Bereits Ende Januar 2024 feierte die russische Neuverfilmung des Romans Der Meister und Margarita von Michail Bulgakow Premiere in Russlands Kinos. Dort kam der Film beim Publikum gut an, manche Moskauer Kinos zeigten ihn quasi in Dauerschleife. Michail Lockschin – ein in den USA geborener und auch in Russland aufgewachsener Regisseur – hatte den Film 2021 in Moskau gedreht, gefördert unter anderem mit staatlichen russischen Geldern. Doch im Februar 2022 startete Russland den vollumfänglichen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Bulgakows vielschichtiger Roman spießt mit den Mitteln der Satire Stalins Zensur- und Denunziationssystem auf, der Autor wurde selbst Opfer der Repressionen, das Buch konnte vollständig erst 1973 in der Sowjetunion erscheinen. Genug Stoff also, um in der Neuverfilmung auch potenzielle Kritik am System Putin unterzubringen. Und entsprechend traten nationalistische Autoren und sogenannte Z-Blogger eine Denunziationskampagne gegen Lockschin los, weil der den Krieg gegen die Ukraine öffentlich verurteilt hatte.
Seit Anfang Mai 2025 läuft der Film in deutscher Fassung in hiesigen Kinos. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir diesen Text von Sabina Brilo vom Februar 2024 für das Online-Portal Media_IQ. Vor dem Hintergrund der monströsen Repressionen in ihrer Heimat und der drohenden Kriegsgefahr fragt sich die belarussische Autorin, ob diese Neuverfilmung ihr kritisches Potenzial tatsächlich ausgeschöpft hat.
Als die russische Neuverfilmung von Der Meister und Margarita (ru: Master i Margarita) auf Social Media große Wellen schlug, fischte ich gerade in anderen Gewässern.
Schon seit Monaten lese ich die Erinnerungen von Menschen, die die Mitte des 20. Jahrhunderts überlebt haben: die Aufzeichnungen eines Lagerarztes, dann Erinnerungen einer deutschen Jüdin, der es gelang, im nationalsozialistischen Berlin zu überleben, und jetzt gerade die detaillierte Lagerbiografie einer Französin, die der Teufel geritten haben muss, im Paris der 1920er Jahre einen russischen Botschaftsmitarbeiter zu heiraten: Andrée Sentaurens kam 1930 zusammen mit ihrem Mann und dem kleinen Sohn nach Moskau – und geriet dort für ein Vierteljahrhundert in die Fänge staatlicher Tyrannei. Am Anfang Hunger, Angst, Unverständnis und die Unmöglichkeit, dem von allen Seiten nahenden Alptraum zu entgehen, dann schließlich siebzehn Jahre in Stalins Lagern, dem wohlbekannten Sewerodwinsk (damals Molotowsk) und seiner schrecklichen Umgebung.
Liest man die Memoiren von Überlebenden, dann kann man sich nicht losreißen, denn all das ist die Wahrheit. So war es. Parallel dazu lese und höre ich natürlich auch Nachrichten – aus der Heimat und nicht nur die. Es sind immer abstrusere, irrsinnigere, menschenfeindlichere Nachrichten, die man lieber nicht sehen und hören möchte, und doch muss man es, weil es die Wahrheit ist. So ist es. Menschen werden unschuldig festgenommen und in Lager und Gefängnisse gesteckt, Kinder bleiben ohne Eltern zurück, alte Menschen ohne ihre Söhne und Töchter. Die Staatsideologie ist zum höchsten Gut erklärt, das Leben und die Menschenwürde sind ihr vollkommen untergeordnet. In den Gefängnissen werden die Menschen isoliert, sogar der Kontakt zur Familie wird abgeschnitten. In den Gefängnissen wird getötet. Es ist heute so wie damals – weil zwar Zeit vergangen ist, aber wir, die Menschen, nichts geändert haben.
Mir ist nicht nach Premieren. Erstmal überleben.
Aus diesem Grund also – dem Nachempfinden und dem Mitempfinden mit der Gegenwart – war die Diskussion um den neuen Film Meister und Margarita an mir vorbeigezogen. Und als ich gefragt wurde: „Was denkst du darüber?“, winkte ich erst einmal ab. Mir ist nicht nach Premieren. Erstmal überleben. Eine Realität aushalten, in der meine Leute im Gefängnis sitzen, in der Emigration ausharren, ihr Leben riskieren und es verlieren. Eine Realität, in der Gefängnis und Krieg immer „normaler“ werden und bisher anscheinend niemand die Kraft hat, das zu ändern.
Doch dann überlegte ich: Wenn zum jetzigen Zeitpunkt in Russland Der Meister und Margarita verfilmt und gezeigt wird, muss das etwas zu bedeuten haben. Schon das künstlerische Statement der Neuverfilmung muss eine Bedeutung haben, denn Bulgakows Buch ist das eines Menschen, der, im Unterschied zu den Autoren und Autorinnen, die ich gerade gelesen habe, die Fänge der Staatstyrannei NICHT überlebt hat. Da beschloss ich, den Film anzuschauen und zu sagen, was ich über den neuen russischen Meister-und-Margarita denke.
Tatsächlich gehöre ich nicht zu denen, die Der Meister und Margarita als Erwachsene noch einmal gelesen haben. Für mich ist es ein Buch aus der frühen Jugend geblieben, und wenn ich mir vorstelle, in meinem Kopf gäbe es ein thematisch geordnetes Bücherregal, dann stünde Der Meister und Margarita irgendwo zwischen Die Kinder vom Arbat und den zwei Bänden von Ilf und Petrow [Zwölf Stühle undDas Goldene Kalb]. Ich kann mich nicht erinnern, dass mich damals, vor mehr als dreißig Jahren, die Liebesgeschichte stark berührt hätte. Aber ich habe mir gemerkt, dass Pontius Pilatus (der anscheinend den Tod Jeschuas nicht herbeisehnte, ihn aber auch nicht begnadigte) ständig Kopfschmerzen hatte. Und ja, dieses Buch war es, in dem ich, als Kind der Sowjetunion, zum ersten Mal die Geschichte des Evangeliums las.
Ich will hervorheben: Ich las Der Meister und Margarita. ganz am Anfang der 1990er. Das waren, wenn auch hungrige, so doch Jahre der Freiheit. Ich empfand real meine Freiheit als Individuum, machte von ihr Gebrauch und nahm sie für mich an. Später erzog ich im Bewusstsein dieser Freiheit meinen Sohn. Jetzt ist alles anders, und das Buch habe ich nicht noch einmal gelesen. Dafür bin ich gerade fertig mit den schrecklichen, wahrhaftigen Memoiren der Französin Andrée Sentaurens. Und als ich beschloss, mir den neuen Der Meister und Margarita-Film anzuschauen, war ich aus irgendeinem Grund absolut überzeugt, dass in ihm ein lautes SOS ertönen müsse, aus dem jetzt im Wiederaufbau befindlichen, riesigen Konzentrationslager, gerichtet an jeden denkenden Menschen auf der Welt.
Ein lautes SOS müsste ertönen, gerichtet an jeden denkenden Menschen auf der Welt.
Leider sah und hörte ich in dem neuen Meisterwerk der russischen Filmkunst kein solches Signal. Ich sah einen glamourösen Film ohne Gefühl, ohne Schmerz, ohne Liebe. „Vor Kummer und Nöten bin ich eine Hexe geworden“, sagt Margarita, aber ich verstehe (sehe!) nicht, worin der Kummer dieser schönen Frau besteht. Ich dachte: Wie würde wohl Maryna Adamowitsch diese Worte wahrnehmen, die schon über ein Jahr nichts mehr von ihrem Ehemann Mikalaj Statkewitsch gehört hat und selbst in einer Falle lebt, die jeden Moment zuzuschnappen droht?
Natürlich, der Film bietet schon zarte Signale „für unsere Leute“. Zurechnungsfähige russische und belarussische Zuschauer registrieren sie:
„…indem, was noch kurz zuvor erlaubt war, heute schon verboten ist.“
„Es dreht sich um das Jetzt.“
„Bei uns im Studio verschwinden fast jeden Tag Leute, und keiner sagt etwas – jeder hat Angst.“
„Ich habe mich umgehört: Jeder steht unter Schock und du hast sehr viele Sympathisanten!“
Es ist ein russischer Film, gedreht noch vor dem Ausbruch des Terrors im Land, auf der Schwelle sozusagen. In Belarus war der Staatsterror derweil schon in vollem Gange. So wird – im Zeichen des Terrors – von den Tyrannen die „gemeinsame Geschichte“ wiedererrichtet. Und diejenigen, denen Lager droht, drehen (für die, denen Lager droht) einen Film, den sie auch fünf oder zehn Jahre früher hätten drehen können – hat ihnen die Kraft nicht gereicht, um SOS zu schreien, oder war es noch nicht schmerzhaft und schrecklich genug? Mal angenommen, es gäbe ihn dort, diesen Schrei – hätte die Welt ihn denn gesehen, hätte sie ihn gehört? Und wenn sie ihn gehört hätte, was hätte sie dann tun können? Die Welt, die noch mehr oder weniger in Wohlstand lebt, meint aus irgendeinem Grund, dass der Schrecken, den wir durchleben, sie nie treffen wird. Aber leider gibt es auf der Welt kein zivilisiertes Mittel gegen den Drachen, der erst die Menschen im eigenen Land frisst und dann die Grenzen überschreitet.
Ich habe den neuen Film also angeschaut. Ich zitiere noch einmal Margarita: „Wenn man den Autor nicht kränken will, heißt es gewöhnlich: Er hat große Arbeit geleistet.“ So denn, solange wir leben, arbeiten wir (besonders wenn völlig unklar ist, was wir tun sollen). Jetzt muss ich also Der Meister und Margarita noch einmal lesen – ein Buch, geschrieben von einem Menschen, dem es nicht gelang, die Jahre des sowjetischen Terrors zu überleben.
Die Kartoffel ist eines der wichtigsten Nahrungsmittel in Belarus. Viele belarussische Speisen wie draniki (Reibekuchen) basieren auf der Erdknolle, die so auch zum kulturhistorischen Symbol wurde. Die Belarussen bezeichnen sich selbstironisch mitunter auch als bulbaschy (Kartoffelmenschen). Seit Monaten aber ist die Kartoffel Mangelware auf dem belarussischen Markt. Obwohl Belarus bei einer Produktion von bis zu 4.000.000 Tonnen Kartoffeln jährlich und einem Kartoffelverbrauch von durchschnittlich 162,5 Kilogramm pro Kopf und Jahr einen deutlichen Überschuss produziert. Was steckt dahinter?
Das Online-Medium Mediazona Belarus hat Gründe für das Verschwinden der Kartoffel in Belarus recherchiert. Das Projekt Belarus. Expertise zeigt anhand des Draniki-Index, wie sich die dadurch verursachten Preissteigerungen auf die Zubereitung des dranik auswirkt.
Anfang April haben Journalisten von Zerkalo festgestellt, dass sich die Behörden schon seit Mitte Februar Sorgen um Kartoffeln machten. Das MART (Ministerium für Handel und Wettbewerbsregulierung) hatte ein Treffen mit dem Landwirtschaftsministerium, den Verwaltungen von Minsk-Stadt und Minsk-Oblast einberufen sowie mit Vertretern großer Handelsketten.
Auf der Versammlung ging es um Gemüse-Engpässe: Unter anderem ging es darum, dass die Stabilisierungsspeicher, in denen bis zur nächsten Ernte Obst und Gemüse gelagert werden, ihren Abnehmern – den Handelsketten – „minderwertige Waren” liefern. Außerdem sei es wegen der Preisregulierung für Produzenten, die ihre Ernte in diese Stabilisierungsspeicher liefern, lukrativer, ihr Gemüse nicht auf dem Binnenmarkt zu verkaufen, sondern zum Beispiel nach Russland zu exportieren.
Bereits im Februar war das Kartoffelthema bis zu Lukaschenko durchgedrungen. „Na sowas, wir haben also keine Kartoffeln. Um wieviel sind Kartoffeln bei uns teurer geworden? Und um wieviel steigen die Preise zwischen den Ernten? Sind wir etwa unfähig, ausreichende Mengen Kartoffeln anzubauen, sie in Kellern zu lagern und sie dann der Bevölkerung zu verkaufen?“, empörte er sich.
Der Staat hat auf mehrere Arten versucht, das Kartoffeldefizit zu beheben. Ende März verlängerte die Regierung die Lizenzierung des Kartoffelexports um drei Monate, um „sich die Kontrolle über Vorräte und Exporte aufgrund der steigenden Nachfrage und der hohen Kartoffelpreise jenseits der belarussischen Grenzen zu sichern“.
Im Anschluss wurden im Dekret Nr. 713 zur Preisregulierung zum siebten Mal Änderungen vorgenommen: Ab dem 17. April 2025 wurden für die gängigsten Gemüsesorten die Obergrenzen der Preise für den Großhandel und die Endkunden angehoben: für Kohl (außer Frühkraut), (ungewaschene) Karotten, Speisezwiebeln, frische Gurken und gewaschene Speisekartoffeln.
Während noch im März das Kilogramm Kartoffeln für den Endkunden höchstens 76 Kopeken (ca. 0,22 Euro) kosten durfte, darf der Preis jetzt mindestens bis zum 15. Mai bis zu 1 Rubel (ca. 0,28 Euro) betragen. Am 17. April reagierte das MART auf die Kartoffelfrage und verkündete, in Belarus würden Maßnahmen ergriffen, um ausreichende Mengen Kartoffeln sowie anderes Obst und Gemüse in den Läden sicherzustellen. In den darauffolgenden zwei Tagen kontrollierte das Ministerium 20 Gemüselager und fand keinerlei Verstöße.
„Kartoffeln gibt es genauso auf dem Markt wie alles andere, was in den Borschtsch gehört. Die Regierung hat effektive Maßnahmen ergriffen, um die Situation zu verbessern die durch Preisdifferenzen entstanden waren, aufgrund derer unsere Produzenten auf den ausländischen Märkten größere Gewinne erzielten”, berichtete Darja Poloskowa, Repräsentantin des Ministeriums.
„Das ist von heute auf morgen [eine Preissteigerung um] 30 Prozent. Inflation haben wir ja keine? Wir halten sie unten, solang es geht, und auf einmal, hopp – 30 Prozent“, kommentierte Wirtschaftsanalyst Sergej Tschaly Poloskowas Aussage. Zerkalo berichtete, wie in der Oblast Witebsk über tausend Tonnen Kartoffeln „verlorengegangen“ seien. Über BelPol hatte das Medium Zugang zu Chats und E-Mails von Beamten bekommen.
Außerdem erzählten Journalisten von Zerkalo von einem Brief des MART an das Landwirtschaftsministerium, in dem es vor einem womöglich bevorstehenden „Defizit an frischen Gurken aus den Gewächshausanlagen der Republik auf dem Verbrauchermarkt“ warnte; ebenso erreichten das Ministerium Bitten verschiedener Handelsketten, im April die Versorgung des Marktes mit Gurken zu fördern.
„Die Kartoffeln im Laden sind jetzt sehr klein – und so grün wie Hulk.”
Eine Woche nach den Kontrollen des MART spricht man in den Gemüsespeichern von Belarus noch immer von Mangel, den Preisen und der schlechten Qualität nicht nur von Kartoffeln, sondern auch zum Beispiel von Zwiebeln und Kohl.
„In letzter Zeit ist es plötzlich schwierig geworden, bei Euroopt oder Hit ordentliche Kartoffeln zu finden. Es gibt nur winzige, angeditschte“, erzählte Mediazona eine Befragte aus dem Gebietszentrum. Ein Bewohner einer anderen belarussischen Stadt erzählte, wie er vor ein paar Tagen das ganze Viertel nach Kartoffeln abgesucht hätte.
Vor drei Tagen postete eine Belarussin ein Video zu dem Thema auf TikTok: „Das Volk beschwert sich, dass die Kartoffeln im Laden jetzt sehr klein sind – und so grün wie Hulk. Die Bauern kontern: Ihr müsst schon entschuldigen, wie sollen wir was verdienen, wenn wir die Preise nicht erhöhen dürfen. Wenn auch ihr beim Einkaufen schlechte Kartoffeln gesehen habt – schreibt in die Kommentare, was denkt ihr, wer ist daran schuld?“
In einem anderen TikTok erzählt ein Belarusse, er habe in der Vorwoche mit seiner Mutter in Iwanowo vergeblich nach Kohl gesucht. In vier Geschäften seien sie gewesen, doch weder im Dorf noch in der Stadt habe es Kohl gegeben. Auf Instagram ist ein Belarusse der Meinung, das mit den Kartoffeln sei ein Desaster: „Auf den Märkten gibt’s ja noch halbwegs irgendwas, aber im Supermarkt – kannst du vergessen.“ Eine andere Belarussin schreibt: „Kartoffeln sind wieder da, aber wo sind nun die Zwiebeln?“ Die Frage, „wieso die Kartoffeln so sauteuer sind“, stellt sich ein Instagram-User bis heute.
Das Projekt Belarus. Expertise analysiert die ökonomischen Entwicklungen in Belarus, dazu veröffentlicht das Online-Portal regelmäßig den Draniki-Index. Draniki (dt. Reibekuchen/Kartoffelpuffer) sind ein wesentlicher Bestandteil der belarussischen Küche. Der Index wird auf Grundlage von Preisentwicklungen für Produkte berechnet, die zur Zubereitung von Draniki für eine Familie mit drei bis vier Personen nötig sind (siehe Schaubild). „Die Kosten für einen Dranik mit einer teuren Beilage weisen eine hohe Teuerungsrate von 34,9 Prozent auf“, erklären die Wirtschaftsexperten in ihrer Analyse. „Die Kosten für einen Dranik mit einer preiswerten Beilage stiegen im Laufe des Jahres um 9,8 Prozent. Bei den Zutaten verzeichneten Kartoffeln eine Rekordpreissteigerung von 35,21 Prozent im Laufe eines Jahres. Die Gründe dafür waren die Dürre, die geringere Produktion und die massiven Ausfuhren nach Russland.“
Unabhängige Journalisten und Medien hatten es in Russland unter Putin nie leicht, seit dem Beginn der russischen Vollinvasion existiert in dem Land allerdings gar keine Pressefreiheit mehr: Die meisten unabhängigen Medien sind als „Agent“ oder „unerwünscht“ stigmatisiert. Zahlreiche Ermittlungsverfahren, Prozesse und Haftbefehle gegen Journalisten sind anhängig, sogar im Exil sind sie politischer Verfolgung ausgesetzt.
Trotz aller Gefahren arbeiten dennoch einige unabhängige Journalisten und Medien weiterhin im Land selbst. Der Monolog einer anonymen Journalistin, die aus Russland für Meduza schreibt, ist auch Teil der Ausstellung NO, die Meduza bis 6. Juli 2025 in Berlin zeigt.
Meine Freunde und Bekannten kennen mich unter einem Namen, meine Kollegen und Informanten unter einem ganz anderen. Keinem von ihnen kann ich die ganze Wahrheit über mich erzählen. Die ersteren sollen nicht wissen, welcher Betätigung ich nachgehe. Letztere sollen keine Einzelheiten aus meinem persönlichen Leben erfahren – wo ich geboren bin, wo ich studiert und gearbeitet habe. Kurzum: Das Leben einer Journalistin, die für unabhängige Medien arbeitet und dabei in Russland bleibt, ähnelt eher einem Agentenfilm.
Gewöhnlich läuft alles routinemäßig, aber manchmal gibt es Komplikationen. Auf dem Geburtstag einer engen Freundin streckt mir ein Unbekannter die Hand entgegen: „Hallo, ich bin Ljoscha.“ Ich muss erst einige Sekunden nachdenken, wie ich mich vorstellen soll, mit meinem echten Namen oder mit meinem Pseudonym. Dabei versuche ich zu bewerten, ob dieser neue Bekannte potenziell ein Protagonist einer Geschichte werden könnte – davon hängt ab, welchen Namen ich ihm nenne.
Wie eine pathologische Lügnerin
Manchmal komme ich mir wie eine pathologische Lügnerin vor. Da erzählt mir jemand persönliche Dinge, und ich kann ihm nicht mit Gleichem antworten, ja nicht einmal andeuten, dass ich etwas nicht vollständig erzähle. Das zieht einen runter, ich schäme mich ständig. Als ich mir ein Pseudonym ausdenken musste, kam ich mir völlig bescheuert vor. Ich musste mir aus dem Nichts einen Namen ausdenken. Und dann habe ich verschiedene Phasen durchgemacht, um das zu verarbeiten: von Enttäuschung und Trauer bis zu unglaublicher Wut und Müdigkeit.
Ich habe die seltene Möglichkeit, wichtige Dinge zu tun, ohne der Zensur zu begegnen. Und anders als meine Kollegen, die das Land verlassen mussten, lebe ich weiter bequem in meiner gewohnten Umgebung. Gleichzeitig fühle ich mich fast wie eine Hochstaplerin. Was ich betreibe, ist Exiljournalismus, unabhängiger Journalismus. Ich selbst bin aber nicht im Exil.
Ich habe viele Bekannte, die immer noch in Russland für Medien arbeiten, die der Zensur unterliegen. Diese Journalisten kämpfen weiterhin um jedes Komma, und aus ihren Texten werden weiterhin Passagen herausgestrichen, die die Redaktion nervös machen. Mir passiert das nicht: Aus meinen Texten werden nur die langweiligen Sachen herausgestrichen, es gibt keine Zensur.
Natürlich gibt es für die Redaktion objektive Gründe, sich wegen meiner Sicherheit Sorgen zu machen. Journalisten werden in Russland wirklich verfolgt, zu Geldstrafen und Freiheitsentzug verurteilt. Um das zu vermeiden, befolge ich Sicherheitsprotokolle. Die Nummer meines Anwalts habe ich für alle Fälle auswendig gelernt.
Die Protokolle zu befolgen, ist mitunter schwierig. Mit der Redakteurin etwa bin ich über Signal im Kontakt. In Russland funktioniert das aber nicht ohne VPN, was nicht sehr bequem ist. Andere Messengerdienste nutzen wir nicht – aus Sicherheitsgründen. Auf meinem Telefon habe ich drei verschiedene VPN. Wenn es bei einem hängt, schalte ich auf einen anderen um. Ständig muss ich mit diesen Diensten jonglieren, und es kommt sogar vor, dass ich ganz ohne Verbindung bin. Dann hat meine Redakteurin unglaublichen Stress und denkt, dass sie mich irgendwo herausholen muss. Sie macht sich um meine Sicherheit sehr viel stärker Sorgen als meine Mutter oder ich selbst.
Keine Angst
Unabhängige Journalisten können in Russland jederzeit auffliegen, aber lange Zeit habe ich überhaupt keine Angst gehabt. Ich habe mich sogar gefragt, ob das nicht psychisch krank ist, dass ich keine Angst habe. Dann stellte sich allmählich doch die Angst ein, und zwar umso stärker, je öfter Freunde und Verwandte fragten, ob ich keine Angst habe, und ob ich ausreichend Sicherheitsmaßnahmen treffe. Irgendwann bat ich sogar, dass sie mich das nicht mehr fragen. Ich schaue einfach automatisch aus dem Augenwinkel, ob mich jemand verfolgt, ob es um mich herum verdächtige Leute gibt. Und wenn ich mich davon überzeugt habe, dass das nicht der Fall ist, lebe ich mein Leben und mache meine Arbeit.
Zu Beginn des Krieges dachte ich, dass die Leute den Krieg unterstützen, weil sie nicht wissen, was wirklich vor sich geht. Damals druckte ich mit meiner Freundin zusammen Antikriegsplakate mit Parolen wie „Wir brauchen Liebe, und nicht Krieg!“ und klebte sie in den Straßen des Moskauer Stadtzentrums.
Es kam vor, dass wir gerade mal einige Dutzend Meter weitergegangen waren und jemand bei den Plakaten anhielt und sie abriss. Das war keiner von den kommunalen Behörden, sondern jemand ganz gewöhnliches, gut angezogen, wahrscheinlich gebildet und wohlhabend. Das hat mich stark demoralisiert. Das Problem besteht also weniger darin, dass Journalisten nicht die Wahrheit über den Krieg berichten können, sondern vielmehr darin, dass die Menschen, denen wir diese Wahrheit berichten, sie nicht hören wollen.
Vor fünf Jahren, im Mai 2020, begann in Belarus eine Geschichte, die das Leben von Swetlana Tichanowskaja für immer veränderte – genauso wie das Leben von zigtausenden Belarussen. Ihr Mann Sergej Tichanowski, der damals einen populären, regimekritischen YouTube-Kanal betrieb, war bei einer Kundgebung am 7. Mai zum ersten Mal festgenommen worden. Er hatte beschlossen, bei den Präsidentschaftswahlen als Kandidat anzutreten. Dazu kam es allerdings nicht mehr: Tichanowski wurde erneut verhaftet und durfte nicht kandidieren. Stattdessen übernahm seine Frau, in der Folge entwickelte sich eine historische Massenbewegung.
Das belarussische Online-Portal GazetaBY startet aus Anlass jener Ereignisse das Projekt Transit. Der Beginn. Im ersten Teil der Publikationsreihe spricht Swetlana Tichanowskaja in einem Interview über ihre Wandlung von einer Hausfrau zur Politikerin und Anführerin einer Protestbewegung.
GazetaBY: Wann haben Sie gespürt, dass sich Ihr friedliches, geregeltes Leben verändert?
Swetlana Tichanowskaja: Als Sergej zum ersten Mal verhaftet wurde. Das war wie eine kalte Dusche. Ich habe sofort die Gefahr gespürt. Es war das erste Mal in unserem Eheleben, dass wir Neujahr nicht zusammen verbrachten. Ein eigenartiges Gefühl: Sergej ist im Gefängnis, die Kinder und ich unterstützen seine Mutter in Homel.
Und was haben Sie zu Ihrem Mann gesagt, als er nach der Nacht im Gefängnis wieder rauskam?
Ob ich ihm gesagt habe: „Hör auf damit?“ Nein. Dafür kenne ich meinen Mann zu gut. Eheleute sollten einander unterstützen, nicht einander etwas ausreden. Wie so viele andere verfolgte ich Sergejs Livestreams und sah, dass er sehr populär wird. Charismatisch, auffällig – für die Menschen ist das anziehend. Sie kamen in Strömen, wenn Sergej in diese oder jene Stadt reiste, um „Tauben zu füttern“.
Ich half meinem Mann, wo ich konnte. Bestellte Sticker und so weiter. Aber ich war nicht besonders stark involviert. In jenem Frühling hatte ich gerade wieder angefangen zu arbeiten: Nachdem ich mich zehn Jahre um unseren Sohn gekümmert hatte, unterrichtete ich an einer Online-Schule.
Und da kommt Sergej eines Tages nach Hause und sagt: „Die Leute wollen, dass ich als Präsident kandidiere.“ – „Du weißt aber schon, welche Konsequenzen das haben kann?“ – „Ja, ich weiß.“ Aber sein Entschluss stand bereits fest.
Diese Frage müsste ich natürlich eigentlich Sergej stellen, aber diese Möglichkeit gibt es leider gerade nicht. Vielleicht können Sie etwas Licht ins Dunkel bringen: Warum engagiert sich jemand, der so lange erfolgreicher Unternehmer war, plötzlich für gesellschaftliche Anliegen und geht dann auch noch in die Politik?
Ich glaube nicht, dass Sergej von Anfang an vorhatte, in die Politik zu gehen. Er hatte ein verlassenes Anwesen gekauft und wollte es zu einer Herberge für Pilger ausbauen. Da fingen die Scherereien an. Um Strom zu verlegen, das Dach neu zu decken – für alles brauchte man einen Haufen Genehmigungen. Nach und nach fragt man sich dann, warum einem so viele Steine in den Weg gelegt werden, anstatt dass die Menschen einfach Geld verdienen zu lassen? Warum wirft der Staat ihnen immer Knüppel zwischen die Beine?
So kam Sergej allmählich zu dem Schluss, dass es in unserem Land vieles gibt, was sich ändern muss. Seine Anhängerschaft wuchs rasant, wobei sich viele einfache Menschen anschlossen, die sich früher überhaupt nicht gesellschaftlich engagiert hatten. Sergej schaffte es, ihre Herzen zu berühren.
Da beschlossen die Behörden, Tichanowski von der Registrierung abzuhalten, indem sie ihn genau an dem Tag, als die Frist für die Einreichung der Unterlagen bei der Zentralen Wahlkommission verstrich, einsperrten. Aber dann folgte eine Überraschung …
Selbst da hat meine Transformation noch nicht eingesetzt. Ich bin nicht in die Politik gegangen – ich bin für meinen Mann hingegangen, um ihn zu unterstützen. In einer Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden habe ich die Unterlagen mit seiner Vollmacht eingereicht. Doch sie haben Sergejs Registrierung als Präsidentschaftskandidat abgelehnt. Ich hatte nicht viel Zeit zum Überlegen. Und da habe ich, ohne mit jemandem darüber zu sprechen, beschlossen, den Antrag auf meinen Namen zu stellen. In dem Moment war die Entscheidung für mich absolut klar. Ich habe nicht in die Zukunft gedacht, nicht die Folgen einkalkuliert. Ich dachte, man würde mich abweisen, so wie meinen Mann. Aber ich musste es für ihn tun.
Später gab es Gerüchte, wir hätten uns abgesprochen. Aber in Wahrheit war es ein Schock für Sergej. Er ruft mich an: „Sweta, ich bin draußen!“ Und ich antworte: „Das freut mich, aber ich kann nicht sprechen – ich fahre gerade zum Wahlamt.“ Sergej war sicher, dass es um seine Registrierung geht. Als wir später wieder telefonierten, wusste er gar nicht, was los ist: „Wie, du? Wie kann das sein? Warum haben sie mich nicht registriert?“
Er kommt also aus dem Gefängnis nach Hause, und seine Frau ist Präsidentschaftskandidatin. (lächelt) Wir hatten nicht einmal Zeit, alles zu besprechen. Sergej hat sich gleich in die Arbeit gestürzt. In einem Interview sagte er mal, er sei mir sehr dankbar und stolz auf mich.
In Wahrheit war ich ein sehr vorsichtiger Mensch und habe öffentliche Auftritte gehasst.
Als mein Mann neun Tage später eine längere Haftstrafe bekam, war ich wie gelähmt. Ich habe mich kaum an der Unterschriftensammlung beteiligt. Aber Sergejs Mitstreiter haben sich organisiert und alles selbst in die Hand genommen. Ich bin an diesem Punkt nur nach Komarowka gefahren, um für Viktor Babariko und Valeri Zepkalo zu unterschreiben, und zu meiner eigenen Kundgebung, um Unterschriften zu sammeln.
Auf wen hätten Sie bei den Wahlen gesetzt, wenn man Sie nicht registriert hätte?
Wahrscheinlich hätte ich mich einfach zurückgezogen. Hätte versucht, Geld für Sergejs Anwälte aufzutreiben. Vielleicht auch nicht. Weil die Bewegung bereits sehr groß war. Später hörte ich, wie Leute auf einen Witz reagierten, den ich bei der Wahlkommission gemacht hatte: „Mein Gott! Sie hat gesagt, dass sie ihr ganzes Leben lang davon geträumt hat, Präsidentin zu werden! Eine von uns!“ Das heißt, manche nahmen mich als glühende Oppositionelle wahr.
In Wahrheit war ich ein sehr vorsichtiger Mensch und habe öffentliche Auftritte gehasst. Du kommst aus dem Wahlamtsgebäude, und auf der Straße wartet schon eine Traube von Leuten mit Kameras. Du denkst: „Meine Güte, was mache ich mit denen? Worüber soll ich mit ihnen reden? Ich bin nicht hergekommen, um eine Revolution zu machen oder die Wahlen zu gewinnen. Ich bin wegen meinem Mann hier.“
Dann siehst du die riesigen Schlangen von Menschen, die unterschreiben wollen. Massenhaft Menschen, die dich unterstützen – weil du eine von ihnen bist und nicht irgendein Beamter. Ich fühlte Freude, Schock, Euphorie, Angst – alles auf einmal.
Und dann klingelt das Telefon …
Ich hatte Pech, dass damals niemand mit politischer Erfahrung auf mich zugekommen ist und mir erklärt hat, wie man sich bei Drohungen und in kritischen Situationen im Allgemeinen verhält. Ich war überhaupt nicht vorbereitet.
Ein Anrufer sagte: „Hören Sie auf damit. Sonst wandern Sie ins Gefängnis, und Ihre Tochter und Ihr Sohn kommen ins Waisenhaus.“ Ich bin nach Hause und habe eine Videobotschaft aufgenommen, dass ich die Kampagne abbreche. Aber dann … dann dachte ich daran, wie viele Menschen sich eingebracht hatten. Und ich beschloss weiterzumachen, trotz meiner Angst. Vor allem um die Kinder …
Zum Glück schlossen sich unserem Team nach und nach erfahrene Politiker an: Alexander Dobrowolski, Anna Krassulina … Das war Mascha Moros zu verdanken, unserer Stabsleiterin, die Kontakt zur Vereinigten Bürgerpartei (OGP) aufgenommen hatte, damit sie uns ihr Programm schickten, das ich gar nicht hatte. [Diese Leute] nahmen eine Riesenlast von mir. Es gab ja eine Menge Fragen. Wir mussten eine Stiftung gründen, damit uns die Menschen Geld für die Vorwahlkampagne überweisen konnten. Reisen organisieren, Kundgebungen.
Haben Sie damals zu Hause übernachtet?
Ich habe versucht, nicht alleine zu sein. Deshalb war ich viel bei der Familie Moros. Und wenn ich in meiner Wohnung schlief, war Mascha bei mir. Ich habe damals eine Kamera installiert, damit man mir nichts Verbotenes unterjubelt. Wie die 900.000 Dollar, die erst bei der dritten Durchsuchung unter Sergejs Couch „gefunden“ wurden.
Unsere Kampagne war von den Möglichkeiten her die bescheidenste. Babariko hatte ein cooles Team und genügend Ressourcen, um seine Ideen in die Tat umzusetzen. Bei uns arbeiteten einfache Menschen, getrieben von nacktem Enthusiasmus. Ich bezweifle sogar sehr, dass die Leute sich von Anfang an bewusst waren, welche Veränderungen wir wollten. Das kam erst später. Zunächst gingen alle gegen Ungerechtigkeit und Willkür auf die Straßen. Danach machte jeder seine eigene Entwicklung durch. Auch ich.
Ich erinnere mich an meine allererste Fahrt zu einer Kundgebung – in Dserschinsk. Ich weiß noch: Du musst dahin und auf diese Bühne. Aber meine Güte, wo bin ich, wo ist die Bühne? (lächelt) In der ersten Zeit bekam ich meine Reden geschrieben. Aber dann wurde mir klar: Etwas stimmt nicht, das ist nicht meine Art. Und ich fing an, einfach mit den Menschen zu reden.
Welche Städte sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Gomel – das ist meine Stadt. Und Mogiljow – dort machten wir uns Sorgen, ob überhaupt jemand kommen würde, weil das traditionell Lukaschenkos Domäne ist. Aber überall kamen die Menschen in Massen. Ich erinnere mich noch daran, wie man mich begrüßt und verabschiedet, und dass ich, ohne vollends zu verstehen, was da überhaupt passiert, einfach den Vibe der Menschen spüre und mit ihnen auf einer Welle schwimme.
Nach eigener Aussage stammt sie von Valeri Zepkalo, aber wie es in Wirklichkeit war, kann ich nicht genau sagen. Wir drei (Veronika, Maria, Swetlana – Anm. d. Red.) haben uns getroffen und über ein ganz simples Konzept gesprochen: den Weg von jetzt an nicht mehr jede für sich zu gehen, sondern gemeinsam, und zwar unter dem Motto: „Für faire und ehrliche Wahlen“. Ich war sofort dafür. Sieben Minuten – und der Plan stand. Ich glaube, wenn ich aus irgendwelchen Gründen abgelehnt hätte, wären sie bereit gewesen, sich mit Sergej Tscheretschen zu verbünden.
Sind Sie jemals mit einer Achterbahn gefahren?
Natürlich.
Erinnert Sie dieser Abschnitt Ihres Lebens nicht an eine Achterbahnfahrt?
Nein, weil es dort unterschiedliche Abschnitte gibt: Du kriechst langsam nach oben, und dann rast du in die Tiefe. Aber 2020 hatte ich keine Möglichkeit, Luft zu holen. Alles passierte in rasender Geschwindigkeit.
Und dann kam der 9. August. Was hatten Sie erwartet?
Je näher der Wahltag kam, desto angespannter wurde die Atmosphäre im Stab. Nicht wenige unserer Anhänger waren bereits hinter Gittern. Ich hatte den Eindruck, dass das Team von Babariko keine sichtbaren Formen des Protests wollte. Sie versuchten, alles „im Rahmen des Gesetzes“ zu machen. Aber man kann die Leute ja nicht aufhalten.
Ich weiß noch, wie die Auszählung der Stimmen begann, und plötzlich ruft jemand im Stab, dass die erste echte Hochrechnung veröffentlicht wurde. Dann die zweite, dritte … Alle: „Wow! Unglaublich!“ Auf der einen Seite bricht Euphorie aus, und auf der anderen hörst du Schüsse.
Was dachten Sie persönlich, wie schätzten Sie Ihre Chancen ein?
In dem Moment existierte ich nicht als Person, wir waren alle wie ein Organismus. Wir gewinnen! Wir Belarussen! Als eine Nation!
dekoder liefert Einblicke in innerrussische und -belarussische Diskurse und Wissen zu Russland, Belarus, verstärkt auch zur Ukraine. Das tun wir mit Hilfe der Arbeit von russischen, belarussischen und ukrainischen Medien und Journalisten, die wir übersetzen und kontextualisieren. Die Lage vieler osteuropäischer Medien war immer prekär, aber nun ist sie dramatisch. Ein Aus auf breiter Linie würde nicht nur den Informations- und Diskursraum dieser Länder betreffen. Zusammen mit den Kollegen der niederländischen Plattform RAAM richten wir uns deswegen mit einem Appell an die Öffentlichkeit.
Unabhängige belarussische und russische Medien, die gezwungen sind, aus dem Exil heraus zu arbeiten, und ukrainische Medien, die einen wesentlichen Beitrag zum Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg und zur Wahrung demokratischer Freiheiten leisten, kämpfen derzeit um ihr Überleben. Viele stehen vor dem Aus.
Diese Medien sind grundsätzlich auf Unterstützung angewiesen. Im Exil, unter autokratischen Rahmenbedingungen oder während eines Krieges gibt es kaum Möglichkeiten, Medien auf kommerzieller Basis zu betreiben. Als unabhängige Informationsquellen sind diese Medien aber wichtiger denn je.
Die Politik der neuen US-Regierung schränkt die Arbeit dieser Medien zusätzlich ein. Die Entscheidung von Präsident Trump, die US Agency for Global Media und USAID zu liquidieren, bedroht nicht nur die Existenz von Radio Free Europe/Radio Liberty und deren Publikationen und Programme, sondern schwächt auch Dutzende anderer, einflussreicher unabhängiger Medien, die unter anderem von US-Organisationen unterstützt wurden.
Diese Medienprojekte und ihre mutigen Journalisten sind treibende Kräfte im Kampf gegen Autoritarismus und für demokratische Freiheiten – nicht nur in ihren Ländern und Regionen, sondern auch bei uns in der EU. Ohne die Berichterstattung, Analysen und Recherchen unabhängiger journalistischer Netzwerke in Russland, Belarus oder der Ukraine könnten wir kaum verstehen, was in diesen Ländern vor sich geht. Wir hätten kaum wirksame Instrumente und Kenntnisse, um der russischen Staatspropaganda und Desinformation entgegenzutreten.
Die Zerstörung unabhängiger Medien ist auch generell eine ernsthafte Bedrohung für den Journalismus in diesen Ländern. In Russland und Belarus, wo journalistische Berichterstattung derzeit praktisch verboten ist, sind die Exilmedien oft die einzige Möglichkeit, an journalistisch aufbereitete Informationen zu gelangen. Die Folgen der lawinenartigen US-Politik sind daher umfassend und folglich auch dramatisch.
Die einzigen, die von dem drohenden Aussterben vieler unabhängiger Medien profitieren werden, sind die staatlichen Organe, die ihre Propaganda sowohl im eigenen Land als auch weit darüber hinaus in immer weniger gebremster Art und Weise verbreiten können. Die Versorgung der Gesellschaften in Ost und West mit verlässlichen Informationen wird dadurch nachhaltig geschädigt.
Diese Zerstörung darf nicht als vollendete Tatsache hingenommen werden!
Auf Initiative der Tschechischen Republik und sieben weiteren europäischen Ländern wird in Brüssel die Frage geprüft, ob die EU die Finanzierung von RFE/RL übernehmen kann. Das ist eine begrüßenswerte Initiative, die aber nicht zu Lasten anderer journalistischer Einrichtungen gehen sollte, die ebenfalls von immenser Bedeutung für die sachliche und analytische Berichterstattung über und aus der Ukraine, Belarus, Russland und anderen Ländern Osteuropas sind.
Deshalb appellieren wir – Journalisten und Redakteure internationaler Medien, die sich speziell auf die Ukraine, Belarus, Russland, den Kaukasus und andere Regionen in Osteuropa und Zentralasien konzentrieren – an die Europäische Kommission, den Europäischen Rat und die einzelnen europäischen Staaten, Mittel zur Stärkung des Journalismus in und über diese Länder zu schaffen.
Die Unterstützung für diese Form des Journalismus könnte in das Programm „ReArm Europe / Readiness 2030“ aufgenommen werden. Im Zeitalter der hybriden Kriegsführung geht es in der Verteidigungspolitik schließlich um mehr als nur um Waffen und Personal. Angesichts der demokratischen Ordnung, die die EU verteidigen will, ist eine zuverlässige und pluralistische Informationsversorgung auch ein strategisches Interesse Europas. Der Schutz und Erhalt der Diskurs- und Informationsräume für Belarus, Russland und die Ukraine ist ein wichtiger Beitrag zur Stärkung der Demokratie und zur Ermöglichung eines zukünftigen Friedens in Europa.
Mit diesem Aufruf wollen wir zur öffentlichen Diskussion und zur Bildung eines Unterstützungsnetzwerkes für die unabhängigen Medien beitragen, die in den kommenden Jahren ums Überleben kämpfen werden. Wenn gewünscht, können wir dabei auch eine beratende und koordinierende Rolle spielen.
Aber ohne externe Hilfe sind wir machtlos. Daher unser Appell an die Europäische Kommission, den Europäischen Rat und die Führungen demokratischer europäischer Staaten: Bitte, helfen Sie den unabhängigen Medien und füllen Sie die durch die Entscheidungen der Trump-Administration entstandenen Lücken!
Platform Raam ist ein niederländisches Non-Profit-Medienprojekt, das 2016 gegründet wurde. Raam ist eine journalistische Plattform, die öffentliche Veranstaltungen und Vorträge organisiert und eine Website betreibt, um Wissen und Analysen über Russland, die Ukraine, Belarus, Moldawien, den Kaukasus und Zentralasien bereitzustellen. Platform Raam ist Mitbegründer und Juniorpartner der Wissensallianz Russland und Osteuropa (Reka), einem Think-Tank unter der Schirmherrschaft des Instituts Clingendael.
dekoder ist ein deutsches Medienprojekt, das 2015 gegründet wurde. dekoder bietet Medien, Expertise und Wissen vor allem zu Russland und Belarus, verstärkt auch zur Ukraine. Das gemeinnützige Projekt bringt russischen und belarussischen Journalismus mit wissenschaftlicher Expertise von europäischen Universitäten auf einer Plattform zusammen. dekoder wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem zweimal mit dem Grimme Online Award. Im Mai 2024 erklärte die russische Generalstaatsanwaltschaft dekoder als erstes deutsches Medium zur „unerwünschten Organisation“.
Das Lukaschenko-Regime konnte sich im Jahr 2020 gegenüber den Massenprotesten im eigenen Land nur durchsetzen und den westlichen Sanktionen standhalten, weil es von Russland unterstützt wurde. Der Kreml nutzte diese rasant an Fahrt gewinnende Abhängigkeit, um das Nachbarland noch enger an sich zu binden. Dies passiert nicht nur auf wirtschaftlicher, politischer oder ideologischer Ebene. Auch in Bezug auf die Propagandaarbeit beider Regime ist eine Integration zu beobachten, vor allem wenn es darum geht, die Ukraine als Feind darzustellen.
Katerina Truchan vom belarussischen Online-Portal Pozirk hat diese Integration der Propaganda-Narrative analysiert.
Seit Beginn der vollumfänglichen militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine kopiert die belarussische Propaganda bereitwillig die Manipulationsmethoden der russischen „Journalisten“. Seit nun gut drei Jahren berichtet die Staatspropaganda über den Krieg in der Ukraine durch die russische Brille, reproduziert die Narrative des Kreml und diskreditiert die Ukraine sowie den Westen. Auch der demokratisch eingestellte Teil der belarussischen Bevölkerung wird zur Zielscheibe.
So verwenden die Propagandisten den Kreml-Euphemismus „militärische Spezialoperation“ anstelle von „Krieg“, bestehen darauf, dass Russland sich „gegen die Nato verteidigen“ müsse und wiederholen das Mantra von den „Neonazis“. Die Ukraine wird meist als „Marionette des Westens“ dargestellt und ihre Handlungen als „Provokation gegen Russland und Belarus“.
Die Propaganda spielt mit den Emotionen, indem sie die Ukrainer grundlos, aber lautstark beschuldigt, der Nazi-Ideologie ergeben zu sein und die grausamsten Verbrechen zu begehen, oder indem sie Angst vor einem drohenden Krieg schürt („Entweder wir sie oder sie uns“). Die Diffamierungen finden Gehör, brennen sich über kurz oder lang ins Unterbewusstsein der Belarussen ein und zeichnen, ungeachtet aller logischen Anfechtungen, ein negatives Bild von den Nachbarn.
Die belarussischen Behörden berichten mit unverhohlener Freude über die Einführung neuer Waffentypen in der Armee und befeuern das Thema der Stationierung russischer Atomwaffen im Land.
Die Ukraine wird dämonisiert, indem man ihr den „Beschuss der friedlichen Bevölkerung im Donbass“ und den „Genozid der russischsprachigen Bevölkerung“ vorwirft. Die legitim gewählte ukrainische Regierung wird hartnäckig als „Kiewer Regime“ bezeichnet und Präsident Wolodymyr Selensky als illegitim bezeichnet, weil die ukrainischen Behörden keine Wahlen durchführen wollen, solange der Krieg andauert. Die russischen Machthaber, und in der Folge auch die Medien, nahmen dies zum Anlass zu behaupten, Selensky könne nicht länger die Befugnisse eines Staatoberhauptes haben. Dieses Narrativ wurde auch von den belarussischen Propagandisten aufgegriffen. Dass das derzeitige Verschieben der Wahlen im Einklang mit der ukrainischen Verfassung steht, verschweigen sie dabei.
Vermeintliche Gefahr und echte Einschüchterung
Gleichzeitig bedient sich die belarussische Propaganda eines eigenen Narrativs von der Gefahr eines Angriffs von ukrainischem Staatsgebiet aus, wofür sie das Kalinouski-Regiment verantwortlich zeichnen will. Die Propaganda brandmarkt nicht nur die, die in seinen Reihen die Ukraine verteidigen, sondern suggeriert auch, sie würden einen Angriff auf Belarus vorbereiten. Der Einmarsch des ukrainischen Militärs in die russische Oblast Kursk, um die Truppen des Aggressors zu binden, spielte dieser These in die Hände. In dem PropagandafilmBessy: kak chotjat sachwatit Belarus (dt. Dämonen: Wie Belarus besetzt werden soll), der 2024 an den Start ging, verbreiten die Propagandisten das Narrativ, die „Söldner“ hätten angeblich vor, Belarus vom Staatsgebiet der Ukraine sowie der europäischen Nachbarländer anzugreifen.
Der Streifen besteht aus einer Aneinanderreihung von bedrohlichen blutigen Landkarten, auf denen okkupierte belarussische Territorien dargestellt werden, und aus Bildern vom friedlichen belarussischen Leben, sauberen Städten, ordentlichen Straßen und Auftritten von Alexander Lukaschenko, dem es, wenn man den Propagandisten glauben darf, allein zu verdanken ist, dass im Land noch Frieden herrscht. Die Tatsache, dass derselbe Lukaschenko 2022 Russland sein Territorium für den Angriff auf die Ukraine zur Verfügung gestellt hat und die militärische Aggression des „großen Bruders“ gegen einen souveränen Staat bis heute unterstützt, wird natürlich gekonnt umschifft.
Um die Kämpfer des Kalinouski-Regiments zu dämonisieren, benutzt die Propaganda sowohl Kämpfer der Einheit als auch ukrainische Militärangehörige. So zum Beispiel den ehemaligen Soldaten des Regiments Wassil Werameitschik, der aus Vietnam ausgeliefert wurde, oder Maksim Ralko, der bei seiner Rückkehr nach Belarus an der polnischen Grenze festgenommen wurde. Letzterer wurde von den Propagandisten mehrfach vor laufender Kamera gezwungen, die angeblichen Pläne des Kalinouski-Regiments „offenzulegen“, dass sie vorhaben ins belarussische Hoheitsgebiet einzudringen (TV-Sender ONT, 20. November 2024); ein anderes Mal musste er sagen, die Belarussen, die aufseiten der Ukraine kämpfen, seien allesamt Drogenabhängige und Kriminelle (ONT-Sendung vom 6. April 2025).
Werameitschik, der auf Ersuchen des belarussischen KGB ausgeliefert wurde, wiederholt in einem Beitrag (25. Januar 2025, Belarus 1) die Thesen der Propaganda über die „Strategie zur Befreiung von Belarus‘“, die angeblich mit Unterstützung der Geheimdienste Litauens, Polens und der Ukraine entwickelt wurde: Dabei soll nach einem Einmarsch vom Gebiet der Ukraine aus die bewaffnete Okkupation eines Teils von Belarus bei Brest und Malorita (Oblast Brest) stattfinden.
Derartige Aussagen, die vor den laufenden Kameras der Propagandisten gemacht werden, dürfen weder ernst genommen noch als Tatsachenberichte angesehen werden. Sie werden erzwungen; die Gefangenen befinden sich in einer ausweglosen Lage und sind in der Gefangenschaft nicht nur Druck, sondern auch Folter ausgesetzt.
Beispiele von Manipulation und offenkundigen Fakes
Bei der Auswahl der Themen für die Manipulation fällt eine gewisse Wahllosigkeit der belarussischen Propaganda auf. Wenn sie die Beiträge ihrer russischen Kollegen reproduziert, gibt sie oft nicht nur zweifelhafte Daten, sondern regelrechte Lügen wieder.
Pozirk hat zahlreiche Fakten gesammelt, wie das Ukraine-Thema eingesetzt wird, bei der die belarussische Propaganda zum Sprachrohr für die Verbreitung unverhohlener Lügen der russischen Medien wurde. Oft dienen die Themen dazu, die Ukraine lächerlich zu machen oder in einem schlechten Licht dastehen zu lassen.
Im November 2024 berichtete die lokale Propaganda, dass Donald Trump aus der ukrainischen Datenbank Myrotworez (dt. Friedensstifter) entfernt worden sei. Die Nachricht, die zunächst von der offiziellen Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa verbreitet wurde, gelangte schließlich auch in die belarussischen Staatsmedien.
„Trump hatte versprochen, das Ukraine-Problem innerhalb von 24 Stunden zu lösen: ‚Ich werde anrufen und einen Deal aushandeln.‘ Etwas zu versprechen ist natürlich das Eine. Man kann es Kyjiw befehlen, zumal sie dort Trump bereits eilig von der Liste der Friedensstifter gestrichen haben, auf der die Feinde der Ukraine geführt werden“, sagte Anatoli Sankowitsch von ONT in der Sendung Kontury. Allerdings wurde die Nachricht über Trumps Aufnahme in die Datenbank bereits 2018 von denselben russischen Propagandamedien verbreitet. Das Projekt Myrotworez selbst dementierte das damals, und es konnten keine Spuren eines Eintrags zum amerikanischen Politiker gefunden werden.
Die Propaganda versucht, aus der Ukraine einen aggressiven und prinzipienlosen Feind zu machen.
Im Dezember letzten Jahres erklärte die belarussische Propaganda, die Ukraine plane eine Ausweitung der Mobilmachung. Zuvor hatten die russischen Propagandamedien darüber berichtet. „Es ist bereits bekannt, dass die Ukraine einen neuen, ausgeweiteten Mobilisierungsplan für 2025 verabschiedet hat. Offenbar will Selensky den Krieg unter Trump fortsetzen, solange genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, um die Wahlen möglichst lange hinauszuzögern. Oder er will Trump dazu bringen, ihn in die NATO aufzunehmen, um den Krieg schnell zu beenden und als ‚Sieger über Russland‘ in die Wahlen zu gehen“, sagte die Moderatorin der Sendung Nedelja (dt. Woche) Olga Korschun auf CTV.
Dabei wurde die Mobilmachung und das Kriegsrecht in der Ukraine bereits am 10. November 2024 routinemäßig um weitere 90 Tage bis zum 7. Februar 2025 verlängert. Gleichzeitig wurde im Land über die Möglichkeit einer Herabsetzung des Wehrpflichtalters diskutiert.
Die Verunglimpfung der Ukraine, aus der die Propaganda einen aggressiven und prinzipienlosen Feind zu machen versucht, äußerte sich auch darin, dass die belarussischen Staatsmedien, den russischen auf dem Fuße folgend, eine ukrainische Spur beim Absturz des aserbaidschanischen Flugzeugs am 25. Dezember 2024 in der Nähe der kasachischen Stadt Aktau ausmachten (an Bord der Passagiermaschine Embraer-190 der Azerbaijan Airlines, die von Baku nach Grosny unterwegs war, befanden sich 67 Menschen, 38 von ihnen starben).
„Der Rumpf der Embraer-190-Maschine von Azerbaijan Airlines weist Einschlagspuren auf. Diese Tatsache macht die Version eines Angriffs durch ukrainische Drohnen wahrscheinlich. Laut Medienberichten war Grosny am selben Morgen von mehreren Drohnen angegriffen worden“, sagte Igor Posnjak, Moderator der Sendung Nowosti. 24 Tschasa (dt. Nachrichten. 24 Stunden) auf CTV.
Wladimir Putin entschuldigte sich zwar bei der aserbaidschanischen Seite, ohne allerdings einzuräumen, dass das Flugzeug von der russischen Luftabwehr getroffen wurde. Unabhängige Experten, deren Stellungnahmen von liberalen russischen Medien veröffentlicht werden, sind sich einig, dass das Flugzeug wahrscheinlich von einer Flugabwehrrakete getroffen wurde und eine Schuld der Ukraine somit praktisch ausgeschlossen ist.
Im Januar sagte die belarussische Propaganda ernste Probleme für Europa voraus, wenn der russische Gastransit durch die Ukraine gestoppt würde. Diese Botschaft wird häufig auch von den russischen Medien verbreitet, die davon überzeugt sind, dass ganz Europa ohne russisches Gas einfrieren wird. „Bald wird sich nicht nur das nicht anerkannte Transnistrien, sondern auch die hochentwickelten europäischen Wirtschaften entscheiden müssen, ob sie zu viel bezahlen, mit Holz heizen oder frieren wollen“, behauptete Swetlana Karulskaja, eine russische Mitarbeiterin von ONT.
Es sei angemerkt, dass die Gaspreise wirklich über denen der Vorkriegszeiten liegen, was Europas Wirtschaft belastet, während die Einnahmen der Ukraine geschrumpft sind. Kein einziges Land in Europa ist jedoch ohne Gas geblieben, nachdem der Transit eingestellt worden ist. Die EU hat sich faktisch vom russischen Gas verabschiedet: Während der Anteil 2021 noch bei 40 Prozent gelegen hatte, betrug er 2023 nur noch acht Prozent und 2025 noch fünf. Das russische Unternehmen Gazprom leidet unter dem Verlust des hochprofitablen europäischen Marktes; 2024 schrieb es rote Zahlen, es sind Entlassungen im Gange.
Am 19. Februar verbreitete die Staatspropaganda Falschnachrichten über den Ausverkauf von ukrainischen Ländereien weiter. „Rund 30 Prozent des ukrainischen Territoriums gehört nicht mehr Kiew. Es wurde verkauft“, erklärte Olga Dawydowitsch von Perwy informazionny (dt. Erster Informationskanal). Damit reproduzierte sie ein Fake, das 2024 in Russland erfunden wurde: Demnach würden Ausländer massenweise Land in der Ukraine aufkaufen. In Wirklichkeit ist in der Ukraine der Verkauf von Landwirtschaftsflächen an ausländische Investoren per Gesetz verboten. Zu den zehn größten Eigentümern gehören ausschließlich ukrainische Unternehmen. Später im selben Monat beschloss die belarussische Propaganda, über etwaige „kommerzielle Interessen“ der EU in der Ukraine zu berichten und nannte als Quelle für diese Erkenntnisse „ukrainische Telegram-Kanäle“. Doch auch das erwies sich als Fake.
Kreml-Drahtzieher hinter „ukrainischen“ Kanälen
„Europa, das gerade darüber diskutiert, ob es 30.000 Friedensstifter in die Ukraine schicken soll, verteidigt nicht die Ukraine, sondern seine eigenen kommerziellen Interessen. Als Bezahlung für seine Dienste wird es einen Anteil an ukrainischen Aktiva fordern, wie ukrainische Telegram-Kanäle berichten“, meldete Jekaterina Tichomirowa von Perwy informazionny.
Als Quelle führte sie einen Screenshot aus dem Telegram-Kanal Legitimny (dt. Legitim) an. Noch 2021 hatte der ukrainische Sicherheitsdienst SBU allerdings ein Netz von Kanälen aufgedeckt, hinter denen der russische Geheimdienst steckt. Darunter war auch der besagte Kanal Legitimny, dessen Administratoren zu diesem Zeitpunkt in der selbsternannten Republik Transnistrien saßen.
Ende Februar warf die Staatspropaganda Wolodymyr Selensky vor, die Verhandlungen zwischen den USA und Russland mithilfe der „belarussischen Bedrohung“ zu unterminieren. „Die dritte und bizarrste Möglichkeit, die Gespräche scheitern zu lassen, ist der Versuch, Trump davon zu überzeugen, dass Belarus eine potenzielle Bedrohung darstellt“, sagte CTV-Mitarbeiter Andrej Lasutkin. Er argumentierte unter anderem, dass die Ukrainer nach einem Drohnenangriff auf den Sarkophag von Tschernobyl Russland und Belarus beschuldigt, dann ein Fake-News-Video dreht und Selensky ausgerechnet mit dieser Nachricht seine Rede in München beginnen lässt.
Es stellte sich allerdings heraus, dass Lasutkin die Version der russischen Propaganda wiederholte, die gleich nach dem Angriff auf das Kernkraftwerk kursiert hatte. Mit einer Nuance: Nicht einmal in den russischen Quellen wird Belarus als verantwortliche oder irgendwie betroffene Partei genannt. Nach Angaben der Ukraine, die sie mit Bildmaterial bestätigt, wurde der Angriff von einer russischen Drohne ausgeführt. Die Löscharbeiten im Kernkraftwerk von Tschernobyl dauerten drei Wochen lang. So verbreiteten belarussische Propagandisten anschließend in wöchentlichen Nachrichtensendungen im ganzen Land glatte Lügen, die in Russland erfunden wurden, um die Wahrnehmung der Menschen von der Ukraine zu manipulieren.
Die Ukraine in Dauerschleife
In einem Ende 2024 veröffentlichten Bericht (Mapping Belarusian Propaganda, erstellt mit Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung) konnten die Autoren Marat Lesnov und Lesya Rudnik zeigen, dass fast die Hälfte des Contents staatsnaher Informationsquellen der Ukraine gewidmet ist.
Wie eine Analyse von Pozirk zeigt, wurde die Ukraine auf dem Telegram-Kanal des größten regierungsloyalen Mediums, der Zeitung SB. Belarus Today 10.300 Mal, das „brüderliche“ – so die offizielle Rhetorik in Minsk – Russland etwas mehr als 11.000 Mal, Lukaschenko nur knapp häufiger, nämlich 12.200 Mal, und Belarus 33.200 Mal erwähnt. Für ein Medium, das, wie man meinen würde, vor allem die Innenpolitik im Blick haben sollte, ist die „ukrainische Frage“ ziemlich beliebt. Allein zwischen dem 1. und dem 10. April kam das Thema Ukraine im besagten Telegram-Kanal mehr als 40 Mal auf.
Selbst bei Wirtschaftsthemen bleiben Verdrehungen und glatte Lügen nicht aus. So berichtete die SB am 9. April: „Die Ukraine stiehlt belarussisches Eigentum. Aber eines Tages wird sie dafür bezahlen müssen … An fremden Früchten kann man auch ersticken … Erst neulich hat die Ukraine wieder einmal ihr wahres Gesicht gezeigt: Eine Partie beschlagnahmter Düngemittel von Belaruskali wurde im Wert von etwa einer Million Dollar verkauft.“
Dabei war bereits am 6. Februar 2023 bekannt geworden, dass die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft 170 Eisenbahnwaggons mit Mineraldünger im Wert von rund 100 Millionen Hrywnja (zu diesem Zeitpunkt über 2,7 Millionen US-Dollar) beschlagnahmt hatte. Es wurde gesagt, dass die Ladung von Belaruskali und dem russischen Unternehmen Uralkali stammte. Weiterhin hieß es, dass die belarussischen und russischen Kalisalze „in Drittländer transportiert werden sollten, um mit dem Verkauf Millionengewinne zu erzielen“, wobei ein Teil des Erlöses „in Form von Steuern zur Finanzierung des russischen Kriegs gegen die Ukraine“ fließen sollte. Später wurde erklärt, dass die Düngemittel verkauft und das Geld zur Stärkung der ukrainischen Wirtschaft und Verteidigung verwendet werden würde.
Von ukrainischer Seite war wiederholt festgestellt worden, dass das belarussische Unternehmen mit seinen Aktivitäten „den Krieg gegen die Ukraine durch finanzielle und wirtschaftliche Beziehungen zu Rüstungsunternehmen der Russischen Föderation und den Besatzungsverwaltungen der selbsternannten DNR und LNR befördern“ würde. Diese Tatsachen verschweigt die belarussische Propaganda, wenn sie über das „wahre Gesicht“ der Ukraine schreibt.
Für Lukaschenkos Medien ist die Ukraine insgesamt zu einem der wichtigsten Nachrichtenanlässe geworden. Die Themen Krieg, Korruption, Waffenlieferungen, der Wahlsieg Trumps und seine Äußerungen zur Ukraine helfen der Propaganda, Content zu erzeugen, der Zwietracht, Feindseligkeit und Hass gegenüber dem Nachbarland und seiner Bevölkerung schürt. Das geschieht in Analogie zu den russischen Medien, die schon viel früher mit „Entmenschlichung“ der Ukrainer begonnen haben – noch vor der Krim-Annexion 2014.
Um das gewünschte Feindbild einer schwachen, vom Westen abhängigen Ukraine zu schaffen, bedient sich die Propaganda auch der Hilfe von „Experten“, die entweder die Thesen ihrer russischen „Kollegen“ wiederholen oder einfach schlicht russische „Analytiker“ sind. Ihre Arbeit besteht dabei darin, die Situation einseitig zu „analysieren“ und Fakes zu reproduzieren. Auf diese Weise wird das Thema Ukraine in Belarus, in dem es keine unabhängigen Medien mehr gibt und man für „unbequeme“ Themen ins Gefängnis wandern kann, extrem einseitig beleuchtet. Gleichzeitig ist es für Belarussen buchstäblich physisch gefährlich, die Ukraine zu unterstützen.
Laut einer Erhebung der Menschenrechtsorganisation Wjasna, die nicht als erschöpfend gelten kann, wurden in Belarus bis zum 24. Februar 2025, also in den drei Jahren der anhaltenden Aggression, insgesamt mindestens 209 Personen, darunter 38 Frauen, wegen Unterstützung der Ukraine verurteilt: 41 Personen aufgrund von Spenden, mindestens 30 – weil sie auf Seiten der Ukraine kämpfen wollten.
Media IQ über die Verschmelzung von belarussischer und russischer Propaganda
Pawljuk Bykowski, leitender Wissenschaftler des Projekts Media IQ, bezieht sich bei seinem Kommentar gegenüber Pozirk auf die Monitoring-Berichte von Media IQ und seinen Beitrag „A Loss of Media Sovereignty: Synchronisation of Belarusian and Russian Propaganda after 2020“ zur Monographie Russian Policy towards Belarus after 2020: At a Turning Point?
„Die Beobachtungen, die Pozirk in seiner Analyse macht, bestätigen weitgehend unsere eigenen“, sagt Bykowski. „2022 verzeichneten wir bei Media IQ eine stetige Synchronisierung der belarussischen und russischen Propagandamaschinen. Wir können aber nicht sagen, dass sich die eine der anderen direkt unterordnet. Es ist eher wie bei einem Trittbrettfahrer: Wenn die Interessen übereinstimmen oder zumindest nicht im Widerspruch zueinander stehen, springt das belarussische Regime bereitwillig auf die Narrative des Kreml auf und verbreitet sie weiter, vor allem im Hinblick auf die ideologische Rechtfertigung des Krieges gegen die Ukraine.“
„Nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen 2020 und den anschließenden Massenprotesten hat sich das offizielle Minsk von dem früher deklarierten Kurs auf Informationsneutralität verabschiedet und ist dazu übergegangen, sich verstärkt in das russische Informationsfeld zu integrieren. Besonders deutlich zeigte sich das in der Berichterstattung zu der vollumfänglichen russischen Invasion in der Ukraine im Jahr 2022. Die belarussischen Staatsmedien haben faktisch der Neutralität den Rücken gekehrt und angefangen, sich der Rhetorik und den Methoden der russischen Propaganda zu bedienen, was aus unserer Sicht eines der Kriterien für Informationssouveränität ist“, betont der Experte.
„Nichtsdestotrotz demonstrierte die belarussische Propaganda in einer Reihe von Fällen eine vorsichtige Distanz zum militärischen Bereich, indem sie die Akzente zum Beispiel auf humanitäre Themen setzte oder der Tatsache, dass sich die belarussische Armee nicht an den Kriegshandlungen beteiligt“, merkt er zugleich an. „Das zeigt, dass die belarussische Seite selbst im Rahmen der Synchronisation einzelne eigene Linien verfolgt, die ihren eigenen taktischen Interessen entsprechen.“
„Äußerst wichtig bleibt dabei, wer die Wahrnehmung des Krieges in der Öffentlichkeit prägt. Nach Angaben von Chatham House und iSANS lehnen 94 Prozent der Konsumenten unabhängiger Medien den Krieg ab, während 61 Prozent der Konsumenten staatlicher Medien die russische Aggression unterstützen. Dieser Kontrast zeigt, wie sehr die Informationsquellen zum entscheidenden Faktor für die Einstellung zu Fragen von Frieden und Sicherheit werden“, betont Bykowski.
„Nie wieder Krieg“ waren einmal die Worte, die den 9. Mai, den „Tag des Sieges“, über Jahrzehnte hinweg in vielen Familien des (post-)sowjetischen Raumes bestimmten. Eigentlich war es immer schon ein Mythos – mehr Wunschdenken denn Realität: In Wirklichkeit kämpften hunderttausende sowjetische und später russländische Soldaten etwa in Afghanistan und in Tschetschenien, viele Militärangehörige (sog. Wojenspezy) beteiligten sich an Kriegen in Afrika.
Doch erst der vollumfängliche Krieg Russlands gegen die Ukraine seit dreieinhalb Jahren legt endgültig offen, wie hochproblematisch die Erinnerungskultur in manchen Teilen des postsowjetischen Raums ist: Einige Aspekte dienen Russland im aktuellen Krieg als Rechtfertigung dafür, ein Volk anzugreifen, das zusammen mit dem russischen und vielen anderen eine entscheidende Rolle im Kampf gegen den Faschismus Nazi-Deutschlands gespielt hat. So benutzt die (pro-)russische Propaganda das 80. Jahr nach Kriegsende auch, um nicht nur an die Befreiung Europas 1945 zu erinnern, sondern vielmehr an die imperialen Ambitionen des heutigen Russlands.
Dekoder-Redakteur Dmitry Kartsev spricht anlässlich des heutigen Gedenktages mit dem Historiker Alexej Uwarow, der derzeit in Deutschland zur Erinnerungskultur in Osteuropa forscht.
dekoder: Die russische Propaganda rechtfertigt den Angriffskrieg gegen die Ukraine als angeblichen Verteidigungskrieg gegen „Nazis“ und verweist dabei systematisch auf angebliche Parallelen zum Großen Vaterländischen Krieg. Inwieweit hat sich die Geschichtspolitik des Kreml seit dem Zerfall der Sowjetunion verändert?
Alexej Uwarow: Das ursprüngliche geschichtspolitische Konzept, mit dem Russland 1991 angetreten ist, ist in den Hintergrund geraten und hat sich schließlich inhaltlich substanziell verändert. Ich habe eine Zeit lang die Reden der Präsidenten Putin und Medwedew zum 12. Juni verglichen, dem Tag Russlands. In den frühen 2000er Jahren fanden sich dort noch viele Wörter wie Demokratie, Föderalismus, Recht und Freiheit.
Seit der berüchtigten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, vor allem aber seit 2014 wurde der Ton immer aggressiver: Russland sei mehr als die Russische Föderation, es gebe ja noch das „historische Russland“, für das die Grenzen der 1990er Jahre nicht gelten würden etc. Solche Begriffe wie „Zone privilegierter Interessen“, „russki mir“, „nahes Ausland“ wurden zunehmend wichtiger und verdeutlichten den imperialen Anspruch Russlands. Vor diesem Hintergrund ist der Sieg im Zweiten Weltkrieg teilweise zu einem Vehikel zur Legitimation des aktuellen Krieges verkommen, und dieser bildet nun in der neuen Geschichtspolitik einen neuen Gründungsmythos, im Rahmen dessen die Ausweitung Russlands auf etwas Größeres, möglicherweise bis hin zu den Grenzen des Russischen Reichs als etwas Normales und Wünschenswertes gilt.
Gleichzeitig sehe ich aber keine wirklich neuen gesellschaftlichen und sozialen Praktiken im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg. Es findet zwar eine aggressive Militarisierung der gesamten Gesellschaft statt, doch diese kommt hauptsächlich von oben. Breitenwirksame Grass Roots Initiativen wie Georgsbändchen oder das Unsterbliche Regiment (die natürlich schnell verstaatlicht worden sind) gibt es heute nicht.
Es ist nicht auszuschließen, dass in Zukunft Elemente aus dem aktuellen Krieg ins gesellschaftliche Bewusstsein zum „Tag des Sieges“ Einzug halten werden, bislang sehe ich aber keine Hinweise dafür, dass die Gesellschaft besonders aktiv auf die politischen Angebote reagiert, die beiden Kriege zu einer gedanklichen Einheit zu verschmelzen.
Der Kult um den Sieg im sogenannten Großen Vaterländischen Krieg galt vielen Beobachtern als die Heilige Kuh der russischen Geschichtspolitik unter Putin. Falls die Menschen diese geschichtspolitische Verschmelzung weiterhin jedoch nicht annehmen und die Erzählungen in Konkurrenz geraten – würde der Kreml da nicht diese zentrale geschichtspolitische Ressource verlieren?
Wie sich die russische Erzählung über den Krieg gegen die Ukraine entwickelt, zeigt, wie eklektisch sie ist. Betrachten wir zum Beispiel, wie der russische Staat in den eroberten Gebieten vorgegangen ist, also in den okkupierten Teilen der Oblasten Cherson und Saporischschja. Denn dort gab es erstaunliche Pirouetten: Militärs kamen, um eine sogenannte „Denazifizierung“ vorzunehmen, und sie griffen dabei zu quasi-sowjetischer Rhetorik.
Dazu brachten sie es fertig, Flaggen und Wappen aus der Zarenzeit hervorzuholen sowie Bilder von Potjomkin oder Suworow. Nicht nur der Zweite Weltkrieg und der andauernde Krieg haben darin Platz. Da finden auch alle möglichen anderen Helden aller erdenklichen Epochen der russischen Geschichte ihren Platz. So werden sicherlich auch die von der Ukraine-Front zurückkehrenden Soldaten als Helden stilisiert und damit in das vorhandene Pantheon aufgenommen.
Schauen wir auf die Betroffenen der aktuellen russischen Aggression, die Ukraine – wie wurde und wird dort des Zweiten Weltkriegs gedacht? Früher wurde in der Sowjetunion gemeinsam in allen Republiken der „Tag des Sieges“ gefeiert. Wie hat sich das seit den 1990er Jahren – besonders in der Ukraine – verändert?
In der Ukraine gab es ab 1999 – unter Viktor Juschtschenko erst als Ministerpräsident, später dann als Präsident – Versuche, zwischen den Veteranen der Roten Armee und den Veteranen, die in den Reihen der OUN und UPA gekämpft haben, zu vermitteln – der sogenannten Division Halytschyna und anderen antisowjetischen Formationen.
Ich erinnere mich noch, wie die russische Propaganda das schon Mitte der 2000er Jahre als Gleichsetzung der beiden Seiten, eine Relativierung bis Heroisierung des Nazismus darstellte.
In der gesamten Amtszeit von Juschtschenko ging es um die Stärkung des ukrainischen Nationalbewusstseins, insbesondere auf Grundlage der historischen Ereignisse im 20. Jahrhundert. Juschtschenko konzentrierte sich dabei auf die Ukrainische Volksrepublik, auf die Westukrainische Volksrepublik, und auf die Fortsetzung des antisowjetischen nationalen Befreiungskampfes. Vor seiner Amtszeit hatte die UPA keine große Aufmerksamkeit bekommen, Juschtschenko war der erste ukrainische Präsident, der sie in die staatliche Erinnerungspolitik integrierte.
Schon damals führte das zu Kontroversen, weil die UPA, die gegen die Sowjetmacht kämpfte, auch Verbrechen gegen Juden und Polen beging. Aber es war nicht Juschtschenkos Absicht, das Gedenken an die sowjetischen Veteranen durch ein Gedenken an die UPA zu ersetzen. Eher war es der Versuch, all das im Sinne einer ukrainischen Nationalerzählung zu verbinden.
Der Zusammenhang sollte darauf basieren, dass alle Ukrainer sind, dass alle Teil einer ukrainischen Nation und einer ukrainischen Geschichte sind – mit all ihren tatsächlichen Widersprüchen und Konflikten. Das ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass es, stark vereinfacht, Gruppen im Land gibt, die den Zweiten Weltkrieg grundverschieden betrachten. Damit muss man einen Umgang finden. Man braucht man eine nationale Erzählung, die nicht spaltet, sondern eint.
Und wie entwickelt sich der Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg in Belarus? 2020 klang es ja an, als gäbe es eine Spaltung zwischen der staatlich verordneten Erinnerungspolitik und dem, was die Menschen für richtig halten: Als Lukaschenko die weiß-rot-weiße Flagge verbieten wollte, das Symbol der Massenproteste und der alten national-demokratischen Opposition. Er tönte, dass die Flagge auf die Nazi-Kollaborateure zurückgehe und seine heutigen Gegner ebenfalls Neonazis seien und so weiter.
In Belarus gab es schon 1996 erste Tendenzen Lukaschenkos, den Tag der Freiheit am 25. März, an dem 1918 die Belarussische Volksrepublik ausgerufen wurde und der auf national-oppositionelle Initiativen zurückgeht, durch den Tag der Unabhängigkeit am 3. Juli zu verdrängen, an dem die Befreiung von Minsk von der deutschen Besatzung begangen wird. In der Folge wurden Museen bis hin zu Geschichtsbüchern in einer Weise umgestaltet, die selbst russischen Hurra-Patrioten Sorgen bereitete. Denn manche belarussischen Schulbücher konzentrierten sich in der Darstellung des Zweiten Weltkriegs weitgehend auf die Ereignisse in Belarus – also auf die sowjetische Besatzung von Westbelarus ganz zu Beginn, dann die deutsche Besatzung, die Partisanenbewegung, die Operation Bagration, während alles andere, etwa die Schlachten um Moskau und Stalingrad, die Belagerung von Leningrad, in den Hintergrund rückte. Und obwohl die Glorifizierung der Heldentaten im Zweiten Weltkrieg in dieselbe Richtung ging wie in Russland, entstand eine besondere, nationale Version.
Es ist zwar eine Geschichte gemeinsamer Helden, der belarussischen Partisanen, die ja auch im russischen Pantheon vertreten sind, aber doch auch eine Abgrenzung vom russischen Narrativ. Das betrifft sogar die Symbolik. Das Georgsband hat sich in Belarus nicht durchgesetzt, dort hält der Staat dazu an, eine Apfelblüte auf einer rot-grünen Schleife auf dem Revers zu tragen. Ähnlich der Mohnblume, die in Großbritannien an die Opfer des Ersten Weltkriegs erinnert und mittlerweile auch das Gedenksymbol der Ukraine für ihre Opfer des Zweiten Weltkrieges ist.
Trotz der gestiegenen Abhängigkeit vom Kreml versucht Lukaschenko diese seine nationale Variante der Erinnerungspolitik gegenüber dem sowjetischen Erbe weiterzuverfolgen.
Zurück zur Ukraine: Was passierte dort seit Juschtschenko?
Da muss ich an ein Video aus dem Jahr 2015 denken, in dem einem alten Offizier, gespielt von Wolodymyr Talaschko aus dem sowjetischen Kultfilm W boi idut odni stariki (dt.: Erfahrene Hasen des Geschwaders), von seinem Enkel, einem jungen Soldaten der ukrainischen Streitkräfte zum Tag des Sieges gratuliert wird. Der Opa setzt sich die Schirmmütze der sowjetischen Armee auf und sagt „Slawa Ukrajini“.
In dieser Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs findet die sowjetische Bildsprache mit dem ukrainischen Nationalbewusstsein nicht nur ein Auskommen, sondern unterstützt es sogar. Während früher die Verwendung solcher Bilder Teile der Bevölkerung vor den Kopf stieß und eher spaltend wirkte, verloren sie nach der Annexion der Krym und dem Kriegsbeginn im Donbas dieses Konfliktpotenzial.
Wolodymyr Selensky setzte diese Linie fort, als er am „Tag des Sieges“ 2022 über den Kampf gegen Eroberer von außen sprach, gegen Faschisten und Raschisten.
Sie leben und arbeiten in Bonn, forschen zur russischen Geschichtspolitik. Wie sehen Sie den Einfluss der russischen Aggression gegen die Ukraine darauf, wie man in Deutschland nun die Rolle Russlands im Kampf gegen den Faschismus wahrnimmt? Auch die Rolle der Ukraine, natürlich.
Soweit ich das anhand meiner Gespräche mit Deutschen und anhand dessen, was ich in den Medien sehe, beurteilen kann, ist das Hauptproblem, dass Russland als einziger Rechtsnachfolger der Sowjetunion gilt: als wichtigster Erbe nicht nur, was Eigentum und den Sitz im UNO-Sicherheitsrat angeht, sondern auch, was die Nachkriegszeit und den Sieg über den Faschismus angeht. So wurde Russland der Löwenanteil der Aufmerksamkeit zuteil, bei allem, was den Krieg an der Ostfront betraf. Immer wieder wird Russland oder russisch synonym anstelle von Sowjetunion bzw. sowjetisch verwendet.
Erst jetzt fängt das an, sich zu verändern. Auch andere Länder rücken in den Fokus, vor allem natürlich die Ukraine.
Als ich dieses Jahr an einer Podiumsdiskussion zum historischen Gedenken im Museum Karlshorst teilnahm, hatte ich dort nicht den Eindruck, dass die deutschen Kollegen dazu geneigt wären, Russland durch die Ukraine zu ersetzen oder die Landkarte der Erinnerung abzuändern. Meinem Eindruck nach unterscheiden sie den heutigen Staat der Russischen Föderation, der einen Angriffskrieg führt, von der Sowjetunion als Befreier von Nazi-Deutschland. Und die Russen als jene Menschen, die heute dort leben, von den Russen als Nachkommen der Opfer des Faschismus. Das ist eine komplexe Angelegenheit mit feinen Nuancen.
Trotzdem, ich sehe einfach keine grundsätzliche Möglichkeit, Russland vollends von dieser Erinnerungskarte zu tilgen. Offenbar bleibt uns nichts anderes übrig, als den Staat außen vor zu lassen und mit jenen Vertretern der russischen Gesellschaft zu interagieren, die zum Dialog bereit sind. Ich habe das Gefühl, in Europa besteht Bedarf an neuen Repräsentanten genau da, wo früher Abgeordnete des russischen Staates saßen: Vor nicht allzu langer Zeit ist ein Freund von mir als Memorial-Mitarbeiter zu einer Zeremonie nach Auschwitz gefahren, zu der früher ein russischer Diplomat eingeladen worden wäre, wo aber jetzt er die russische Zivilgesellschaft repräsentierte. Das ist alles ziemlich merkwürdig und noch recht neu.
Den Anspruch auf eine eigene Stimme im Dialog über den Zweiten Weltkrieg können nun alle unabhängigen Länder erheben, die einst zur UdSSR gehörten, alle, die das wollen – die Ukraine, Belarus, Usbekistan, Kirgisistan, Kasachstan, Georgien, Armenien … Es hat einfach früher eines davon die meiste Aufmerksamkeit bekommen, das gleicht sich jetzt aus.
Sie sprechen von einem Dialog mit der russischen Zivilgesellschaft. Aber glauben Sie, dass die Russen, die gegen den Krieg sind, irgendeine andere Interpretation des Zweiten Weltkriegs entwickeln könnten, abseits der revanchistischen und expansionistischen Bestrebungen des Staates?
Ich glaube, die Menschen, die oppositionell und regierungskritisch eingestellt sind, haben das alles immer schon differenzierter, komplexer und widersprüchlicher wahrgenommen. Der 9. Mai war schon vor dem 24. Februar ein Trauertag. Aber natürlich hat der Krieg gegen die Ukraine das alles verschärft. Die Frage ist, ob eine komplexe Sicht auf den Krieg das ablösen kann, was der Staat heute als Begründung für den Kampf gegen den „kollektiven Westen“ durchsetzen will.
Aber selbst wenn: Ich befürchte, dass es in der russischen Geschichte sehr viele Kriege gibt, die sich instrumentalisieren und als Teil eines jahrhundertelangen Widerstands abbilden ließen, in dem die Russen und die Sowjetbürger ziemliche Helden waren … Das ist ein Problem, da muss man was tun, ich glaube nicht, dass es darauf schon eine Antwort gibt.
Selbst wenn es zu einem dauerhaften Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine kommen sollte, werden die Spannungen zwischen dem Kreml und den Ländern der EU bleiben. Damit komme Belarus, schreibt Artyom Shraibman in seiner Analyse für Carnegie, eine besondere Rolle zu. Putin könnte das Lukaschenko-Regime für weitere Eskalationen jenseits der ukrainischen Front nutzen. Deswegen sei es für die EU wichtig, die Interessen des belarussischen Machthabers zu verstehen, um „Moskau zusätzliche Hindernisse in den Weg zu legen. Und je mehr es davon gibt, desto unwahrscheinlicher ist es, dass ein neuer großer Krieg beginnt.“ Shraibman zeigt auf, wie solche Hindernisse aussehen könnten.
Belarus ist mittlerweile aufgrund seiner geografischen Lage und seiner zunehmenden Abhängigkeit von Russland ein permanenter Risikofaktor für seine Nachbarländer. Daran wird sich wahrscheinlich nichts ändern, solange in Belarus ein Regime herrscht, das seine Macht der wirtschaftlichen und politischen Unterstützung aus Moskau zu verdanken hat. Das Problem ist nicht nur die alte Feindschaft zwischen Alexander Lukaschenko und Polen oder Litauen, sondern auch das Beziehungsmodell, wie es sich in den letzten fünf Jahren zwischen Minsk und Moskau entwickelt hat.
Bis 2020 hielt Lukaschenko immer die Balance zwischen dem Westen und Russland, in der Erwartung, von beiden Seiten dafür belohnt zu werden, dass er sich nicht auf die jeweils andere Seite schlägt. Die Bedingung für dieses Manövrieren war die Möglichkeit, sich wie ein Pendel mal an Russland anzunähern, mal sich zu entfernen. Der Bruch mit dem Westen nach den Protesten in Belarus 2020 stoppte dieses Pendel und fixierte es im Kontrollbereich Russlands.
In der Folge verlor der Westen das Interesse an den Signalen Lukaschenkos, der verbal weiterhin versuchte, seine Eigenständigkeit zu betonen. Gleich zu Beginn der vollumfassenden Invasion in der Ukraine rief er zu sofortigen Verhandlungen auf und bot sich als Mittelsmann zwischen Kyjiw und Moskau an. Doch diese Rhetorik überzeugte die Adressaten nicht mehr, der Spielraum für seine Manöver war verschwunden. Also warb Lukaschenko mit einer neuen Taktik um die Gunst und Ressourcen aus Russland: Er leistete militärische Dienste, wie Wladimir Putin sie im jeweiligen Moment am dringendsten brauchte.
Dem Kreml ging es darum, dem Westen seine Bereitschaft zur weiteren Eskalation zu signalisieren.
Lukaschenko versorgte die russische Armee und die Rüstungsindustrie nicht nur mit allem, was Belarus zu bieten hatte. Während der Mobilmachung im Herbst 2022 stellte er auch belarussisches Territorium für die Ausbildung russischer Soldaten zur Verfügung. Als Jewgeni Prigoshin im Juni 2023 den Aufstand probte, trat Lukaschenko als Vermittler zwischen den Konfliktparteien auf und gestattete den Mitgliedern der zerschlagenen Söldnertruppe Wagner den Aufenthalt in Belarus, bis sie der Kreml unter seine Kontrolle nahm. Und als im Sommer 2024 die ukrainische Militäroperation in der Oblast Kursk begann, verschob er die belarussischen Truppen demonstrativ an die südliche Grenze, um Moskau seine Bereitschaft zu bekunden, die ukrainischen Streitkräfte von der Hauptfront abzulenken.
Außerdem verkündeten Mitte 2023 Moskau und Minsk die Stationierung taktischer Kernwaffen in Belarus, ein Jahr darauf führten sie Übungen zu ihrer Anwendung durch. Im Dezember 2024 machten die beiden ihre Pläne bekannt, in Belarus die neuen russischen Oreschnik-Mittelstreckenraketen aufzustellen. Dem Kreml ging es darum, dem Westen seine Bereitschaft zur weiteren Eskalation zu signalisieren, und Minsk spielte willig als Partner mit.
Manche Aktionen waren eher symbolischer Natur. Etwa das bilaterale Abkommen über Sicherheitsgarantien, das im Dezember 2024 geschlossen wurde. Es berechtigt Russland, im Fall einer Bedrohung von außen Truppen und militärische Anlagen in Belarus zu stationieren, und spannt den Nuklearschirm der Russischen Föderation auch über das Nachbarland. Dieses Dokument brachte weder de jure noch de facto eine Veränderung, weil das alles auch vorher schon möglich war. Doch derartige symbolische Akte erzeugen das Bild einer erstarkenden Sicherheitszone rund um Russland und sind deshalb wichtig für Putin.
Indem er sich da, wo es dem Kreml jetzt am wichtigsten ist, nützlich und loyal gibt, sorgt Lukaschenko für die fortgesetzte wirtschaftliche und sonstige Unterstützung seines Regimes. Moskau hält die günstigen Bedingungen für die Lieferung von Energiereserven nach Belarus aufrecht, verlängert Zahlungsfristen alter Kredite, stellt seine Infrastruktur für den Export sanktionierter belarussischer Produkte wie etwa Kalidünger zur Verfügung. Hierbei verlangt Putin von Lukaschenko keine unbequemen Zugeständnisse wie etwa einen Einsatz der belarussischen Armee an der Front oder, wie Moskau 2020 noch vorschlug, die Schaffung supranationaler Behörden im Staatenbund.
Dieses Verhältnis zu Russland kommt dem belarussischen Regime gelegen. Zumal es in absehbarer Zeit alternativlos ist. Wenn es Moskau also das nächste Mal einfällt, für eine regionale Eskalation belarussisches Territorium zu nutzen, wird sich weder Lukaschenko noch sein Nachfolger schwer entziehen können. Wahrscheinlicher ist, dass die belarussische Führung sich ausrechnet: Durch demonstrative Loyalität in einem kritischen Moment können wir uns das Recht ausbedingen, eine aktive Teilnahme an einem neuen, von Moskau angezettelten Krieg abzulehnen.
(Un)glaubwürdige Leugnung
Im Fall einer neuerlichen Eskalation wird der Kreml bestimmt seine mehrmals erprobte Taktik anwenden und versuchen, sein aggressives Vorgehen als Reaktion auf die Bitte eines Bündnispartners oder seiner Schützlinge darzustellen.
Ob aufgrund seiner eisernen Gesetzestreue oder weil er vor seinen Anhängern nicht als Aggressor dastehen will, Putin sorgt nach Möglichkeit immer dafür, dass der Eskalation eine „Bitte von unten“ vorausgeht. Das war bei der Krim so und beim Beginn des Großangriffs auf die Ukraine sowie bei der Annexion von vier weiteren ukrainischen Regionen. Trotz der immer geringeren Überzeugungskraft solcher Gesten will der Kreml jedes Mal den Anschein erwecken, Einheimische oder regionale Eliten hätten ihn um Hilfe gebeten.
Derselben Logik folgt Moskau auch bei weniger schicksalsschweren Entscheidungen, die Russland und Belarus betreffen. Formal war es Anfang 2022 Lukaschenko gewesen, der russische Truppen zu den Militärmanövern eingeladen hatte, nach denen sie in die Ukraine einmarschierten. Im Herbst desselben Jahres bat er Putin darum, in Belarus eine „Regionaltruppe“ aufzubauen, de facto ein Deckmantel für die Ausbildung der frisch mobilisierten russischen Soldaten und ein Ablenkungsmanöver von der ukrainischen Offensive bei Charkiw und Cherson. Es war auch Lukaschenko selbst, der die übriggebliebenen Wagner-Söldner nach Belarus einlud und um die Aufstellung russischer Kernwaffen und des Raketensystems Oreschnik in seinem Land bat.
Moskau delegiert an Minsk die Rolle des Initiators, um seinen Partner nicht mit der willkürlichen Nutzung seines Territoriums zu demütigen. Damit glaubt Putins heimische Anhängerschaft und vielleicht auch so mancher Putinversteher im Ausland eine Weile lang, dass Moskau nur auf Bitten von Freunden reagiert und nicht selbst die Eskalation provoziert.
Der Status von Belarus als souveränem Staat liefert eine praktische Ausrede, ermöglicht es, die Mitwirkung am ersten Schuss zu leugnen (plausible deniability). Den Gegner überzeugt das natürlich keineswegs, aber die loyale Öffentlichkeit findet das durchaus glaubwürdig.
Verschärfungsszenarien
Überlegungen zu möglichen Szenarien einer neuerlichen militärischen Krise in Osteuropa sind spekulative Gedankenspiele. Einzeln betrachtet ist die Wahrscheinlichkeit, dass eines dieser Szenarien Realität wird, nicht so groß. Doch kann man anhand solcher Erwägungen gut sehen, wie Belarus in diesem Prozess benutzt wird, und es können Wege zur Risikosenkung eingeschätzt werden.
Die geografische Lage von Belarus eröffnet Russland zwei Richtungen für ein aggressives Vorgehen: südlich gegen die Ukraine und westlich gegen die Ostflanke der Nato (Polen, Litauen, Lettland). Jedes Szenario eines ernsthaften Konfliktes erfordert die Beteiligung der russischen Armee, denn den belarussischen Streitkräften mangelt es, vor allem ohne vorangehende Mobilmachung, an Personal, an Erfahrung und an Ausrüstung, um im Alleingang und auf Dauer die Wehrhaftigkeit seiner Nachbarn zu durchbrechen.
Seit 2021 schickt Minsk gezielt Migranten aus Asien und Afrika über die belarussische Grenze in die EU.
Das heißt jedoch nicht, dass Russland das Szenario von Anfang 2022 wiederholen wird – also wieder ein paar Wochen vor der Eskalation mit dem Vorwand von Militärübungen ein riesiges Truppenkontingent in Belarus stationieren wird. Hundertprozentig kann dieses Manöver zwar nicht ausgeschlossen werden, aber seit 2022 ist es so erwartbar, dass Moskau bei jedem Versuch, es zu wiederholen, den Überraschungseffekt verlieren würde.
Jede Überführung Tausender und erst recht Zigtausender russischer Soldaten nach Belarus würde sofort die Aufmerksamkeit der Geheimdienste der Nato-Länder erregen. Die Bündnispartner würden Reaktionen auf Provokationen vorbereiten. Und wenn eine solches Kontingent wie im Januar 2022, noch dazu mit Kriegs- und Pioniertechnik, nach Belarus ziehen würde, dann würde keines der Nachbarländer mehr darauf hoffen, dass der Kreml blufft oder nur mit den Säbeln rasselt.
Bei weniger geradlinigen Eskalationsszenarien geht es um die Einbeziehung russischer Soldaten in ein Geschehen, mit dem man auf angeblich bereits erfolgte Provokationen reagiert. Zum Beispiel auf eine akute Verschärfung der Migrationskrise, die die belarussischen Behörden bereits seit mehreren Jahren in unterschiedlicher Intensität als Druckmittel auf die Nachbarn einsetzen.
Seit 2021 schickt Minsk gezielt Migranten aus Asien und Afrika über die belarussische Grenze in die EU, als Retourkutsche für deren Sanktionen. Lukaschenko hat schon oft erklärt, dass die russischen Grenzbeamten die Migranten durchwinken werden, solange die Sanktionen aufrecht erhalten werden. Die Zahl der illegalen Grenzübertritte ändert sich je nach Jahreszeit und wird manchmal von Minsk direkt beeinflusst. Zu Spitzenzeiten wurden monatlich mehrere Tausend versuchte Übertritte gezählt, während es in den Wintermonaten jeweils nur ein paar Hundert sind.
Im Jahr 2022 strichen einige Fluglinien auf Druck der EU Flugverbindungen zwischen den Herkunftsländern der Migranten und Minsk. Danach versuchten viele Migranten, über Russland die belarussische Grenze zur EU zu erreichen. Das bedeutet, dass russische Geheimdienste wohl an der Koordinierung dieser mehrjährigen Operation beteiligt sind. Das ist wenig überraschend, bedenkt man das ähnliche Vorgehen Russlands in den letzten Jahren an den Grenzen zu Finnland und Norwegen.
Die Sicherheitsbehörden der Nachbarländer von Belarus, vor allem die in Polen, stellen seit den ersten Monaten der Krise fest, dass die Migranten auf jede erdenkliche Weise von belarussischen Sicherheitsbehörden unterstützt werden. Sie wurden zur Grenze gebracht und mit Leitern ausgestattet sowie mit Werkzeugen, um die Grenzbefestigung zu demontieren. Man gab ihnen auch Pflastersteine und Steinschleudern, um europäische Grenzbeamte anzugreifen. Im Mai 2024 kam bei derartigen Zusammenstößen ein polnischer Soldat ums Leben. Daraufhin sorgte Minsk umgehend einige Monate lang für eine Reduzierung des Migrantenstroms.
Russland könnte Belarus erneut an der ukrainischen Front einspannen, insbesondere, indem es versucht, Belarus vollends in den Krieg hineinzuziehen.
In einem Szenario, wenn ein bewaffneter Konflikt provoziert wird, könnten Migranten mit gefährlicheren Waffen ausgestattet werden als nur mit Steinschleudern. So könnten, als Migranten getarnt, Söldner oder Sicherheitskräfte versuchen, die Grenze zu überqueren. Ein daraufhin als Reaktion folgender Einsatz tödlicher Waffen durch das polnische, litauische oder lettische Militär könnte zu Zusammenstößen mit den belarussischen Grenztruppen führen. Eine solche Eskalation könnte wiederum formal als Vorwand dienen, die Nato-Staaten einer Aggression zu beschuldigen und russisches Militär hinzuzuziehen, um „die gemeinsame Grenze des Unionsstaates zu verteidigen“.
Dabei wäre es möglich, dass Minsk vorab nicht über die russischen Pläne informiert wird. In dem Wissen, dass die belarussische Führung sich nicht proaktiv in einen Krieg verwickelt werden will, könnte der Kreml eine Situation schaffen, in der es für Lukaschenko schwierig wäre, sich nicht für Hilfe an Moskau zu wenden. Ein solcher Einsatz von Migranten ist nicht das einzig denkbare Szenario. Zum Beispiel könnte man als ersten Schritt von Litauen fordern, einen breiteren, durch Belarus führenden Festlandskorridor zur Oblast Kaliningrad zu schaffen, falls der Schiffsverkehr über die Ostsee beschränkt würde. Darüber hinaus könnte Russland Belarus erneut an der ukrainischen Front einspannen, insbesondere, indem es versucht, Belarus vollends in den Krieg hineinzuziehen. Das wäre sehr viel einfacher, als einen Zusammenstoß mit der Nato zu provozieren.
Bei diesem Szenario könnte Russland zunächst seine Luftwaffe und seine Raketensysteme nach Belarus zurückverlegen, die 2023/24 abgezogen wurden. Dann könnte der Beschuss der Ukraine von belarussischen Stützpunkten und Fliegerhorsten wieder aufgenommen werden. Diese Angriffe waren im Herbst 2022 eingestellt worden. Kyjiw hat jedoch in letzter Zeit erhebliche Fortschritte bei der Produktion von Raketen und Drohnen mit großer Reichweite gemacht. Dadurch wären belarussische Militärobjekte als Ziel nicht nur rechtens, sondern auch recht einfach zu treffen, verglichen mit den weiter entfernten und besser von der Luftabwehr geschützten Objekten in Zentralrussland.
Im Falle eines systematischen Beschusses aus Belarus, könnte für die ukrainische Führung die Versuchung, diese Gefahr zu beseitigen größer sein als der Wunsch, Belarus nicht in den Krieg hineinzuziehen. Die als Reaktion folgenden ukrainischen Schläge gegen Belarus könnten wiederum Russland mehr Gründe liefern, von Lukaschenko einen Einsatz belarussischer Streitkräfte zu fordern. Das Ziel wäre, den Kriegsschauplatz auf das belarussisch-ukrainische Grenzgebiet auszuweiten und dadurch die Reserven der ukrainischen Streitkräfte auf eine weit längere Front zu verteilen.
Risikomanagement
Schon jetzt ergreifen europäische Länder, insbesondere geografisch Russland nahe gelegene, Maßnahmen, um eine Eskalation unwahrscheinlicher zu machen. Unter anderem erhöhen sie ihre Investitionen in die Rüstungsindustrie, stocken die Personalstärke ihrer Streitkräfte auf, führen wieder Elemente einer Wehrpflicht ein und treffen allgemeine Kriegsvorbereitungen. Sie stationieren in der Nähe der potenziellen Frontgebiete zusätzliche Truppen und befestigen und verminen ihre Grenzen zu Belarus und Russland.
All diese Schritte kommen oft zu spät, sind aber zweifellos notwendig. Sie zielen allerdings nur auf eine Einhegung Russlands ab und vernachlässigen den Faktor Belarus. Eine Wahrnehmung von Belarus, die das Land lediglich als ein Instrument des Kreml ohne eigenen Willen sieht, ist kurzsichtig. Selbstverständlich hat Lukaschenko einigen Anteil daran, dass sein Regime so wahrgenommen wird. Allerdings würde eine Vorstellung, in der sich die Handlungsfähigkeit von Belarus völlig im Willen des Kreml auflöst, das Bild zu sehr vereinfachen. Derzeit denkt kaum jemand über Methoden nach, wie Einfluss auf Minsk genommen werden könnte. Dabei könnte doch das Verhalten von Belarus in einem kritischen Moment eine Krise entweder verschärfen oder aber ein Hindernis für Moskaus Pläne darstellen.
Der Westen sollte auch überlegen, welche Anreize man für Minsk schaffen könnte.
Das Regime in Belarus wird zurecht als Satellit Russlands betrachtet. Es bewahrt sich aber gleichwohl einen eigenen Willen und weiß um seine Interessen. Ein Krieg mit der Nato oder eine Ausweitung des russisch-ukrainischen Krieges auf das Territorium von Belarus stehen diesen Interessen klar entgegen. Seit dem Kriegsbeginn 2022 zeigen alle Umfragen, dass die absolute Mehrheit der Bevölkerung gegen eine Beteiligung an den Kampfhandlungen ist. Eine Entsendung belarussischer Soldaten an die Front in der Ukraine wird von nur drei bis zehn Prozent der Befragten befürwortet. Lukaschenko muss das berücksichtigen, wenn er die innenpolitischen Risiken seiner Entscheidungen abwägt. Selbst für ein autoritäres Regime ist es schwierig, sich an einem Krieg zu beteiligen, wenn die Gesellschaft das kategorisch ablehnt.
Jedes Szenario einer Eskalation, an der Belarus beteiligt ist, würde bedeuten, dass je länger oder beharrlicher Minsk die russischen Anstrengungen sabotiert oder sich weigert, in den Krieg einzutreten, dies stärker den Interessen der regionalen Sicherheit dient. Daher sollte der Westen – ergänzend zu den Maßnahmen zur Einhegung Russlands – auch überlegen, welche Anreize man für Minsk schaffen könnte, damit Belarus in einem kritischen Augenblick sich dennoch als eigenständig handelndes Subjekt erweist.
Zum einen müssen dazu die Kommunikationskanäle nach Minsk erhalten und neue aufgebaut werden, auch zur militärischen Führung des Landes. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die belarussische Seite diese Kanäle aktiviert, um früh vor einer geplanten Provokation oder Eskalation zu warnen. Schließlich besteht der Staatsapparat in Minsk nicht ausschließlich nur aus prorussischen Falken, die ihr Land an einem neuen Kriegsabenteuer des Kreml beteiligen wollen.
Zweitens können die bestehenden diplomatischen Kommunikationskanäle genutzt werden, um Belarus die Konsequenzen klarzumachen, falls Minsk sich voll an einem Krieg gegen die Nato oder die Ukraine beteiligen sollte. Je deutlicher der belarussischen Führung das Risiko einer Zerstörung militärischer oder anderer Objekte – eben nicht nur russischer Truppen oder Anlagen auf belarussischem Territorium – bewusst wird, desto größer ist die Chance, dass Minsk sich einem solchen Szenario widersetzt.
Mit einer Verschärfung der Sanktionen zu drohen, wäre wenig sinnvoll. Das Potenzial des Westens für wirtschaftlichen Druck auf Belarus ist nahezu ausgeschöpft. Eine komplette Handelsblockade an der belarussischen Westgrenze, die auch den Transithandel unterbindet, würde Lukaschenko natürlich empfindlich treffen. Allerdings hat Minsk seine Exporte und Lieferketten in beträchtlichem Maße nach Russland umgeleitet, weswegen eine solche Drohung nicht allzu sehr ins Gewicht fallen dürfte. Insbesondere, wenn die militärischen Forderungen seines wichtigsten Verbündeten dem entgegenstehen.
Drittens ist es wichtig, Belarus nicht aus dem Blick zu verlieren, wenn die Verhandlungen über eine Beendigung des russisch-ukrainischen Krieges einen Punkt erreichen, an dem über Deeskalation und vertrauensbildende Maßnahmen jenseits der Front gesprochen wird. Hier geht es nicht darum, dass Lukaschenko einen Platz am Verhandlungstisch bekommt. Diese Frage ist sehr viel weniger wichtig als die Übereinkommen, die die beiden Seiten in Bezug auf das belarussische Territorium erzielen könnten.
Die unabhängigen belarussischen Medien halten die öffentliche Meinung von einer stärkeren Solidarisierung mit Russland ab.
Bedenkt man die strategisch wichtige Lage von Belarus und den Umstand, dass Russland sie seit 2022 genutzt hat, könnten bei den Verhandlungen Beschränkungen für die Stationierung von ausländischen Truppen, Atomwaffen, weitreichenden Waffensystemen und Militärstützpunkten erörtert werden. Dann sollte man auch die Frage des Umfangs und der Häufigkeit von Manövern ansprechen. Ebenso könnte man sich auf Kontrollmechanismen zur Einhaltung der Vereinbarungen einigen. Neben ihrer Hauptfunktion könnten diese Vereinbarungen für Minsk bedeuten, dass sich zukünftig sein Bewegungsspielraum erweitert. Sie würden Minsk Argumente liefern, um sich Versuchen des Kreml zu entziehen – soweit das möglich ist –, bei einer Verletzung eines zukünftigen Friedensabkommens belarussisches Territorium zu nutzen.
Viertens hat die Unterstützung durch unabhängige belarussische Medien eine militärpolitische Bedeutung. Sie befinden sich zwar im Exil, halten aber die öffentliche Meinung von einer stärkeren Solidarisierung mit Russland ab. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten wirken sie der Kriegspropaganda des Kreml entgegen. Sollten also die unabhängigen belarussischen Medien die Phase der globalen Einsparungen bei der internationalen Medienförderung nicht überleben, würde dies es dem Kreml erleichtern, Minsk in einen Krieg hineinzuziehen.
Die genannten Maßnahmen sind keine Garantie dafür, dass Russland es nicht dennoch gelingt, Belarus in eine erneute militärische Eskalation hineinzuziehen. Diplomatische Signale oder Gelder für eine Bekämpfung der russischen Propaganda in Belarus befreien die europäischen Länder nicht von der Notwendigkeit, in die eigene Verteidigung zu investieren, ihre Grenzen zu befestigen und sich auf die verschiedenen Konfliktszenarien einzustellen.
Allerdings sollte berücksichtigt werden, dass Minsk seine eigenen Interessen verfolgt, die sich von den russischen unterscheiden. Wenn der Westen das ignoriert, verpasst er die Chance, für Moskau zusätzliche Barrieren zu schaffen. Je mehr Barrieren es gibt, desto unwahrscheinlicher wird der Beginn eines neuen großen Krieges.
Die russische Oblast Belgorod ist ein zentraler Umschlagplatz für Waffen und Truppen auf ihrem Weg in den Angriffskrieg gegen die benachbarte Ukraine. Die Region ist gut an Rest-Russland angebunden und hat sich schon im Vorfeld des russischen Überfalls zu einem logistischen Knotenpunkt und einer wichtigen Nachschubbasis für die Invasion entwickelt.
Die Zerstörung der russischen Nachschub- und Logistikinfrastruktur gehört zu den verteidigungsstrategischen Prioritäten der ukrainischen Streitkräfte: Der Gegner ist zahlen- und waffenmäßig überlegen und scheut keine Verluste, Angriffe auf Nachschubstrukturen helfen der Ukraine, sich dieser Übermacht zu erwehren. Hinzu kommt, dass die russischen Truppen in der Region systematisch ukrainische Städte beschießen, vorwiegend in der Oblast Charkiw. Vor allem aus diesen Gründen ist die Region Belgorod zu einer wichtigen Zielscheibe ukrainischer Gegenangriffe geworden. Satelliten und Drohnen können dabei die Koordinaten liefern, aber auch (pro-)ukrainische Partisanen vor Ort betreiben Zielaufklärung.
Einen solchen Zielaufklärer hat Viktoria Litwin zufällig kennengelernt. Für die Novaya Gazeta Europe hat sie mit ihm darüber gesprochen, wie er den Krieg dorthin zurückbringt, wo er herkommt – und wie er mit zivilen Opfern auf dem Gewissen umgeht.
Nahe der russischen Botschaft in Warschau ist ein Nawalny-Denkmal errichtet. Ich gehe mit einer Freundin hin, von dem Foto schaut uns ein lachender Alexej an. Das Wetter ist feucht, manchmal fällt Schnee und taut gleich wieder. Ich bin aus Belgorod, meine Freundin aus Moskau, sie ist Aktivistin.
„Weißt du, bei uns in Belgorod hat der Bürgermeister nach Nawalnys Verhaftung mal zu einem Journalisten gesagt, es sei nichts gegen oppositionelle Demos einzuwenden. Das kann man sich jetzt kaum noch vorstellen.“
Etwas abseits bemerke ich einen großgewachsenen Typen in Springerstiefeln und khakifarbenen Hosen. Er scheint schon eine Weile hier zu stehen und als er mich hört, dreht er sich erstaunt um.
„Du bist auch aus Belgorod?“, fragt er mich. Ich nicke.
„Hier, schau mal“, sagt er und holt etwas aus seiner Hosentasche. Es entpuppt sich als eine Flagge der „Volksrepublik Belgorod“ – so wird die Oblast Belgorod scherzhaft von Aktivisten genannt, in Anlehnung an die „Volksrepublik Donezk“. Viele meiner Bekannten in Belgorod machen Witze über die BNR, obwohl natürlich niemand von ihnen von einer „Dekolonisierung“ träumt oder Flaggen druckt.
Wir stellen uns vor. Finden schnell heraus, dass wir gemeinsame Bekannte haben. Auf einmal verkündet er: „Weißt du, fast alles, was jetzt in der Oblast Belgorod einschlägt, geht auf meine Kappe.“ Ich war bei vielen Einschlägen, von denen er erzählt, vor Ort und habe fast über alle geschrieben. Und jetzt steht ein Typ vor mir, der mir ohne Umschweife erklärt, dass das sein Verdienst ist – Brände, eingeschlagene Fenster, niedergebrannte Häuser und ihre toten Bewohner.
Ich vereinbare einen Interviewtermin.
Als wir uns treffen, bestellt er im nahegelegenen Café einen Cappuccino und ein süßes Brötchen.
„Wie bist du dazu gekommen?“
Er nippt an seinem Kaffee, beißt vom Brötchen ab und setzt zu seinem vierstündigen Bericht an.
Aktivist
„Als ich in die Politik gegangen bin – das war 2011 – war ich noch in der Schule. Ich habe einen Auftritt von Udalzow gesehen. Damals hat er auf der Bühne ein Porträt von Putin zerrissen. Ich wusste, dass Putin ein Arsch ist, weil er an der Militäroperation in Georgien beteiligt war. Ich kannte ein paar Georgier, und mir war schon damals klar, dass Russland der Besatzer ist. Und hier steht einer, der das Porträt von diesem allgegenwärtigen, allmächtigen Putin zerreißt. Das hat mich sehr beeindruckt.
Dann begann der Maidan. Ich schrieb im Gruppenchat an meine Freunde, die politisch ähnlich tickten: ‚Seht euch mal den ukrainischen Maidan an, das ist auch für Russland eine Chance.‘ Und die schrieben zurück: ‚Das sind doch alles Banderowzy, Nazis, die hassen uns Russen.‘
Einer meiner Bekannten ist sogar in den Donbas kämpfen gegangen, noch 2014. Ich war schockiert, ich dachte bis dahin, er wäre vernünftig.
Ich habe mich von diesen Leuten distanziert, bin fast ganz raus aus dem politischen Aktivismus in Russland.
Ich habe die Ukraine immer geliebt, war oft in Charkiw. Das war wie eine zweite Heimat für mich. Aber die meisten meiner Bekannten erzählten, dass die Ukraine Gas stehlen würde, dass sie kein richtiger Staat sei, sondern ein erfundenes Konstrukt, und die ukrainische Sprache nur ein verunstaltetes Russisch. So was sagten sie …“
Allmählich nähert sich seine Erzählung dem Jahr 2022 – und da bekomme ich eine filmreife Geschichte darüber zu hören, wie er anfing, mit den ukrainischen Geheimdiensten zusammenzuarbeiten.
Mein Gesprächspartner hatte unmittelbar vor dem Krieg als Taxifahrer und Verkaufsvertreter gearbeitet. Als 2022 in den Grenzgebieten Truppen zusammengezogen wurden, beschloss er, Informationen darüber zu sammeln und sie den ukrainischen Geheimdiensten zuzuspielen. Dann brauchte ein russischer Hauptmann ein Taxi nach Belgorod, der fragte wiederum, ob er mal „ein paar Jungs anrufen könne“, und so ging es los.
Mein Gesprächspartner erzählt detailliert, wie er betrunkene Militärs in die Sauna fuhr, wie er ihre Gespräche heimlich mitschrieb und einen Haufen Geheiminformationen bekam.
„Es war vor allem dieser Hauptmann, der mir diese ganzen Jungs vermittelt hat: Wenn der bei mir im Auto saß, faselte er über Gott und die Welt! Ich schaltete manchmal sogar das Diktiergerät ein, und er merkte es gar nicht …“
Für die beschafften Informationen wurde mein Gesprächspartner nach eigener Aussage von den Ukrainern bezahlt. Sein „Honorar“ – tausend Dollar – hätten sie auf russischer Seite nahe der Grenze vergraben und ihm dann die Koordinaten mitgeteilt.
„Dann habe ich alles stehen und liegen gelassen und bin weg“, setzt er seinen Bericht fort. „Ich hatte eine Abmachung mit den ukrainischen Jungs, denen ich half. Am 18. Februar hörte ich, dass in der DNR und LNR eine Massenevakuierung und Mobilmachung ausgerufen wurde. Da beschloss ich zu fliehen.“
Die Redaktion konnte die Aussagen nicht überprüfen. Unser Gesprächspartner erklärte, er habe beim Grenzübertritt fast alle Daten von seinem Handy gelöscht und könne uns deshalb weder die Chats noch die Diktieraufnahmen zeigen. Das erscheint durchaus plausibel.
Uns wurde allerdings bestätigt, dass er wirklich in Belgorod als Taxifahrer gearbeitet und in jenen Tagen mindestens ein Video aus einer Grenzsiedlung in den sozialen Netzwerken gepostet hat. Er konnte uns auch den Nachnamen eines der Militärs nennen, der damals nach Belgorod versetzt wurde – und wir haben dessen Account in den sozialen Netzwerken gefunden. Außerdem kannte er Koordinaten von Militärstützpunkten.
Wahr ist sicher auch, dass er nach dem Beginn der vollumfänglichen Invasion die Koordinaten der russischen Objekte den Ukrainern zuspielte.
Und da ist noch eine Tatsache, die ich nicht anzweifle: Mein Gesprächspartner hat ein enormes Bedürfnis, Aufmerksamkeit zu bekommen. Und ich möchte meinerseits verstehen, wie und warum man bei Beschüssen von Zivilisten mitmachen will.
Schuss und Treffer
„Am 24. Februar erklärte Putin den Krieg, sie gingen auf Charkiw los“, setzt der Spitzel fort. „Eine Flut von Videos, Mitschnitten. Und da begann dann meine Arbeit mit OSINT. Ich ermittelte anhand von Karten, zufälligen Videos und aus dem Gedächtnis, wo die Technik steht. Diese Information übermittelte ich den ukrainischen Geheimdiensten.“
Er zählt eine lange Liste von Attacken auf, an denen er beteiligt gewesen sein will. Zum Beweis zeigt er mir Chats mit seinen ukrainischen Kontaktmännern, in denen er die Koordinaten teilt, die später beschossen werden würden.
„Ich glaube, dass genau dadurch [durch den Beschuss eines Erdöllagers, der dazu führte, dass der Armee der Treibstoff ausging – NG] die Offensive auf Charkiw vereitelt wurde“, sagt er. „Dort befanden sich alle Vorräte. Ich habe ihnen [den Ukrainern – NG] alles praktisch bis auf den Meter genau beschrieben: was, wo, wie.“
Besonders ausführlich beschreibt er, wie genau er in der Oblast Belgorod Informationen sammelt, die er an die ukrainischen Sicherheitsdienste weitergibt. Er erinnert sich zum Beispiel an ein TikTok-Video, das Kolonnen von russischer Kriegstechnik an einem gut erkennbaren Ort zeigte. Dieses Video hatte ein Taxifahrer gedreht: „Er wusste nicht, dass es Leute gibt, die alle Punkte in der Region Belgorod zuordnen können.“
„… Auch eine Operation, die unmittelbar auf uns zurückgeht: Als russische Reporter in Schurawlewka-Nechotejewka filmten, konnte man sehen, wo die Russen stationiert waren. Viele russische Stellungen wurden also von russischen Journalisten und Reportern selbst verraten.“
Während er diese endlose Liste von Angriffen auf die Oblast Belgorod aufzählt, sagt er plötzlich: „Wir erstellten eine eigene ‚Schindlers Liste‘. Das war so ein Witz. Schindler hat ja alle gerettet, aber wir knallten alle ab. Das fanden wir lustig. Auf dieser Liste standen alle Erdöllager, sämtliche Umspannwerke, Fernsehmaste. Plus, wir wussten, dass der Gouverneur der Oblast Belgorod im Dorf Nishni Olschanez wohnt. Dieser Gladkow ist der letzte Vollidiot, er postet oft Videos, wie er morgens seine Joggingrunde dreht. Dann haben wir auch noch die Seiten von seiner Frau und seiner Tochter gefunden. Da beschlossen wir also, Gladkow ins Visier zu nehmen, der ist nämlich ein echter Gauleiter, ein Nazi. Und das haben wir gemacht.“
Ich bestätige: Im November 2022 wurde Nishni Olschanez tatsächlich beschossen. Zwei Menschen wurden verletzt. Gladkow war nicht dabei.
Oskol
„… Ich habe eine Operation entwickelt, um das Stahlwerk in Oskol lahmzulegen. Es ist eines der größten Werke in Russland zur Herstellung von legiertem Stahl – hochwertigem Stahl, der vom Militär verwendet wird.
Die Informationen zu diesem Werk stammen aus dem Open Source: Ein Student hat dort ein Praktikum absolviert und eine umfangreiche Hausarbeit über den Aufbau der Anlage geschrieben, das war noch vor dem Krieg. Wie das Werk funktioniert, über alle Systeme, wo sich was befindet. Es gab eine Menge solcher Fakten, die sehr hilfreich waren.
Unsere Idee war, den Strom zu kappen, damit der Stahl in den Öfen aushärtet und diese dadurch unbrauchbar werden. Die Wiederherstellung kostet sehr viel Zeit.”
Der Zielaufklärer entsperrt wieder sein Handy, das auf dem Tisch liegt, und sucht in seinen „Rapports“ – so nennt er seine Meldungen – nach diesem Plan. Er findet den richtigen Chat und zeigt ihn mir. Der Text ist auf Ukrainisch, ich überfliege ihn und verstehe, dass es wirklich um diesen Angriff geht. Flächenangaben, lauter Koordinaten, ein paar Karten mit bunten Markierungen und das Datum, an dem die Nachricht gesendet wurde: 26. Januar 2024. Der Angriff selbst wird am 23. März 2024 stattfinden. „… Außerdem fand der Militärnachrichtendienst Saboteure, die auf dem Gelände der Nebenstellen Sprengsätze auslegten. Es war ein kombinierter Angriff, sozusagen. Wir haben die Fabrik neutralisiert, aber leider keine Ahnung, für wie lange.“
„Augen“
„Sogenannte Augen werden an Ort und Stelle bezahlt, ja. Obwohl es auch Freiwillige gibt, die sich unentgeltlich engagieren. Die sagen, sie wollen nichts verdienen, sie nehmen nur die Fahrtkosten, also Benzingeld, mehr nicht. Ich bekomme momentan auch nichts bezahlt.
Alle unsere Freiwilligen wissen, für wen sie arbeiten. Alle wissen das, es ist kein Geheimnis …“
Im Laufe unseres Gesprächs bekomme ich immer mehr den Eindruck, dass die ukrainischen Geheimdienste auf dem Gebiet der Oblast Belgorod sehr breit aufgestellt sind. Das wundert mich, denn seit den ersten Kriegstagen spüren die Bewohner der Grenzregion unter ihren Bekannten und Nachbarn „Verräter“ auf. So war es sogar für Journalisten schwierig, in die grenznahen Dörfer zu gelangen: Die Einheimischen, die „schon immer hier leben und alle persönlich kennen“, melden jeden mit einer Kamera sofort den Behörden oder gleich dem FSB. Auch Flüchtlinge aus der Ukraine haben kein leichtes Spiel. Insofern ist es eigentlich sehr gefährlich, in der Oblast Belgorod als Partisan zu agieren.
Doch mein Gegenüber breitet ein ganzes Panorama einer riesigen Partisanenbewegung vor mir aus.
„Wir haben auch für Anschläge auf den FSB unterstützt, dabei wurden sogar dessen Mitarbeiter verletzt. Zum Zeitpunkt des Angriffs hatten sie gerade eine Lagebesprechung zur Oblast Belgorod: Es war Ende Mai 2023, das Russische Freiwilligenkorps und die Legion stießen in [die russische Grenzstadt – dek] Grajworon vor. Und die FSB-ler, diese Deppen, luden zu einer Besprechung direkt in ihr Büro. Wo sie dann auch ein schöner Gruß aus der Luft erreichte. Unsere Männer behielten damals das Gebäude im Visier und sahen, wie mehrere Krankenwagen von da losfuhren. Ja, und auch wenn das den FSB-lern überhaupt nicht schmeckt, es gibt unter ihnen einfach welche, die uns zuarbeiten. Manche haben eben echt Mitleid mit der Ukraine und wollen helfen.
Das mit dem 30. Dezember und dem Beschuss von Belgorod ist sowieso interessant“, setzt er fort. Er meint einen tragischen Vorfall im Jahr 2023 mit 25 Toten und über hundert Verletzten. „Unsere Partisanen hatten herausgefunden, dass über einen lokalen Flughafen S-300-Raketen in die Oblast Belgorod gebracht werden, nämlich mit regulären Flügen aus anderen Regionen. Wir wussten außerdem, dass sich die Abschussrampen direkt neben dem Flugplatz befinden, außerhalb von Belgorod nahe Schopino und Nowosadowo. Dementsprechend wollten wir auf diese Ziele feuern: Die Ukraine versuchte, mit Raketenwerfern den Flughafen und die Abschussrampen zu zerstören. Südlich von Belgorod flogen dann Panzir-Abwehrraketen (der russischen Armee) hoch, um diese Raketen abzufangen. Der Panzir ist so ein System, das nicht die Rakete selbst zerstört, sondern auf ihren Antrieb zielt. Das heißt, die Raketen fliegen über Belgorod, der Panzir zerschießt ihnen den Antrieb, und sie fallen den Belgorodern auf die Köpfe.“
Während ich mit ihm spreche, erinnere ich mich, wie ich an jenem schrecklichen 30. Dezember langgezogenes Tuten im Telefon hörte. Auf meinem Display stand „Mama“, außerdem war da ein Foto mit einem Geschoss vor dem Gebäude, in dem sie arbeitete.
Meine Mama hob ab, sie hatte an dem Tag frei. Ich kenne aber auch Leute, deren Angehörige nicht mehr abhoben.
Der Zielaufklärer spricht weiter:
„So hat sich Putins Armee hinter der eigenen Bevölkerung verschanzt. Wenn du mich fragst, ist das ein Verbrechen. Wenn die Ukrainer es auf die Zivilisten abgesehen hätten, dann hätten sie doch flächendeckend Dubowoje beschossen, da wohnen die reichsten Leute der Oblast Belgorod, und die Bevölkerungsdichte ist ziemlich hoch.“
Oblast verlassen
Am 1. Juni 2023 war ich in Schebekino und schrieb an einer Reportage. Später meldeten die Behörden der Oblast Belgorod, dass an jenem Tag 850 Geschosse auf das Stadtgebiet gefallen seien: Ich erinnere mich, wie mich ein Einheimischer ins Stadtzentrum mitnahm, wo ich zerstörte Häuser fotografierte. Es kamen drei Raketen angeflogen, dann war da ein Sausen und Pfeifen, und ein paar Sekunden später lagen Grad-Geschosse zwanzig Meter von uns entfernt verstreut. Weiter erinnere ich mich nur bruchstückhaft: Ich laufe die Straße entlang, überall Glasscherben und Mauerschutt. Am Horizont steigen Rauchsäulen in die Höhe.
Als ich den Zielaufklärer nach Schebekino frage, setzt er genauso sachlich fort: „An Schebekino haben wir lange herumgedacht, weil wir wussten, dass die russische Armee im Maschinenbauwerk ihr Kriegsgerät reparierte. Das Krasseste war aber, wie Schebekino Ende 2022 mit Granaten beschossen wurde und die Schäden eindeutig darauf hinwiesen, dass sich da die russischen Truppen selber beschossen hatten.“
Ich glaube ihm das nicht. Er überschüttet mich mit den technischen Spezifikationen der Geschütze, weiß noch auswendig, wie weit sie flogen und wie viel Zerstörungskraft jede einzelne hatte. Wir scrollen durch Fotos der Ortschaft, ich öffne ein Onlinemedium von Schebekino und folge der Timeline zurück bis zum Juni 2023.
Das erste Bild, das uns unterkommt, ist eine Rakete, die vor dem Gerichtsgebäude im Asphalt steckt. Er öffnet eine Karten-App und findet die Stelle sofort. Der Schwanz der Rakete zeigt eindeutig in Richtung Ukraine. Doch der Informant besteht darauf, dass alles auf einen Angriff vonseiten Russlands hinweise – etwa, wie die Erde rund um die Einschlagstelle weggeflogen sei. Er versucht, mich mithilfe eines Zuckerpäckchens zu überzeugen. Er nimmt es und beschreibt damit eine Flugbahn durch die Luft. Als die improvisierte Rakete auf dem Tablett aufschlägt, schleudert es den Zucker über die Tischplatte und das Tablett. Enthusiastisch demonstriert mein Gesprächspartner, wie der Zucker verstreut liegt – genau wie die Erde rund um die Rakete in Schebekino. Seiner Meinung nach ist das ein stichhaltiger Beweis dafür, dass Russland im Sommer 2023 Schebekino selbst beschossen hat:
„Wir waren natürlich geschockt, das war regelrechter Terror vonseiten Russlands gegen die Bewohner von Schebekino!“, sagt er. „Soweit ich weiß, ist die ukrainische Armee ganz streng, wenn es um zivile Opfer geht, es gibt einen Befehl, die Bevölkerung in Ruhe zu lassen.
Ansonsten glaube ich, Belgorod hat noch so einiges vor sich. Schindlers Liste wird weiter abgearbeitet. Belgorod ist beinahe mehr Ukraine als Russland. Vom Verhalten her, der Mentalität, ich habe ja den direkten Vergleich. Ich kenne die Belgoroder Mentalität und die Mentalität im Norden, in Twer, Orjol, Kaluga – die sind ganz anders als wir. Faule Säcke, rühren freiwillig keinen Finger.“
Am Ende unseres Gesprächs scrollt er einfach nur noch durch die Fotos auf seinem Handy und kommentiert immer mal wieder, manchmal lachend. Ich stelle ihm kaum mehr Fragen.
„Praktisch bei allem, was auf dem Gebiet der Oblast Belgorod zerstört wird, haben wir irgendwo die Finger drin. Ich würde sowieso allen anständigen Belgorodern empfehlen wegzugehen, auch die Oblast zu verlassen. Sie sollten lieber wegziehen, wenn sie eine Möglichkeit haben. Weil es weiterhin Angriffe geben wird und solange sich die russischen Soldaten hinter den Belgorodern verstecken, kann man nichts machen. Auch wenn wir zu den Beschüssen beitragen, auch wenn es die Gegend trifft, in der wir zu Hause sind, wir behalten trotzdem einen kühlen, klaren Kopf – wir wissen, dass Putin schuld ist. Die russische Gesellschaft, die Putin unterstützt, die russische Armee. Die Ukraine kann nichts dafür.
Klar haben viele ihre Häuser und Wohnungen verloren, ihre vertraute Umgebung, und es gibt Todesopfer, Kinder und Erwachsene. Das versteht sich von selbst. Das ist schlimm.“
Wieder habe ich ein Bild aus einer meiner Reportagen vor Augen. Schebekino, auch wieder 2023. Der kleine Sohn meiner Hauptfigur, der Splitter von Geschossen sammelt, die rund um sein Haus explodiert sind, steigt mit seiner Oma und einer Plastiktasche voller Sachen – alles, was er in der Eile zusammenpacken konnte – in ein Auto. Der Junge reist mit mir ab, während seine Eltern im Bombenhagel in Schebekino bleiben – sie haben einfach kein Geld, um ihr Kind zu begleiten. Zum Abschied sagt die Mutter leise zu mir: „Stell dir vor, du kommst an, und da ist kein Krieg.“
Wieder reißt mich der Zielaufklärer aus meinen Gedanken:
„… Mein Haus wurde 2022 zerstört. Ich weiß, wie es passiert ist, aber es bringt nichts, darüber zu reden. Nur eines will ich sagen: Für die Zerstörung der grenznahen Dörfer in der Oblast Belgorod ist vor allem die russische Armee verantwortlich. Sie hat sich immer hinter einem Dorf positioniert und von da aus ukrainisches Territorium beschossen. Die Ukrainer haben zurückgefeuert. Manchmal mit Grad-Raketen. Und so wurden unsere Dörfer zerstört. Na ja, damals hatten die Behörden der RF diese Gegend bereits für unbewohnbar erklärt. Aber die Einheimischen …
Widerstand leisten
Wie viele von den zivilen Todesopfern in Belgorod ich persönlich gekannt habe? Ungefähr zehn mindestens. Alle waren für diesen Krieg, leider. Nur eine der Getöteten war dagegen. Kürzlich kam bei einem Beschuss das Kind eines Bekannten ums Leben. Dieser Bekannte war für den Krieg. War wohl Karma.
Ich weiß, auch wenn ich dieses Interview anonym gebe, können sie mich nach solchen Äußerungen ausfindig machen und umbringen. Aber die Menschen sollen wissen, dass der Kampf lebt, dass das ein heiliger Krieg ist. Natürlich geht es mir nicht darum, berühmt zu sein und angehimmelt zu werden, sondern darum, dass die Menschen begreifen, dass man immer, in jeder Situation Widerstand leisten kann. Und auch muss, weil diese Welt auf unseren Schultern lastet, auf den Schultern jener, die sich wehren und kämpfen.“
Mein Gesprächspartner begleitet mich zum Bahnhof. Auf dem Weg frage ich ihn, ob er keine Angst hat. Russen, die der ukrainischen Armee helfen, werden manchmal sogar in Europa ermordet.
„Ich glaub nicht, dass sie mich umlegen, guck mal meine Lebenslinie.“ Er fährt mit einer Fingerspitze quer über seine Handfläche.
Bis zu 600.000 Belarussen haben ihre Heimat seit 2020 verlassen, aus Angst vor Verfolgung und Repression. Sie mussten Eltern und Großeltern, Verwandte und Freunde zurücklassen, genau wie ihre Wohnungen und ihr altes Leben. Wie leben die Belarussen in der Zwangsemigration, was denken sie, was bereitet ihnen Sorgen und worauf hoffen sie? Darüber schreibt der Autor Siarhiej Dubaviec in einem Brief an seinen Freund in Minsk, belarussisch ursprünglich Mensk, für das Online-Portal Svaboda.
Gerade noch habe ich vom Winter geschrieben, der uns doch nicht betrogen hat und zurückgekehrt ist – da ist nun Anfang März schon wahrhaftiger Frühling. In meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nicht erlebt. Die globale Erwärmung ist Wirklichkeit. Aber niemand spricht wirklich darüber, niemand schlägt Alarm, dass die Gletscher schmelzen, dass im Marianengraben, wo die Erdkruste am dünnsten ist, der Ozeanboden bebt und die Lava jeden Moment hervorbrechen könnte, was wiederum neue Erdbeben, Tsunamis und Hochwasser nicht nur an extremen Punkten der Erde hervorrufen würde, sondern überall, auch in unseren Breiten.
Unser Nachbar in dem Haus, in dem wir in Vilnius wohnen, hat berechnet, dass auch wir überschwemmt werden, wenn „alles losbricht“. Es sieht zwar auf den ersten Blick so aus, als stände das Haus auf einem Hügel, aber Vilnius selbst liegt in einer Senke. Unser Haus daheim in einem Vorort von Mensk, das wir verlassen mussten, liegt hingegen auf einer Anhöhe, es ist sicher. Doch wir können nicht dorthin zurück, weil wir „Extremisten“ sind. Das ist doch eine Metapher, die es mit Ray Bradbury und seinem Schmetterlingseffekt aufnehmen kann: Da beeinflusst ein „rebellischer” Kühlschrankmagnet das menschliche Schicksal plötzlich stärker als eine globale Katastrophe und das Leben insgesamt.
Im Internet tauschen sich die belarussischen Emigranten darüber aus, was sie machen würden, wenn es in Belarus plötzlich wieder normal und sicher wäre. Natürlich würden sie die Gräber ihrer Verwandten besuchen, an den einstigen Lieblingsorten spazieren gehen, eine Sauftour mit Freunden auf den alten Routen veranstalten – und dann wieder in ihr wahres Leben im Ausland zurückkehren. Ein normales und sicheres Belarus ist in keiner Form in Sicht. Es scheint Hunderte verschiedene Meinungen zu geben, doch niemand will sich wirklich eine Rückkehr nach Belarus vorstellen, und erst recht kaum jemand plant sie schon.
Buchstäblich vor ein paar Tagen erschien, von mir herausgegeben, eine Anthologie über Vilnius in der belarussischen Lyrik des 20. Jahrhunderts. Eine solide Auswahl von Kolas, Kupala, Bahdanowitsch, Shylka, Arsennewa, Tank, Pantschanka, Karatkewitsch, Rasanau, Minkin – die gesamte belarussische Literatur also, voller Liebe für Vilnius, für die Poesie, für das Leben.
Wenn wir das Buch vorstellen, taucht unweigerlich die Frage auf: Warum gibt es ein solches Buch nicht über Mensk? Ich sage dann, dass es unmöglich ist, eine so umfängliche Anthologie über Mensk zusammenzustellen. Weil mit unserem Mensk etwas nicht stimmt. Mensk ist, wie auch unsere Sprache, eine Verwundete. Im Jahr 1939 ersetzten die Bolschewiki den Namen Mensk in der belarussischen Sprache durch Minsk (die polnische Variante, die auch im Russischen so lautet.) Als 1967 zum 900-jährigen Stadtjubiläum ein Buch herausgegeben wurde (kein Lyrikband, aber es waren auch Gedichte enthalten), gab man ihm den Titel Horad i hódy (dt. Stadt und Jahre), mit einem Fehler im Belarussischen. Korrekt wäre Horad i hadý, aber dann würden Russen Horad i hády (dt. Stadt und Scheusale) lesen, was sehr hässlich wäre. Deshalb wurden die Regeln der belarussischen Sprache gebrochen und der Plural „hody“ gebildet. Kurz, sowohl die belarussische Sprache als auch die Stadt Minsk/Mensk wurden bis weit in die Zukunft erniedrigt – als hätte man ihr eine Invalidität diagnostiziert.
Diese Zukunft ist nun da. Ein Gedicht über Mensk, geschrieben in Mensk, gefunden im Internet, sieht heute so aus (den Buchstaben im Titel hat der Autor bewusst weggelassen, um den Gegensatz „Minsk-Mensk“ nicht zu betonen):
Das ist kein Liebesgedicht. Es geht um Angst, Krieg und Tod. Der Dichter spricht aufrichtig. Wahrscheinlich ist das die allgemeine Stimmung, bei denen, die gegangen sind, denen, die geblieben sind. Deshalb gibt es auch keine echte Rückkehr, selbst nicht einmal in Gedanken.
Eine Freundin, die in Vilnius lebt, aber ab und zu nach Mensk fährt, sagt, dass es unser Mensk nicht mehr gibt. Auch die letzten Reste dieses urbanen Geistes, dieser belarussischen Dimension der Stadt, die wir verließen, sind verflogen …
bedeck dieses gesicht
mit einem weißen tuch
Übrigens wird auch in Litauen nicht sonderlich viel über den Klimawandel gesprochen. Dafür spricht man über einen möglichen Angriff auf Litauen durch Russland und Belarus. Zum ersten Mal in der Geschichte hören wir diese Wortkombination: „Belarus – Aggressor“. Wir wissen, es ist ein Oxymoron wie „heißer Schnee“, unser Belarus kann einfach kein Aggressor sein. Aber nachdem sie sich 30 Jahre lang Lukaschenkas Drohungen anhören mussten, verstehen das die Litauer möglicherweise nicht.
Ich weiß sogar noch, wie alles begann. Irgendwann Mitte der 1990er Jahre drohte Lukaschenka, die Gülle aus den Hrodnaer Schweinemastanlagen über den Njoman nach Litauen zu leiten. Damals dachte ich: Woher dieser mangelnde Respekt vor den Nachbarn, mitten in Friedenszeiten? Die Schmähungen und Drohungen in Richtung Litauen rissen in den folgenden 30 Jahren nicht ab. Wir wussten, dass es nicht unsere belarussische Respektlosigkeit, sondern nur die des nominellen belarussischen Präsidenten war, tatsächlich eines Moskauer Protegés. Und vor allem war es auch Respektlosigkeit uns, den Belarussen, gegenüber, denn unser Leben war nun nicht mehr friedlich zu nennen. Doch wie sollte das jemand in Litauen verstehen – ob nun Politiker oder ganz normaler Mensch? Zwei Völker lebten über Jahrhunderte friedlich zusammen, und dann wird Belarus plötzlich Aggressor. Gleichzeitig ist das echte Belarus völlig erstarrt oder im Gefängnis …
Bitte entschuldige meine schweren Gedanken, aber so ist es nunmal. Wenn wir Gedanken schwer nennen, gestehen wir damit doch auch ein, dass es leichte Gedanken geben kann.
Ich freue mich auf deinen Brief, voller leichter Gedanken.