnahmen bei Fußballspielen und berücksichtigten nicht die Warnungen des Geheimdienstes und anderer Strafverfolgungsbehörden.

    Am Morgen des 2. Mai waren etwa hundert Polizisten im Stadtzentrum von Odessa und mehr als zweihundert weitere rund um das Stadion im Einsatz.

    Karte der Proteste am 2. Mai 2014 in Odessa / © OpenStreetMap/uMap/dekoder
    Karte der Proteste am 2. Mai 2014 in Odessa / © OpenStreetMap/uMap/dekoder

     

    13:30 Uhr: Antimaidan-Anhänger versammeln sich auf der Olexandriwsky-Allee (mittlerweile Allee der Ukrainischen Helden – dek), etwa 450 Meter vom Treffpunkt der proukrainischen Aktivisten (am Soborna-Platz – dek) entfernt. Sie haben Schilde und Äxte sowie Holz- und Metallstöcke bei sich, einige tragen Schusswaffen. Sie erklären, dass sie einen Überfall auf ihr Zeltlager auf dem Kulykowe-Feld Platz verhindern wollen.

    Die Polizei verlegt rund 150 Beamte vom Stadion ins Stadtzentrum, verfügt Berichten zufolge aber über keinerlei Mittel, um sich im Falle einer Eskalation selbst schützen oder einschreiten zu können.

    15 Uhr: Antimaidan-Anhänger stürmen das Büro des Vereins Rat für öffentliche Sicherheit, weil sie hier und in einem davor geparkten Wagen angeblich Waffen vermuten, was sich jedoch nicht bestätigt. Einige proukrainische Aktivisten versperren den Zugang zum Gebäude. Als eine Polizeieinheit vor Ort eintrifft, umstellt sie das Gebäude, ergreift aber keine Maßnahmen.

     

    Ein Video der Gruppe des 2. Mai zeigt, wie Polizeibeamte das Gebäude umstellen, in dem sich auch der Verein Rat für öffentliche Sicherheit befand. / Video © Youtube/Gruppa 2 maja

    Gegen 15:15 Uhr: Antimaidan-Anhänger setzen sich in Richtung des Marsches „Für die Einheit der Ukraine“ in Bewegung und werden dabei von dreißig Beamten der Streifenpolizei und zehn weiteren Polizisten begleitet. An der Spitze dieser Kolonne gehen neben den Anführern des Antimaidan auch der stellvertretende Leiter der Regionaldirektion des Innenministeriums, Dmytro Futschedshi, sowie der Gruppenführer der Einsatzhundertschaft, Wadym Knyschow.

    15:30 Uhr: Zu den ersten Zusammenstößen kommt es in der Nähe des Hrezka-Platzes. Nach vorliegenden Informationen greifen die Antimaidan-Anhänger die proukrainische Demonstration auf dem Weg vom Soborna-Platz zum Tschornomorez-Stadion an. Es werden Schüsse abgegeben und beide Seiten bewerfen sich mit Steinen, Pyrotechnik und Molotow-Cocktails.

    Gegen 15:50 Uhr: Der Polizei gelingt es, die beiden Gruppen voneinander zu trennen, wobei sie den Antimaidan-Anhängern den Rücken zukehrt. Die Gruppe des 2. Mai bestätigt später mit Verweis auf Videoaufnahmen, dass einige Polizeibeamte und pro-russische Demonstranten rotes Klebeband am Arm und damit gleiche Erkennungszeichen trugen.

    16:10 Uhr: Ihor Iwanow wird das erste Todesopfer der Proteste sein. Der Teilnehmer der proukrainischen Demonstration wird mit einer Schussverletzung im Bauch ins Krankenhaus eingeliefert und verstirbt dort während der Operation.

     

    Ein Video der Gruppe des 2. Mai zeigt, wie Protestierende einen Verletzten, laut Beschreibung Ihor Iwanow, aus der Kampfzone heraustragen. / Video © Youtube/Gruppa 2 maja

    Der EGMR wertete Videoaufnahmen aus, auf denen zu sehen ist, wie mit Sturmhauben maskierte pro-russische Aktivisten hinter dem Rücken der untätigen Sicherheitskräfte, auf ihre Gegner schossen. In seiner Urteilsbegründung schreibt der EGMR:

    „Laut dem Gutachten eines Sachverständigen für Ballistik der Gruppe des 2. Mai schoss der pro-russische Aktivist, der von der NGO als Herr Budko identifiziert wurde, mit scharfer Munition aus einem Sturmgewehr vom Typ Kalaschnikow (AKS-74U). Der Experte vertritt die Auffassung, dass die tödlichen Verletzungen von Herrn Iwanow durch denselben Waffentyp verursacht wurden.

    Wenige Sekunden später wurde einem schwer verletzten Polizeibeamten der Zugang zum Krankenwagen verweigert

    Der Sachverständige verwies auch auf im Internet kursierende Videoaufnahmen, denen zufolge Patronenhülsen dieses Modells am Ort der Zusammenstöße gefunden wurden. Die Regierung gab in ihrer Zusammenfassung des Sachverhalts außerdem an, dass ‚Herr B.‘ mehrere Schüsse in Richtung der Maidan-Unterstützer aus einer Waffe abgefeuert hatte, bei der es sich offenbar um ein AKS-74U-Sturmgewehr handelte.

    Auf einem anderen veröffentlichten Video ist zu sehen, wie Herr Futschedshi, der eine leichte Verletzung am Arm erlitten hatte, in einen Krankenwagen stieg, in dem Herr Budko saß, der offenbar unverletzt war. Wenige Sekunden später wurde einem schwer verletzten Polizeibeamten, der von zwei weiteren Beamten gestützt wurde, offenbar der Zugang zu diesem Krankenwagen verweigert, der daraufhin wegfuhr.“

    Den Berichten zufolge durchbrechen Antimaidan-Anhänger zehn Minuten später die Polizeikette. Etwa zu diesem Zeitpunkt wird Andrii Birjukow, ein weiterer Aktivist des Euromaidan, tödlich verwundet.

    Gegen 17:30 Uhr: Pro-ukrainische Demonstranten übernehmen ein Feuerwehrauto, dass sie unter falschem Vorwand ins Stadtzentrum gerufen hatten, um damit die Barrikaden der Antimaidan-Anhänger zu durchbrechen.

    Zur selben Zeit werden Schüsse aus einem Jagdgewehr in Richtung der pro-russischen Demonstranten und der Polizeikette abgegeben. Insgesamt sind zu diesem Zeitpunkt bereits sechs Personen aus beiden Lagern getötet und 47 Personen festgenommen worden.

    Schlussendlich gewinnen die wütenden pro-ukrainischen Demonstranten allmählich die Oberhand und ziehen zum Zeltlager der Antimaidan-Anhänger auf dem Kulykowe-Feld. Einige der dort Protestierenden beschließen, sich im nahen Gewerkschaftshaus zu verbarrikadieren.

     

    Eskalation am Gewerkschaftshaus

    Gegen 19:20 Uhr: Pro-ukrainische Aktivisten erreichen das Kulykowe-Feld und beginnen, die Zelte niederzureißen und anzuzünden. Währenddessen werden sie von Antimaidan-Anhängern vom Dach des Gewerkschaftshauses mit Molotow-Cocktails beworfen. Nach Angaben der Gruppe des 2. Mai wird außerdem vom Dach und aus den Fenstern des Gebäudes auf pro-ukrainische Aktivisten geschossen.

    19:30 Uhr: Dem ukrainischen Katastrophenschutz DSNS wird ein Brand gemeldet. Laut dem Mitarbeiter der Leitstelle bestehe jedoch keine unmittelbare Gefahr. Der Leiter der DSNS-Regionaldirektion, Wolodymyr Bodelan, ist vor Ort und weist seine Mitarbeiter an, nicht ohne seine Anweisung zu reagieren.

    Bodelan erklärt später bei einer internen Untersuchung, dass er diese Entscheidung „vor dem Hintergrund der Entwendung eines Löschfahrzeugs einige Stunden zuvor und zur Verhinderung eines ähnlichen Szenarios sowie zur Gefahrenvermeidung für das Leben der Feuerwehrleute“ getroffen habe.

    19:45 Uhr: Im Gewerkschaftshaus breitet sich das Feuer aus. Zehn Minuten später springen eingeschlossene Antimaidan-Anhänger verzweifelt aus den Fenstern der oberen Stockwerke, unter ihnen auch Angehörige der Kläger. Das Gericht stellte fest, dass es sowohl Fälle von Angriffen pro-ukrainischer Aktivisten auf die sich rettenden Antimaidan-Anhänger gab, als auch solche, in denen geholfen wurde.

     

    Ein Video der Gruppe des 2. Mai zeigt, wie jemand aus der Gruppe der pro-ukrainischen Protestierenden draußen den in den Flammen im Gewerkschaftshaus Eingeschlossenen ein weißes Seil zuwirft, mit dem sie sich versuchen hinauszuretten. Andere schlagen die sich rettenden Personen. Wieder andere schießen vom Dach. / Video © Youtube/Gruppa 2 maja

    20:09 Uhr: Auf Anweisung von Bodelan treffen die ersten Feuerwehrleute ein.

    20:50 Uhr: Der DSNS meldet, dass das Feuer gelöscht sei. Später stellt sich heraus, dass insgesamt 42 Menschen im Gebäude ums Leben gekommen sind. Viele Menschen erlitten außerdem Verbrennungen und Verletzungen, als sie sich durch Sprünge aus den Fenstern retteten.

    Die Polizei hat 63 Antimaidan-Anhänger festgenommen, die sich im Gebäude oder auf dem Dach befanden.

    Am nächsten Tag stürmen pro-russische Anhänger das Polizeirevier, in dem die Verhafteten festgehalten wurden. Auf mündliche Anordnung von Futschedshi wurden diese schließlich ohne Status als Verfahrensbeteiligte freigelassen. 

     

    Ukrainische Ermittlungen und Gerichtsverfahren

    Der EGMR stellte fest, dass die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden auf die Ereignisse in Odessa mit der Einleitung zahlreicher miteinander verbundener Strafverfahren reagierten, die sich in drei Gruppen unterteilen lassen:

    • Verfahren wegen Handlungen von Privatpersonen
    • Verfahren bezüglich des Handelns von Strafverfolgungsbeamten und
    • Verfahren zum Handeln des DSNS

    Laut Beobachtungen der Gruppe des 2. Mai wurde der betreffende Bereich des Kulykowe-Felds nicht zur Beweissicherung gesperrt. Stattdessen wurden in der Nacht zum 3. Mai Arbeiter der kommunalen Straßenreinigung geschickt, um den Bereich aufzuräumen. Die erste Inspektion des Platzes fand erst am 15. Mai statt.

    Forensische Experten begannen ihre Arbeit im Gewerkschaftshaus zwar noch in der Nacht des 2. Mai, wurden jedoch mehrmals durch Antimaidan-Anhänger gestört, die sich noch im Gebäude aufhielten. Vom 4. bis 20. Mai blieb das Gebäude für die Öffentlichkeit frei zugänglich.

    Die Kugel aus dem Körper des verstorbenen Ihor Iwanow wurde nicht aufbewahrt

    Kugeln und Splitter, die aus den Körpern der Opfer geborgen wurden, konnten durch die Experten nicht eindeutig identifiziert und keiner Waffe zugeordnet werden. Außerdem stellte sich heraus, dass die Kugel, welche die Chirurgen aus dem Körper des verwundeten und später verstorbenen Ihor Iwanow entfernt hatten, nicht aufbewahrt worden war und deshalb nicht im Rahmen der Ermittlungen untersucht werden konnte.

    Experten stellten fest, dass die Menschen im Treppenhaus und in den unteren Stockwerken des Gewerkschaftshauses an Verbrennungen und Vergiftung durch Kohlenmonoxid und andere durch den Brand erzeugte, nicht identifizierte Gase und toxische Substanzen starben. Ein absichtlicher Einsatz von giftigen Stoffen wurde sowohl durch die offiziellen als auch durch die unabhängigen Untersuchungen ausgeschlossen.

    Am 18. Mai 2014 verhaftete die Polizei Serhii Chodijak, der an der Demonstration „Für die Einheit der Ukraine“ teilgenommen hatte. Er wurde des Mordes an einem Antimaidan-Aktivisten und des versuchten Mordes an einem Polizeibeamten angeklagt. Mehr als zehn Jahre später ist dieses Gerichtsverfahren gegen Chodijak immer noch am Malyniwsky-Bezirksgericht in Odessa anhängig.

    Am 26. Mai 2014 wurde Mykola Wolkow, ein Anhänger des Euromaidan in Odessa, unter dem Verdacht festgenommen, mit einer Waffe in Richtung Gewerkschaftshaus gefeuert zu haben. Im Februar 2015 war das Verfahren gegen Wolkow eingestellt worden, weil dieser verstorben sei. Das EGMR-Urteil hält jedoch fest, dass das Verfahren nach Einspruch eines der Opfer wieder aufgenommen wurde, da angeblich keine Todesnachweise vorlagen. Die weiteren Entwicklungen und der Stand der Ermittlungen sind dem EGMR nicht bekannt.

    Der Euromaidan-Aktivist Wsewolod Hontscharewsky wurde beschuldigt, Antimaidan-Anhänger, die aus den Fenstern des Gewerkschaftshauses sprangen, mit einem Holzknüppel geschlagen zu haben. Im Februar 2015 wurde das Verfahren gegen ihn zunächst eingestellt, im Juli desselben Jahres nach Einspruch der Geschädigten wieder aufgenommen. Sie forderten die Ermittler auf, Videoaufnahmen im Verfahren zu beachten, die angeblich Hontscharewskys Beteiligung an den Taten beweisen. Nach Angaben des EGMR wurden die Videos jedoch nicht untersucht.

    Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft reichte des weiteren Anklage gegen 19 Antimaidan-Anhänger wegen der Teilnahme an den gewaltsamen Ausschreitungen mit Körperverletzung und Todesfolge ein. Am 18. September 2017 sprach das Stadtgericht in Illitschiwsk (heute Tschornomorsk – dek) schließlich alle 19 Angeklagten frei und begründete dies mit verschiedenen Verfahrensfehlern während der Ermittlungen sowie unzureichenden Beweisen, um eine Schuld festzustellen.

    Das Gericht kritisiert, dass die vorgerichtlichen Ermittlungen so unvollständig und mangelhaft waren, dass alternative Informationsquellen herangezogen werden mussten

    Insbesondere merkte das Illitschiwsk-Gericht damals an, dass viele der Untersuchungen von Ermittlern durchgeführt wurden, die nicht zur ernannten Ermittlungskommission gehörten. Die von ihnen gesammelten Beweise und erstellten Protokolle wurden für unzulässig erklärt. Darüber hinaus bemängelte man, dass die erste Inspektion vor Ort mit einer unerklärlichen Verzögerung von fast zwei Wochen stattgefunden hatte, sodass in dieser Zeit alle Beweismittel verloren gingen.

    Es wurde auch festgestellt, dass dem Gericht trotz zahlreicher Anordnungen keine Foto- oder Videobeweise vorgelegt wurden. Laut dem Gericht hatte die Staatsanwaltschaft nur einen Polizisten und keine der an den Ereignissen vom 2. Mai 2014 beteiligten Fußballfans befragt. In den Akten sei auch keine ballistische Expertise über Kugeln und Splitter aus den Körpern der Opfer enthalten gewesen. Insgesamt kritisierte das Gericht die vorgerichtlichen Ermittlungen als so unvollständig und mangelhaft, dass alternative Informationsquellen herangezogen werden mussten.

    Aktuell verhandelt das Berufungsgericht im Gebiet Mykolajiw über den Fall.

    Dem EGMR liegen Daten vor, wonach der oben erwähnte pro-russische Aktivist Witalii Budko seit dem 4. Juli 2016 als Verdächtiger im Mordfall Ihor Iwanow geführt wird. Da jedoch keine Zwangsmaßnahmen gegen ihn verhängt wurden, tauchte Budko unter. Laut Gericht ist er weiter zur Fahndung ausgeschrieben.

     

    Doku der unabhängigen Recherchegruppe Gruppe des 2. Mai mit deutscher Synchronisation / Video © Youtube/Gruppa 2 maja

    Der einzige Verurteilte versteckt sich in Russland

    Die Ermittlungen zum Vorgehen der Polizei in Odessa wurden zunächst von der Staatsanwaltschaft und seit 2020 vom Staatlichen Ermittlungsbüro geführt.

    Einen Tag nach der Tragödie, am 3. Mai 2014, wurde der Leiter der Regionaldirektion des Innenministeriums, Petro Luziuk, suspendiert und seinem Stellvertreter, Dmytro Futschedshi, die Leitung übertragen. Doch bereits am 6. Mai floh Futschedshi aus der Ukraine in die Republik Moldau und von dort weiter nach Russland. Am 13. Mai erschien ein Dokument, das ihn der Dienstpflichtverletzung in Verbindung mit den gewaltsamen Ausschreitungen und des Machtmissbrauchs verdächtigte, weil er am 4. Mai die Freilassung der inhaftierten Antimaidan-Anhänger angeordnet hatte.

    Am 15. Mai wurde Futschedshi zur Fahndung ausgeschrieben. 2017 beantragte die ukrainische Staatsanwaltschaft die Auslieferung von Futschedshi bei der Russischen Föderation, wo sich dieser vor der Justiz versteckt hielt. Laut der Antwort der russischen Generalstaatsanwaltschaft sei Herr Futschedshi russischer Staatsbürger und deshalb keine Auslieferung möglich. Die Ukraine beschloss, den Flüchtigen in Abwesenheit zu verurteilen.

    Am 18. April 2023 befand das Prymorsky-Bezirksgericht in Odessa Futschedshi der Mittäterschaft bei der Organisation von schweren Massenunruhen, des Amts- und Machtmissbrauchs in besonders schwerem Fall, der Beihilfe zur Besetzung staatlicher Gebäude und der Behinderung von Strafverfolgungsbeamten bei der Ausübung ihrer Dienstpflichten für schuldig. Er wurde zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe und einem dreijährigen Berufsverbot in den Strafverfolgungsbehörden, einer Geldstrafe sowie der Aberkennung seines Ranges als Obert verurteilt.

    In der Zwischenzeit war Petro Luziuk bereits wegen Verletzung seiner Dienstpflichten am 30. April 2014 angezeigt worden. Später kam der Vorwurf der Urkundenfälschung hinzu, nachdem am 17. Juni 2015 eine interne Untersuchung festgestellt hatte, dass nach seiner Anweisung der offizielle Bericht über die Umsetzung des Einsatzplans gefälscht worden war. 

    Die ukrainischen Behörden teilten dem EGMR mit, dass das Prymorsky-Bezirskgericht in Odessa das Verfahren gegen Petro Luziuk am 14. Juni 2024 nach Ablauf der Verjährungsfrist eingestellt habe.

    Des weiteren läuft seit 2018 ein Verfahren gegen den damaligen Chef der städtischen Polizei von Odessa und zwei Einsatzbeamte wegen Amtsmissbrauchs sowie seit 2021 zwei weitere Verfahren gegen einen damaligen stellvertretenden Abteilungsleiter und den stellvertretenden Gruppenführer der 2. Einsatzhundertschaft der Hauptdirektion des ukrainischen Innenministeriums in der Stadt Odessa.

     

    Katastrophenschützer nicht zur Verantwortung gezogen

    Am 1. Mai 2016 wurden gegen den damaligen Leiter der DSNS-Regionaldirektion, Wolodymyr Bodelan, sowie seine Kollegen Jurii Schwydenko und Switlana Kojewa Ermittlungen eingeleitet, weil sie während der Ereignisse in Odessa Bürger in Gefahr gebracht hätten. Am folgenden Tag wurden diese Anschuldigungen auch auf Bodelans Stellvertreter Wiktor Hubaj ausgeweitet.

    Wie sich jedoch herausstellte, hatte Wolodymyr Bodelan zu diesem Zeitpunkt bereits die Ukraine verlassen, nach ihm wird weiter gefahndet. Das Verfahren gegen die anderen drei wurde zunächst vor dem Prymorsky- und später vor dem Kyjiwsky-Bezirksgericht in Odessa geführt. Am 1. August 2022 wurde das Verfahren ausgesetzt, weil sich die Anwälte der Angeklagten der Armee anschlossen.

    Am 11. April 2016 wurde gegen Ruslan Welyky, den stellvertretenden Leiter der DSNS- Regionaldirektion Odessa, ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und am Prymorsky-Bezirksgericht in Odessa geführt. Am 20. Juni 2022 wurde das Verfahren wegen der Einberufung des Beschuldigten in die Armee ausgesetzt, später wurden die Verhandlung wieder aufgenommen. Am 27. Juni 2023 forderte das Prymorsky-Bezirksgericht die Staatsanwaltschaft sowie den Angeklagten auf, bis zum 29. Dezember 2023 Beweise vorzulegen. Des weiteren erklärte es, dass die Verjährungsfrist in diesem Fall im Mai 2024 ablaufen würde. Dem EGMR ist nichts über den weiteren Status des Verfahrens bekannt.

     

    Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

    Der EGMR stellte die Verletzung von Artikel 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch die Ukraine fest: das Recht auf Leben. Der beklagte Staat (die Ukraine – dek) hat nicht alles Vertretbare und in seiner Macht Stehende getan, um die Gewalt in Odessa am 2. Mai 2014 zu verhindern oder diese zu beenden, und nicht rechtzeitig Maßnahmen eingeleitet, um jene zu retten, die vom Brand im Gewerkschaftshaus betroffen waren.

    Dabei berücksichtigte der EGMR auch die erhebliche Beteiligung der Russischen Föderation an den Ereignissen rund um das sogenannte „Referendum“ auf der Krym, die russische Unterstützung für separatistische Vereinigungen im Osten der Ukraine und Versuche, die südlichen Regionen zu destabilisieren. In seinem Urteil verwies das Gericht explizit auf den Einsatz russischer Propaganda bei den Antimaidan-Kundgebungen in Odessa:

    „Im vorliegenden Fall beschränkt sich die Aufgabe des Gerichtshofs auf die Prüfung der internationalen Verantwortlichkeit der Ukraine, ungeachtet der Tatsache, dass einige der Verfehlungen, für welche die ukrainische Regierung nach der Konvention verantwortlich gemacht wird, ihren ehemaligen lokalen Amtsträgern zuzuschreiben sind, die in der Zwischenzeit aus der Ukraine in die Russische Föderation geflohen sind, die russische Staatsbürgerschaft angenommen haben oder wie im Fall von Herrn Bodelan (dem ehemaligen Leiter des DSNS in der Region Odessa), dort Karriere im Kontext der russischen Vollinvasion gemacht haben.“

    Wolodymyr Bodelan wurde nämlich inzwischen zum stellvertretenden Leiter der Okkupationsverwaltung im von Russland besetzten Teil der Region Cherson ernannt.

    Eine Erklärung, geschweige denn eine Rechtfertigung für diese Verzögerungen wurde nicht vorgelegt

    Der EGMR merkte ebenso Probleme bei der Untersuchung der am 2. Mai begangenen Verbrechen an, insbesondere während der Sicherstellung von Beweisen, da der Tatort sofort gereinigt und das Gewerkschaftshaus nicht für die Öffentlichkeit gesperrt wurde. Darüber hinaus wies das Gericht auf die Verzögerungen hin, die dazu führten, dass Verdächtige entkommen konnten oder sich auf andere Weise der Verantwortung für ihre Taten entzogen.

    „Trotz öffentlich zugänglicher Foto- und Videoaufnahmen, die zeigen, dass ein Antimaidan-Aktivist, der Herrn Budko ähnelt, mit einem Sturmgewehr in Richtung der Demonstranten schießt, während er direkt neben der Polizei steht, die in keiner Weise darauf reagiert, haben die nationalen Behörden mehr als zwei Jahre gebraucht, um strafrechtliche Ermittlungen gegen Herrn Budko einzuleiten, und mehr als sieben Jahre, um ein Strafverfahren gegen Herrn Iwachnenko, einen der betroffenen Polizeibeamten, zu eröffnen“, kritisierte der EGMR. „Eine Erklärung, geschweige denn eine Rechtfertigung für diese Verzögerungen wurde nicht vorgelegt. Da Herr Budko untertauchen konnte, wurden die Ermittlungen im Oktober 2016 eingestellt. Das Strafverfahren gegen Herrn Iwachnenko endete mit seiner Entbindung von der strafrechtlichen Verantwortung aufgrund des Ablaufs der zehnjährigen Verjährungsfrist.“

    Angesichts des Ausmaßes der Gewalt und der Zahl der Todesopfer, der Beteiligung von Anhängern zweier verfeindeter politischer Lager im Kontext erheblicher sozialer und politischer Spannungen sowie der Gefahr einer allgemeinen Destabilisierung der Lage waren die Behörden nach Ansicht des EGMR dazu verpflichtet, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Transparenz und eine umfassende öffentliche Kontrolle der Ermittlungen zu gewährleisten. Stattdessen konnten, ohne wirksame Kommunikation, Falschinformationen über die Ereignisse in Odessa zu einem russischen Propagandainstrument im Rahmen der russischen Vollinvasion im Februar 2022 gegen die Ukraine werden.

     

    Der einbehaltene Leichnam

    Das Gericht befasste sich auch mit der Beschwerde der Stieftochter des im Gewerkschaftshaus getöteten Mychail Wjatscheslawow, Olena, welche anderthalb Jahre auf die Herausgabe des Leichnams ihres Vaters warten musste. Am 12. Mai 2014 gab sie eine Vermisstenanzeige auf. Am 30. Mai identifizierte sie ihn schließlich als eine von zwei unbekannten Leichen.

    Am 10. Juni wurde eine Autopsie und am nächsten Tag eine DNA-Untersuchung durchgeführt, die jedoch keine Beziehung zwischen dem Verstorbenen und Wjatscheslawowa nachweisen konnte. Später stellte sich heraus, dass Mychail ihr Adoptivvater und nicht ihr leiblicher Vater gewesen war. Die Ermittler gingen weiter davon aus, dass die Identifizierung nicht abgeschlossen war.

    Im Juni 2015 kamen Wjatscheslawowa, ihre Mutter und ein weiterer Verwandter erneut und identifizierten den Verstorbenen als Mychail Wjatscheslawow. Am 30. Juni wurde der Familie die Sterbeurkunde ausgestellt, jedoch nicht die Leiche zurückgegeben. Am 31. August untersuchten Experten den Schädel des Verstorbenen und kamen ebenfalls zu dem Schluss, dass es sich um die angegebene Person handelte.

    Zwischen Juni und Oktober stellte die Tochter von Mychail Wjatscheslawow mehr als vier Anträge auf Herausgabe des Leichnams ihres Vaters, die jedoch abgelehnt wurden, bis sich der Leiter der UN-Beobachtungsmission im Dezember an die Staatsanwaltschaft wandte.

    Am 29. Dezember 2015 wurde der Familie der Leichnam von Mychail Wjatscheslawow übergeben und noch am selben Tag beigesetzt.

    Der EGMR kam zu der Bewertung, dass die Einbehaltung des Leichnams von Mychail Wjatscheslawow mindestens ab dem 31. August, als die letzte Untersuchung stattfand, bis Ende Dezember nicht rechtmäßig war.

     

    „Das Wichtigste ist die ordnungsgemäße Untersuchung aller Todesfälle“

    Es sei nun sehr wichtig, dass die Ukraine diesem EGMR-Urteil nachkommt, die angeordneten Entschädigungen zahlt und angemessene Maßnahmen ergreift, sagt Oleksandr Pawlitschenko, der Vorsitzende der ukrainischen Helsinki-Menschenrechtsgruppe, gegenüber Graty. Die Anwälte der Menschenrechtsorganisation hatten die Eingabe an den EGMR im Namen mehrerer Kläger zum Fall „Wjatscheslawowa und andere gegen die Ukraine“ vorbereitet.

    „Die Summe der Entschädigungen ist ziemlich hoch, mehr als 300 000 Euro. Die größte Herausforderung besteht jedoch bei den allgemeinen Maßnahmen, nämlich der Organisation einer ordnungsgemäßen Untersuchung aller Todesfälle. Darauf müssen wir achten,“ sagte Pawlitschenko. „Positiv ist jedoch, dass es nach 2014 anscheinend keine ähnlichen Situationen bei Ermittlungen gab. Obwohl ich sagen kann, dass wir auch Beschwerden verfahrensrechtlicher Art in Bezug auf Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention haben, welche unterlassene oder nicht ordnungsgemäße Untersuchung von Todesfällen unter der Zivilbevölkerung nach dem Beginn der russischen Vollinvasion betreffen. Dieses Problem wird in diesem Zusammenhang auch zur Sprache kommen.“

     

    Reaktion der ukrainischen Regierung

    Direkt am 13. März 2025 erklärte das ukrainische Justizministerium, das EGMR-Urteil prüfen und einen Plan für dessen Umsetzung ausarbeiten zu wollen

    „Die Tragödie von Odessa ereignete sich drei Monate nach der Revolution der Würde, als das Land in seinen Strukturen, insbesondere dem Strafverfolgungssystem, noch durch das institutionelle Erbe des Janukowytsch-Regimes geprägt war „, heißt es in der Erklärung. „Die vom EGMR festgestellten Unzulänglichkeiten im Vorgehen der Polizei und Feuerwehr deuten auf systemische Probleme hin, die sich über viele Jahre hinweg unter der Vorgängerregierung herausgebildet haben.“

    Gleichzeitig begrüßte das Justizministerium die Tatsache, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die bedeutende Rolle der russischen Desinformation und Propaganda bei der Anstiftung zu Hass und Feindseligkeiten vor den tragischen Ereignissen anerkannt habe.

    Russland war nicht an dem Verfahren beteiligt. Im Frühjahr 2022 hatte es den Europarat verlassen und verweigerte damit, Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen.

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  • „Sie hat ihr Leben für unsere und eure Freiheit gegeben”

    „Sie hat ihr Leben für unsere und eure Freiheit gegeben”

    Die Stirn ist blutverschmiert, Blut läuft aus einer Wunde am Ohr den Hals herab. „Was ist passiert, was mache ich hier“, scheint der Blick der jungen Frau zu sagen. Am ersten Tag der Massenproteste von 2020 wurde die damals 19-jährige Maryja Saizawa durch Splitter einer Blendgranate getroffen, die das belarussische OMON gegen die Demonstranten einsetzte. Das Foto von der verletzten Maryja wurde zum Symbol für die Proteste in Belarus. Dieser Tag veränderte das Leben der jungen Studentin so sehr, dass sie sich schließlich auch dem Kampf der Ukraine anschloss. Anfang 2025 verlor sie ihr Leben. 

    Was bringt eine junge Frau dazu, in den Krieg zu ziehen und letztlich ihr Leben aufs Spiel zu setzen? Die Redaktion des TV-Senders Nastojaschtscheje Wremja erzählt die Geschichte von Maryja Saizawa, deren Schicksal Belarussen und Ukrainer gleichermaßen bewegt.  

    Am 9. August 2020 wurde die damals 19-jährige Maryja Saizawa durch Gummigeschosse und Splitter einer Blendgranate verletzt. Sie war nach Minsk gekommen, um zu protestieren. Das Foto der jungen Frau ging durch zahlreiche belarussische und internationale Medien. 

    „Ich bereue nicht, dass ich zu den Protesten nach Minsk gefahren bin, wenigstens habe ich versucht, etwas zu tun. Und ich hoffe sehr, dass alle erbrachten Opfer – meine und die der anderen – nicht umsonst waren. Was da auf den Straßen passiert, hilft mir wirklich, nicht den Kampfgeist zu verlieren“, sagte Saizawa in einem Interview, das sie der belarussischen Redaktion von Radio Svaboda noch im Krankenhaus gab. 

    Unter anderem wurde bei ihr ein gerissenes Trommelfell, eine Dislokation des Innenohrs und eine Fraktur des seitlichen Stirnbeins diagnostiziert. Noch in Belarus wurde Maryja mehrfach operiert, bevor sie mithilfe des medizinischen Hilfsprogramms Medevac nach Tschechien überführt werden konnte. 

    Maryja Saizawa, nachdem sie durch eine Blendgranate am 9. August 2020 in Minsk verwundet wurde. / Foto © Radio Svaboda (RFE/RL)
    Maryja Saizawa, nachdem sie durch eine Blendgranate am 9. August 2020 in Minsk verwundet wurde. / Foto © Radio Svaboda (RFE/RL)

    „Bis zu unserem Treffen in Tschechien wusste ich nicht, dass Maryja das Mädchen auf dem Foto war“, erzählt die Koordinatorin des Programms und Leiterin des Büros der belarussischen demokratischen Kräfte in Tschechien, Kryszina Schyjanok. Im Laufe der Behandlung freundeten sich die beiden Frauen an. „Trotz Maryjas Alter – damals war sie 20 – nahm ich den Altersunterschied kaum wahr. Sie war eine sehr reife Persönlichkeit“, berichtet Schyjanok. 

    In ihrem Antrag auf Hilfe zählte Maryja eine lange Liste von Verletzungen auf und schrieb, dass sie eine weitere Operation am Ohr benötige. Leider konnte ihr Gehör jedoch nicht mehr wiederhergestellt werden. Maryja blieb auf ihrem rechten Ohr fast taub. 

    „Es war frustrierend, dass die Ärzte mein Ohr nicht retten konnten, obwohl sie es versprochen hatten. Ich musste einsehen, dass ich etwas geopfert hatte, das ich nie mehr zurückbekommen würde. Jetzt habe ich gelernt, damit zu leben. Ich habe nie ein Hörgerät bekommen. Ich wollte wissen, wie sich mein Ohr erholt. Sehr tiefe oder sehr hohe Töne kann ich hören“, erzählte Maryja. 

    Ihre Angehörigen erinnern sich, wie schlimm der Verlust des Gehörs für Maryja war: „Musik war ein wichtiger Teil von Maschas Leben“, sagt Lana, eine enge Freundin. „Es ist den Wenigsten aufgefallen, aber auf dem Foto von den Protesten trägt Mascha ein T-Shirt von Guns N’ Roses. Später hat ihr ein junger Mann aus der Slowakei, der die Belarussen 2020 aktiv unterstützte, ein Ticket für ein Konzert von ihnen geschenkt. Er wollte Mascha einfach irgendwie helfen“, erzählt Kryszina. „Leider konnten sie sich nicht mehr kennenlernen.“ 

    Maryja meldete sich beim Kastus-Kalinouski-Regiment 

    Nach der Überführung aus Belarus blieb Maryja Saizawa in Tschechien, wo sie Sprachkurse besuchte und sich auf die Aufnahmeprüfungen an der Universität vorbereitete. Parallel gab sie Interviews und erzählte Journalisten ihre Geschichte. „Das Thema Belarus war in aller Munde, und sie wollte der Sache dienen, so gut sie konnte“, erinnert sich Lana. „Aber irgendwann war sie es leid, alles zum millionsten Mal zu erzählen. Zumal sie kein Ergebnis sehen konnte.“ 

    Nach der vollumfänglichen Invasion Russlands in die Ukraine 2022 verschrieb sich Maryja mit Haut und Haar der Flüchtlingshilfe in Tschechien. Aber es war hart, mit den Ereignissen fertigzuwerden: Einige ihrer Freunde, die ebenfalls von Belarus nach Tschechien gekommen waren, entschlossen sich, an die Front zu gehen. 

    Einer von ihnen war Timur Mizkewitsch. Der damals 16-jährige Timur war 2020 nach Tschechien gebracht worden, nachdem er während der Massenproteste von den Silowiki geschlagen und gefoltert worden war. Seine Verletzungen waren so gravierend, dass er ins Koma fiel. Während er im Koma lag, starb seine Mutter, und Timur blieb als Waise zurück. Kurz nach seinem 18. Geburtstag beschloss Timur, sich der ukrainischen Armee anzuschließen. 

    „Ich weiß noch, wie Mascha und ich bei Timur zu Hause sitzen, und er fängt an, seine Sachen zu packen. Ich versuchte, ihn aufzuhalten. Aber als ich seinen Blick sah, wusste ich, dass ihn nichts und niemand davon abbringen würde. Hier gab es nichts, was ihn hielt“, erinnert sich Lana. 

    Kurz nach Timurs Abreise fasste auch Maryja den Entschluss, an die Front zu gehen. Sie wollte etwas tun, dass sie einer Rückkehr nach Belarus näherbringen würde. Ihren Freunden zufolge hatte Maryja sich zwar gut in die tschechische Gesellschaft integriert, aber wirklich zugehörig habe sie sich nie gefühlt. Die Freiheit ihres Landes war für sie verbunden mit der Freiheit der Ukraine. „Auf Seiten der Ukrainischen Armee zu kämpfen war für Mascha ein Weg, für ein unabhängiges Belarus zu kämpfen“, sagt Schyjanok. 

    Maryja meldete sich beim Kastus-Kalinouski-Regiment, in dem Belarussen auf der Seite der Ukrainischen Armee kämpfen. Einige Zeit später wurde sie aufgenommen. „Ich flehte sie an, nicht zu gehen, ich bekniete sie buchstäblich. Ich aktivierte ihre Freunde, wir versuchten alle, sie davon abzubringen“, sagt Lana. Aber alle Versuche liefen ins Leere. Im Frühjahr 2023 verabschiedeten ihre Freunde Maryja an die Front. 

    Porträt von Maryja Saizawa aus dem Fotoprojekt Narben des Protests / Foto © Violetta Savchits
    Porträt von Maryja Saizawa aus dem Fotoprojekt Narben des Protests / Foto © Violetta Savchits

    „Ich verstehe, dass sie sich rächen wollte” 

    Bei ihrer Ankunft in der Ukraine wurde Maryja Saizawa der 2. Internationalen Legion der Territorialverteidigung zugeteilt. Noch in Belarus hatte Maryja Vetrinärmedizin studiert. Aufgrund ihrer medizinischen Kenntnisse schickten ihre Vorgesetzten sie zunächst zum Dienst in eine Sanitätsstation. Später war sie für die Evakuierung von Kämpfern von der Frontlinie zuständig. Wie einer der Kommandeure dem belarussischen Radio Svaboda erzählte, übersetzte Maryja auch für andere ausländische Soldaten. 

    Während erbitterter Kämpfe, wenn es an der Frontlinie an medizinischem Personal mangelte, leistete sie freiwillig Hilfe in den Schützengräben, berichten Maryjas Dienstgenossen. Ruslan Miroschnytschenko, der ehemalige Kommandeur der Einheit, in der Saizawa gedient hatte, erinnert sich, dass es sie immer dorthin zog, wo „es brennt”. „Sie hat so manches Leben gerettet“, sagt Miroschnytschenko. 

    Ein anderer Kommandeur, Maryjas Mitstreiter Ruslan Romaschnytschenko, erinnerte sich in einem Interview mit der Deutschen Welle, dass sie trotz ihres jungen Alters und der gefährlichen Lage auf dem Schlachtfeld immer die Ruhe bewahrte. „Was mich erstaunte, war ihre Entschlossenheit und ihr Fokus bei der Arbeit, ihr Wissensdurst, ihr ausgeglichener Charakter. Äußerlich wirkte sie wie ein Fels: ruhig, kühl. Gleichzeitig war sie ein sehr offener und wohlmeinender Mensch“, erzählt er. 

    Dann wurde sie verletzt: Eine Leuchtrakete explodierte in ihrer linken Hand. Sie erlitt schwere Verbrennungen, mehrere Knochen in ihrem Handgelenk waren zertrümmert. Aufgrund der Verwundung kehrte Maryja Saizawa zur Behandlung und Reha nach Tschechien zurück. Aber sie wollte nicht zurück in ihr altes Leben, erinnern sich ihre Freunde. Bald erklärte sie, dass sie wieder an die Front will. Kryszina Schyjanok versuchte mit allen Kräften, ihre Freundin davon abzuhalten: Sie vermittelte ihr eine Arbeitsstelle in Prag, die ihr erlaubt hätte, die Ukraine weiterhin aus der Ferne zu unterstützen. Aber Maryja wollte nichts davon wissen. 

    „Sie schrieb mir: ‚Was sollen sie ohne mich? Man wird sie alle erschießen.‘ Ich versuchte ihr zu erklären: ‚Du kannst diese Verantwortung nicht auf dich nehmen‘“, erinnert sich Kryszina. „Sie litt seit Belarus eindeutig unter PTBS, jetzt kam noch das Trauma aus der Ukraine hinzu. Du fährst weg vom Krieg und nimmst den Krieg mit. Hier muss man sich auch fragen, ob sie ohne die traumatische Erfahrung in Belarus überhaupt an die Front gegangen wäre.“ 

    Ich verstehe, dass sie sich rächen wollte: für Minsk und für ‚Minsk‘ 

    Als Maryja Saizawa sich 2020 an die Evakuierungsorganisation Medevac wandte, lehnte sie jede psychologische Hilfe ab. Dabei erwähnte sie in einem Interview gegenüber Schtosden einmal, dass sie mit Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung kämpft. „Wir können niemanden dazu zwingen, mit einem Psychologen zu arbeiten. Aber meine Schuldgefühle blieben: Ich hatte sie hergebracht, also hätte ich sie beschützen müssen“, sagt Schyjanok. „Der Verstand sagt: ‚Es war ihre freie Entscheidung, in die Ukraine zu fahren, du kannst nicht die Verantwortung für anderer Leute Entscheidungen übernehmen.‘ Und trotzdem bleibt das Gefühl zurück, dass ich nicht ernst genug genommen habe, wie labil sie war.“ 

    Nach der Reha kehrte Maryja in die Ukraine zurück. Trotz der Einwände ihrer Vorgesetzten und aller Versuche, sie davon abzubringen, beharrte die junge Frau fest auf ihrer Entscheidung, sich erneut dem Kampf anzuschließen. Ihren Kampfgenossen zufolge hatte ihr Wunsch, an die Front zurückzukehren – diesmal als Soldatin –, mit dem Verlust von Kameraden zu tun, die im Kampf gefallen waren. Im Sommer 2023 hatte sie ihren Freund mit dem Kampfnamen „Minsk“ verloren. Nach mehreren Monaten im Ausbildungslager wurde sie im November 2024 als Scharfschützin an die Front in der Oblast Donezk geschickt. 

    „Ich verstehe, dass sie sich rächen wollte: für Minsk und für ‚Minsk‘“, sagt [ein Kamerad mit dem Kampfnamen] „Santa“. Ihren letzten Geburtstag feierte Maryja an der Front: Am 16. Januar 2025 wurde sie 24 Jahre alt. Am Tag darauf fiel sie im Kampf gegen die russische Armee. „In jener Nacht bei Pokrowsk hat sie hervorragende Arbeit geleistet. Aber die Artillerie tut ihr Werk“, erinnert sich „Santa“. 

    „Mascha hatte die Fähigkeit, andere zu inspirieren” 

    Die mediale und gesellschaftliche Aufmerksamkeit spielte eine große Rolle in Maryjas Selbstwahrnehmung und bei den Zielen, die sie sich steckte, meinen ihr nahestehende Menschen. „Wenn die Medien ständig über dich als Opfer des Regimes schreiben, wächst der Wunsch, allen zu beweisen, dass du kein Opfer bist, sondern ein Subjekt, dass du etwas bewegen kannst“, sagt Schyjanok. „Wir hatten ja auch Menschen bei uns im Programm, die verletzt waren, auf denen aber nicht die Last der Öffentlichkeit lag. Sie können weiterhin ihr Leben leben, sonntags auf den Bauernmarkt gehen und montags bis freitags zu ihrer Arbeit, Geld verdienen. Aber bei Mascha war es anders. Sie fragte sich, was man über sie schreiben und wie lange sie noch als Opfer gelten würde.“ 

    Der Wunsch, aktiv zu sein und anderen zu helfen, war ein Leitmotiv für alles, was Maryja tat. Ihre Bewerbungen begann sie nicht mit ihren Arbeitserfahrungen und Qualifikationen, sondern mit den Worten, dass sie eine Arbeit sucht, die „der Gesellschaft echten Nutzen bringt und die Chance bietet, Menschen in Not zu helfen“. 

    Ich kann mein Leben nicht mehr unabhängig von Belarus betrachten 

    „Wenn jemand gezwungen ist, in der Emigration zu leben, sucht er normalerweise nach jeder Art von Arbeit. Aber für sie war es wichtig, dass die Arbeit sinnstiftend und nützlich für die tschechische Gesellschaft war“, erklärt Schyjanok. Maryjas Freunde erwähnen ihre vielfältigen Interessen. Sie sprach nicht nur sechs Sprachen, sie malte auch, spielte Football und begeisterte sich fürs Fechten. 

    Seit den Protesten 2020 nahm die belarussische Identität einen wichtigen Platz in ihrem Leben ein. Auch in der Emigration nahm sie weiter an Protesten gegen Lukaschenkos Regime teil. Sie thematisierte das oft im Freundeskreis und gegenüber Journalisten. „Ich kann mein Leben nicht mehr unabhängig von Belarus betrachten. Wenn nicht Belarus, was dann? Ich habe immerhin meine Gesundheit dafür geopfert. Und ich habe wirklich an unsere Idee geglaubt, ich will unbedingt, dass mein Land das schafft. Ich will das sehen und dorthin zurückkehren“, sagte Saizawa in einem Interview. 

    Ihre Freunde erinnern sich, wie sie in ihrer Zeit in Prag traditionelle belarussische Gerichte und Getränke für sich entdeckte, wie Draniki und Krambambulja. Irgendwann entschied sie sich, nur noch Belarussisch zu sprechen. „Nach ihrem Tod zeigte man mir ihre Nachrichten in den Kriegs-Chats: Sie schrieb in Taraschkewiza [das ist die klassische belarussische Rechtschreibung]“, erzählt Schyjanok. 

    Ihre Freunde heben Maryjas moralische Standhaftigkeit, ihre Prinzipientreue und innere Freiheit hervor. Besonders ehrfürchtig erinnern sie sich an die Warmherzigkeit und Aufrichtigkeit, mit denen sie sich ihrer Umwelt mitteilte. „Sie konnte es nicht ertragen, wenn jemand Fehler machte oder sein Wort nicht hielt. Weil sie selbst mit dem besten Beispiel voranging, wie man sein sollte“, sagt Lana. „Das führte dazu, dass sie oft enttäuscht wurde und sich einsam fühlte. Nach außen hin strahlte sie stets Wärme und Licht aus, aber deshalb blieb vieles in ihrem Inneren verborgen.“ 

    An dem Tag, als die Nachricht von Maryjas Tod kam, begannen viele spontan, Erinnerungen daran zu teilen, wie sie ihre Leben beeinflusst hatte. „Mascha hatte die Fähigkeit andere zu inspirieren. Sie veränderte die Menschen um sich herum zum Besseren, als würde sie ihre innere Stärke auf sie übertragen“, erzählt Schyjanok. Und ihre Freundin Lana ergänzt: „Mascha lebt in den Herzen der Menschen weiter.“ 

    Zur Trauerfeier kamen Dutzende von Maryjas Kampfgenossen 

    Maryja war die erste belarussische Freiwillige, die im Kampf für die Ukraine gefallen ist. Die Trauerfeier fand am 4. Februar 2025 statt. Maryja hatte ihre Vorstellungen von der Bestattung in schriftlicher Form Kryszina Schyjanok hinterlassen – ihrem Notfallkontakt. Diese reiste in die Ukraine, um sich von Maryja zu verabschieden und bei der Ausrichtung der Zeremonie zu helfen. Ihr zufolge habe die Militärkommandantur die Entscheidung über die Feuerbestattung getroffen. Erst wenige Stunden vor der Einäscherung erfuhr Schyjanok davon und schritt ein – denn Maryja hatte sich gewünscht, dass ihr Körper nicht verbrannt würde. Sie wollte neben ihrem Feund „Minsk“ beerdigt werden, in dem Teil des Kyjiwer Friedhofs, in dem die belarussischen Soldaten ruhen. 

    Als Schyjanok von der bevorstehenden Kremierung erfuhr, setzte sie sich sofort mit Swjatlana Zichanouskaja in Verbindung, die sich wiederum an die Verwaltung des Kyjiwer Bürgermeisters Vitali Klitschko wandte. Die Entscheidung, Maryja Saizawa an dem von ihr gewählten Ort beizusetzen, wurde nur wenige Minuten vor der Einäscherung getroffen. 

    „Das war eine dramatische Situation. Wir bekamen die Zustimmung von der Verwaltung genau in dem Moment, als die Trauerfeier vorbei war und der Sarg in den Ofen geschoben werden sollte. Die Zeremonie wurde unterbrochen“, erzählt Schyjanok. „Dank Swjatlana Zichanouskaja konnten wir Maschas letzten Willen erfüllen.“ 

    Maryjas Eltern konnten nicht in die Ukraine kommen, um sich von ihrer Tochter zu verabschieden, aber Kryszina Schyjanok sagt, sie sei ihren Wünschen nachgekommen. „Mascha war Atheistin und wollte weder religiöse Rituale noch ein Kreuz auf ihrem Grab. Aber ich wollte gleichzeitig die Wünsche ihrer Eltern erfüllen“, erzählt Schyjanok. „Ihre Mutter bat mich, eine kleine Ikone mit der Jungfrau Maria ins Grab zu legen, nach der ihre Tochter benannt wurde. Der Vater wünschte sich weiße Rosen dazu.“ 

    Das Grab von Maryja Saizawa auf dem Kyjiwer Friedhof am Tag ihrer Beerdigung, 7. Februar 2025. / Foto © Radio Svaboda (RFE/RL)
    Das Grab von Maryja Saizawa auf dem Kyjiwer Friedhof am Tag ihrer Beerdigung, 7. Februar 2025. / Foto © Radio Svaboda (RFE/RL)

    Zur Trauerfeier kamen Dutzende von Maryjas Kampfgenossen. Später übergaben sie Maryjas persönliche Gegenstände dem Museum Swobodnaja Belarus s Ukrainoi w serdze (dt. Das freie Belarus mit der Ukraine im Herzen, Wanderausstellung in der Ukraine – dek). 

    „Das ganze Bataillon ist in Trauer. Sie war unser Liebling. Maryja war eine der wenigen Veteranen, die erbitterte Kämpfe überstanden und dabeigeblieben waren. Wir haben einen Teil unserer Familie verloren, einen Teil von uns selbst“, sagte der Kommandeur Ruslan Miroschnytschenko in einem Interview mit Radio Svaboda. „Sie ist eine starke Kriegerin“, fügt Miroschnytschenko hinzu. „Sie hat ihr Leben für unsere und eure Freiheit gegeben. Für ein freies Belarus und für eine freie Ukraine.“ 

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  • Das zynische Spiel mit der Migration

    Das zynische Spiel mit der Migration

    Die Lage an der östlichen EU-Grenze ist nach wie vor angespannt. Das Lukaschenko-Regime hatte Mitte 2021 künstlich eine Migrationskrise herbeigeführt. Als Reaktion auf die scharfen Sanktionen, die die EU verhängte, nachdem Minsk eine Ryan Air-Maschine zur Landung in Belarus genötigt hatte, um den Blogger und Aktivisten Roman Protassewitsch festnehmen zu können. Bis heute versuchen Menschen aus Syrien, Afghanistan, aber auch aus Mali, nach Polen oder Litauen zu gelangen. Dabei kommt es immer wieder zu Gewalt, zu sogenannten Pushbacks und zu Toten. Viele verschwinden in den Grenzwäldern.

    Warum nutzt das Regime in Belarus bis heute Flüchtlinge als politisches Druckmittel? Welche Rolle spielt Russland dabei? Warum hat die EU wenig Interesse, mit Lukaschenko darüber zu verhandeln? Eine Analyse von Waleri Karbalewitsch für das Online-Portal Pozirk.


    Am 2. September kündigte der belarussische Außenminister Maxim Ryshenkow für November eine internationale Konferenz in Minsk an, die sich mit der Bekämpfung der illegalen Migration in der Region beschäftigen sollte. Eingeladen seien „alle Interessierten, inklusive der Nachbarländer, anderer Staaten der EU und der GUS“. Ferner sagte der Minister: „Wir hoffen auf die Teilnahme aller, die an einer Normalisierung der Situation an der Grenze interessiert sind.“ 

    Am 15. November war es so weit. Allerdings: Von westlicher Seite waren nur ein Mitarbeiter der britischen Botschaft sowie der ungarische Botschafter vertreten. Das Problem der illegalen Migration an der Grenze zwischen Belarus und den EU-Staaten ohne Beteiligung der europäischen Nachbarn zu diskutieren, kommt einem Scheitern der Ausgangsidee gleich. 

    Mit vorgespielter Empörung beschuldigt die belarussische Führung nun die westlichen Partner. Dabei hat sie das Problem selbst geschaffen – und sich einen so fragwürdigen Ruf erarbeitet, dass niemand mehr etwas mit ihr zu tun haben will.  

    Die Migrationskrise wurde vom belarussischen Regime künstlich herbeigeführt 

    Zur Erinnerung: Bis 2021 gab es keinerlei Probleme mit illegaler Migration an der Grenze zwischen Belarus und Polen, Litauen und Lettland. Die Migrationskrise wurde vom belarussischen Regime künstlich herbeigeführt. Lukaschenko hat viele Male öffentlich erklärt, er habe als Reaktion auf das feindliche Verhalten des Westens befohlen, Migranten aus dem globalen Süden nicht mehr daran zu hindern, die Grenzen zur EU zu überqueren. 

    Dabei ist unberechtigter Grenzübertritt in jedem Land eine Straftat. Migranten, die zum Beispiel die Grenze zu Polen überqueren, verletzen zwangsläufig zuerst die belarussische Grenze. Wenn die belarussischen Grenzbeamten die Rechtsbrecher nicht aufhalten, dann erfüllen sie ihre Funktion als Grenzschützer nicht. Mehr noch, sie verstoßen selbst gegen das Gesetz, indem sie die Straftat nicht unterbinden. 

    Der Schutz der Staatsgrenze gehört zu den grundlegenden Aufgaben eines Staates. Wenn die Machthaber sich weigern, sie zu erfüllen, zeugt das von einer unzulänglichen Staatsregierung. Der Angriff auf die EU-Außengrenzen mithilfe von Migranten stellt eine Art Spezialoperation gegen die Nachbarn dar. Das offizielle Minsk setzte sich ein Minimal- und ein Maximalziel. Ersteres bestand darin, sich an Europa, allen voran an den angrenzenden Staaten, für ihre Haltung zur innenpolitischen Krise in Belarus zu rächen. Die zweite, maximale Zielsetzung bestand darin, die EU zu Verhandlungen zu zwingen, deren Bedingungen der belarussische Machthaber diktieren wollte. Die Beteiligung der belarussischen Sicherheitskräfte an der Spezialoperation ist reichlich dokumentiert. 

    Es gab Situationen, da liefen Migranten in Kolonnen von mehreren tausend Menschen durch das Grenzgebiet, direkt auf der Fahrbahn, sammelten sich dann an der Grenze und versuchten, sie zu stürmen. Ohne Unterstützung von staatlichen Strukturen wäre das undenkbar gewesen. Selbst Innenminister Iwan Kubrakow räumte ein: „Wir gewährleisten die Absicherung, begleiten die Migranten bei ihren Streifzügen.“  

    Der Transfer der Migranten nach Belarus war bewusst auf Fließband gestellt worden. Nach EU-Informationen landeten im November 2021 wöchentlich mindestens 47 Flugzeuge aus den Staaten des Nahen Ostens in Minsk. Am 26. November des Jahres besuchte Lukaschenko das Transport- und Logistikzentrum nahe des Grenzübergangs Brusgi, wo temporär Migranten untergebracht wurden, um ihnen Geleit zu geben. Auf der improvisierten Kundgebung sagte der Machthaber: „Wenn ihr in den Westen wollt, werden wir euch weder einkesseln noch fangen oder schlagen. Es steht euch frei. Wenn ihr durchkommt, dann geht nur.“ 

    Als Motivation fügte Lukaschenko hinzu, täglich würden es bis zu 200 Menschen erfolgreich über die Grenze schaffen. Er sagte auch, dass Belarus 12,6 Millionen US-Dollar in die Unterstützung der Migranten stecken würde, und rief sie dazu auf, der Regierung jeglichen Hilfsbedarf zu melden. 

  • Die unsichtbaren Repressionen gegen Queers

    Die unsichtbaren Repressionen gegen Queers

    Kurz bevor Alexander Lukaschenko 1994 zum ersten Mal Präsident wurde, war im unabhängigen Belarus Homosexualität legalisiert worden. Nicht-heteronormative Lebensstile konnten langsam öffentlich thematisiert werden, Belarus feierte seine erste Queer-Ikone.

    Doch die Hoffnungen auf mehr Sichtbarkeit und Anerkennung grundlegender Rechte von LGBTQ* Personen währten kurz. Stattdessen forderte strukturelle Diskriminierung von ihnen Selbsrverleugnung, bald folgte systematische Verfolgung. Als das Kulturministerium in Lukaschenkos Diktatur 2024, wenige Monate vor Beginn der Wahlkampagne zur überstürzten Präsidentschaftswahl im Januar 2025, dann Queer-Sein juristisch mit „Pornografie“ gleichsetzte, gerieten alle lesbischen, schwulen, bi- und transsexuellen Menschen ins Fadenkreuz des belarussischen Sicherheitsapparates.

    Die dekoder-Autorin Xenija Tarassewitsch und der Aktivist Oleg Roshkow erläutern, wie Repressionen die Liberalisierung gegenüber der LGBTQ* Community seit der Unabhängigkeit 1991 ersetzten. Wie die belarussische Gesellschaft, die sich für tolerant hält, darauf reagierte. Und warum belarussische Queers benachteiligt werden, wenn es um die internationale Anerkennung ihrer Verfolgung in Belarus geht, beispielsweise bei Asyl-Verfahren im Ausland.

    Lukaschenkos Repressionsapparat macht sich bereit: Queers mit Regenbogenflagge unterstützen am 20. September 2020 den friedlichen Protest gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen in Minsk. / Foto © Depositphotos/Imago

    Allein im September 2024 wurden in Belarus laut der Menschenrechtsorganisation Legal Initiative 15 bis 20 Menschen aus der LGBTQ* Community festgenommen. Bekannt wurde auch die Inhaftierung von acht trans* Personen. Die Silowiki erstellten gegen sie Anzeigen wegen „Rowdytums“. Gegen zwei von ihnen wurden Strafverfahren wegen „Verbreitung pornografischen Materials“ eingeleitet.

    Ein Jahr zuvor, im September 2023, hatte die belarussische Regierung begonnen, einen Gesetzentwurf – analog dem russischen Gesetz – zum Verbot von „Propaganda nichttraditioneller sexueller Beziehungen“ zu erarbeiten. Kurz darauf begannen Razzien auf queeren Partys (ähnlich wie zur gleichen Zeit in Russland und obwohl das Gesetz in Belarus bis heute nicht angenommen ist – dek.), bei denen die Silowiki persönliche Daten der Besucher sammelten.

    Doch das war nicht immer so. Als Belarus in den 1990er Jahren unabhängig wurde und Alexander Lukaschenko erst anfing Richtung Alleinherrschaft zu streben, war die Situation weitaus verheißungsvoller.

    Nur Kultur, keine Menschenrechte

    Homosexuelle Beziehungen wurden in Belarus im Jahr 1994 entkriminalisiert, drei Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit und nur wenige Monate vor Lukaschenkos Machtantritt. Bis dahin hatte das sowjetische Gesetz mit dem Artikel über „Unzucht zwischen Männern“ gegolten.

    Der Machtwechsel, gefolgt vom Wechsel des politischen Regimes, brachte anfangs keine sichtbaren Veränderungen bei einer sich abzeichnenden Liberalisierung. Über Themen wie Sex und Homosexualität wurde nun mehr oder weniger offen gesprochen. In Belarus gab es zu dieser Zeit auch die erste queere Ikone: Edzik Tarlecki alias Madame Zju-Zju.

    „Seit den 1990er Jahren gab es einen Konsens: Man kann sich in der Kultur engagieren, aber nicht in den Menschenrechten, – erst recht nicht über die Rechte und Probleme der Community sprechen“, erklärt Oleg Roshkow, Gründer der Medieninitiative J4T (Journalists For Tolerance).


     

    Madame Zju Zju performt „Ach, kakaja shenschtschina!“ (1995, dt. Ach, was für eine Frau!) der ukrainisch-sowjetischen Gruppe Freestyle  aus Poltawa, begleitet von einem „betrunkenen Chor“. / Quelle: youtube.com/@Norma Pospolita Madame Zju Zju 

    Chronik belarussischer Pride-Märsche

    Das belarussische Online-Magazin Make Out hat vor einigen Jahren, noch vor der jüngsten Verfolgungswelle, eine Chronologie der Pride-Demos veröffentlicht, die halblegal in Minsk stattfanden.

    Im Jahr 1999 fanden dank der Organisatoren der ersten Minsk Pride neben den Wettbewerben Mr. Gay Belarus und Transmission auch ein Bildungsprogramm und eine Konferenz zum Thema Rechte von Schwulen und Lesben statt. In der Nacht stürmte OMON den Club, in dem alles stattfand. Dennoch nahmen an der ersten belarussischen Pride ungefähr 500 Menschen teil.

    Im Jahr 2001 gab es dann den ersten richtig großen Pride-Marsch: Zwischen 500 und 2000 Teilnehmende versammelten sich in der Nähe des Minsker Stadtzentrums unter Regenbogenflaggen. Zwar war die Veranstaltung nicht von den Behörden genehmigt, dennoch verlief alles ohne Zwischenfälle. Indes sah sich aber Tarlecki aka Madame Zju Zju schon Mitte der 2000er Jahre gezwungen, in die Ukraine zu gehen. 

    In den Folgejahren fanden kleinere Aktionen statt, zum Beispiel 2008. 2010 lösten OMON-Einheiten die Pride auf und verprügelten Teilnehmende. Im folgenden Jahr wurde der LGBTQ*-Marsch am Stadtrand von Minsk abgehalten, um Gewalt zu vermeiden. Die letzte öffentliche Aktion fand 2012 statt: Aktivist*innen fuhren mit Plakaten und Regenbogenfahnen in Straßenbahnen durch die Stadt.

    Für die achte Minsk Pride am 2. Oktober 2012 mieteten die Organisator*innen eine eigene Straßenbahn und dekorierten sie mit bunten Ballons und Regenbogenflaggen. Eine Demonstration zu Fuß war zuvor verboten worden. / Foto © Zuma Press/ Imago

    Die „Causa Pi“

    Oleg Roshkow widerspricht einer unter Belarussen verbreiteten Vorstellung von Toleranz und betont, dass queere Menschen in Belarus nur hinter verschlossenen Türen sie selbst sein können. Im öffentlichen Raum seien sie stets gezwungen sich zu verstellen. Roshkow nennt diese Praxis „soziale Kastration“. 

    „Solange man so tut, als sei man heterosexuell, wird man von der Gesellschaft toleriert, obwohl alle alles wissen. Wenn ich mich aber öffentlich zu meiner Homosexualität bekenne, folgen massive negative Reaktionen: ‚Wie kannst du es wagen, deine Homosexualität zur Schau zu stellen‘“, erklärt Roshkow.

    Die vielleicht bekannteste homophobe Straftat in der Geschichte des unabhängigen Belarus war der sogenannte Fall Pi: Am 25. Mai 2014 wurde der Architekt Michail Pischtschewski nach einer privaten Party in Minsk überfallen und verprügelt. Er lag einen Monat lang im Koma, aufgrund großflächiger Hämatome mussten ihm 20 Prozent der Gehirnmasse entfernt werden. 

    Es ist eine Sache, Schwule nicht zu mögen, aber eine andere, einen Menschen zu töten.

    „Michails Geschichte ging mir persönlich sehr nah“, erinnert sich Roshkow. „Ich kannte ihn nicht, aber als ich von seinem Fall erfuhr, half ich seinen Eltern dabei, Geld für die Behandlung zu sammeln. Zunächst waren sie dagegen, die Sache öffentlich zu machen, aber dann arbeiteten sie mit der Presse zusammen, weil es eine Chance gab, ihn zu retten. “

    Auch die Nicht-Queers leisteten in diesem Fall erhebliche Unterstützung, so Roshkow: „Es ist eine Sache, Schwule nicht zu mögen, aber eine ganz andere, einen Menschen zu töten. Viele Belarussen sahen eine Grenze überschritten, als sie diesen Fall sahen.“

    Michail erlangte das Bewusstsein zwar wieder, seine Gehirnfunktionen blieben jedoch eingeschränkt. Am 25. Oktober 2015 starb er an einer Hirnhautentzündung.

    Verstaatlichte Homophobie

    Roshkow bewertet den Angriff auf Pischtschewski als Signal für alle LGBTQ* Menschen, denn jede*r von ihnen hätte an seiner Stelle sein können. Dennoch sei Queerfeindlichkeit lange Zeit nicht institutionalisiert gewesen. So waren in Minsk queere Partys durchaus erlaubt, auch wenn sie oft Razzien erlebten. Doch nach Ansicht des Experten habe es lange keine konkrete politische Entscheidung gegeben, die queere Community systematisch zu verfolgen.  

    Die Trendwende fand Roshkows NGO J4T in zunehmender Hetze gegen LGBTQ* in belarussischen Staatsmedien: in der ersten Hälfte des Jahres 2020 in zehn Prozent der Veröffentlichungen, in der zweiten Hälfte bereits in 20 Prozent. Und im Jahr 2021 enthielt bereits jede vierte Veröffentlichung zum Thema LGBTQ* Hassrede.

    „Es gibt in den staatlichen Medien eine Kampagne gegen die queere Community“, sagt Roshkow. „Nach unseren Maßstäben bedienen sich die Propagandisten der gröbsten Form von Hassrede.“

    Wenn ich ein Foto, auf dem ich meinen Freund auf die Wange küsse, in ein soziales Netzwerk gestellt hätte, könnte ich wegen Pornografie vor Gericht kommen.

    Von indirektem Druck gingen die belarussischen Behörden schließlich zu direkten Maßnahmen über: Im April 2024 verabschiedete das Kulturministerium einen Beschluss, der „nichttraditionelle Beziehungen“ mit Pornografie gleichsetzt. Und nun können die Strafverfolgungsbehörden praktisch jede Darstellung eines homosexuellen Paares oder einer trans* Person nach Artikel 343 des Strafgesetzbuchs verfolgen, der eine Strafe von bis zu vier Jahren Gefängnis vorsieht.

    „Wenn ich vor fünf Jahren ein Foto, auf dem ich meinen Freund auf die Wange küsse, in ein soziales Netzwerk gestellt hätte, könnte das jetzt als Pornografie angesehen werden. Und ich könnte für die Verbreitung des Fotos vor Gericht kommen“, erklärt Roshkow.

    Menschenrechtsaktivisten von Legal Initiative schreiben, dass mittlerweile sämtliche nichtheterosexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen, auch wenn sie in gegenseitigem Einverständnis bestehen, als etwas Illegales interpretiert werden, was die gesellschaftliche Missbilligung und die Rechtfertigung von Gewalt gegen Queers verstärkt. 

    Transition ja, Toleranz nein

    Zwar ist Belarus immer noch eines der wenigen Länder, in denen nach Änderung der entsprechenden Rubrik im Reisepass eine Transition mit kostenloser Hormontherapie und chirurgischer Geschlechtsangleichung möglich ist. Voraussetzung ist allerdings das Einverständnis einer sechs- bis achtköpfigen ärztlichen Kommission. 

    Trans* Personen werden dennoch diskriminiert. Menschenrechtsaktivist*innen berichteten im Jahr 2024 von den Erfahrungen des trans* Mannes Marat. Er machte die Transition und erhielt neue Dokumente. Aber seine Daten in den Geburtsurkunden seiner vier Kinder konnte er nicht ändern lassen – die Standesämter verweigerten ihm das.

    Später gingen bei der Schulverwaltung anonyme Anzeigen wegen angeblicher häuslicher Gewalt ein. Marat bekam Kontrollbesuche. Bald darauf wurde er erneut vor die medizinische Kommission bestellt, wo die Genehmigung zur Transition annulliert und die Rückgabe seiner Dokumente verlangt wurde. Marat floh letztlich mit seinen Kindern nach Frankreich. 

    Europäische Bürokraten sehen „keine Diskriminierung“  

    Abgesehen von all dem gibt es in Belarus noch kein Verbot von „Propaganda [nichttraditioneller Beziehungen – dek.]“ wie in Russland, und die LGBTQ* Gemeinschaft ist auch nicht als „extremistische Bewegung“ eingestuft.

    Aktivist*innen und Expert*innen zufolge verschlechterten sich jedoch die Aussichten für konkrete Personen. Wie Roshkow betont, sind heute alle queeren Menschen in Gefahr, da die Silowiki auch ohne solche Verbote über ein umfangreiches Instrumentarium verfügten, um jede queere Person verhaften zu können. Angesichts der allgemeinen Repression schätzt Roshkow die Situation queerer Menschen in Belarus als noch schwieriger als in Russland ein.

    Dass wir kein Gesetz haben, macht die Situation nur noch schlimmer. Belarussische Queers können international nicht um Hilfe und Schutz bitten.

    Gleichzeitig erregt Belarus weniger Aufmerksamkeit, die dortige LGBTQ* Community erfahre wenig Unterstützung. Auf Hilfe aus dem Ausland könne man nicht zählen.

    Andrej Sawalej, Koordinator der Fall-Pi-Kampagne, sieht das ähnlich: „Die Tatsache, dass wir kein Gesetz haben, das LGBTQ* Menschen (direkt) diskriminiert, macht die Situation nur noch schlimmer. Belarussische Queers können international nicht um Hilfe und Schutz bitten. Aber Russen können das – sie haben das Gesetz über ‚Propaganda für nichttraditionelle Beziehungen‘, sie bekommen Asyl in Europa. Belarussische Queers leben in der gleichen Realität, aber die europäischen Beamten sagen ihnen: ‚Ihr werdet nicht diskriminiert.‘“

    Queere Flüchtlinge bekommen in den meisten Fällen ein humanitäres Visum für Litauen, aber Litauen gibt ihnen nicht immer auch eine Aufenthaltsgenehmigung oder den Flüchtlingsstatus. Dies gilt insbesondere für trans* Personen, da es in Litauen selbst an notwendigen medizinischen Einrichtungen für Geschlechtsangleichung und Hormontherapie fehlt.

    Die meisten queeren Menschen in Belarus haben keine Möglichkeit, das Land zu verlassen. Das ist ein seltenes Privileg.

    Auch in anderen EU-Ländern gibt es Schwierigkeiten, einen legalen Status zu erhalten. Infolgedessen sitzen Belarus*innen in der Falle: ohne Zugang zu lebenswichtigen medizinischen Leistungen und ohne Chancen auf Asyl. „Man muss bedenken, dass die meisten queeren Menschen in Belarus keine Möglichkeit haben, das Land zu verlassen“, erinnert Roshkow. „Das ist ein seltenes Privileg. Darum wollen sie vor allem ein normales Leben führen. Unsere Aufgabe ist es, ihnen in dieser ‚neuen Normalität‘ zu helfen.“

    Trotz aller Schwierigkeiten machen die queeren Aktivist*innen weiter: „Wichtig für die Community sind gemeinsame Erfahrungen, Zusammengehörigkeitsgefühl und Unterstützung. Bis vor Kurzem konnten viele Initiativen noch Offline-Veranstaltungen organisieren, aber jetzt ist das nicht mehr sicher“, sagt Roshkow. „Die Menschen wollen positive Nachrichten, interessieren sich für Lifestyle, Kultur-Events, suchen Beispiele für erfolgreiche belarussische Queers. Und praktische Informationen: Wie man als gleichgeschlechtliches Paar in Belarus eine Wohnung mietet, wie man die Geschlechterrollen in einer Beziehung verteilt, wie man toxische Beziehungen und Fake-Dates vermeidet.“

    Das Schweigen der demokratischen Kräfte

    Roshkow hat keinen Zweifel daran, dass Belarus irgendwann doch auch ein „Propaganda“-Gesetz verabschieden wird. In Anbetracht der bereits bestehenden Gesetze zur „Pornografie“ dürfte es jedoch nicht besonders hart ausfallen, glaubt der Experte.  Was in der Queer-Community auch aufgefallen sei, meint Roshkow, ist, dass die demokratischen Kräfte die LGBTQ* Community während der Diskussion über den „Pornografie“-Gesetzesentwurf, als parallel die mediale Hasskampagne gegen sie gestartet wurde, in keiner Weise unterstützt hätten. Eine der wenigen, die sich negativ dazu äußerten, war Olga Gorbunowa, die – mittlerweile ehemalige – Sprecherin für Sozialpolitik des Vereinigten Übergangskabinetts.

    Wir machen uns keine Illusionen. Uns ist klar, dass wir uns nur auf uns selbst verlassen können.

    Roshkow vermutet, dass in der breiten Wählerschaft von Swetlana Tichanowskaja nicht alle tolerant gegenüber der queeren Community sind. Seit die Unterstützung für Tichanowskaja schwinde, versuche sie, diese zu erhalten, indem sie „sichere Positionen“ vertritt. Es gebe keinen politischen Willen, eine kleine Gruppe zu unterstützen, wenn man riskiert, die breite Zustimmung zu verlieren. 

    „Wir sollten versuchen, uns durchzusetzen und Belarus in den Medien und der Kunst wieder auf die Tagesordnung zu bringen“, sagt Roshkow. Außerdem könne man über diplomatische Kanäle arbeiten, müsse mehr an nicht öffentlichen Treffen und Verhandlungen teilnehmen. „Wir machen uns keine Illusionen, dass uns jemand unterstützen wird. Uns ist klar, dass wir uns nur auf uns selbst verlassen können. Aber wir lassen uns nicht unterkriegen.“

     

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  • Gegen Putin, aber für wen?

    Der Täter lauerte seinem Opfer vor dessen Haus in Litauens Hauptstadt Vilnius auf: Mit einem Hammer durchschlug er die Scheibe seines Wagens und sprühte ihm Tränengas ins Gesicht. Dann drosch er mit dem Hammer auf Leonid Wolkow ein. Wolkow war lange einer der engsten Mitstreiter von Alexej Nawalny und Vorsitzender von dessen Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK). Deshalb schien nach dem Attentat im März 2024 klar: Die Hintermänner sitzen im Kreml. Doch im September 2024 veröffentlichte der FBK eine Recherche, wonach der ehemalige Yukos-Manager Leonid Newslin den Überfall in Auftrag gegeben habe. Newslin bestreitet das und behauptet, der russische Geheimdienst versuche, Zwietracht in der russischen Opposition zu stiften, indem er falsche Spuren lege.

    Der nächste Akt begann im Februar 2025, als der Blogger und Nawalny-Rivale Maxim Katz in einem zweistündigen Video dem FBK unterstellte, er habe sich von kriminellen Bankern sponsern lassen und ihnen im Gegenzug geholfen, sich als Opfer des Regimes darzustellen und ihre Reputation im Westen aufzupolieren. Der FBK reagierte seinerseits mit einem anderthalbstündigen Video, in dem er die Vorwürfe abstreitet und Katz der Lüge bezichtigt.

    Alle Akteure in diesem Oppositions-Drama verbindet, dass sie eigentlich einen gemeinsamen Gegner haben: Wladimir Putin. Aber statt ihre Kräfte zu bündeln, bekriegen sie sich gegenseitig. Enttäuscht wenden sich viele ehemalige Anhänger von diesem Spektakel ab. Gleichzeitig bleiben die Aktionen der Opposition im Exil schwach und sie tut sich zunehmend schwer damit, ihre Landsleute in der Heimat zu erreichen.

     

    Wladimir Kara-Mursa, Jewgeni Tschitschwarkin, Ilja Jaschin und Julia Nawalnaya marschieren am 1. März 2025 unter der Losung „Nein zu Putin. Nein zum Krieg“ durch Berlin / Foto © Snapshot/ Imago

    Am 6. Dezember 2023 kam Maxim in Sankt Petersburg von der Arbeit nach Hause, aß zu Abend und wartete dann auf Mitternacht. Er hatte gar nicht vor, ins Bett zu gehen: Er wollte unbedingt mit eigenen Augen sehen, wie auf zwei Plakatwänden, die kürzlich von einer neuen, auf dem Markt unbekannten Firma angemietet worden waren, Banner installiert werden.

    Maxim musste ein paar Stunden in der Nähe der Plakatwand auf dem 2. Murinski Prospekt warten. Um nicht direkt im Auto einzuschlafen, trank er Kaffee und schaute eine Sendung mit Ekaterina Schulman.

    Als die Straßenwerbungsarbeiter schließlich kamen, um ein blaues Banner mit einem unauffälligen QR-Code und der Aufschrift „Frohes Neues Jahr, Russland!“ aufzuziehen, grinste Maxim.

    So wurden am Morgen des 7. Dezember – genau 100 Tage vor den russischen Präsidentschaftswahlen (Nawalny war noch am Leben) – in den Nachrichten Banner einer neuen Kampagne des Fonds für Korruptionsbekämpfung gezeigt: Die QR-Codes, die noch in der Nacht zu einer Silvesterlotterie geführt hatten, leiteten die Nutzer nun zu einer Website mit dem Aufruf, wen auch immer zu wählen, nur nicht Putin. Sogar Maxim, der damalige Koordinator der Sankt Petersburger Zentrale für Untergrundaktionen des FBK, empfand damals kaum Genugtuung.

    „Die Banner werden nicht dazu beitragen, Putin zu besiegen und den Krieg zu beenden“, erklärt der Aktivist gegenüber Meduza. Maxim ist immer noch in Russland und hilft dem FBK, aber nicht mehr in der Petersburger Zentrale. „Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir wenig Einfluss haben. Ok, wenn das System noch wackeln würde, aber der sonnenstrahlende Wladimir Wladimirowitsch hat da was Ultra-Stabiles gebaut. Und es gibt keinerlei Anzeichen, „dass irgendetwas zusammenzubrechen droht.“

    Einige Stunden später am 7. Dezember, rissen Arbeiter unter Aufsicht der Polizei die Banner herunter. Über das Jahr, das seit dieser Aktion vergangen ist, sind Maxims Zweifel am Widerstand gegen Putin gewachsen, auch aufgrund einiger Skandale innerhalb der russischen Opposition im Ausland:

    „Ich weiß nicht, warum Maxim Katz den FBK angegriffen hat. Warum Leonid Newslin den Auftrag gab, Leonid Wolkow mit einem Hammer zusammenzuschlagen – das ist quasi die Pest aus den 1990er Jahren, nur innerhalb der Opposition von heute.“

    „Besser wäre, es gäbe sie gar nicht. Die wissen nicht mal mehr, gegen wen man wirklich kämpfen muss. Es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, darüber zu diskutieren, wer mit wem zusammengearbeitet hat, wer zu wessen Verteidigung Briefe unterschrieben hat. Doch es ist, als hätten Chodorkowski, Katz und der FBK schon vorher beschlossen, wer von ihnen das Recht hat, sich Opposition zu nennen.“

    „Nawalny hat uns allein gelassen wie Katzenbabys. Jetzt schreibt nicht mal mehr jemand aus dem Gefängnis Briefe wie: ‚Leute, keine Sorge, ich bin bei euch!‘ Er hat nur ein Vermächtnis hinterlassen: Wenn ich mal nicht mehr da bin, dann ist es eure Aufgabe, selbst starke Katzen zu werden. Man könnte denken, genau das hat die Opposition nicht geschafft.“

     

    „Entführen. Verprügeln. Anzünden“: In diesem Video verdächtigt der FBK Leonid Newslin, den Überfall auf Leonid Wolkow in Auftrag gegeben zu haben / Quelle: youtube.com/@NavalnyRu

     

    „Die Menschen wollen damit nicht in Verbindung gebracht werden“

    Interne Konflikte haben die russische Opposition in einen Sumpf aus Trübsal, Verzagen und Ekel gestürzt, so berichten unabhängige Politiker und Aktivisten auf Anfrage von Meduza ihre Sicht auf die Ereignisse von 2024.

    Der Leiter einer Organisation, die russischen Kriegsgegnern bei der Ausreise unterstützt, „schaffte es eine Woche lang nicht aus dem Bett“, da sich vor dem Hintergrund all der Skandale seine depressiven Symptome heftig verschlimmerten.

    Viele politische Gefangene seien schlicht sauer über die Darstellung der Ereignisse auf Twitter, erzählen Freiwillige des Projekts Peredatschi Siso, das politische Häftlinge unterstützt. „Viele russische Aktivisten wollen sich lieber ganz raushalten, um nicht ihre letzten Kräfte zu verschwenden“, meint etwa Darja Serenko, eine Koordinatorin der Feministischen Antikriegsbewegung FAS. Sie lebt heute in Spanien.

    Shanna Nemzowa, die Leiterin der Boris-Nemzow-Stiftung, ist sich sicher, dass in letzter Zeit ausnahmslos alle russischen Oppositionellen „toxischer geworden sind“ und „die Menschen damit nicht in Verbindung gebracht werden wollen“.

    Im Jahr 2023 war Shanna Nemzowa selbst in den Fokus einer aufsehenerregenden Geschichte geraten, als bekannt wurde, dass ein Agent des Militärgeheimdienstes GRU in ihren engsten Kreis vorgedrungen war. Es handelte sich dabei um den spanisch-russischen Staatsbürger Pablo Gonzalez (alias Pawel Rubzow), der mehrere Jahre unter falscher Identität in Kreisen der Opposition verbracht und als Journalist und Kriegsreporter gearbeitet hatte (Gonzalez war 2022 von polnischen Behörden wegen Spionage-Verdachts festgenommen worden und wurde im August 2024 bei einem internationalen Gefangenenaustausch nach Russland überführt – dek).

    Im Herbst 2024 äußerte sich der Unternehmer und Philanthrop Boris Simin, der viele Jahre den Fonds für Korruptionsbekämpfung FBK unterstützt hatte, tief enttäuscht über die Anführer der Opposition. Simin kritisierte öffentlich die Leitung des Fonds und verurteilte die Strategie, die die Organisation in den letzten Jahren verfolgt hatte – auch die letzten Projekte des FBK, unter anderem die Newslin-Recherche und die YouTube-Serie Predateli [dt. Verräter], die die Geschichte der 1990er Jahre neu interpretiert.

    „Ich finde es bedauerlich, dass dermaßen große Anstrengungen darauf verwendet werden, um Bedeutung auf einer Plattform zu erlangen, die im Grunde sehr wenig Einfluss hat“, sagte Simin Meduza über den Konflikt des FBK mit Michail Chodorkowski und anderen „Oligarchen der 1990er Jahre“. „Zu gern würde ich die Opposition lieben, doch ihre Bedeutung heute – im Krieg, für die Stabilität des Putin-Regimes und was die Frage der Widerstandskraft der Ukraine angeht – ist sehr, sehr gering.“

    Jewgeni Tschitschwarkin, ebenfalls eine bekannte Persönlichkeit, Unternehmer und Mitglied des Antikriegskomitees Russlands, hat Ende 2024 erklärt, dass er sich ganz aus der Opposition zurückziehen wolle, bis sich deren Anführer wieder „auf den äußeren Feind konzentrieren“.  Gegenüber Meduza wollte er sich dazu nicht genauer äußern.

     

    „Wie man Milliarden stiehlt und sich dann als Oppositioneller ausgibt“: Maxim Katz greift Nawalnys FBK in einem Video an / Quelle: youtube.com/@Max_Katz

    Nur wenige, die von diesen Skandalen direkt betroffen waren, tun so, als würde sie das nicht weiter bekümmern. Michail Chodorkowski, ein enger Freund und Geschäftspartner Newslins – sagte Meduza, die Konflikte würden ihn „kein bisschen deprimieren“. Der Politiker Maxim Katz ist sich sicher, dass seine aufsehenerregende Recherche über die Bänker und den FBK „das Publikum, ganz im Gegenteil, begeistern würde: Menschen möchten lieber, dass Politiker nicht reich, dafür aber ehrlich sind.“ (Vertreter des FBK lehnten es ab, für diese Recherche mit Meduza zu sprechen.)

    Der Hauptgrund für die anhaltenden Konflikte scheint für die meisten Gesprächspartner von Meduza auf der Hand zu liegen, und sie formulieren ihn alle ähnlich: Die russische Opposition befindet sich in einer Krise und fast niemand glaubt, dass ihre Anführer in nächster Zeit in Russland an die Macht kommen können.

    „Niemand hat eine Idee, wie man Putin aus dem Kreml vertreiben oder den Krieg beenden kann“, sagt Sergej Davidis, Mitarbeiter von Memorial und Leiter des Programms Podderzhka Politsakljutschennych (dt. Unterstützung politischer Häftlinge). „Deswegen beginnen die Leute, Schuldige zu suchen.“

    Die Journalistin Alexandra Garmashapowa formuliert das so: „Es ist leichter, sich untereinander zu bekämpfen, als Putin. Die Menschen agieren einfach ihre Hilflosigkeit aus.“

     

    Du schaust dir jemanden auf YouTube an und denkst: „Alter, du bist ja mächtig weit weg von der Realität.“

    Für Politiker im Exil und ihre Anhänger, die in Russland geblieben sind, wird es immer schwieriger, einander zu verstehen. Sie leben in zwei unterschiedlichen Realitäten, jede hat ihre eigenen Probleme. Deswegen wirken Konflikte zwischen oppositionellen Gruppen im Ausland besonders unangebracht, berichten die von Meduza befragten Politiker und Aktivisten.

    Die Kluft zwischen russischen Bürgern und politischen Emigranten „ist riesig – und wird immer weiter wachsen“, ist Shanna Nemzowa überzeugt. Zwei Gesprächspartner aus der russischen Zivilgesellschaft erinnern sich in einem Gespräch mit Meduza an einen der wichtigsten Protestslogans Ende 2011: „Ihr vertretet uns gar nicht.“ Das war damals nach den Wahlen gegen die Duma-Abgeordneten gerichtet, nachdem Wahlbeobachter und Journalisten schockierende Wahlfälschungen festgestellt hatten. „Das Schlimme ist, dass dieser Slogan jetzt nicht mehr nur auf die Herrschenden zutrifft, sondern auch auf die Opposition“, sagt Grigori Swerdlin vom Kriegsdienstverweigerer-Projekt Idite Lessom [dt. Geht durch den Wald bzw. Haut ab!].

    „Diejenigen, die in Russland geblieben sind, haben darauf gehofft, dass diejenigen, die ausreisen konnten, sich treu bleiben“, sagt die Journalistin und ehemalige Duma-Abgeordnete Jekaterina Dunzowa, die bei den Präsidentschaftswahlen 2024 versucht hatte, als Anti-Kriegs-Kandidatin anzutreten und immer noch in Russland lebt. „Stattdessen gab es endlose Querelen. Klar, dass die Menschen schwer enttäuscht sind“, folgert Dunzowa.

    Maxim aus Sankt Peterburg, der den FBK bei der Banner-Aktion unterstützt hat, sieht die Verantwortung für diese Kluft auch bei den Redaktionen unabhängiger Medien, die außerhalb Russlands arbeiten: „Sowohl die Opposition, als auch sie, die Medien, verlieren die Verbindung zu den Geschehnissen in Russland – das Ausmaß, die Narrative … Ich würde mir wünschen, dass die Meinungsführer, die ausgereist sind, mehr Feedback bekämen. Denn manchmal schaust du was auf YouTube und denkst nur: Alter, du bist ja mächtig weit weg von der Realität – vielleicht sitzt du da selbst in ‘nem Bunker?“

     

     

    In einem anderthalbstündigen Video verteidigt sich der FBK gegen die Vorwürfe des Bloggers Maxim Katz / Quelle: youtube.com/@NavalnyLiveChannel

    Lew Schlossberg, einer der wenigen Oppositionspolitiker, die weiterhin in Russland leben und öffentlich tätig sind (trotz des gegen ihn eingeleiteten Strafverfahrens) erklärt, dass er nicht ein Beispiel kenne, „wo ein Politiker, der gezwungen war, Russland zu verlassen, seine lebendigen und unbefangenen Verbindungen zur Gesellschaft aufrechterhalten hätte: Keine elektronische Kommunikation kann das ersetzen, was ich ‚Gespür für das Land‘ nennen möchte. Die Temperatur eines Krankenhauses kann man nur messen, wenn man in diesem Krankenhaus ist. Alles andere sind Ersatz-Impressionen.“

    Schlossberg hat wiederholt erklärt, dass seiner Meinung nach die Aktivitäten politischer Emigranten „absolut keine Verbindung zu der Zukunft unseres Landes haben“. Im August 2024 löste ein Post von Schlossberg, in dem er Überlegungen über eine „Partei aus fremdem Blut“ anstellte, die hoffe „hinter dem Schutzschild fremder Panzer“ nach Russland zurückzukehren, eine der heftigsten Diskussionen der letzten Zeit aus.

    Es war zu erwarten, dass Schlossberg von denen angegriffen werden würde, die aus dem Land fliehen mussten. Der Wirtschaftswissenschafter Konstantin Sonin (der in Abwesenheit zu achteinhalb Jahren Freiheitsstrafe wegen Falschinformationen über die Armee verurteilt wurde) nannte die Äußerungen des Politikers „Ausbrüche von zweifelhaftem Patriotismus“. Der Journalist und Koordinator zivilgesellschaftlicher Projekte, Sergej Parchomenko (in der Russischen Föderation zum „ausländischen Agenten“ erklärt), sagte, „Schlossbergs Jammertirade“ strotze nur so vor „Heuchelei, Demagogie und Geschmacklosigkeit“.

    Auch unter den politischen Emigranten sind viele der Meinung, dass sie von niemandem vertreten werden. Und das, obwohl Anführer der Opposition sich bei europäischen und amerikanischen Politikern für ihre Belange einsetzen (etwa indem sie Vorschläge für Sanktionslisten machen, im EU-Parlament über eine Vision für das Russland der Zukunft sprechen oder für die Rechte russischer Geflüchteter in den USA eintreten). Unter den Putin-Gegnern konnte sich bislang keine Struktur etablieren, die von allen anerkannt wird, als Vertretung der russischen Diaspora fungiert und deren Rechte verteidigt.

    „Es wäre wünschenswert, wenn es eine feste Gruppe geben würde, die sich regelmäßig mit konkreten Anliegen an die europäischen Politiker wendet“, sagt ein Vertreter der Initiative InTransit, die von Berlin aus politisch Verfolgte in Russland unterstützt und ihnen hilft, das Land zu verlassen. „Das sagen wir unseren Politikern immer wieder, denn das hören wir selbst immer wieder von EU-Diplomaten und Mitarbeitern des Europäischen Parlaments. Einzelinitiativen schaden nur. Die Außenministerien beschweren sich bei uns: Mal kommt der Eine, mal ein Anderer; was sollen wir dann machen? Das, was die Einen sagen oder das, was die Anderen vorschlagen?“

    Dasselbe beobachtet auch Ilja Schumanow, Antikorruptionsexperte und ehemaliger Leiter von Transparency international Russland im Exil: „Ich höre von westlichen Diplomaten, dass es großartig wäre, eine russische Tichanowskaja zu haben, also einen Anführer oder eine Koalition, die die Russen vertritt, so wie Tichanowskaja die Belarussen.

     

    „Als Bürger der Russischen Föderation kränkt es mich, dass die Interessen der Ukrainer und unserer ausgereisten Mitbürger in den Mittelpunkt gestellt werden.“   

    In den drei Jahren seit dem 24. Februar 2022 rufen praktisch alle Fragen, die im Zusammenhang mit der Ukraine stehen, in der russischen Opposition schmerzhafte Diskussionen hervor. Doch ein Thema wird besonders kontrovers diskutiert – die Unterstützung der Ukrainischen Armee. Viele ukrainische Aktivisten fordern, dass russische Kriegsgegner Geld an die Ukrainische Armee spenden. Und viele Kriegsgegner aus Russland erwidern, dass sie nicht bereit seien, die Tötung ihrer Landsleute zu finanzieren.

    Rund um diese Frage entspann sich – was absehbar war – eine enorme Anzahl verschiedener Skandale. Im Frühling 2023 postete Anna Weduta – die ehemalige Pressesprecherin Nawalnys und heute Direktorin für strategische Partnerschaften der Free Russia Foundation im Zuge dieser Auseinandersetzung auf X ein Foto, auf dem Granaten zu sehen waren. Auf einer stand geschrieben: „Euer Feind sitzt im Kreml, nicht in der Ukraine!“ Weduta kommentierte: „Bitte sehr, hier ein Screenshot von einer Granate, gekauft mit meinem Geld, mit einem schönen Gruß von mir an unsere Jungs‘.“

    Russische Propagandisten nutzten den Post für Angriffe auf den FBK. Bis heute wird er in Diskussionen in den Sozialen Medien benutzt, um zu veranschaulichen, wie Oppositionelle angeblich den Beschuss des eigenen Landes finanzieren.

    Die Russen wollten aber „eine gesunde patriotische Haltung“, und keine „Loyalität gegenüber dem Westen oder der Ukraine“, sagt Maxim, der ehemalige Aktivist beim FBK: „Man liebäugelt wohl in diese Richtung, auch wenn die Anhänger und potenziellen Wähler hier in Russland leben. Als Bürger der Russischen Föderation kränkt es mich, dass die Interessen der Ukrainer und unserer ausgereisten Mitbürger in den Mittelpunkt gestellt werden. Und wir hier in Russland werden irgendwie ausgeschlossen. Veränderungen werden nicht vom Ausland aus losgetreten – sie beginnen hier, innerhalb des Landes.“   

    Einer der von Meduza befragten Politikwissenschaftler, der sich im Exil befindet, formuliert es so: Ein Teil der russischen Opposition hat begonnen, die Lage mit „ukrainisch-westlichen Augen“ zu sehen. Mit der Darstellung, dass alle Russen für den Krieg verantwortlich sind, „lässt es sich im Westen gut und bequem leben – aber sie bietet keinerlei Chancen auf größere Sympathie in Russland“, meint der Experte.

    Anhand folgender Geschichte lässt sich gut nachvollziehen, wie sich die politische Rhetorik verändert, sobald ein Politiker Russland verlässt. Ilja Jaschin, der 2022 für seine Antikriegsaktivität eingesperrt wurde, kam 2024 infolge eines großen Gefangenenaustauschs zwischen dem Westen und Russland frei. Er landete in Europa (obwohl er es kategorisch abgelehnt hatte, seine Heimat zu verlassen). Gleich darauf bezeichnete er die Beendigung des Krieges als Priorität seiner politischen Arbeit. Der Krieg, so erklärte er, sei in eine „blutige Sackgasse“ geraten, beide Seiten sollten sich an den Verhandlungstisch setzen. Diese Worte lösten auf ukrainischer Seite und bei den Befürwortern einer Fortsetzung des Krieges bis zu einem Sieg der Ukrainischen Armee und der Wiederherstellung der Grenzen von 1991 heftigen Unmut aus.

    Bereits am dritten Tag nach dem Austausch pflichtete der Politiker seinen Kritikern bei. In einem Video-Stream erklärte er, dass seine Schlussfolgerung letztlich „aus dem Zusammenhang gerissen“ worden sei und dass nicht ein einziges Stück der Ukraine „Putin überlassen“ werden dürfe (weil der sonst nur „aggressiver“ werde). Jaschin gab auch zu, dass ihm klar geworden worden sei, dass er „seine Worte besser hätte wählen“ sollen, wenn man berücksichtigt, wie viele Ukrainer ihre Liebsten aufgrund der Handlungen Russlands verloren hätten. Die neuen Aussagen riefen wiederum Kritik in einem anderen Teil der Öffentlichkeit hervor – bei denen, die meinen, dass Politiker im Exil in erster Linie die Interessen der Russen vertreten sollen, die sich gegen den Krieg positionieren. (Jaschin lehnte es ab, für diesen Text mit Meduza zu sprechen.)

    Die Berliner Kundgebung am 17. November, zu der Julia Nawalnaja, Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa aufgerufen hatten, war im Jahr 2024 eine der wenigen Einheit stiftenden Ereignisse für die russische Opposition – ungeachtet dessen, dass sie für veraltete Losungen kritisiert wurde. Doch auch im Zusammenhang mit dieser Veranstaltung gab es Ärger: Im Anschluss an die Demonstration kam es zu einem riesigen Skandal wegen einer russischen Flagge, die ein Teilnehmer zu dem Berliner Protestmarsch mitgebracht hatte.

     

    „Die Opposition hat sich in eine Ansammlung von Bloggern mit Starallüren und Millionen Followern verwandelt“

    Da sie keine Möglichkeit haben, real um politische Macht zu kämpfen oder zumindest innerhalb des Landes Aktionen durchzuführen (Proteste sind in Russland verboten und werden brutal unterdrückt), haben sich Oppositionelle auf mediale Instrumente fokussiert. In Bezug auf Nachrichten-Produktion konkurrieren sie mit den unabhängigen Medien und versuchen, staatliche Propaganda zu bekämpfen.

    „Die Opposition hat sich in eine Ansammlung von Bloggern mit Starallüren und Millionen von Followern verwandelt“, meint Alexandra Garmashapowa. „Man hat das Gefühl, dass sie in ihrer eigenen Welt leben. Ich erinnere mich, wie sie auf einer Versammlung des Antikriegskomitees im Frühling des Jahres 2023 anfingen, die Zahl ihrer Abonnenten auf YouTube zu vergleichen. Das wirkte wirklich jämmerlich. Wir alle sitzen in einem sinkenden Schiff, das sich in einem sehr schlechten Zustand befindet. Und jetzt sollen wir ernsthaft klären, wer wie viele Abonnenten hat?“

    „Ja, Politiker verwandeln sich in Medien“, räumt Maxim Katz ein, der immer noch häufiger als „Blogger“ denn als „Politiker“ bezeichnet wird. „Ich versuche, nicht abzuheben. Wir müssen den Russen zu verstehen geben, dass man auf Russisch immer noch Dinge sagen kann, die sich von Propaganda unterscheiden. Damit man im richtigen Moment, wenn sich eine Möglichkeit ergibt, legal in die russische Politik eingreifen kann, sollte man schnell eine politische Partei gründen.“

    Wobei politische Blogger und Medien praktisch keine eigene Agenda setzen würden, so beklagen einige Gesprächspartner von Meduza aus der Szene: „Sie sind völlig reaktiv: In Russland passiert etwas und hier wird reagiert“, sagt der Politologe Iwan Preobrashenski. Eine Ausnahme ist der FBK, der sowohl Serien wie Verräter als auch investigative Filme veröffentlich, wie sie der FBK früher produzierte. Zum Beispiel über das Gehalt von Rosneft-Chef Igor Setschin.


    „Einige Leute sind bereit, ihre Reputation zu Markte zu tragen“

    Einige Aktivisten, mit denen Meduza gesprochen hat, räumen ein, dass sie sich erst nach den Konflikten innerhalb der Opposition im Jahr 2024 zu fragen begannen, wie sich die politischen Organisationen, Menschenrechts-Projekte und Medien in der Emigration eigentlich finanzieren.

    So erfuhr die Öffentlichkeit zum Beispiel erst durch die Recherchen des FBK zum Überfall auf Leonid Wolkow davon, dass Leonid Newslin eine ganze Reihe von Medien-Projekten finanziert hatte (etwa den oppositionellen Kanal Sota, der seine Nachrichten vor allem auf Telegram und in anderen Sozialen Netzwerken veröffentlicht oder sogar den YouTube-Kanal Nawalny Live). Der Film von Maxim Katz über die Bankiers führte zu einer Diskussion darüber, ob es für politische Organisationen wie den FBK überhaupt zulässig ist, Geld von Unternehmern mit zweifelhaftem Ruf anzunehmen.

    Politische Bewegungen und Projekte zum Schutz der Menschenrechtsorganisationen existieren nicht alleine dank privater Spender. Sie bekommen auch Unterstützung aus der EU und den USA. Finanzierung aus dem Ausland ist für die meisten Empfänger in doppelter Hinsicht heikel: zum einen was ihre Sicherheit, aber auch was ihre Reputation betrifft. Deshalb dringt wenig darüber an die Öffentlichkeit, welche Organisationen über welche Strukturen finanziert werden.

    Nach Einschätzung von Personen, mit denen Meduza sprechen konnte, spielte in den vergangenen Jahren die Free Russia Foundation (FRF) eine zentrale Rolle dabei, die amerikanischen Gelder zu verteilen. Diese Nichtregierungsorganisation wurde 2014 von russischen Emigranten in den USA gegründet. Sie unterstützt politische Häftlinge und Menschen, die das Land aus politischen Gründen verlassen haben. Und sie „kämpft gegen Propaganda“. 2019 wurde die FRF vom russischen Staat zur „unerwünschten Organisation“ erklärt. 2024 stufte das Justizministerium die Stiftung als „extremistisch“ ein). „Sie haben große Summen von Stiftungen bekommen, vor allem aus Amerika. In der Folge wurden sie zu einer einflussreichen Institution, einfach nur, weil sie Geld hatten“, erklärt einer, der sich mit dem System der Verteilung dieser Gelder auskennt im Gespräch mit Meduza.

    Gleichzeitig wird die Free Russia Foundation ständig von Medien und Bloggern in die Mangel genommen, die mit Leonid Newslin in Verbindung stehen. Das Portal Agenstwo zählte in Medien, die Newslin nahestehen, mehrere Dutzende Artikel, die die FRF kritisieren.

    Im Dezember gab Natalia Arno, die Chefin der FRF, bekannt, sie sei in London Opfer eines Überfalls geworden: Ein Unbekannter sei mit einem Scooter auf sie zugefahren, habe ihr das Handy aus der Hand gerissen und gerufen: „Viele Grüße von Newslin!“ Der Zwischenfall ereignete sich wenige Minuten nach einem Treffen zwischen Arno und Michail Chodorkowski. Newslin lehnte einen Kommentar zu diesen Vorwürfen ab.

    Der Stopp der Unterstützung durch die Agentur USAID Anfang 2025 war ein schwerer Schlag für alle Organisationen, die auf finanzielle Unterstützung aus dem Ausland angewiesen sind – offenbar auch für die Free Russia Foundation. Wie groß die Mittel genau waren, die USAID für Projekte im Zusammenhang mit Russland ausgegeben hat, ist nicht bekannt. Ebenso ungewiss ist, ob es gelingt, die nun entstandenen Lücken mit europäischer Hilfe zu schließen.

    Allerdings begannen die finanziellen Probleme der russischen Opposition im Ausland bereits vor Trumps Rückkehr ins Weiße Haus. Und einer der Gründe für den sogenannten „Zweiten Krieg um die Fördertöpfe“, wie der Kampf um die Ressourcen bisweilen sarkastisch genannt wird, waren wiederum interne Konflikte.

    „Wir dachten, ihr seid Kämpfer für die Menschenrechte und grundsätzlich anders als Putin. Aber wenn ihr mit Hämmern aufeinander einschlagt, dann stellt das alle in ein schlechtes Licht“, gibt Davidis von Memorial die Reaktion eines westlichen Politikers auf die Vorwürfe gegen Newslin wieder.

    Einige Stiftungen hätten daraus den Schluss gezogen, dass sie die russischen Empfänger künftig noch sorgfältiger überprüfen sollten. So berichtete es der ehemalige Vorsitzende von Transparency International – Russland im Exil, Ilja Schumanow.

    Am stärksten würden darunter kleine Initiativen leiden, glaubt der Politikwissenschaftler Preobrashenski: „Die Bürokraten im Westen werden weiter mit denen zusammenarbeiten, die sie bereits kennen. Aber alle Graswurzel-Bewegungen stehen jetzt unter Verdacht, sie hätten solch ‚dubiose Sponsoren wie der FBK‘, und alle bisherigen Unterstützer werden ganz genau unter die Lupe genommen.“

    Private Gelder, die in die Zivilgesellschaft fließen, werden häufig nach dem Prinzip „Vitamin B“ verteilt, sagt Shanna Nemzowa. „Das führt dazu, dass die Spender häufig versuchen, sich Loyalität zu erkaufen.“ Grigori Swerdlin pflichtet ihr bei: „Es gibt Leute, die bereit sind, ihre Reputation geradezu zu Geld zu machen.“ Die russische Diaspora und viele ihrer intellektuellen Projekte seien „schlichtweg ein Netzwerk von Dienstleistern, die alle Interessen von irgendjemandem bedienen“, sagt Preobrashenski über die privaten Spender russischer Abstammung. „Es gibt sehr wenige unabhängige Leute.“

     

    „Ich kann keine Kraft mehr aufbringen. Und ich weiß auch nicht, wozu“

    Seit dem 24. Februar leben Aktivisten innerhalb und außerhalb von Russland in verschiedenen Welten. Diese Diskrepanz vertieft die große Spaltung in der russischen Zivilgesellschaft.

    Ein Mittel, um diesen Graben zu überwinden, wäre „damit auzuhören, den Menschen ständig mit Prügelstrafe zu drohen“, glaubt Sergej Dawidis von Memorial. Seiner Meinung nach könnte das auch dazu beitragen, die soziale Basis des Widerstands gegen Putin zu verbreitern und auch Russen anzuziehen, die noch unentschieden sind. Alexandra Garmashapowa stimmt dieser Ansicht zu: „Die Opposition macht einen Fehler, wenn sie diese Unentschiedenen und sogar die Kriegsbefürworter von vornherein für dumm erklärt“, sagt die Journalistin. „Wenn du die Leute, die dir nicht gefallen, einfach ignorierst, verschwinden sie deshalb nicht.“

    Die Politikwissenschaftlerin Margarita Sawadskaja weist im Gespräch mit Meduza darauf hin, dass sich die Oppositionellen, die ins Ausland geflohen sind, schwer damit tun, Themen aufzugreifen, die für die Menschen in Russland relevant sind, und gleichzeitig eine gute Zusammenarbeit mit dem Westen aufzubauen. Dies sei ein „schwieriges Unterfangen“, findet Sawadskaja: „Die Hauptaufgabe besteht gar nicht so sehr darin, die Beziehungen zueinander am Leben zu halten, sondern das Ansehen im Westen zu wahren. Man muss sehr darauf achten, eine Linie zu finden, die von den Partnern im Westen mitgetragen werden kann.“

    Derweil sind die Erwartungen der westlichen Staaten, die nach wie vor die russische Opposition unterstützen, allem Anschein nach bescheiden: Trotz aller Konflikte setzen sie nach wie vor darauf, dass die unterschiedlichen politischen Gruppierungen lernen, miteinander zu kooperieren und gemeinsame Aktionen durchzuführen, erzählt ein Gesprächspartner von Meduza.

    Iwan Preobrashenski glaubt, der Westen sähe es nicht gerne, wenn die Opposition ihre Agenda radikalisieren würde: „Zum Beispiel will niemand Geld für echte Anti-Kriegs-Aktionen geben, auch nicht für subversive. 2023 war ich auf einer Veranstaltung, an der auch europäische Politiker teilgenommen haben. Die haben von den russischen Veranstaltern verlangt, dass noch nicht einmal das Wort ‚Kampf‘ benutzt werden darf: ‚Es darf auf keinen Fall der Eindruck entstehen, dass wir direkte Aktionen in Russland unterstützen.‘“ 

    Nachdem Chodorkowski [im Juni 2023] seine Unterstützung für den Prigoshin-Aufstand bekundet hatte, hätten die US-Stiftungen ihren Geldempfängern, die mit Chodorkowski zusammenarbeiteten, klargemacht, dass sie „keine Anträge mehr zu stellen bräuchten“, so erzählt es Preobrashenski. Chodorkowski selbst bestätigte diese Aussage im Gespräch mit Meduza, ging aber nicht darauf ein, um welche Stiftungen es sich genau handelte:

    „Zum Umsturzversuch von Prigoshin hatte ich einen sehr konfrontativen Auftritt vor Russland-Experten im US-Außenministerium“, erinnert sich Chodorkowski. „Die verstehen alle sehr gut, dass erst eine Spaltung in der Elite zu einem Regimewechsel in Russland führen kann. Aber ein ausgewachsenes totalitäres Regime spaltet sich nicht in die Guten und die Bösen. Es spaltet sich in Böse und Böse. Das ist allen klar! Aber der Begriff ‚Regime Change‘ ist in Washington tabu.“

    Aktivisten und junge Politiker, die ihre Aktivitäten in den Untergrund verlegt haben, blicken skeptisch auf ihre eigenen Erfolgschancen. „Viele von uns werden die Ergebnisse ihrer Arbeit zu Lebzeiten nicht mehr erleben“, ist [die feministische Künstlerin] Darja Serenko überzeugt. „Sich damit abzufinden, ist sehr schwer. Du hast das Gefühl, du arbeitest ins Leere, im Nebel, ins Nichts.“

    Etwa jeder Dritte der Aktivisten und Politiker, mit denen Meduza für diese Recherche gesprochen hat, war der Ansicht, dass der Opposition nichts anderes übrigbleibe als abzuwarten, bis Putins autokratisches Regime von selbst zusammenbricht. Letztlich sei kein Aktivismus in der Lage, diesen Prozess zu beschleunigen. Derweil sei es fraglich, ob überhaupt irgendjemand aus den Reihen der heutigen Oppositionsführer dann einen wichtigen Posten im neuen System einnehmen könne, glaubt Shanna Nemzowa.

    Sowohl politische Beobachter als auch einige Aktivisten gehen davon aus, dass eine neue Generation politischer Anführer in Russland heranwachsen wird. „Das werden ganz neue Leute sein. Junge, die noch keine Enttäuschungen erlebt haben, die wissen, was sie wollen und in was für einem Land sie leben wollen“, ist Alexandra Garmashapowa überzeugt.

    „Alles, was die russische Opposition je getan hat, wurde am 24. Februar zunichte gemacht – das Gute wie das Schlechte“, glaubt der Politologe Iwan Preobrashenski. „Aber sie selbst beginnen erst jetzt langsam, das zu begreifen. Der heftige Aktivismus, den wir derzeit beobachten, ist nichts anderes als der Versuch, sich dem unaufhaltsamen Lauf der Geschichte entgegenzustemmen. Wenn sie nicht ihnen nicht klar wird, dass ihre Rolle jetzt ist, neue Organisationen und neue Anführer zu unterstützen und zu finanzieren, die ein besseres Gespür dafür haben, was gerade passiert, dann schreiben sie sich selbst ab.“

    Sergej Dawidis von Memorial hingegen ist angesichts der jüngsten hitzigen Auseinandersetzungen unterschiedlicher oppositioneller Gruppen „nur von einzelnen Personen enttäuscht“, aber nicht von der oppositionellen Bewegung im Ganzen. „Das ist kein Weltuntergang, es kommen neue Leute. Die Jungen, die keinen formellen Führungsstrukturen angehören, fühlen sich nicht vertreten. Aber nur vorläufig.“

    Die 21-jährige Olessja Kriwzowa ist zum Beispiel eine von denen, die sich buchstäblich „nicht vertreten“ fühlen. Sie wurde in der Oblast Belgorod geboren, noch als Teenager begann sie, die Videos von Alexej Nawalny zu schauen. Am 23. Januar 2021 nahm Kriwzowa zum ersten Mal an einer Demonstration teil, um den Gründer des Fonds für Korruptionsbekämpfung zu unterstützen [Nawalny war wenige Tage zuvor nach seiner Behandlung aus Deutschland nach Russland zurückgekehrt und noch im Flughafen festgenommen worden war – dek]. Im März 2022 nahm sie zum ersten Mal an einer Demonstration gegen den Krieg teil. Sie verteilte auch Flugblätter des Feministischen Widerstands (FAS). Am Morgen des 26. Dezember 2022 brach die Polizei die Tür zu ihrer Wohnung auf.

    Gegen Kriwzowa wurden zwei Strafverfahren wegen Anti-Kriegs-Postings eingeleitet, die Finanzaufsichtsbehörde Rosfinmonitoring trug sie ins Register der Terroristen und Extremisten ein. Im März 2023 gelang Kriwzowa mit Hilfe des Projekts Wywoshuk die Flucht aus dem Hausarrest. Sie verließ ihre Wohnung und schnitt die elektronische Fußfessel ab.

    Heute lebt Kriwzowa in Kirkenes im Norden Norwegens. Neben ihrem Fernstudium an der Universität Vilnius schreibt sie für die Zeitung The Barents Observer Artikel über Russland und den Krieg. Ihren eigenen Worten nach hat sie sich von den Kreisen der russischen Opposition „stark abgegrenzt“: „Ich habe keine Kraft dafür – und ich wüsste auch nicht, welchen Zweck das haben könnte.“

    Kaum war sie mit der Vorgänger-Generation Oppositioneller in Kontakt gekommen, war ihr auch schon die Lust vergangen, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, waren für Olessja gar nicht die Konflikte, sondern dass „eine einflussreiche Person aus der russischen Opposition“ begann, sie zu bedrängen: „Bei einem Treffen begann er plötzlich sehr viel über Sex zu reden, wobei ich darum keineswegs gebeten hatte. Ich bin einfach weggerannt. Später habe ich gehört, dass ich nicht die einzige war, der so etwas passiert ist.“

    „Ich kann gut für mich selbst sprechen“, sagt Olessja Kriwzowa. „Solange wir nicht anständig und sauber werden, kann nichts Gutes dabei herauskommen.“

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  • „Ich wohne nirgendwo“

    „Ich wohne nirgendwo“

    Man könnte meinen, die Leipziger Buchmesse im Jahr 2025 stünde im Zeichen der belarussischen Literatur. Schließlich erhält der Schriftsteller Alhierd Bacharevič für seinen Roman Europas Hunde den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, zudem ist Thomas Weilers deutsche Übersetzung des Buches Feuerdörfer für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Damit steht eine europäische Literatur im Rampenlicht, der ansonsten nur wenig Beachtung zuteilwird.  

    Grund genug, etwas mehr Licht auf die belarussische Literatur zu werfen. dekoder-Autor Dsjanis Marzinowitsch hat mit Hanna Yankuta gesprochen – über das Leben aus dem Koffer, das Getrenntsein von Belarus und Entwicklungslinien der belarussischen Literatur, die sich nun weitgehend im Exil befindet. Die Schriftstellerin hat 2024 den Roman Tschas pustasellja (dt. Unkrautzeit) vorgelegt, den die Jury des belarussischen PEN sogleich auf den zweiten Platz des renommierten Jerzy-Giedroyc-Literaturpreises wählte.

    Unkrautzeit ist ein Versuch, die Unzeit zu beschreiben, in der sich die Belarussen seit 2020 bewegen. Das Buch zeigt die Welt aus Sicht einer Belarussin, die sich in der erzwungenen Emigration wiederfindet. Es besteht aus realen und fiktiven Geschichten, flüchtigen Eindrücken und Erinnerungen. 

     

    Die Übersetzung dieses Textes wurde durch ein Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen ermöglicht. 

    dekoder: Wenn man Ihnen auf Social Media folgt, bekommt man den Eindruck, dass Sie ständig auf Reisen sind. 

    Hanna Yankuta: Ich habe Belarus im Frühling 2021 verlassen, lebte dann zwei Jahre lang in Polen, und bin seit Mitte 2023 tatsächlich ständig unterwegs. 2024 habe ich einige Zeit in Lettland, Schweden, Deutschland und Österreich gelebt und auch kurze Reisen in andere Länder unternommen. Zentrum meines Lebens in der Emigration bleibt Polen, meine Bücher und Sachen sind dort bei Freunden eingelagert, ich halte mich dort häufig auf. 

    Kann man das ein „Leben aus dem Koffer“ nennen? 

    Ja, das ist eine gute Beschreibung. Auf die Frage, wo ich wohne, antworte ich in der Regel: nirgendwo. Manchmal habe ich Glück und bekomme eine Schriftstellerresidenz, manchmal miete ich irgendwo für kurze Zeit eine Unterkunft. Letztes Jahr habe ich zum Beispiel drei Monate in Argentinien verbracht, in diesem Winter ein Zimmer in Warschau gemietet. Manchmal kann ich einige Zeit bei Freunden unterkommen (in diesem Sommer lebte ich sechs Wochen bei Freunden in Berlin). Ein festes Zuhause habe ich nicht. Mein Zuhause ist in Belarus geblieben. 

    Hanna Yankuta bei einer Buchpräsentation in Vilnius / Foto © Darija Roskatsch
    Hanna Yankuta bei einer Buchpräsentation in Vilnius / Foto © Darija Roskatsch

    Warum haben Sie sich für diese Lebensart entschieden? 

    Einerseits liegt das an den Umständen, andererseits an Entscheidungen, die ich in den letzten Jahren getroffen habe. Mir ist es wichtig, solange es möglich ist, mich mit belarussischer Literatur zu beschäftigen – Texte zu schreiben, Bücher herauszugeben, Forschung zu betreiben und Buchprojekte zu unterstützen. Häufig bringt diese Arbeit kein Geld, und wenn doch, dann reicht es nicht zum Leben. Um mich irgendwo niederzulassen und dauerhaft etwas zu mieten, müsste ich eine Vollzeitarbeit finden, die höchstwahrscheinlich nichts mit belarussischer Sprache und Literatur zu tun haben würde. Auch hätte ich dann sehr viel weniger Zeit für meine Projekte. Deshalb führe ich so lange wie möglich dieses Leben auf Wanderschaft. 

    Ich vermisse Belarus sehr und will zurückkehren 

    Natürlich ist es eine temporäre Lösung. Es gibt nicht so viele Residenzen und Stipendien für belarussische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, und es ist physisch und emotional sehr anstrengend, ständig umzuziehen, zu überlegen, wo man in den nächsten Monaten leben wird, Bewerbungen zu schreiben (und häufig Absagen zu bekommen). Früher oder später muss ich mich irgendwo niederlassen. Noch ist Zeit, ich versuche, meine begonnenen Projekte fertigzustellen, so viel wie möglich zu schaffen. 

    Befördert oder behindert diese Lebensart das Schaffen? 

    Auf der einen Seite fördert das Emigrantendasein an sich das Schaffen nicht gerade: Ob man nun an einem Ort bleibt oder auf Reisen ist, man muss eine Menge neuer Aufgaben bewältigen, neue Sprachen lernen, neue Fähigkeiten erwerben. Das kostet viel Zeit, die ich in Belarus fürs Schreiben verwenden könnte. Andererseits lerne ich viel Neues, neue Sichtweisen, lerne neue Menschen kennen – vielleicht nennt man genau das „Erfahrung“. Ich weiß nicht, ob ich sie auf diese Weise sammeln möchte, aber da ich keine Wahl habe, passe ich mich den Umständen an. 

    Beeinträchtigt die physische Trennung von der Heimat die Kreativität, oder trägt man Belarus immer bei sich? 

    Ich vermisse Belarus sehr und will zurückkehren. Aber ich weiß auch, dass es nicht mehr das Land sein wird, das ich 2021 verlassen habe, wenn ich irgendwann wieder hinfahren kann. Alles, was ich jetzt im Bereich der Literatur mache, tue ich in der Hoffnung, dass die belarussische Sprache erhalten bleibt, dass Wissen über Belarus in der Welt verbreitet wird, und überhaupt für eine bessere Zukunft des Landes. Das gibt mir Kraft und hilft mir, mit der Verzweiflung klarzukommen. 

    Es hat sich so ergeben, dass ich nicht dort leben kann, wo ich will – also muss ich mir überlegen, was ich mit dieser Situation anfangen kann. Vielleicht stört es mich deshalb nicht, von Belarus getrennt zu sein, auch wenn es manchmal sehr wehtut. 

    Für die Mehrheit der Leserinnen und Leser sind Residenzen für Schriftsteller vermutlich etwas Geheimnisvolles, Unverständliches. Wie funktioniert das? 

    2021 wurde ich für das Gaude Polonia-Programm in Polen ausgewählt – ein renommiertes fünfmonatiges Stipendium für Ukrainer und Belarussen. Die Konkurrenz ist sehr stark: Man muss eine sehr gute Bewerbung schreiben, natürlich ein Projekt haben, das der Jury gefällt. Ich habe mehrere Wochen an der Bewerbung gearbeitet. Es ist das längste Stipendium, das ich bislang erhalten habe, die anderen dauerten einen oder zwei Monate. 

    Es gibt mehrere dieser Kurzzeitresidenzen für Schriftsteller aus Belarus und der Ukraine, in Warschau, Krakau und Danzig, es gibt das Kolegium tłumaczy für Übersetzer aus dem Polnischen. Dort muss man ebenfalls ein Projekt einreichen. Für das einmonatige Stipendium des SDK (Staromiejski Dom Kultury) in Warschau habe ich mich drei- oder viermal beworben, ehe ich Erfolg hatte. 

    2020 war der Höhepunkt, die Leserschaft wurde breiter und das Interesse an belarussischer Literatur ebenfalls 

    In der Regel stehen die Anforderungen fest, die die Organisatoren der Residenzen erwarten. Manchmal reicht eine Buchveröffentlichung, manchmal werden nur Schriftsteller gesucht, deren Werke in eine bestimmte Sprache übersetzt wurden, zum Beispiel Deutsch. Es gibt Aufenthaltstipendien für Schriftsteller, die in ihrem Land verfolgt werden, aber dafür habe ich mich nie beworben. 

    Die Residenzen, zu denen ich bislang das Glück hatte, eingeladen zu werden, waren offen für alle Schriftsteller, die Informationen sind frei zugänglich. Ich weiß nicht, ob es Geheimnisse gibt, die dabei helfen, zu gewinnen, viele meiner Bewerbungen hatten keinen Erfolg. Bewerbungen zu schreiben ist eine besondere Fähigkeit, ich bin noch dabei, das zu lernen. Vor Kurzem habe ich wieder eine Zusage erhalten – ich wurde zu einer Künstlerresidenz von November 2025 bis Januar 2026 eingeladen. Jetzt muss ich nur planen, wo ich bis dahin leben werde. 

    Womit verdienen Sie jetzt ihren Lebensunterhalt? 

    Ich übersetze verschiedenste Texte aus dem Russischen, Englischen und Polnischen ins Belarussische. In den seltensten Fällen sind es literarische Texte, eher aus den Bereichen Menschenrechte und Journalismus, für Kulturinstitutionen und NGOs. Das ist mein, wenn auch nicht großes, so doch stabiles Einkommen.  

    Ich könnte davon nicht leben, wenn ich nicht von Zeit zu Zeit zu einer Residenz eingeladen würde. Selbst wenn kein Stipendium für den Lebensunterhalt dabei ist, hilft so ein kostenloses Zimmer in einem Schriftstellerhaus für eine gewisse Zeit dabei, Geld zu sparen. Manchmal bekomme ich Honorare für literarische Veranstaltungen oder Vorträge, manchmal für Artikel oder Essays, die ich Zeitschriften anbiete oder die sie bei mir bestellen (das passiert selten, ein paar Mal im Jahr). Außerdem bekomme ich Anteile am Verkauf meiner Bücher. Aber Honorare und Tantiemen machen nur einen geringen Teil meines Einkommens aus, es sind keine Beträge, von denen es sich leben lässt. 

    Ist das Leben in der Emigration als Schriftstellerin leichter oder schwerer im Vergleich zu männlichen Kollegen? Oder ist es nicht korrekt, solche Geschlechtervergleiche anzustellen? 

    Ich denke, in der Emigration haben es diejenigen schwerer, die nicht nur für sich, sondern zusätzlich für andere Personen Verantwortung tragen – zum Beispiel für Kinder, für alte Eltern oder für ein krankes Familienmitglied. Betrachtet man zum Beispiel alleinerziehende Eltern, dann sind das statistisch gesehen häufiger Frauen – das ist ein Genderaspekt, der auch Literatinnen betrifft. Wenn ich Kinder hätte, würde ich in der Emigration sicher viel weniger im Literaturbetrieb arbeiten, vielleicht würde ich gar nicht schreiben. Es wäre auf jeden Fall ein ganz anderes Leben: Die Frauen mit Kindern, die ich in der Emigration kenne, haben zumindest in den ersten Jahren viel weniger Freizeit. 

    Das Cover des Romans Unkrautzeit von Hanna Yankuta.
    Das Cover des Romans Unkrautzeit von Hanna Yankuta.

    Unkrautzeit ist eine hervorragende Charakterisierung der Zeit. Haben Sie Hoffnung? Werden auf der verbrannten Erde wieder Gras und Pflanzen wachsen? 

    Einerseits verstehe ich Unkrautzeit als eine Metapher für diese Unzeit, in der wir Belarussen gelandet sind – in der du deine Zukunft nicht siehst und nichts ernsthaft planen kannst. [Im Belarussischen heißt Unkraut wörtlich „Leerkraut“ – dek] Diese Leere, die im Wort steckt, charakterisiert den Zustand, in dem wir leben. 

    Andererseits ist Unkraut ja nur aus Sicht des Menschen etwas Schlechtes. Als Unkraut bezeichnen wir Pflanzen, die uns nicht gefallen, die an Stellen wachsen, wo wir sie nicht wollen. Dabei sind sie sehr widerstandsfähig und wachsen selbst unter ungünstigen Bedingungen: auf verbrannter Erde oder in Beeten, aus denen wir sie ständig wieder ausreißen. Für mich ist dieser Titel ein Ausdruck von Hoffnung, auch wenn diese Hoffnung fragil und finster ist. Aber besser als keine. 

    Einer der Erzählstränge in Unkrautzeit liegt im Bereich der Geologie (zu Beginn des Krieges geht die Protagonistin ins Geologische Museum, ein Teil des Buches handelt von der Entstehung des Lebens auf der Erde, wie es seine Formen ändert, sich an die Welt anpasst und sie verändert) Haben Sie auch jetzt dieses Bedürfnis nach Distanz? Ist sie überhaupt möglich? 

    Ich hoffe, dass ich nie wieder ein Buch wie Unkrautzeit schreiben werde. Denn es war wirklich eine schreckliche Zeit, als Russland den vollumfänglichen Krieg gegen die Ukraine begann und es schwerfiel zu glauben, dass das überhaupt möglich ist. Die Psyche verlangte nach einer Erzählung, die, wenn sie sich nicht von den schrecklichen Ereignissen abgrenzte, so doch wenigstens eine andere Perspektive schuf. Für mich war diese Perspektive die geologische Geschichte der Erde, sie war das Prisma, durch das es mir damals möglich war, die Welt zu betrachten.  

    Ich bin überzeugt, dass das Buch, das ich jetzt schreibe, und alle, die ich in Zukunft schreibe, anders sein werden, denn ich und die Welt um mich herum ändern sich, und ich reagiere schon anders auf das, was passiert.  

    Sollte man über die Gegenwart – besonders die letzten Jahre in Belarus – besser distanziert oder doch emotional schreiben? 

    Ich denke, jede Schriftstellerin, jeder Schriftsteller hat einen eigenen Stil. Für mich ist Distanz eines der wichtigen Instrumente beim Schreiben. Ich schreibe nicht aus der Emotion heraus, ich bemühe mich, sie mit Abstand zu betrachten, in Einzelteile zu zerlegen. Aber natürlich sind auch andere Herangehensweisen möglich – Lyrik schreibt man zum Beispiel gerade aus den Tiefen eines Gefühls heraus, sie hilft, diese Emotion in Worte zu fassen. Man kann sogar mehr schreien als schreiben (unsere Wirklichkeit gibt dafür ja genügend Anlass) – und das ist auch Arbeit mit Emotionen. In schweren Momenten hilft mir als Leserin solche Literatur, um den eigenen Schmerz zu verarbeiten, oder Verzweiflung, oder Hass, und am Ende Erleichterung zu empfinden. 

    Ich selbst muss beim Schreiben aber immer einen Schritt wegtreten von den Emotionen. Deshalb habe ich für Kanstytucyja (eine Gedichtsammlung, die sich mit der Belarussischen Verfassung auseinandersetzt – dek.) und Tschas pustasellja jeweils ein Konzept entwickelt: Die Gedichte in Kanstytucyja basieren auf Gesetzestexten, und Unkrautzeit ist ein Tagebuch in der Emigration, das im Geologischen Museum in den ersten Monaten des Krieges entstand. Solche Konzeptionen helfen dabei, Distanz zu schaffen.  

    Sie sind bereits seit den 2000er Jahren im Literaturbetrieb. Beobachten Sie positive Entwicklungsdynamiken? Oder wird alles immer schlimmer? 

    Die Situation in der belarussischen Literatur ändert sich ständig. Vor fünfzehn Jahren gab es kaum unabhängige Verlage, es erschienen kaum Bücher und wenn, dann waren sie sehr dünn. Das sagt nichts über die Qualität aus, aber es zeugt davon, dass Autoren wenig Zeit für Literatur haben. 

    Schritt für Schritt wuchs die Anzahl der Verlage und Leser, es wurde einfacher, etwas zu veröffentlichen. Das war das Ergebnis der hingebungsvollen, manchmal unbemerkten, niedrig bezahlten oder gar ehrenamtlichen Arbeit vieler Menschen – Schriftsteller, Übersetzer, Verleger, Redakteure, Kritiker und Förderer. Aber auch Leser und Leserinnen, die belarussische Bücher suchten – denn in Belarus war es immer einfacher, ein russisches Buch zu finden als ein belarussisches.  

    2020 war der Höhepunkt, die Leserschaft wurde breiter und das Interesse an belarussischer Literatur ebenfalls. Nicht umsonst liquidierten die Machthaber später die Mehrheit der unabhängigen Verlage, belarussischsprachige Bücher wurden als Instrument der Herausbildung von Gemeinschaft und Widerstand betrachtet.  

    Die Arbeit auf dem Feld der Literatur kann einen Impuls für Veränderungen geben, auch innerhalb von Belarus 

    Jetzt ist das literarische Leben recht aktiv in der Emigration, auch in Belarus erscheint einiges, Bücher werden geschrieben und übersetzt – das gibt Hoffnung. Aber ich bin vorsichtig mit dieser Hoffnung. Erstens wissen wir aus Monitorings, dass die Russifizierung in Belarus seit 2020 noch stärker zugenommen hat. Das ist kein natürlicher Prozess, sondern einer, in den Russland viele Ressourcen investiert. Wir wissen nicht, wie die folgenden Generationen die belarussische Sprache annehmen werden. Ob in zehn bis 20 Jahren neue belarussischsprachige Autoren und Übersetzerinnen im Literaturbetrieb nachwachsen. 

    Zweitens ist der Boom des Interesses an belarussischer Literatur in der Emigration ein temporäres Phänomen: Die Kinder der Emigranten werden wohl kaum im selben Umfang belarussische Bücher kaufen und lesen, wie ihre Eltern es tun. Drittens kann man sich anschauen, wie viel bedeutende Prosa in belarussischer Sprache geschrieben wird: Es ist viel weniger als im Jahr 2019. Denn viele Autoren waren gezwungen, das Land zu verlassen, sie mussten ein neues Leben aufbauen, die Wenigsten haben die Möglichkeit zu schreiben. Viele verlassen den Literaturbetrieb, und ich denke, es werden noch mehr werden.  

    All das bedeutet nicht, dass man die Hände in den Schoß legen soll. Im Gegenteil – solange wir das Interesse der Leser haben, müssen wir alles nur Mögliche tun. Diese Arbeit auf dem Feld der Literatur, die wir jetzt verrichten, kann einen Impuls für Veränderungen geben, auch innerhalb von Belarus. Wenn belarussische Bücher in andere Sprachen übersetzt werden, stärkt das das Bild von Belarus im Ausland, festigt unsere Subjektivität. Je mehr belarussische Forschungen, Publikationen, aufsehenerregende Ereignisse, zum Beispiel Preisverleihungen, es gibt – desto mehr wird Belarus als eigenständiges Land mit eigener Kultur wahrgenommen statt als Anhängsel Russlands. Kulturelle Produkte, die im Ausland geschaffen wurden, können als Schmuggelware nach Belarus gelangen (genau wie das dort Geschaffene ins Ausland) und ihre Wirkung entfalten.  

    Man muss aber immer bedenken, dass die Situation instabil ist, sie wird sich weiterhin verändern, vielleicht auch zum Schlechteren. Ich weiß nicht, ob Kraft und Ressourcen ausreichen, um das zu bewältigen, aber ich denke, es ist sinnvoll zu kämpfen.  

    Wie stellen Sie sich Ihre eigene Zukunft vor? Wie weit im Voraus planen Sie gerade? 

    Ich habe einen ungefähren Plan für das nächste Jahr: Wo, wie und wovon ich leben werde. Die Pläne für die Zeit danach liegen noch im Dunkeln, aber das kümmert mich nicht. Anfang 2020 hatte ich einen konkreten beruflichen, finanziellen und künstlerischen Plan für die kommenden fünf Jahre – und die Wirklichkeit hat ihn komplett zerstört. Deshalb sehe ich gerade noch keine Möglichkeit langfristig zu planen, denn die Situation in meinem Leben, in Belarus und auf der Welt ist weit von Stabilität entfernt.  

    Ich schreibe jetzt ein neues Buch, das ich hoffentlich bis Herbst 2025 beende. Es gibt auch ein paar kleinere Projekte: Ich will einige Lyrikübersetzungen fertigstellen, die Neuausgaben einiger Bücher vorbereiten, die ich in der heutigen Zeit für bedeutend halte, und zwei kleine Geschichten für Kinder fertigschreiben und herausgeben.  

    Ich habe auch einen halbfertigen dicken Roman über meine Heimatstadt Hrodna und die Ereignisse von 2020 in der Schublade – wenn alles gut läuft, möchte ich ab kommendem Herbst daran weiterarbeiten. Und ich habe viele andere Ideen, die ich bislang auf „irgendwann später“ zurückstelle. Ich werde alles nur Mögliche tun, um so lange wie möglich im Bereich der belarussischen Literatur zu bleiben. Wenn wieder etwas Unvorhergesehenes geschieht und andere Probleme gelöst werden müssen (wie es nach 2020 mit meinen Plänen geschah) – dann bin ich jetzt besser darauf vorbereitet, als ich es vor fünf Jahren war.  

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