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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Debattenschau № 88: Was haben die Proteste in Belarus gebracht?

    Debattenschau № 88: Was haben die Proteste in Belarus gebracht?

    Drei Jahre nach den historischen Protesten von 2020 hat sich Ernüchterung in der belarussischen Opposition und Gesellschaft breitgemacht. Alexander Lukaschenko hält sich nach wie vor an der Macht, mit Repressionen und Gewalt, zudem hat er sich in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verstrickt, Hunderttausende haben das Land verlassen. 

    Zum Jahrestag des Beginns der Proteste beschäftigen sich Journalisten, Politiker und Intellektuelle in Artikeln und Beiträgen mit dem Erbe von 2020, mit den Auswirkungen und mit Fragen der Zukunft. In einer Debattenschau bringen wir eine Auswahl an Stimmen.


    Tichanowskaja/YouTube: Der Beginn eines neuen Belarus

    Die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja ermutigt die Belarussen, trotz Repressionen, Exil und Leid den Glauben nicht zu verlieren.

    [bilingbox]Ich verstehe: Es ist schwer. Mit jeder neuen Herausforderung wird es schwieriger, den Weg unbeirrt weiterzugehen.

    Doch die Entscheidung liegt ganz bei uns: Wir können das, was in den drei Jahren geleistet wurde, entwerten und von uns selbst und unserer Nation enttäuscht sein. Oder aber wir bewahren all diese wichtigen Momente in unserer Erinnerung und halten diejenigen in Ehren, die wir auf diesem Weg verloren haben. Und gehen weiterhin vorwärts, mit Liebe zu allen, die mit uns gehen, mit Glauben an jene, die nach uns kommen werden …

    Der 9. August 2020 ist kein einfaches Datum für die Belarussen. Ist es nicht so? Dieser Tag hätte der Beginn eines neuen Belarus sein können. Eines Belarus, in dem es niemals politische Häftlinge und Verfolgung Andersdenkender geben wird. Eines Belarus, in dem ein Gespräch auf Belarussisch ein Grund für Begeisterung ist, nicht für Gewalt. Eines Belarus, in das es die Leute zieht, anstatt dass sie es so schnell wie möglich verlassen wollen.~~~Я разумею: гэта цяжка. І з кожным новым выклікам усё складаней захоўваць цвёрдасць крокаў.

    Але гэта толькі наш выбар: абясцэніць зробленае за тры гады, расчаравацца ў сабе і ў сваёй нацыі. Ці захаваць у памяці ўсе важныя моманты, зберагчы ў сэрцы тых, каго мы страцілі на гэтым шляху. І працягнуць ісці наперад з любоўю да тых, хто ідзе побач, і з верай у тых, хто будзе пасля нас…

    9 жніўня 2020 года – ня простая дата для кожнага беларуса. Ці не так? Гэты дзень мог бы стать пачаткам новай Беларусі. Беларусі, у якой ніколі не будзе палітзняволеных і пераследу за іншадумства. Беларусі, дзе размова на роднай мове – нагода для захаплення, а не гвалту. Беларусі, куды імкнуцца патрапіць, а не адкуль спяшаюцца з’ехаць.[/bilingbox]
    erschienen am 9. August 2023, Original

    Plan B.: Die Tragödie des erzwungenen Exils

    In einem Leitartikel weist die Redaktion des Online-Mediums Plan B. auf die dramatischen Folgen der Emigration seit 2020 hin.

    [bilingbox]Alles geht weiter. Belarussen werden in Belarus weiterhin verhaftet, Belarussen werden Belarus weiterhin verlassen. In den Jahren 2021–2022 haben zwischen 143.600 und 170.900 Menschen Belarus in Richtung EU verlassen. Die minimale Zahl entspricht der Bevölkerung des Rajons Orscha, die maximale Zahl der Bevölkerung der Stadt Baranawitschy, der achtgrößten Stadt in Belarus, so steht es in einer Studie des Forschungsinstituts BEROC.

    Das Ausmaß der Tragödie für die Zukunft des Landes hat also die Größe von Baranawitschy. Und das ist noch nicht das Ende. Die Ironie liegt darin, dass dieselbe Regierung, die Belarussen verhaftet und verjagt, den Übrigen etwas vorjammert, dass die Nation der Belarussen aussterben würde und es Zeit sei, Kinder zu gebären. Aber wie soll man gebären, wenn man gleichzeitig von denselben Belarussen bekämpft wird, mit der Anklageschrift in der Hand? Ergebnis: ein Drittel Rückgang [der Geburten] in den letzten sieben Jahren. 

    Ein großer Teil derer, die in die Emigration gezwungen wurden, will ins Land zurückkehren. Niemand von ihnen hat sich diese Zukunft ausgesucht, niemand hatte geplant, sich ein neues Leben in der Emigration aufzubauen, viele leben auch nicht richtig, sondern existieren nur, haben das Leben auf Pause gestellt.~~~Все продолжается. Беларусов в Беларуси продолжают сажать, беларусы из Беларуси продолжают уезжать. За 2021-2022 годы из Беларуси в ЕС переехало от 143,6 тысячи до 170,9 тысячи человек. Нижний предел уехавших сопоставим с населением Оршанского района, а верхний — с количеством жителей города Барановичи, восьмым по величине в Беларуси, говорится в исследовании BEROC «Миграция из Беларуси в страны ЕС в 2021 и 2022 годах».

    Масштаб трагедии для будущего страны – размером с целые Барановичи. И ведь это не предел. Ирония в том, что та самая власть, сажающая и выталкивающая беларусов из страны, сетует оставшимся, что беларусы, как нация, вымирают – пора рожать. Но как рожать, когда против тебя воюют такие же беларусы только с постановлением об обвинении в руках? Итог: минус треть за семь лет.

    Вернуться в страну хотят многие из вынужденно уехавших. Никто из этих людей не выбирал себе такое будущее, никто не планировал строить жизнь в эмиграции, многие так и не живут в ней, а просто существуют, поставив жизнь на долгую паузу.[/bilingbox]

    erschienen am 9. August 2023, Original

    Gazeta.by: „Die Saat ist aufgegangen“

    Der Journalist Wassil Weras sieht die Proteste als Fortführung der belarussischen Unabhängigkeitsbewegung, die mit der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik 1918 begonnen hat.

    [bilingbox]In der aktuellen Situation ermöglichen es die Proteste von 2020, eine Trennlinie zwischen Regime und Gesellschaft zu ziehen. Hätte es die Proteste nicht gegeben, würde Belarus heute als vollwertiger Ko-Aggressor wahrgenommen. Mehr noch, de facto als Region Russlands, mit allen sich daraus ergebenden kurz- und langfristigen Folgen. 

    Durch den belarussischen Widerstand betrachten uns nun viele getrennt von der Gruppe, die das Land regiert (bei allen möglichen Vorbehalten). Und das ist der Faktor, der perspektivisch gesehen eine Schlüsselrolle für die Zukunft unserer Heimat spielen kann. 

    Das Jahr 2020 war für Belarus eine logische Fortführung von 1918 und 1991. Die Saat ist aufgegangen. Um die Früchte zu ernten, müssen noch viele Prüfungen bestanden werden. Dieser August und alles, was nach ihm geschieht – das ist der furchtbare, äußerst schmerzhafte, aber wohl unausweichliche und wichtigste Schritt auf dem Weg in die Freiheit.~~~Протесты трехлетней давности в сложившейся ситуации позволили провести разграничительную черту: между режимом и обществом. Не было бы их, Беларусь воспринималась бы как полноценный соагрессор. Более того, как де-факто регион России. Со всеми вытекающими отсюда краткосрочными и долгосрочными последствиями.

    Но благодаря беларусскому Сопротивлению теперь нас многие рассматривают отдельно от правящей страной группировки (при всех возможных оговорках). И это тот фактор, который в перспективе способен сыграть ключевую роль при определении будущего Родины.

    2020-й для Беларуси – логическое продолжение 1918-го и 1991-го. Семена дали всходы. Чтобы собрать урожай, предстоит еще через многое пройти. Тот август и все, что происходит после него – ужасный, крайне болезненный, но, видимо, неизбежный и важнейший этап на пути к свободе.[/bilingbox]

    erschienen am 9. August 2023, Original

    Radio Svaboda: Es droht eine stärkere Polarisierung

    Der Politologe Waleri Karbalewitsch meint, dass die politische Ausrichtung der Opposition dazu führen wird, dass sich die belarussische Gesellschaft noch tiefer spaltet.

    [bilingbox]Niemals zuvor war das Schicksal von Belarus so stark von äußeren Ereignissen abhängig. Die Eigenständigkeit des Landes im internationalen Kontext hat seit Beginn des Krieges stark abgenommen. Die Isolation wurde auch für den unpolitischen Bürger sichtbar (die Grenze zur EU ist halb geschlossen, Flugzeuge fliegen nicht mehr dorthin, die Sportler nehmen nicht an der Olympiade teil, keine belarussische Künstler beim Eurovision Song Contest usw.). Auch die Stationierung von Atomwaffen in Belarus hat nicht zu größerem politischen Gewicht geführt – eher im Gegenteil. 

    Die Staatsmacht unternimmt massive Versuche, die Herausbildung einer neuen (nichtsowjetischen) belarussischen Identität zu verhindern, indem sie diese als nazistisch bezeichnet. Der neuen Generation, die im unabhängigen Belarus aufgewachsen und sozialisiert ist, zwingen sie die Ideologie des Westrussentums auf. Die Erklärung des Vereinigten Übergangskabinetts, den Kurs in Richtung EU einzuschlagen, bedeutet eine Vertiefung der geopolitischen Spaltung in der belarussischen Gesellschaft.~~~Ніколі раней лёс Беларусі так істотна не залежаў ад вонкавых падзей. Міжнародная суб’ектнасьць краіны з пачаткам вайны моцна зьменшылася. Яе ізаляцыя стала відавочнай для апалітычнага абывацеля (мяжа з Эўропай напаўзачыненая, самалёты туды ня лётаюць, спартоўцы ў Алімпіядзе ня ўдзельнічаюць, беларускія выканаўцы на Эўрабачаньні не сьпяваюць, і інш.). І зьяўленьне ў Беларусі ядзернай зброі не прывяло да росту палітычнай вагі краіны — хутчэй, наадварот.

    Улады робяць масіраваныя спробы спыніць фармаваньне новай (несавецкай) беларускай ідэнтычнасьці, абвяшчаючы яе нацысцкай. Новаму пакаленьню, якое вырасла і сацыялізавалася ў незалежнай Беларусі, навязваюць ідэалёгію заходнерусізму. Абвяшчэньне Аб’яднаным пераходным кабінэтам курсу на эўрапейскі выбар азначае паглыбленьне геапалітычнага расколу беларускага грамадзтва.[/bilingbox]

    erschienen am 9. August 2023, Original 

    Zerkalo: „Enttäuschung und Angst dominieren“

    Das System Lukaschenko habe immer noch Angst vor dem Widerstand der Belarussen, der 2020 zu den Protesten führte, meint der Soziologe Gennadi Korschunow.

    [bilingbox]Die Konfrontation zwischen Staat und Gesellschaft bleibt bestehen. Die Regierung hat nichts unternommen, um diesen Konflikt auf konstruktive Weise zu lösen. Die Machthaber setzten, setzen und werden auch weiterhin nur auf gewaltsame Methoden setzen.

    Michail Bedunkewitsch, stellvertretender Chef des GUBOPiK, sagte kürzlich in einem Interview, dass die Repressionen deshalb fortgesetzt werden, weil ansonsten der Widerstand wieder beginnt und sich die Belarussen wieder etwas ausdenken. Dieser These Bedunkewitschs stimme ich zu. Das Protestpotential ist aktuell erstickt, Enttäuschung und Angst dominieren, es fehlt eine Idee, was getan werden kann. Sobald sich aber eine Gelegenheit ergibt, wird sich die ganze Unzufriedenheit mit dem, was geschieht, entladen.~~~Противостояние государства и общества, которое было, осталось. На системном уровне власти не сделали ничего, чтобы оно разрешилось позитивным путем. Они использовали, используют и будут использовать только насильственные методы.

    Недавно было интервью с [Михаилом] Бедункевичем, заместителем руководителя ГУБОПиК, о том, что репрессии будут продолжаться потому, что если их остановить, то начнется противодействие и белорусы опять что-то задумают. С этим тезисом Бедункевича я согласен. Протестный потенциал сейчас задушен, есть разочарование, страх, отсутствует понимание того, что можно сделать, но как только будет возможность, все недовольство тем, что происходит, будет выплеснуто.[/bilingbox]

    erschienen am 9. August 2023, Original

    Pozirk: „Tichanowskaja reagierte 2020 zu spät“

    Der Journalist Alexander Klaskowski glaubt, dass die Proteste nicht zum Machtwechsel führten, weil die neue Opposition keinen klaren Plan hatte.

    [bilingbox]Ja, Tichanowskaja ist auf beeindruckende Weise zum Symbol des Kampfes für einen Wandel geworden. Doch weder vor dem 9. August, noch nach den Wahlen, als hunderttausende Belarussen auf die Straßen strömten, hatten die Ehefrau des inhaftierten Bloggers und ihr Team einen klaren Plan, wie man mit der politischen Energie der erwachten Massen einen Machtwechsel herbeiführen könne.

    Dieses Team hinkte auch danach mehrfach dem Lauf der Dinge hinterher und reagierte zu spät. Als beispielsweise im Oktober 2020 in Tichanowskajas Namen den Machthabern ein Ultimatum gestellt wurde, und damit ein landesweiter Streik ausgelöst werden sollte, befahl Lukaschenko, alle darin verwickelten Unternehmen „zurechtzustutzen“. Schon lange im Ausland schien Tichanowskajas Stab in der Illusion zu leben, dass die Proteste reanimiert werden könnten. 

    Hätte im August 2020 ein totaler Streik das Land lahmgelegt, hätte Lukaschenko sich vielleicht nicht halten können.~~~Да, в итоге Тихановская феноменальным образом стала символом борьбы за перемены. Но никакого внятного плана, что делать с политической энергией разбуженных масс, как направить ее на смену власти, ни перед 9 августа, ни после президентских выборов, когда сотни тысяч белорусов вывалили на улицы, у жены посаженного в тюрьму блогера и ее команды не было.

    Эта команда потом еще не раз отставала от хода событий, опаздывала. Например, когда от имени Тихановской в октябре 2020-го властям выдвинули ультиматум, попытались инспирировать общенациональную забастовку, после чего Лукашенко велел "вырезать" засветившийся в ней бизнес. Долгое время уже за рубежом штаб Тихановской жил, кажется, иллюзией, что можно реанимировать протесты.

    Вот если бы в августе 2020-го тотальная стачка парализовала страну, то Лукашенко мог бы и не удержаться.[/bilingbox]

    erschienen am 9. August 2023, Original


    Übersetzungen: Tina Wünschmann

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  • Zufluchtsort Tbilissi: Junge Russen im Exil

    Zufluchtsort Tbilissi: Junge Russen im Exil

    Für den Kreml sind sie Verräter, doch auch im Exil schlägt ihnen nicht selten Ablehnung entgegen: Laut Schätzungen haben seit dem 24. Februar 2022 bis zu einer Million Menschen Russland verlassen. Aus Angst vor Repressionen oder davor, in den Krieg geschickt zu werden, aus Protest gegen den Kreml, aus Scham oder Ekel – die Exilgründe sind zahlreich, ebenso die Zielländer. Viele hat es in die EU oder etwa nach Serbien verschlagen, andere in die südkaukasischen Länder oder in die Türkei. Die zentralasiatischen Staaten sind beliebt, einige fliegen nach Argentinien: Dort geborene Kinder erhalten automatisch die argentinische Staatsbürgerschaft, ihre Eltern können dann ebenfalls recht unkompliziert Argentinier werden. 

    Manche Exilanten empfinden, dass „Russen die neuen Deutschen“ sind: In ihrer neuen Heimat fühlen sie sich nicht willkommen, die Diskussion, ob es „gute Russen“ gibt, ist wohl ähnlich heftig, wie die Diskussionen über „gute Deutsche“ nach dem Zweiten Weltkrieg – Stichwort kollektive Verantwortung. Andere berichten etwa, dass einige Einheimische in Zentralasien nun den Spieß umdrehen – und sie genauso schlecht behandeln wie Russen die Gastarbaitery aus Zentralasien.

    Schon lange vor dem Krieg haben hunderttausende Russen mit den Füßen abgestimmt. Mit der sukzessiven Verschärfung der Repressionen seit der Zerschlagung der Bolotnaja-Bewegung 2011–2012 haben vor allem junge und gebildete Menschen Russland verlassen. Seit dem Beginn der russischen Großinvasion ist weiterer Braindrain zu beobachten – was laut Analysten einerseits Wirtschaftswachstum in die Exilländer bringt, andererseits aber auch Preissteigerungen. Zunehmend werden Russen im Exil als Gentrifizierer wahrgenommen. 

    Das Bild, das dabei gezeichnet wird, ist jedoch einseitig: Nicht nur junge ITler mit sechsstelligen Jahreseinkünften haben Russland den Rücken gekehrt, auch viele Kreative, Medienschaffende und zivilgesellschaftliche Akteure sind ins Exil gegangen. Der Fotograf Maximilian Gödecke und der Journalist Fabian Schäfer haben fünf von ihnen in der georgischen Hauptstadt Tbilissi aufgesucht. Aus dem Exil heraus bilden sie eine aktive Zivilgesellschaft, die sich ganz unterschiedlich gegen den Krieg und für ihre neue Heimat engagiert. 


    Agatha, 22, schaut auf das nebelige Tbilissi. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB bedrohte und observierte sie, weil ihr Vater in der Opposition engagiert ist. „Am 24. Februar hat mich mein Vater angerufen. Es war sofort klar, dass wir nicht in Moskau bleiben können.“ Die Modedesign-Studentin engagiert sich in einer georgischen Ehrenamts-Gruppe auf Telegram. / Foto © Maximilian Gödecke
    Agatha sitzt auf dem Balkon und raucht mit ihrer Mitbewohnerin eine Zigarette. / Foto © Maximilian Gödecke
    Ksenija, 35, arbeitete zuletzt für eine Organisation, die russische Beamte bei Fragen der Digitalisierung berät und schult. „Als ich auf Telegram vom Kriegsbeginn gelesen habe, war ich gelähmt. Ich wusste, dass jetzt alles anders wird.“ Seit Herbst engagiert sie sich bei Motskhaleba – eine NGO, die ukrainischen Geflüchteten in Georgien hilft. „In Russland war ich bei einer NGO aktiv, die politische Häftlinge unterstützt. Ich verachte die russische Propaganda – aber was kann ich tun? Menschen helfen, die Hilfe brauchen.“ / Foto © Maximilian Gödecke
    Der Kasache Artur, 23, kam für seine Ausbildung als Koch nach Jekaterinburg. Dort eröffnete er eine vegane Bäckerei, die anarchisch organisiert war und als Treffpunkt von Regimekritikern bekannt war. „Eines Tages rief mich die Polizei an, die mich für einen Extremisten hält. Ich würde aus Russland ausgewiesen. Wenn ich das Land nicht freiwillig verlasse, würde ich in Abschiebehaft kommen.“ In Tbilissi gründete er mit Mitstreitern das vegane Restaurant Shpana, in dem es sogar eine vegane Version des klassischen georgischen überbackenen Käsebrotes Chatschapuri gibt. „Ich kann mir ein Leben ohne Aktivismus nicht vorstellen. Wir wollen die vegane Küche in Georgien bekannter machen und einen Raum für linke Gruppen bieten. Alle Trinkgelder spenden wir an die Ukraine.“ / Foto © Maximilian Gödecke
    Das vegane Restaurant Shpana, in dem es sogar eine vegane Version des klassischen georgischen überbackenen Käsebrotes Chatschapuri gibt. / Foto © Maximilian Gödecke
    Links: Portrait von Artur in seiner Wohnung. / Rechts: Die Theatermacherin Polina stellt die Figuren in ihrem kleinen Theater zurecht. / Foto © Maximilian Gödecke
    Polina, 29, kam mit besonderem Gepäck aus Sankt Petersburg nach Tbilissi: Ein kleines Figurentheater. Das brachte sie auch zu ukrainischen Waisenkindern aus Cherson, die aus der Ukraine geflohen sind. „Am Anfang hatte ich total Angst, weil ich nicht wusste, was mich erwartet. Ich kannte den krassen Hintergrund der Kinder, dass ich aus Russland bin, war gar kein Problem. Wir haben ein kleines Stück mit den Puppen kreiert. Alles war voller Liebe und Hoffnung und Verspieltheit.“ / Foto © Maximilian Gödecke
    Polina zieht die Gardine zu. / Foto © Maximilian Gödecke
    Der Journalist Danil, 45, hat es seit dem Krieg nicht mehr in Sankt Petersburg ausgehalten – auch wenn er seine Frau und seine Kinder dafür zurücklassen musste. „Ich wollte sofort raus aus Russland.“ In Tbilissi arbeitet er für Paper Kartuli, ein lokales zweisprachiges Online-Magazin. „Georgier:innen und Russ:innen haben oft wenig miteinander zu tun. Wir wollen sie aus ihren Bubbles herausholen.“ Im Keller der Redaktion hat er zusätzlich im Januar eine Bar eröffnet, in der sich vor allem oppositionelle Journalistеn aus Russland austauschen. / Foto © Maximilian Gödecke

    Fotografie: Maximilian Gödecke
    Text: Fabian Schäfer 
    Bildredaktion: Andy Heller
    Veröffentlicht am: 10.08.2023

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  • Lukaschenko und Wagner: Wer hat das Sagen?

    Lukaschenko und Wagner: Wer hat das Sagen?

    Die Spannungen zwischen Polen und der belarussischen Führung steigen, seitdem Alexander Lukaschenko Wagner-Söldnern in Belarus Unterschlupf gewährt hat. Was die polnische Regierung als Bedrohung empfindet. Zudem kam es kürzlich zu einer Verletzung des polnischen Luftraums durch belarussische Militärhubschrauber. Und seit Herbst 2021 schwelt ein massiver Konflikt aufgrund von Migranten an der polnisch-belarussischen Grenze.

    Polen hat mittlerweile seine Truppenpräsenz an der Grenze zu Belarus verstärkt, was wiederum Wladimir Putin zu Drohungen veranlasste. Und zu einer Aussage, die in Polen als Affront aufgefasst wurde. Der russische Präsident meinte, dass die Polen nicht vergessen sollten, dass der Zugewinn vormals deutscher Gebiete im Westen infolge des Zweiten Weltkrieges „ein Geschenk Stalins“ gewesen sei. Dabei unterschlug Putin den Hitler-Stalin-Pakt, in dessen Folge die Sowjetunion 1939 die östlichen Gebiete der Zweiten Polnischen Republik besetzte.

    Ist es wirklich denkbar, dass die Wagner-Truppen gegen ein NATO-Mitglied wie Polen eingesetzt werden könnten? Was steckt hinter den Drohungen und Aussagen Lukaschenkos, die wie gewohnt paradox sind? Alexander Klaskowski geht diesen Fragen in seiner Analyse für das belarussische Online-Medium Pozirk auf den Grund und sucht dabei nach einer stringenten Logik in den jüngsten Entwicklungen.


    Bei einem Treffen mit Wladimir Putin am 23. Juli in Sankt Petersburg erklärte Lukaschenko, die nach Belarus verlegten Wagner-Einheiten würden ihn „langsam belasten“ und angeblich einen „Ausflug nach Warschau und Rzeszów“ planen / Foto © president.gov.by
    Bei einem Treffen mit Wladimir Putin am 23. Juli in Sankt Petersburg erklärte Lukaschenko, die nach Belarus verlegten Wagner-Einheiten würden ihn „langsam belasten“ und angeblich einen „Ausflug nach Warschau und Rzeszów“ planen / Foto © president.gov.by

    Nachdem Alexander Lukaschenko Polen mit der Wagner-Gruppe gedroht hatte, ruderte er nun zurück. Er betonte, Prigoshins Leute seien in Belarus unter Kontrolle, und den Suwałki-Korridor hätte Minsk „seit tausend Jahren nicht gebraucht“.

    Diese neuen Erkenntnisse verlautbarte er am 1. August anlässlich eines Treffens mit Bewohnern des Agrostädtchens Beloweshski im Rajon Kamenez. Lukaschenko hielt sich dennoch nicht mit Drohgebärden zurück – die Rede war sowohl von den Wagner-Truppen als auch von Atomwaffen und sogar dem „friedlichen Atom“, einer möglichen Beschädigung des Belarussischen Kernkraftwerks (BelAES).

    Wird der belarussische Führer zum Sündenbock gemacht?

    Bei einem Treffen mit Wladimir Putin am 23. Juli in Sankt Petersburg hatte Lukaschenko ein breites Publikum, vor allem in Polen und Litauen, mit der Äußerung in Aufruhr versetzt, die nach Belarus verlegten Wagner-Einheiten würden ihn „langsam belasten“ und angeblich einen „Ausflug nach Warschau und Rzeszów“ planen. (In Rzeszów befindet sich ein wichtiger Umschlagplatz für Militärlieferungen in die Ukraine). 

    Offensichtlich wollte der belarussische Gast dem „großen Bruder“ in die Hände spielen, indem er eine psychologische Attacke an das ihm verhasste Warschau richtete, das Kyjiw aktiv unterstützt. Doch die Polen ließen sich nicht einschüchtern und drohten stattdessen damit, in Absprache mit Litauen und Lettland endgültig die Grenze zu Belarus zu schließen. Das wäre für das Regime kein unbedeutendes wirtschaftliches Risiko. 

    Unterdessen diskutierten unabhängige Analytiker, aber auch Politiker und Militär in den NATO-Staaten, ob Putin die nach Belarus verlegten Wagner-Gruppe dazu einsetzen könnte, einen wenn nicht offenen, so doch hybriden Krieg gegen Europa zu entfesseln. Um sich danach auf seine Tschekistenart die Hände in Unschuld zu waschen, indem er beteuert: Diese  „Wildgänse“ unterstehen mir nicht, sie haben unlängst sogar einen Putsch angezettelt, weil sie keine Verträge mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu schließen wollten. Deshalb hätte man sie auch zum „kleinen Bruder“ geschickt. Und die Waffen für ihren Feldzug auf Rzeszów hätten sie bestimmt auf dem belarussischen Waffenmarkt gekauft. 

    Natürlich weiß jedes Kind, dass es in Belarus keinen unkontrollierten Waffenmarkt gibt und geben kann, solange alles unter Lukaschenkos Fuchtel steht. Seine Weste würde also im Falle eines Wagner-Feldzugs gegen die NATO-Nachbarstaaten keinesfalls weiß bleiben. 
    Bereits 2021 hatte er vorgegeben, nichts mit dem Massenandrang von Geflohenen an der belarussischen Grenze zur EU zu tun zu haben, was ihn jedoch nicht vor Sanktionen gerettet hat. Wenn also jetzt Diversions- und Spionagegruppen (DRG) der Wagner-Armee von belarussischem Boden aus in Polen oder Litauen eindringen, dürfte die Reaktion um einiges härter ausfallen. 

    Denn für die Nachbarländer und den gesamten Westen wird absolut klar sein, dass diese Gruppen ihre Ausrüstung per Handschlag vom belarussischen Oberbefehlshaber bekommen haben, und dass es Prigoshins Truppen nur mithilfe des belarussischen Militärs, des Grenzschutzes und der Geheimdienste möglich gewesen sein kann, auf fremdes Territorium vorzudringen. So zu tun, als hätte man nichts damit zu tun, wäre vollkommen sinnlos. Mehr noch, Lukaschenko wäre der Sündenbock, während Putin tatsächlich den Ahnungslosen spielen könnte. 

    Derweil hat der belarussische Regent höchstwahrscheinlich keine Lust, die Folgen der Scharmützel seiner aggressiven Gäste mit der NATO auszubaden. Während der Kreml an imperialem Phantomschmerz leidet und globale Ambitionen hegt, will Lukaschenko vor allem, dass seine Alleinherrschaft auf seinem „Fleckchen Erde“, wie er Belarus nennt, unangetastet bleibt. Also versucht der belarussische Führer, die Atmosphäre auf seine Art ein wenig zu entschärfen und seine politische Eigenständigkeit zu demonstrieren. 

    „Sie sind es gewohnt, Befehle auszuführen“ – bloß wessen Befehle?

    Lukaschenko entpuppte sich als großer Humorist. Am 1. August sagte er im Kreis Kamenez: „Das war ein Scherz, dass die Wagner-Leute untereinander tuscheln: Wir machen einen Ausflug nach Rzeszów.“ Dann gab er wiederum zu verstehen – in dem ihm eigenen paradoxen Stil – Prigoshins Leute seien wirklich kriegerisch eingestellt und führten gegen Polen Böses im Schilde. Dort solle man, so sagte er, „ruhig beten“, dass Belarus sie „aufhält und versorgt“. Andernfalls wären sie längst in Warschau und Rzeszów eingefallen, und die Polen hätten „ihr blaues Wunder erlebt“.

    Was für eine Logik: „Ich habe diese terroristische Organisation an eure Grenzen geholt, und ihr sollt mir gefälligst dankbar sein“. 

    Lukaschenko ließ sich natürlich auch den Trumpf mit den Atomwaffen nicht nehmen und sagte beiläufig, mehr als die Hälfte der von Russland zugesagten Menge sei bereits geliefert und im Land verteilt („Guckt ruhig nach“). Darüber hinaus sei das Kernkraftwerk von Astrawez ein großer Sicherheitsfaktor: „Sollte es, Gott bewahre, beschädigt werden, dann wird das auch dort [in den NATO-Nachbarstaaten] schlimme Folgen haben“, sagte Lukaschenko.

    Lukaschenko hat also wie immer nicht mit Drohungen gespart, diesmal aber die Akzente anders verteilt: Anstatt auf Angriff setzte er auf Verteidigung: „Wir steigen niemandem in den Garten, also klettert gefälligst auch nicht über unseren Zaun“. Mit anderen Worten: „Lasst mein Regime in Ruhe!“

    Lukaschenko hat außerdem davon abgesehen, die westlichen Nachbarn übermäßig zu verteufeln: „Die Polen sind nicht dumm, diese Leute sind uns ähnlich, sie nehmen ihre Regierung gerade schon in die Mangel …“ Die Verlegung polnischer Truppeneinheiten an die belarussische Grenze bezeichnete er verächtlich als „Ränkespiel“. „500 Soldaten hier abgezogen, 500 Soldaten dort […]. Ich glaube nicht, dass sie uns wirklich einschüchtern wollen.“

    Das steht einerseits im Widerspruch zum Mantra der belarussischen Generäle von der wachsenden Bedrohung durch die NATO und andererseits zu früheren Äußerungen Lukaschenkos, die polnischen Militaristen würden schon mit ihren Kettenraupen rasseln und nur darauf warten, halb Belarus einzukassieren.

    In der Geschichte um Wagner stellte sich Lukaschenko nun als absoluter Herr der Lage dar und hob hervor, dass er die Situation unter Kontrolle habe: „Die Truppe befindet sich in Ossipowitschi, mitten in Belarus, und ist nirgendwohin unterwegs. Die Jungs sind es gewohnt, Befehle auszuführen.“

    Die Frage ist nur, wessen Befehle sie ausführen werden, wenn der Tag X eintritt.   

    Wie eigenständig sind Prigoshin und Lukaschenko?

    Es war kein anderer als der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der russischen Duma, General a. D. Andrej Kartopolow, der die Schließung des Suwałki-Korridors (der in Moskau als Achillesferse der NATO betrachtet wird) im passenden Moment als Mission der in Belarus abgestellten Wagner-Truppen benannte. 

    Wenn Lukaschenko jetzt also hervorhebt, dass er diesen Korridor eintausend Jahre lang nicht gebraucht hätte, dann tritt er in einen offenen Meinungsstreit mit den Moskauer Kriegstreibern, um seine politische Eigenständigkeit zu behaupten. Diejenigen, die eine Anti-NATO-Mission der Prigoshin-Truppe in Belarus postulieren, lassen diese Eigenständigkeit Lukaschenkos praktisch völlig außer Acht. 

    Diese Hypothesen weisen einige Schwachstellen auf. Erstens ist es zweifelhaft, ob Jewgeni Prigoshins Putschversuch eine scharfsinnige Inszenierung war, mit dem Ziel, die Wagner-Truppen nach Belarus zu verlagern, um dann einen Angriff oder Sabotageaktionen gegen die NATO-Länder durchführen zu können. Wie es in einem alten Witz treffend heißt: „Das ist zu subtil für unseren Zirkus“. 

    Eine ganze Reihe von Fakten, Anzeichen und Informationsleaks sprechen dafür, dass der russische Präsident während des Putschversuchs tatsächlich erschrocken und irritiert war. Infolgedessen trug er einen riesigen Imageverlust davon. Das wäre schon eine sehr subtile Inszenierung. Zur Vergeltung und um eine Wiederholung zu vermeiden, schwächt der Kreml offen Prigoshins Wirtschaftsimperium. Zudem ist unklar, inwieweit Putin seinem ehemaligen Koch aktuell überhaupt Befehle erteilen kann. Prigoshins Eigenständigkeit sollte keinesfalls schon abgeschrieben werden.

    Er und der russische Machthaber versuchen zwar, ihren Konflikt auf ihre Weise aus der Welt zu schaffen, aber aller Voraussicht nach werden sie Feinde bleiben. Und welches Interesse sollte Prigoshin haben, seine Kämpfer in einen wahnwitzigen Sturm des Suwałki-Korridors oder in einen tödlichen Feldzug nach Warschau und Rzeszów zu schicken? Wenn unerwünschte Gäste so weit auf fremdes Territorium vordringen, wird aus ihnen sehr schnell Hackfleisch gemacht. 

    Schon eher möglich wären schnelle hybride Operationen im feindlichen Grenzgebiet (zum Beispiel ein wenig Unruhe in Terespol stiften), mit guten Überlebens- und Rückkehrchancen, doch welchen Nutzen hätten sie? Schließlich geht es hier um Söldner, die für ihre sehr spezielle Arbeit sehr gutes Geld gewöhnt sind. Auch Prigoshin selbst ist in erster Linie ein Geschäftsmann, keinesfalls ein Kamikaze. Für ihn ist es günstiger, seine „Adler“ ​ für Projekte in Afrika zu schonen (wo alle möglichen Goldminen und Diamanten zu bewachen sind). Dass Afrika Priorität hat, sagte er selbst bei seiner berühmten Ansprache im Lager bei Ossipowitschi.

    Lukaschenko sagte heute nun, er wolle einen Teil „dieser Jungs“ im belarussischen Militär behalten und „mit ihrer Unterstützung eine Vertragsarmee aufbauen“. Die belarussische Staatskasse ist jedoch kaum üppig genug, um die Wagner-Söldner nach deren üblichen Sätzen zu vergüten. Nehmen wir trotzdem einmal an, dass einige Söldner als Berufssoldaten in die belarussische Armee wechseln würden. Sich mit dem Rest der Gruppe aber die Anarchie ins Haus zu holen, die Wagner-Gruppe zu einer (wilden?) Raubkatze zu machen, die frei durch Belarus spaziert, und darüber hinaus noch die Schließung des Suwałki-Korridors zu bezahlen (plus im Nachhinein die Folgen dieses Abenteuers zu verantworten), das will Lukaschenko ganz sicher nicht. Putin teilte unterdessen mit, dass Prigoshins Gruppe in Russland keine Zuwendungen mehr erhalten würde. Wer trägt also eigentlich die Kosten für dieses Theater?

    Sollten die Wagner-Truppen also wirklich in Polen und Litauen einmarschieren, dann würde das erstens bedeuten, dass der Kreml sie vollständig kontrolliert, zweitens, dass er ihre Aktionen bezahlt, und drittens, dass er Lukaschenko tatsächlich zu einem Diener ohne jegliche Entscheidungsgewalt gemacht hat.

    Es bleibt spannend.

  • Wo Arbeitslosigkeit und Wirtschaft gemeinsam schrumpfen

    Wo Arbeitslosigkeit und Wirtschaft gemeinsam schrumpfen

    Wenn nicht die Sanktionen selbst, dann werde die hohe Arbeitslosigkeit den Kreml schon in die Knie zwingen – so oder ähnlich haben zahlreiche Experten den Niedergang des Systems Putin nach dem russischen Überfall auf die Ukraine prognostiziert. Nun bewegt sich Russland auf Vollbeschäftigung zu, und auch das Realeinkommen der Bevölkerung soll 2023 um 3,4 Prozent steigen. Dabei ist die russische Wirtschaft 2022 um über zwei Prozent geschrumpft, für das laufende Jahr wird ebenfalls eine Rezession vorausgesagt, die Arbeitsproduktivität ist gewohnt niedrig. Wie geht das alles zusammen? 

    Was zunächst widersprüchlich erscheint, aber für den Kreml gut klingt, verschleiert tatsächlich eine Vielzahl von Schwierigkeiten der russischen Wirtschaft, die sich langfristig noch verschärfen dürften. Zu dieser Einschätzung kommen Jekaterina Mereminskaja und ihre Kollegen von istories, die mit zahlreichen Experten gesprochen haben. 




    Die Arbeitslosigkeit in Russland bricht seit einem halben Jahr alle Minusrekorde. Zuletzt war sie im Mai mit 3,2 Prozent so niedrig wie noch nie seit Beginn der Erfassung 1991. Und laut Maxim Reschetnikow, dem Minister für wirtschaftliche Entwicklung, sei damit womöglich nicht einmal der Tiefststand erreicht – die Arbeitslosigkeit könne noch weiter zurückgehen.

    Es scheint, als gäbe es keine Krise. Denn: „Normalerweise bedeutet jedes einzelne Prozent BIP-Rückgang zwei Prozent[punkte – dek] mehr Arbeitslosigkeit“, führt Oleg Itskhoki, Professor an der University of California, als Beispiel für entwickelte Industrieländer an, „in diesem Sinne ist der Zustand der russischen Wirtschaft phänomenal.“ Im ersten Quartal ist das BIP im Jahresvergleich um 1,9 Prozent geschrumpft, die Arbeitslosigkeit aber ebenfalls zurückgegangen. Wie ist das möglich, und was bedeutet das?

    Niedrige Arbeitslosigkeit − die „heilige Kuh“ des Kreml

    Die russische Führung legt ein besonderes Augenmerk auf die Arbeitslosenquote – das ist einer ihrer Schwerpunkte. Eine hohe Arbeitslosigkeit zieht soziale Probleme nach sich und bricht damit den Gesellschaftsvertrag aus der Zeit vor dem Krieg: Wir gewährleisten euch einen annehmbaren Lebensstandard, und ihr haltet euch aus der Politik raus. Die Regierung hat selbst in schwierigsten Zeiten von der Wirtschaft verlangt, auf Entlassungen zu verzichten. Nach der weltweiten Finanzkrise war Russlands BIP im Jahr 2009 um 7,9 Prozent gefallen, die Arbeitslosenquote jedoch nur von 6,2 auf 8,3 Prozent gestiegen. 

    In Krisen hat man das Problem nicht gelöst, sondern verschleiert: Mitarbeiter wurden in unbezahlten Urlaub geschickt, auf Teilzeit gesetzt und so weiter – alles, nur keine Massenentlassungen. Dabei ging es nicht nur um den Wunsch, die Zahlen zu schönen – auch für die Betroffenen war es so oft bequemer. In jedem Fall handelt es sich dabei um versteckte Arbeitslosigkeit. Offiziell dagegen ging die Arbeitslosigkeit allmählich zurück.

    Das geschah vor allem auf natürlichem Wege. Die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er Jahre werden nach und nach durch die des „demografischen Einbruchs“ Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre abgelöst. Die Zahl der jungen Menschen im erwerbsfähigen Alter ist „aufgrund der Besonderheiten der Alterspyramide in Russland“ um mehr als ein Viertel zurückgegangen, so die Wirtschaftsgeografin Natalja Subarewitsch. 

    Die Zahl der jungen Menschen im erwerbsfähigen Alter ist „aufgrund der Besonderheiten der Alterspyramide in Russland“ um mehr als ein Viertel zurückgegangen / Grafik © Kaj Tallungs/wikimedia unter CC BY-SA 4.0

    Der Krieg hat die Situation weiter verschärft. Viele haben das Land verlassen, andere wurden zum Militär eingezogen. Anstelle der Zuwanderung von Migranten aus anderen Ländern, die den Arbeitskräftemangel in Russland bislang ausgeglichen haben, überwiegt nun die Abwanderung: 20.600 Menschen haben [im Wanderungssaldo – dek] das Land im Zeitraum Januar bis Oktober 2022 verlassen. 2021 war die Bevölkerung Russlands durch Migration noch um 320.000 Personen angewachsen. Infolge der Mobilisierung wurden 300.000 Männer dem Arbeitsmarkt entzogen, so Subarewitsch. Die Abwanderung nach der Verkündung der Mobilisierung beziffert sie mit „mindestens einer halben Million“. 

    Mit der Arbeitslosigkeit ist es wie mit der Körpertemperatur 

    Man könnte meinen, dass es denen, die geblieben sind, gut gehen müsste. Auf den ersten Blick bedeutet die historisch niedrige Arbeitslosigkeit, dass fast alle einen Job haben und die Bezahlung steigt. So legte das Realeinkommen (inflationsbereinigt) im ersten Quartal 2023 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 1,9 Prozent zu. 

    Tatsächlich führt ein solcher Rekord zu vielen Problemen. Dem Land fehlen ganz einfach Arbeitskräfte. Der Personalmangel in Russland ist ein altes Problem, aber nach der Mobilisierung im Oktober erreichte er einen Höchststand. Bereits im November stieg der Anteil der Unternehmen, die „aus formalen Gründen“ (Einberufung, Gerichtsverfahren, Tod) Mitarbeiter verlieren, von den bislang gewöhnlichen 38 Prozent auf 60 Prozent. 

    Der Lohnwettbewerb zur Abwerbung von Arbeitskräften, insbesondere von hochqualifizierten Industriearbeitern, hat bereits begonnen

    Praktisch überall fehlen Leute. Viel wird über IT-Spezialisten gesprochen, für die man sich sogar besonders günstige Hypotheken ausgedacht hat, aber in der Industrie sieht es nicht besser aus. „Es gibt ein allgemeines Problem mit Personalkapazitäten, auch mit hochqualifizierten Fachkräften für die Industrie“, so Wassili Osmankow, erster stellvertretender Minister für Industrie und Handel. „Wir sind immer stärker mit entsprechenden Einschränkungen konfrontiert.“ Während Sanktionen umgangen werden können, indem man deutsche Maschinen durch chinesische ersetzt oder über Drittstaaten einkauft, lassen sich Personalprobleme nicht so leicht lösen. „Projektmitarbeiter, Manager und Arbeiter“ – darauf kommt es eigentlich an“, erklärt Osmankow. 

    Mit der Arbeitslosenquote ist es wie mit der Körpertemperatur: Es gibt einen Normalbereich (ständig werden Jobs gewechselt, Jobs gesucht, beispielsweise von Berufseinsteigern) − das ist eine natürliche Arbeitslosigkeit, die das Wirtschaftswachstum nicht hemmt und die Inflation nicht antreibt. Für Russland liegt diese Quote bei rund fünf Prozent. Der Internationale Währungsfonds IWF bezifferte die natürliche Arbeitslosigkeit von 2000 bis 2016 mit durchschnittlich 5,5 Prozent (russische Wissenschaftler ermittelten Mitte der 2000er Jahre einen ähnlichen Wert: 5,6 Prozent) und prognostizierte einen Rückgang dieser Quote um jährlich 0,1 Prozentpunkte. Wenn diese Prognose stimmt, müsste die natürliche Arbeitslosigkeit jetzt bei 4,8 Prozent liegen. 

    Offensichtlich besteht schon in vielen Branchen ein großer Personalhunger

    Aber es kann Abweichungen geben: Hat ein Wirtschaftsorganismus mit Problemen zu kämpfen, steigt die Arbeitslosigkeit. Und auch eine zu niedrige Arbeitslosigkeit kann ein schlechtes Zeichen sein. 

    Die Arbeitslosigkeit in Russland war im Mai mit 3,2 Prozent so niedrig wie noch nie seit Beginn der Erfassung 1991 / Foto © Mikhail Tereshchenko/ITAR-Tass/imago images
    Die Arbeitslosigkeit in Russland war im Mai mit 3,2 Prozent so niedrig wie noch nie seit Beginn der Erfassung 1991 / Foto © Mikhail Tereshchenko/ITAR-Tass/imago images

    „Normalerweise deutet ein Rückgang der Arbeitslosigkeit auf einen Anstieg der Beschäftigung und eine Belebung der Wirtschaft hin. Deshalb propagiert die Führung das als ihre ‚Errungenschaft‘“, sagt Subarewitsch. Doch das, was sich jetzt beobachten lässt, ist schon ein Verfall. Die Wirtschaft verfügt kaum noch über Personalressourcen, aber die gehören zu den wichtigsten Voraussetzungen für Wachstum. Die sogenannte Transformation der Wirtschaft braucht auch Arbeitskräfte, doch die sind nirgendwo zu bekommen.

    „Offensichtlich besteht schon in vielen Branchen ein großer Personalhunger, hier unterscheidet sich die Situation deutlich von der, die wir 2020 bis 2021 hatten“, räumt Maxim Oreschkin ein, Wirtschaftsberater des russischen Präsidenten. 

    Jeder löst das Problem, so gut er kann. Eine besonders radikale Lösung hat der Autohersteller AwtoWAS gefunden: Für die Montage des Lada Vesta NG sollen Häftlinge verpflichtet werden. „Gebraucht werden allerdings qualifizierte Leute, die müssen extra geschult werden. Und da spreche ich noch nicht von Motivation und Arbeitsqualität“, kommentiert Wladimir Gimpelson, Professor an der University of Wisconsin-Madison. 

    Andere Zusatzmaßnahmen, mit denen Arbeitgeber den Arbeitskräftemangel bekämpfen wollen, erfasst die Zentralbank. So hat ein Chemieunternehmen in der Wolga-Wjatka-Region die Zahl der HR-Manager erhöht, um die Personalbeschaffung zu forcieren. Im Ural haben Unternehmen begonnen, Rotationsprogramme, bessere Bedingungen für den Umzug (zum Beispiel Bereitstellung von Wohnraum, Reisekostenerstattung, Fortbildungen) anzubieten und die Löhne zu erhöhen. 

    Lohnerhöhung bringt Inflation

    Lohnerhöhungen sind natürlich die häufigste Maßnahme. Aber für die Wirtschaft ist das − so seltsam es klingen mag − ein Problem. Die Löhne steigen schneller als die Arbeitsproduktivität, wiederholt immer wieder die Zentralbank: Das muss dann durch Preiserhöhungen kompensiert werden, was wiederum die Inflation anzuheizen droht. 

    Analysten der Zentralbank ermittelten auf Grundlage der Daten von 2018, dass die niedrige Arbeitslosigkeit in Russland in den meisten Regionen (48) schon vor den jüngsten Rekordtiefs die Inflation angeheizt hatte, indem sie die Löhne nach oben trieb. 

    Projektmitarbeiter, Manager und Arbeiter – darauf kommt es eigentlich an

    Nicht alle jedoch können die Personalausgaben erhöhen. Der Fluggesellschaft Aeroflot fehlt bereits das fünfte Jahr in Folge das Geld für Gehaltsanpassungen. Nach Einstellung der meisten Auslandsverbindungen überlebt die Airline nur mit staatlicher Hilfe. Im Mai legten Beschäftigte im Autowerk Uljanowsk (UAZ), das auch staatliche Aufträge erfüllt, die Arbeit an den Montagebändern für den Geländewagen Patriot nieder und forderten eine Lohnerhöhung mit dem Argument, im letzten Monat im Durchschnitt 20.000 Rubel [im April umgerechnet ca. 230 Euro – dek] erhalten zu haben. Der Generaldirektor des Werks versprach noch am selben Tag eine Lohnerhöhung um 12 Prozent ab Juni. Die Streikführer wurden unterdessen von Ordnungskräften festgenommen. 

    Denn Streiks gehören ebenfalls zur Schattenseite: „Eine niedrige Arbeitslosigkeit und fehlende Arbeitskräfte geben den Beschäftigten zusätzliche Sicherheit. Es ist für sie einfacher, Forderungen zu stellen, ohne Entlassungen befürchten zu müssen“, erläutert Gimpelson. Seiner Meinung nach könne sogar die Rüstungsindustrie ihre Löhne wahrscheinlich nur in begrenztem Maße erhöhen. 

    Die sinkende Zahl der Arbeitskräfte, so Subarewitsch, werde zwangsläufig die wirtschaftliche Erholung und den sogenannten Strukturwandel verlangsamen

    Indes wächst das Problem des Arbeitskräftemangels weiter. Im Mai sei in einer Reihe von Branchen die wirtschaftliche Aktivität gestiegen, so dass sich der Arbeitskräftemangel weiter verschärft habe, stellt die Zentralbank fest. Die Unternehmen stocken wegen der höheren Nachfrage ihre Belegschaft auf. Darum entstehen aktuell so viele und so schnell wie nie seit November 2000 neue Arbeitsplätze. Das geht aus einem Enterprise Survey der Firma S&P für den PMI-Index hervor. 
      
    „Der Anstieg der Nachfrage nach Arbeitskräften entspricht in seinem Ausmaß eher einer Phase intensiven Wachstums“, geben sich Experten des Moskauer Zentrums für makroökonomische Analysen und Kurzzeitprognosen (ZMAKP) überrascht, „vermutlich ist Russlands Wirtschaft (sollten keine neuen Schocks auftreten) bereit für eine neue Wachstumswelle.“

    Wachstum bräuchte Arbeitskräfte und Investitionen

    Doch das ist eher unwahrscheinlich. Denn derartige Probleme erschweren wirtschaftliches Wachstum. Es fehlen die notwendigen Arbeitskräfte. Die Verfügbaren sind nicht immer in der Lage oder bereit zu arbeiten, weil sie nicht befürchten müssen, entlassen zu werden. Einerseits halte Russland eine künstliche Überbeschäftigung aufrecht, die die Arbeitsproduktivität verringert, räumen die Experten des ZMAKP ein. Andererseits führe die niedrige Produktivität zur Unterbewertung von Arbeit – so entsteht ein Teufelskreis. 

    Bei der Einführung neuer Technologien kommt es zu Verzögerungen. „Es fehlen Anreize für die technische Modernisierung von Unternehmen und für den Ersatz von Arbeitskräften durch Roboter“, warnen die ZMAKP-Experten weiter. „Eine immer größere Rolle in der Produktion spielen unzureichend qualifizierte Arbeitskräfte, was sich wiederum auf die Qualität auswirkt.“ Das ist ein weiterer Schritt Richtung „umgekehrte Industrialisierung“ aufgrund rückständiger Technologien, wie sie die Zentralbank für Russlands Industrie vorausgesagt hatte. 

    Die sinkende Zahl der Arbeitskräfte, so Subarewitsch, werde zwangsläufig die wirtschaftliche Erholung und den sogenannten Strukturwandel verlangsamen. Die Abwanderung von Humankapital dürfte angesichts erhöhter Unsicherheit weiter anhalten, glaubt auch Alexander Knobel, Leiter der Forschungsabteilung für internationalen Handel am Gaidar-Institut für Wirtschaftspolitik. 

    Diese Probleme werden die russische Wirtschaft lange beschäftigen, auch dann noch, wenn Putin schon nicht mehr da ist

    Eine weitere Folge der niedrigen Arbeitslosigkeit in Russland ist Armut, denn dahinter verbirgt sich oft Unterbeschäftigung. Beschäftigte werden zwar nicht entlassen, bekommen aber weniger Geld. Laut Rosstat-Angaben waren im ersten Quartal mehr als vier Millionen Personen in Kurzarbeit, durch Verschulden des Arbeitgebers unbeschäftigt oder in unbezahltem Urlaub. Etwa sechs Millionen „Beschäftigte“ erhalten nicht einmal den Mindestlohn (MROT), und 12 Millionen haben keinen Arbeitsvertrag, räumt die Vize-Ministerpräsidentin für Soziales, Tatjana Golikowa, ein. 

    Die wirtschaftlichen Auswirkungen dessen, dass Russlands Arbeitsmarkt mehr als eine Million Menschen entzogen wurden (durch Mobilisierung und Ausreise), seien jedoch deutlich geringer als die sozialen Folgen, glaubt Itskhoki von der University of California. Man könnte wohl noch weitere 300.000 abziehen, die Wirtschaft würde weiter funktionieren. Doch die Folgen dieses Verlustes junger, produktiver Menschen würden noch lange spürbar sein, warnt der Experte: „Diese Probleme werden die russische Wirtschaft lange beschäftigen, auch dann noch, wenn Putin schon nicht mehr da ist − fünf bis zehn Jahre, vielleicht auch noch länger.“

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  • Shamans Kampf

    Shamans Kampf

    Entschlossen schreitet Jaroslaw Dronow in Lederstiefeln über den Roten Platz, auf der Brust prangt ein Holzkreuz, den linken Arm ziert eine Armbinde mit der russischen Trikolore. „Wahrheit und Stärke sind auf unserer Seite, stolz wird unsere Nation alles überleben“, singt der als Shaman bekannte Popstar dazu in seinem Lied My (dt. Wir). Neben der offenkundigen Nähe zur NS-Ästhetik sorgte in den Sozialen Netzwerken für Diskussionen, dass die Veröffentlichung des Songs ausgerechnet mit dem Geburtstag Adolf Hitlers zusammenfiel.

    Der 31-jährige Dronow hat die Gnessin-Musikhochschule in Moskau abgeschlossen und gilt als Shootingstar der patriotischen Popmusik in Russland. Seine Karriere erlebte einen steilen Aufschwung mit dem Song Wstanem (dt. Wir erheben uns). Das Lied ist Gefallenen im Großen Vaterländischen Krieg gewidmet, erschien einen Tag vor Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine und wurde oft darauf bezogen interpretiert – entsprechend der russischen Propaganda, die schon seit 2014 versucht, die russische Aggression gegen die unabhängige Ukraine in Bezug zum sowjetischen Kampf gegen Hitlerdeutschland zu setzen. 

    Shamans neuester Song heißt Moi boi, was sich mit „Mein Kampf“ (russ. Moja borba) übersetzen lässt und auch so in den deutschen Untertiteln auf YouTube angezeigt wird, wie Social-Media-User sogleich bemerkten. Der Politikanalyst Alexander Baunow hat sich den Clip dazu angeschaut und seine Gedanken zu den Propaganda-Mechanismen dahinter auf Facebook notiert. 


    Der Sänger Shaman Dronow hat einen neuen Clip aufgenommen – Mein („Kampf“ durchgestrichen) Gefecht –, bei dem der empfindsame Betrachter eine Träne vergießen soll, angesichts eines Sammelsuriums von Bildern unrasierter, schießender Männer in Tarnuniform und zerstörter Gebäude und Straßen. Und die Zuschauer tun das auch folgsam.

    Betroffenheit angesichts der Zerstörung – und Mitgefühl für die Verursacher

    Dass die zerstörten Gebäude und Straßen zu eben jenen Städten gehören, die von den Männern in Tarnuniform beschossen werden, und dass die tränenvergießenden Zuschauer sowohl mit dem einen wie mit dem anderen mitfühlen sollen, verstört diese nicht im Geringsten. Hauptsache, die Melodie ist anrührend, die Stimme mitreißend und unser Junge auf der Bühne hübsch. Und mit den „Helden“ mitzufühlen und sich den Anblick der Leiden zu Herzen zu nehmen, das ist für den Zuschauer erhebend: Es belegt, dass er ein guter Mensch ist, und dass auch die Sache, die ihm am Herzen liegt, gut und gerecht ist. 

    Die Bilder der Ruinen in dem Clip ließen sich durch Aufnahmen von der Kathedrale und dem Haus der Wissenschaftler in Odessa ergänzen [die Russland am Tag der Veröffentlichung des Posts mit Raketen beschossen hat – dek]. Letzteres war ein Anwesen der Grafen Tolstoi, und seine Räumlichkeiten haben als Kulisse gedient: Sie waren die Räume des Schlosses von Versailles in Die drei Musketiere, dem vom feinfühligen Zuschauer geliebten, guten alten sowjetischen Film. Man könnte den Clip mit einem offenen Ende versehen, das allmonatlich mit neuen Bildern von Ruinen bestückt wird. Das dürfte für den aufmerksamen Betrachter zu keinerlei kognitiven Dissonanzen führen, und es wird ihn auch nicht in eine geistige Sackgasse manövrieren. Schließlich wird hier alles vom Herzen entschieden.

    „Wir sind hier Helden wie auch Opfer“

    Bei der ästhetischen Verarbeitung dieses Krieges durch das Massenpublikum gibt es die Besonderheit, dass positive Bilder (etwa unrasierte Helden) sich mit der eigenen emotionalen Welt verbinden, einer positiven, guten Welt. Negative Bilder hingegen (zerstörte Gebäude etwa) gehören zu einer fremden Welt, einer Welt des Schlechten und Bösen. Was soll da unklar sein? Die Helden sind positiv, die Ruinen negativ. Wir fühlen mit den Guten mit, sind stolz auf sie. Und wir haben Mitgefühl mit den Opfern des Bösen, der Anblick der Trümmer schmerzt uns – alles logisch.

    Shaman gilt als Shootingstar der patriotischen Popmusik in Russland / Foto © Komsomolskaya Pravda/Russian Image/imago images
    Shaman gilt als Shootingstar der patriotischen Popmusik in Russland / Foto © Komsomolskaya Pravda/Russian Image/imago images

    Das funktioniert wie eines der [propagandistischen – dek] Erklärungsmuster, dessen Logik genauso aufgebaut ist wie in dem Clip: Wir Slawen haben unter einem Krieg zu leiden, der in unsere russischen, slawischen Lande ein weiteres Mal durch fremde, feindliche Mächte getragen wurde – durch die Amerikaner und Europäer. Wir sind hier sowohl Helden wie auch Opfer. Wir schießen, und wir beklagen die Zerstörungen, die bei uns allen ferne, fremdländische Feinde angerichtet haben. Die Kathedrale ist also durch diese zerstört worden, wird aber unweigerlich zur nächsten Strophe wiederauferstehen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert durch:

     

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  • „Ich werde leben, es wird mich doch niemand umbringen“

    „Ich werde leben, es wird mich doch niemand umbringen“

    In der Nacht zum 11. Juli 2023 verstarb der belarussische Künstler und Aktivist Ales Puschkin auf der Intensivstation des Krankenhauses in der westbelarussischen Stadt Hrodna. Dorthin war er bewusstlos aus dem städtischen Gefängnis gebracht worden. Wie Medien später berichteten, soll ein Geschwür zum Durchbruch der Magenwand geführt haben. 

    Der Aufschrei nach Bekanntwerden seines Todes in der belarussischen Zivilgesellschaft und Kulturlandschaft war groß. In vielen europäischen Städten organisierte die belarussische Diaspora Gedenkveranstaltungen für den beliebten Künstler. 

    Warum Puschkin in Haft war, was ihn über die Jahrzehnte zu einem der prägendsten Künstler und Aktivisten in Belarus hat werden lassen – das erzählen die Journalisten Smizer Pankawez und Wassil Harbazjuk für das belarussische Online-Medium Nasha Niva.


    „Das Kreuz, das ich mir aufbürde, muss ich tragen, so schwer es auch sein mag. Was droht mir hier schon? Vielleicht sperren sie mich für fünf bis zwölf Jahre ein, aber ich werde leben, es wird mich doch niemand umbringen.“ Heute klingen diese Worte Ales Puschkins furchtbar. Er sagte sie 2021 in einem Interview mit Nasha Niva, nachdem er nach Belarus zurückgekehrt war, obwohl dort ein Strafverfahren auf ihn wartete. Er war aus Prinzip zurückgekehrt. Am nächsten Tag wurde er festgenommen. Ales Puschkin war einer der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler und Ikonenmaler in Belarus. Seine ereignisreiche Biografie umfasst sowohl den Afghanistan-Krieg als auch ein unkonventionelles Privatleben. Wir haben zusammengetragen, was über ihn bekannt ist.

    Ales Puschkin im Selbstporträt / Bild © Privatarchiv Ales Puschkin
    Ales Puschkin im Selbstporträt / Bild © Privatarchiv Ales Puschkin

    Am 30. März 2021 wurde Puschkin an seinem Arbeitsort in Shylitschy im Kreis Kirau, wo er an der Restaurierung des Bulhakau-Palais arbeitete, abgeholt und ins Gefängnis von Hrodna gebracht. Genau ein Jahr später wurde er auf Grundlage von Artikel 130 Absatz 3 wegen „Anstiftung zu Rassen-, nationalem oder religiösem Hass“ verurteilt.

    Die Staatsmacht zog gegen ein von Puschkin gemaltes Porträt des Partisanen Auhen Shychar zu Felde, der in der Zwischenkriegszeit im Gebiet Wizebsk aktiv gewesen war. Man beschuldigte Puschkin, mit dem Gemälde den Nazismus zu rehabilitieren. Puschkin selbst bestritt das.

    Als das Strafverfahren angestrengt wurde, hielt Puschkin sich gerade in Kyjiw auf, das war noch lange vor Kriegsbeginn. Puschkin kehrte umgehend nach Belarus zurück, obwohl er wusste, dass ihm zu Hause eine Gefängnisstrafe drohte. Im Gespräch mit Nasha Niva sagte er damals, er sei bereit für einen echten Kampf, nicht für einen virtuellen. Das war nicht der erste Fall, in dem gegen den Künstler ermittelt wurde. Puschkin beteiligte sich erst am Kampf für die Unabhängigkeit von Belarus von der Sowjetunion, später ging er gegen das prorussische Regime Aljaxandr Lukaschenkas vor. 

    Sein Lebensweg endete am 11. Juli 2023 auf der Intensivstation der Notfallambulanz von Hrodna, wohin er aus unbekannten Gründen und in unbekanntem Zustand aus dem Hrodnaer Gefängnis überstellt worden war.

    Benannt nach seinem toten Bruder

    Puschkin wurde 1965 in der Kleinstadt Bobr im Kreis Krupki geboren. Sein Vater Mikalaj war Elektriker im örtlichen Sägewerk. Seine Mutter war aufgrund einer Behinderung kaum arbeitstätig.

    Der Vater wurde in der Sowjetzeit nach Tschita verbannt, später nach Sachalin. Zu Beginn der 1990er Jahre wurde Mikalaj Iwanawitsch rehabilitiert. Puschkin war stolz darauf, dass seine Familie seit mindestens fünf Generationen in der Kleinstadt Bobr ansässig war und den Ort nie verlassen hatte. 

    Auch seine ältere Schwester Swjatlana lebt in Bobr. In der Familie hatte es bereits einen Aljaxandr Puschkin gegeben [Ales ist die belarussische Kurzform von Aljaxandr – dek], er war jedoch nur ein Jahr alt geworden. Vier Jahre später gaben die Eltern dem nächsten Sohn noch einmal denselben Namen. 

    Kriegsdienst in Afghanistan

    Im Alter von sechs Jahren begann Ales zu malen. Als er dreizehn Jahre alt war, kamen Talentsucher der Achremtschyk-Internatsschule für Musik und Bildende Kunst in den Ort. Die Schule nahm talentierte Kinder aus der ganzen BSSR auf. Der Vater beschloss, den Jungen zur Ausbildung nach Minsk zu schicken. Die Schule war ein geschlossener Ort, den die Schüler kaum verlassen durften. Ales lernte dort acht Jahre lang. 

    Anschließend begann er ein Studium am Belarussischen Staatlichen Institut für Theater und Kunst, das er für den Militärdienst unterbrechen musste. Das erste Diensthalbjahr leistete Ales in Kamyschyn, wo er gemeinsam mit Jaraslaw Ramantschuk diente; das darauffolgende halbe Jahr verbrachte er in Afghanistan, wo er als Mechaniker in einer Hubschrauberstaffel diente. Ales berichtete später, er habe in der Armee niemanden so gehorsam erlebt wie die Belarussen. 

    Er erzählte, dass der Vorsteher der Arrestzelle, Fähnrich Belski, sein in belarussischer Sprache verfasstes Tagebuch las und ihn daraufhin beim Vorgesetzten verpfiff. Der bestrafte Puschkin mit zehn Tagen Arrest. Insgesamt verbrachte Ales 28 Tage seines Kriegsdienstes unter Arrest.

    Einer der ersten politischen Gefangenen

    Zurück in Belarus schloss Ales sich der Talaka-Bewegung an, später der Belarussischen Volksfront. Im Vorfeld der legendären Aktion an Allerheiligen (Dsjady) 1988 verbreitete Puschkin Flugblätter mit dem Aufruf zur Teilnahme an der Veranstaltung. Er wurde noch vor der Aktion festgenommen und zu fünf Tagen Freiheitsentzug verurteilt, die er in Einzelhaft im Akreszina-Untersuchungsgefängnis verbrachte. 

    Am 25. März 1989 ging Ales Puschkin auf die Straße. Er hatte eine durchgestrichene Flagge der BSSR und ein Plakat mit der Aufschrift: „Nieder mit der sozialistischen Republik, lassen wir das unabhängige Belarus auferstehen!“ dabei. Damit wollte er den gesamten heutigen Prospekt der Unabhängigkeit entlanglaufen, bis zum Regierungsgebäude, doch schon bei der Akademie der Wissenschaften wurde er festgenommen. 

    Das Gericht verurteilte den Künstler zu zwei Jahren auf Bewährung und entzog ihm für fünf Jahre das Wahlrecht. Allerdings wurde er nicht vom Studium ausgeschlossen. Zur Verhandlung erschien der Künstler im traditionell bestickten Hemd (Wyschywanka) und antwortete auf Belarussisch, was damals einer Kampfansage an das sowjetische System gleichkam. 

    Noch im selben Jahr ging die Staatspresse zu einer Hetzjagd auf Ales Puschkin über. Die Zeitungen schrieben, er träume von „einem Belarus ohne Juden und Kommunisten“. Zehn Jahre später sagte Ales, er wolle ein Belarus sowohl mit Juden als auch mit Kommunisten, im Land solle Platz für alle sein. 

    Die Galerie U Puschkina

    Nach dem Studium ging Ales nach Wizebsk. Er sagte, er habe sich diese Stadt selbst ausgesucht, da seine Geschichte mit der Malerei, Chagall und Malewitsch, verbunden sei. Er arbeitete in einem Betrieb für Kunsthandwerk und hatte einen Wohnheimplatz. Doch das genügte Ales nicht, und so eröffnete er bald die seinerzeit erste private Kunstgalerie des Landes, die er ganz bescheiden U Puschkina [dt. Bei Puschkin] nannte. 

    An diesem Ort fand der erste Kongress der belarussischen Nationalisten statt, initiiert von Puschkin und Slawamir Adamowitsch. Die Veranstaltung wurde von der Polizei aufgelöst. 1997 musste die Galerie schließen. Im November 1994 führte Ales eine seiner schillerndsten Performances auf: Barfuß lief er durch die vom ersten Schnee bedeckten Straßen der Stadt Wizebsk, um den Leidensweg des unierten Metropoliten Josaphat Kunzewitsch nachzuvollziehen. Danach setzte er sich in ein Boot ohne Ruder und ließ sich die Dswina (Düna) hinuntertreiben. 

    Zwei außereheliche Töchter, zwei eheliche Kinder

    Politik stand für Puschkin jedoch nie im Vordergrund. Er lebte für die Kunst; um sein Privatleben ranken sich Legenden. In seiner Jugendzeit hatte Ales eine Romanze mit einer russischen Geschäftsfrau aus Tambow. Er war 24, sie 39 Jahre alt. Aus der Beziehung stammt seine Tochter Hanna.

    Später erregte Ales Aufmerksamkeit mit der Aussage, er würde nie eine Frau heiraten, die nicht Belarussisch spricht. In seiner Zeit in Wizebsk hatte er eine weitere Affäre, aus der seine Tochter Dascha hervorging. Lange Zeit wusste der Künstler nichts von ihrer Existenz; er lernte sie erst kennen, als sie schon 17 Jahre alt war. Beide Töchter sprechen Belarussisch. 

    1997 heiratete Puschkin schließlich. Seine Auserwählte war eine junge Frau, die weit von dem Leben der Bohème entfernt war – eine Lehrerin aus dem Kreis Staubzy namens Janina Demuch. Sie hatten sich in Mahiljou kennengelernt, wo Ales als Restaurator der Kathedrale des Heiligen Stanislaus arbeitete. Über die Jahre war aus dem provokanten Performance-Künstler Puschkin ein Restaurator und Ikonenmaler geworden. 

    Alles in allem war Puschkin ein Mensch, der eine gewaltige Transformation durchlebt hatte und nach wie vor durchlebte, sowohl in künstlerischer als auch in ideologischer Hinsicht. Janina war katholisch, Ales orthodox. Die Ehe brachte zwei Kinder hervor, Mikola und Marylja. Auf das erste Kind mussten die beiden sechs Jahre lang warten, in diese Zeit fielen zwei Fehlgeburten. Die Eltern setzten durch, dass ihr Sohn in der Schule auf Belarussisch unterrichtet wurde.

    Wandmalerei in der Kirche von Bobr

    Die Wandmalerei in der orthodoxen Kirche seiner Heimatstadt Bobr bezeichnete Ales als eine der wichtigsten Arbeiten seines Lebens. Das berühmteste Motiv zeigte Sünder vor dem Jüngsten Gericht, und in ihrer Mitte einen Mann, der Ähnlichkeit mit dem belarussischen Diktator hatte. Zudem waren auf dem Gemälde OMON-Leute und hohe orthodoxe Würdenträger abgebildet. 

    Dieses Bild musste Ales später übermalen, dennoch blieb seine Gesamtgestaltung der Kirche erhalten. Sonntags läutete Puschkin die Glocken in der Kirche. 2011 brannte die Kirche aus ungeklärten Gründen vollständig ab und musste von Grund auf neu erbaut werden. 

    Mist für Lukaschenka

    Die berühmteste Performance Puschkins ist zweifelsfrei der Mistkarren, den er im Juli 1999 vor Lukaschenkas Präsidialverwaltung schob. Ein roter Karren; weiße Handschuhe. Ales kippte den Mist aus, darüber warf er wertlose Rubelscheine und die Verfassung. Dann durchbohrte er diesen Haufen mit einer Mistgabel. Er wurde von Polizisten festgenommen, im Verhör weigerte er sich, seinen Namen zu nennen, und sagte, er sei „ein Mann aus dem Volk“. Man ließ ihn unter Auflagen laufen, aber einige Zeit später wurde er wegen Rowdytum zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.


    Ales Pushkin und seine berühmteste Performance „Ein Geschenk für den Präsidenten“ am 21. Juli 1999

    2015 sagte Puschkin, er würde im Jahr 2020 eine Schubkarre voll Rosen zur Präsidialverwaltung bringen, sollte Belarus dann noch ein unabhängiger Staat sein. Doch dann kam alles ganz anders. Ein weiteres Strafverfahren gegen Puschkin wäre beinahe im September 2007 eröffnet worden, als er nach dem Festival Schlacht bei Orscha gemeinsam mit Aktivisten der Malady Front [dt. Junge Front] aufs Polizeirevier gebracht wurde, wo er in einem unbeobachteten Moment die Staatsflagge nahm und sie aus dem Fenster des zweiten Stocks warf. Der Künstler sollte daraufhin wegen „geringfügigen Diebstahls“ angeklagt werden, aber vor Gericht sagte er, er wolle nicht mit solchen Formulierungen behelligt werden und lieber gleich ein ordentliches Strafverfahren bekommen. Letztlich blieb es dann bei zehn Tagen Untersuchungshaft. 

    Foto © AP/picture alliance
    Foto © AP/picture alliance

    Das sind bei Weitem noch nicht alle Abenteuer, die der Künstler erleben durfte. Er wurde dafür festgenommen, dass er sich in einem Telefongespräch negativ über den KGB-Chef Szjapan Sucharenka äußerte, und er sollte für eine Explosion zur Verantwortung gezogen werden, die am Kupalje-Fest 2013 auf seinem Grundstück passierte, als er Graupensuppe kochte. Mit den Geschichten, die sich um Puschkin ereigneten, könnte man wohl ein Buch füllen.

    Puschkin war dieser Typ Künstler, dessen Leben gern verfilmt oder in Romanen festgehalten wird. 

    2020 wurde Puschkin während der Proteste um die Wahlen verprügelt, und auch daraus machte er eine Performance, indem er die blauen Flecken an Bauch, Rücken und Hintern öffentlich zur Schau stellte. Der Künstler hatte zuvor drei Tage im Akreszina-Gefängnis verbracht. Er nahm an fast allen Sonntagsmärschen und auch anderen Aktionen teil, wobei er eine Ikone bei sich trug.

    Am 26. März 2021 eröffnete das Lukaschenka-Regime das Strafverfahren gegen ihn wegen des Auhen Shychar-Porträts. Am 30. März wurde Puschkin nach seiner Rückkehr aus dem Ausland festgenommen. Ein Jahr verbrachte der Künstler in Einzelzellen in Untersuchungshaft. Während einer Gerichtsverhandlung am 25. März 2022, die wie alle politisch motivierten Prozesse unter Lukaschenka einer Inszenierung glich, schnitt Puschkin sich zum Zeichen des Protestes den Bauch auf. Zudem weigerte er sich aufzustehen und verlangte, dass man ihm die Handschellen abnimmt. Am 30. März 2022 sprach Richterin Alena Schylko das Urteil: fünf Jahre Hochsicherheitslager. Ales Puschkin war einer von tausenden Belarussen, die aus politischen Gründen ihrer Freiheit beraubt wurden. 

    Die massenhaften politischen Repressionen in Belarus halten seit 2020 an, als Aljaxandr Lukaschenka – legt man die Ergebnisse der Wahllokale zugrunde, bei denen unabhängige Beobachter zugelassen waren – die Präsidentschaftswahl an Swjatlana Zichanouskaja verlor, sein Amt aber nicht abtrat. 

    Seit dem großangelegten Angriff Russlands auf die Ukraine im Jahr 2022 werden Belarussen auch für Meinungsäußerungen verfolgt, die sich gegen den Krieg richten und Sympathie mit der Ukraine bekunden. Seit 2020 gab es in Belarus mehr als 50.000 politisch motivierte Festnahmen; über 12.000 politische Strafverfahren wurden eröffnet. Zu manchen politischen Gefangenen besteht seit Monaten kein Kontakt mehr. 

    Ales Puschkin wurde im August 2022 von der Verwaltung des Lagers Nr. 22 mit fünf Monaten Isolationshaft bestraft. Im Frühjahr 2023 wurde er schließlich ins Gefängnis in Hrodna überstellt. In der Gefangenschaft malte Puschkin weiter, auf alles, was ihm in die Hände kam. Seine letzten Werke verbleiben bei den Lagerhäftlingen und Gefängnisinsassen, denen es gelang, sie zu bewahren. 

    Auf Anfrage teilte das Gefängnis in Hrodna Nasha Niva mit, dass Puschkin in die Notfallambulanz eingeliefert worden sei. Das Krankenhaus wiederum bestätigte, der inhaftierte Künstler sei mit Wachschutz in der Notaufnahme gewesen. Seine Familie wusste nichts davon. 

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  • Bilder vom Krieg #12

    Bilder vom Krieg #12

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Brendan Hoffman


    Kinder nehmen an einem Inlineskating-Kurs in Kyjiw teil. Aufgenommen am 13. Juni 2023 in Kyjiw / Foto © Brendan Hoffman
    Kinder nehmen an einem Inlineskating-Kurs in Kyjiw teil. Aufgenommen am 13. Juni 2023 in Kyjiw / Foto © Brendan Hoffman

    [bilingbox]dekoder: Erinnerst du dich an den Tag, an dem du das Foto aufgenommen hast?

    Brendan Hoffman: Ich habe dieses Foto am 13. Juni dieses Jahres gemacht, also nur eine Woche nachdem russische Streitkräfte den Staudamm von Nowa Katschowka im Süden der Ukraine gesprengt hatten. Die Menschen waren (und sind) immer noch wütend und schockiert darüber. Es ist eine so sinnlose Katastrophe. Die Sprengung scheint keinen anderen Zweck zu haben, als die ukrainische Zivilbevölkerung zu bestrafen. Aber die Ukrainer sind darin geübt, schnell zu reagieren. Also fanden die Menschen Wege, um sich gegenseitig zu helfen und gelassen zu bleiben.

    Den größten Teil des Tages habe ich in einem Tierheim verbracht, das Haustiere aufnahm, die bei der Überschwemmung von Cherson ausgesetzt worden waren. Den ganzen Tag von Hunden und Katzen umgeben zu sein – das ließ die Welt irgendwie in Ordnung erscheinen. Am Abend machte ich mich dann auf den Weg, um das Gebäude bei perfektem Licht einzufangen. Es ist immer noch schwer zu glauben, dass dies ein realer Ort ist. Es ist eines der wenigen Fotos, von dem ich schon im Vorhinein wusste, dass ich es machen wollte. Ich hatte allerdings keine Ahnung, dass dort ein Inlineskating-Kurs für Kinder stattfinden würde. Das war reines Glück. Für mich sind diese Kinder der Inbegriff von Freiheit.

    Wie würdest du deine Erfahrungen als Fotograf während des Krieges gegen die Ukraine beschreiben?

    Meine Erfahrungen sind insofern etwas ungewöhnlich, als dass ich ein dauerhaft in der Ukraine lebender Ausländer bin. Meine Frau ist Ukrainerin. Als die Invasion begann, konnte ich nicht einfach wieder nach Hause gehen. Zu allem Überfluss war meine Frau Ende Februar letzten Jahres im sechsten Monat mit unserem ersten Kind schwanger. Wir erlebten die erste Phase der Invasion zu Hause in unserem Schlafzimmer in Kyjiw. Dann verließen wir die Stadt. Etwa einen Monat lang arbeitete ich weiter, so gut es eben ging. Aber dann musste ich mich darauf konzentrieren, eine neue Wohnung in einem anderen Land zu finden und mich rechtzeitig dort einzuleben, um unseren Sohn auf der Welt willkommen zu heißen.

    Vor einem Jahr kehrten wir schließlich in die Ukraine zurück. Ich gehe nicht oft an die Front, sondern bleibe meist in Kyjiw. Das ist zwar manchmal gefährlich, aber es gibt mir die Möglichkeit, zu erkunden, wie der Krieg alles berührt – auch abseits der Front. Und, wie alles trotzdem weitergeht.

    Wie sollten Fotografen den Krieg deiner Meinung nach abbilden?

    Ich denke, wir müssen über einzelne Fotos hinausdenken und uns auf den Gesamteindruck konzentrieren, den wir als Fotografen vermitteln. Es gibt visuelle Klischees. Wenn man die bedient, kann das dazu führen, dass fade, sich wiederholende und zu vereinfachte Bilder entstehen. Daran bin ich genauso schuld wie jeder andere auch. Soweit es möglich ist, müssen wir versuchen, ehrlich und klar zu zeigen, wie der Krieg ist: nicht nur für die Soldaten oder für die Opfer eines Raketenangriffs. Sondern für all die Millionen von Menschen, die ihn durchleben. Das kann kompliziert sein.

    Gerätst du manchmal auch an den Rand deiner Möglichkeiten als Fotograf – insbesondere seit Beginn des Krieges?

    Es gab Momente – zum Beispiel, als 2014 das Malaysia-Airlines-Flugzeug MH17 über dem Osten der Ukraine abgeschossen wurde –, in denen ich keine Fotos von dem machen wollte, was vor mir lag. Es war zu grausam, und solche grausamen Fotos würden mit hoher Wahrscheinlichkeit sowieso nicht veröffentlicht werden. Ich wollte das nicht tun und auch nicht dabei gesehen werden, wie ich solche Fotos mache. Es war, als ob die Leute eine falsche Vorstellung davon bekommen würden, was die Aufgabe eines Fotografen ist. Später bedauerte ich, dass ich die Bilder nicht gemacht hatte. Als historische Dokumente wären sie wichtig gewesen. Das ist es, was die Leute normalerweise meinen, wenn sie fragen, was auf einem Foto gezeigt werden kann oder sollte: Wie drastisch und blutig darf es sein, was ist akzeptabel? Krieg, das ist eine Frau, die von einer russischen Rakete aus ihrer Wohnung im 17. Stock in Kyjiw gesprengt wird und in Dutzenden von Teilen auf dem Parkplatz landet. Das war etwas, das ich letzten Monat gesehen habe. Die hässliche Realität zu vermeiden, fühlt sich an, als würde man die Wahrheit verbergen und einen Kreislauf des Tötens aufrechterhalten. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es wichtig ist, drastische Bilder zu machen, wenn man sie vor Augen hat – aber auch sehr genau darüber nachzudenken, wie sie, wenn überhaupt, gesehen werden.

    Wie lässt sich deine Position als Fotograf in der Ukraine beschreiben?

    Ich habe Glück, denn ich habe einen festen Arbeitsplatz und im Gegensatz zu vielen meiner ukrainischen Kollegen kann ich das Land verlassen, wann immer ich will. Ich bin zwar ziemlich eng mit der Ukraine verbunden, aber es ist trotzdem nicht mein Land. Ich werde nicht zum Kampf einberufen werden. Es ist ein schwieriger Balanceakt: Um gute Arbeit zu leisten, muss man einen Ort gut kennen, aber für mich ist auch eine gewisse Distanz erforderlich. Das war am Anfang am schwierigsten zu erreichen. Jetzt gibt es viele Momente, in denen ich weniger Beobachter sein möchte und stattdessen in irgendeiner Weise aktiver beteiligt sein möchte.~~~dekoder: Can you remember the day when you took the image? 

    Brendan Hoffman: I took this picture on June 13 of this year, so it was only a week after Russian forces blew up the hydroelectric dam at Nova Kakhovka, in southern Ukraine. People were (and are) still angry and in shock about it – such a pointless catastrophe that didn’t seem to have any function but to punish civilians and destroy infrastructure that supports some of the richest farmland in the world. Still, Ukrainians are practiced at leaping to action so people were finding ways to help and generally being stoic. I had spent most of the day at an animal shelter that was housing pets abandoned when Kherson flooded. Being surrounded by dogs and cats all day made the world feel kind of alright.

    How does the photo make you feel when you now look at it? 

    It’s still hard to believe this is a real place. It’s so perfect for the age. This is a rare photo that I knew ahead of time I wanted to make, and I made a special trip one evening to catch it with the perfect light. I had no idea there would be a children’s rollerblading class, however. That was pure luck, but to me those kids are freedom incarnate. 

    What were your experiences as a photographer during the war?

    I’m slightly unusual as far as my experience, in that while I am a foreigner, I live permanently in Ukraine and my wife is Ukrainian. When the full-scale invasion began, I couldn’t just do my assignment and then leave to go home again. To top it off, in late February of last year, my wife was nearly six months pregnant with our first child. We experienced the opening salvo of the invasion at home in our bedroom in Kyiv, and left the city the next day. I continued working as best I could for about a month but ultimately I had to focus on finding a new place to live in a different country and getting settled in time to welcome our son into the world. 

    We returned to Ukraine a year ago and I’ve been working pretty intensively since then, but again with a somewhat unusual role. I don’t often go to the front lines and instead mostly stay in Kyiv, which is sometimes dangerous but more often gives me the opportunity to explore the fascinating and telling ways that the war touches everything, but everything still carries on. 

    In your opinion: How should photographers depict the war?

    We have to think beyond individual frames to focus on the overall impression we give. There are deadline pressures and visual cliches that can conspire to produce bland, repetitive, and oversimplified imagery, and I’m as guilty as anyone of that. But to the extent possible, we really need to try to show with honesty and clarity of thinking what war is like, not just for soldiers or the victims of a missile attack, but for all the tens of millions of people living through it. It can be complicated.

    Where do you feel your own limits? Could you reflect on your own photographic position, especially within the context of the on-going war? 

    There have been times – for example, when Malaysia Airlines flight MH17 was shot down over eastern Ukraine in 2014 – when I felt like a vulture and did not want to take pictures of what was in front of me. It was too graphic, and such graphic photos wouldn’t be likely to be published anyway. I didn’t want to do it and I didn’t want to be seen doing it. It was like people would get the wrong idea about what a photographer’s purpose is. Later, I had regrets that I hadn’t made the pictures. I still think they were too graphic to be published, but they would be important as historical documents. This is normally what people mean when they ask about what can or should be shown in a photo: how graphic and bloody is acceptable? Of course, that’s what war is, it’s a woman blown out of her 17th floor apartment in Kyiv by a Russian missile and landing in the parking lot in dozens of pieces. That was something I saw last month. It’s a dilemma because avoiding the ugly reality feels like hiding the truth and perpetuating a cycle of killing. I’ve come to the conclusion that it’s important to make graphic pictures when presented with them but to be very thoughtful about how, if ever, they are seen.

    As for my overall photographic position, I’m lucky. I have steady work and unlike many of my Ukrainian colleagues, I can leave the country when I want to and take a break, or I could pack up and move away entirely. While I’m pretty deeply enmeshed in Ukraine, it is still not my country and I’m not going to be called up to fight. It’s a tricky balance: doing good work requires deep knowledge of a place but for me, it also requires a certain detachment. That was the hardest thing to achieve early on, and now there are a lot of times when I would like to be less of an observer and instead be more actively involved in some way.[/bilingbox]

    BRENDAN HOFFMAN

    geboren 1980 im US-Bundesstaat New York, lebt und arbeitet in Kyjiw. Er ist Mitbegründer des Prime Collectives, eine internationale Gruppierung aus Fotografen, Filmemachern und bildenden Künstlern, die sich in ihren Werken mit Fragen der sozialen und ökologischen Gerechtigkeit auseinandersetzen. Seit 2013 dokumentiert er vor allem die Geschehnisse in der Ukraine. Seine Arbeiten wurden weltweit vielfach veröffentlicht und ausgestellt.
    Regelmäßig verfasst er Beiträge für Medienhäuser wie die New York Times und National Geographic.


    Bildredaktion: Andy Heller
    Foto: Brendan Hoffman
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 28.07.2023

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  • Putins Ökonomie des Todes

    Putins Ökonomie des Todes

    Seit dem Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat die russische Führung den Sold für Berufssoldaten und die Kompensationszahlungen für jeden Gefallenen massiv erhöht. Der Ökonom Wladislaw Inosemzew hat einmal alle Zahlungen zusammengerechnet und sie damit verglichen, was ein junger Mann im zivilen Leben verdienen könnte. Sein Fazit: Gerade für Familien aus den ärmeren Regionen des Landes eröffnet der Kriegseinsatz eines Angehörigen ungeahnte Einkommensperspektiven. Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens.


    Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens / Foto © Celestino Arcex/NurPhoto/imago images
    Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens / Foto © Celestino Arcex/NurPhoto/imago images

    Unter russischen Intellektuellen hat sich jüngst die Erkenntnis breit gemacht, dass der Staat den Tod aktiv als etwas Erhabenes und Reinigendes instrumentalisiert. „Sie werden einfach verrecken, aber wir kommen in den Himmel“ – das mag noch wie ein Witz geklungen haben. Aussagen, dass der Tod auf dem Schlachtfeld ein gelebtes Leben wertvoll mache, sowie Äußerungen weltlicher und religiöser Führer über den Tod als besondere Leistung deuten jedoch darauf hin, dass in der Ideologie von Putins Russland zwar vielleicht noch kein Todeskult herrscht, aber eine von der Soziologin Dina Khapaeva als „Thanatopathie“ bezeichnete Haltung offensichtlich weit verbreitet ist. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass die Versuche, den gewaltsamen Tod als etwas Natürliches oder gar Erhabenes darzustellen, mit der gegenwärtigen Faschisierung Russlands einhergehen. Parallelen zum Deutschland der 1930er Jahre drängen sich auf. Allerdings ist Russland keine klassische, ideologisierte, totalitäre Gesellschaft mit einer Faszination für Kampf und Tod, sondern ein durch und durch kommerzieller Staat, in dem Geld alles entscheidet. Daher sollte einer Analyse der ideologischen Hintergründe auch eine Bewertung der wirtschaftlichen Aspekte folgen.

    Der Kreml hat den umfassenden Angriffskrieg gegen die Ukraine mit dem Versprechen begonnen, dass die „militärische Spezialoperation“ mit Vertragssoldaten durchgeführt wird. Aufgrund der enormen Truppenverluste erlaubten die russischen Behörden jedoch bald die Rekrutierung von Häftlingen für sogenannte private Militärunternehmen („TschWK“) und verkündeten später eine Mobilmachung, die viele an die Einberufungen von 1941 erinnerte. Diverse Experten sagten voraus, dass der „Teilmobilmachung“ auch eine allgemeine Mobilmachung folgen werde. Die ist bislang jedoch ausgeblieben, vielmehr ließ das Militär verlauten, dass der Personalmangel in der Armee überwunden sei. Wie kann das sein, insbesondere angesichts der Verluste, die die russische Armee weiterhin erleidet? Vielleicht liegt die Antwort in der seltsamen Verbindung zwischen dem Todeskult und dem Kult des Geldes.

    Ein Soldat bekommt heute mehr als das Dreifache des Durchschnittsgehalts

    Betrachtet man die ersten Maßnahmen, die von der russischen Führung 2022 ergriffen wurden, so fällt auf, dass die Vertragsarmee, die im Februar in die Ukraine einmarschiert ist, noch eine ganz andere Armee war als jene, die im Laufe des Jahres gebildet wurde. So war beispielsweise 2019 ein Vertragssoldat eine Person, die bereits über militärische Erfahrung verfügte und mit 38.000 bis 42.000 Rubel [etwa 500 bis 550 Euro zum damaligen Kurs – dek] brutto besoldet wurde. Wenn man bedenkt, dass das Durchschnittsgehalt in Russland damals bei 47.500 Rubel lag [etwa 630 Euro – dek], bekam das Verteidigungsministerium also für vergleichsweise wenig Geld einen gut ausgebildeten Soldaten. Wenn ein Soldat ums Leben kam, konnten dessen Angehörige mit einer Entschädigung von drei Millionen Rubel rechnen [damals etwa 40.000 Euro – dek]. Ende 2022 sahen die Bedingungen für Vertragssoldaten ganz anders aus: Der Sold betrug mindestens 195.000 Rubel [etwa 3000 Euro – dek]. Das ist mehr als das Dreifache des offiziellen Durchschnittsgehalts. Zudem lag im Todesfall allein die „Einmalzahlung des Präsidenten“ schon bei fünf Millionen Rubel [etwa 77.600 Euro – dek]. Zugleich wurde jeder genommen, der wollte, selbst Personen ohne jegliche militärische Erfahrung. Mit anderen Worten: Der Preis eines Soldaten ist in Russland um ein Vielfaches gestiegen, während seine professionellen Qualitäten in einem Ausmaß gesunken sind, das sich kaum abschätzen lässt. 

    Bis zum Beginn des umfassenden Angriffskriegs gegen die Ukraine war die russische Armee klar unterteilt in Einheiten mit Vertragssoldaten und Einheiten mit Wehrpflichtigen (Vertragssoldaten wurden zehnmal besser bezahlt als Wehrpflichtige). Inzwischen ist alles anders: Jetzt sind die im Rahmen der Mobilmachung eingezogenen Soldaten de facto ganz normale Vertragssoldaten, die den Regelungen für die Mindestbesoldung und die Entschädigungen im Falle von Verwundung und Tod unterliegen (gerade die Großzügigkeit gegenüber den Einberufenen im Herbst 2022 hat die Behörden dazu veranlasst, den Sold für „alte“ Vertragssoldaten zu erhöhen). Anders gesagt: Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein „ehrenvolles Schicksal“, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens. 

    Wie lukrativ? Die Antwort auf diese Frage mag überraschen. 

    Nehmen wir an, ein Bürger wird im Rahmen der Mobilmachung eingezogen und bald in die besetzten Gebiete der Ukraine geschickt, wo er fünf Monate kämpft und letztlich einer verirrten Kugel zum Opfer fällt. Sein Leben erlangt damit nicht nur eine „besondere Bedeutung“, sondern es wird auch noch mit viel Geld vergolten. Zunächst bezieht ein Soldat vom Moment der Mobilmachung an ein Gehalt von 195.000–200.000 Rubel [etwa 2000 Euro – dek]. Bei fünf Monaten Dienst kommt er also auf eine Million Rubel [knapp 10.000 Euro – dek]. Hinzu kommt die „Einmalzahlung des Präsidenten“ in Höhe von fünf Millionen Rubel [knapp 50.000 Euro für jeden Gefallenen – dek]. Darüber hinaus haben die Angehörigen des Soldaten Anspruch auf eine Versicherungsleistung, deren Höhe knapp drei Millionen Rubel [etwa 30.000 Euro – dek] beträgt. Und es gilt weiterhin die reguläre Entschädigung für den Tod eines an Kampfhandlungen beteiligten Militärangehörigen (seit 1. Januar 2023 beträgt diese 4,7 Millionen Rubel [etwa 47.000 Euro – dek]). Schließlich bekommen die Angehörigen des Gefallenen noch mindestens eine Million Rubel [etwa 10.000 Euro – dek] von den regionalen Behörden. Für die Angehörigen eines gefallenen Soldaten, der fünf Monate gedient hat, summieren sich die Zahlungen aus Lohn und Entschädigungen nach den geltenden Gesetzen und Vorschriften also auf etwa 14,8 Millionen Rubel [knapp 149.000 Euro – dek].

    Putins Regime heroisiert und glorifiziert den Tod nicht nur, es lässt ihn auch rational als eine gute Wahl erscheinen

    Schauen wir uns nun die Alternative an, und zwar das Leben, das unseren Helden erwartet hätte, wenn Putin nicht mit der „Entnazifizierung“ des „Bruderlandes“ begonnen hätte. Nehmen wir an, die Person wäre im Alter von 35–40 Jahren aus einer Region in den Krieg gezogen, die im Todesfall eine Million Rubel auszahlen kann (das trifft auf die Mehrzahl der Regionen in Russland zu). Zum Beispiel aus der Oblast Iwanowo, wo das Durchschnittsgehalt Ende 2022 bei 35.000 Rubel [etwa 350 Euro – dek] lag (ähnlich ist die Situation in den Oblasten Kostroma, Orjol, Tambow, Brjansk und Pskow, im gesamten Föderationskreis Nordkaukasus und in vielen Regionen Sibiriens, wo das durchschnittliche Monatsgehalt 40.000 Rubel nicht übersteigt). Da die Mobilmachung Männer betrifft und die Gehälter von Männern russlandweit im Durchschnitt 28 Prozent über denen von Frauen liegen, gehen wir davon aus, dass unser Soldat im zivilen Leben 40.000–42.000 Rubel verdient hat. In diesem Fall wären alle oben genannten Zahlungen so hoch wie sein Gesamtverdienst über einen Zeitraum von 31 Jahren. Fazit: Zieht ein Mann in den Krieg und kommt mit 30-35 Jahren ums Leben (also im besten und aktivsten Alter), ist sein Tod wirtschaftlich vorteilhafter als sein weiteres Leben. Mit anderen Worten, Putins Regime heroisiert und glorifiziert den Tod nicht nur, es lässt ihn auch rational als eine gute Wahl erscheinen. Zum Vergleich: In Ländern, in denen sich Staat und Gesellschaft vor allem auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bürger konzentrieren, wird der Tod eines Soldaten mit zwei bis drei durchschnittlichen Jahreseinkommen bewertet (zum Beispiel erhält eine Witwe in den USA eine einmalige Entschädigung in Höhe von 100.000 Dollar). 

    Der Wunsch nach „siegreichen Feldzügen“ könnte in Zukunft noch größer werden

    Das Obengenannte bezieht sich auf Soldaten der Streitkräfte der Russischen Föderation und der Rosgwardija, allerdings erhalten auch die Angehörigen von Wagner-Söldnern finanzielle Leistungen (in diesem Fall geht es um geringere Summen – Medienberichten zufolge beläuft sich hier die Entschädigung auf fünf Millionen Rubel, die Auszahlung erfolgt in bar). Mit anderen Worten: In Russland hat der „Ankauf von Menschenleben“ im großen Stil begonnen. Bleibt die Frage, ob die Entschädigung in Höhe des Durchschnittseinkommens für das gesamte restliche Arbeitsleben „angemessen“ ist, oder ob dieser Betrag weiter erhöht werden muss. Letzteres dürfte zunächst eher unwahrscheinlich sein, da die Bedingungen ohnehin lukrativ erscheinen. Wichtig ist aber etwas anderes: In die russische Armee treten derzeit und auch künftig vor allem Bürger aus relativ armen Regionen ein, wobei die meisten selbst nach lokalen Maßstäben über ein geringes Einkommen verfügen. Dementsprechend wird die Masse der Soldaten, die alle Strapazen des Militärdienstes überstanden haben, sich auch deutlich vom Durchschnittsbürger unterscheiden, und der Wunsch nach weiteren „siegreichen“ Feldzügen wird nur noch größer werden. 

    Die Ausgaben für Sold und Entschädigungen entsprechen knapp zehn Prozent des Staatshaushalts der Vorkriegszeit

    Russlands Führung betrachtet diesen Umstand indes nicht als Risiko. Ganz im Gegenteil, sie bemüht sich, die derzeitige Praxis zur Norm zu machen, indem sie Militärangehörigen immer größere Privilegien gewährt. So wurden nicht nur staatliche Zahlungen, sondern jegliche Hilfeleistungen für Soldaten von der Einkommensteuerpflicht befreit, und Kompensationszahlungen für gefallene Angehörige fließen im Falle einer Insolvenz der berechtigten Person nicht in die Konkursmasse ein. Paradoxerweise rechnet der Kreml ernsthaft mit einem positiven wirtschaftlichen Effekt durch die Schaffung einer hochbezahlten Berufsarmee. Geht man davon aus, dass die Zahl der Einberufenen und der Vertragssoldaten bei 400.000–450.000 liegt, dann beläuft sich deren Besoldung insgesamt auf mindestens eine Billion Rubel pro Jahr [etwa 10 Milliarden Euro – dek]. Noch einmal etwa die gleiche Summe muss der Staat für Entschädigungszahlungen für getötete und verwundete Soldaten aufwenden, wenn wir davon ausgehen, dass es pro Jahr 50.000 [Getötete] und 100.000 [Verwundete] sind. Diese Beträge entsprechen knapp zehn Prozent der föderalen Staatsausgaben in der Zeit vor dem Krieg. Einige Experten sagen sogar voraus, dass eine neue soziale Gruppe von „jungen Reichen“ entstehen wird. Generell wird die „Todesökonomie“ zu einer Art neuer Normalität für die Staatsmacht und für in ihrem Dienst stehende Wirtschaftsfachleute. 

    Natürlich wäre es verfrüht, nach lediglich anderthalb Jahren Krieg weitreichende Schlüsse zu ziehen, auch wenn die Geschichte zeigt, dass sich Zahlungen und Entschädigungen aller Art zwar leicht erhöhen lassen, eine Kürzung aber praktisch unmöglich ist. Eines ist allerdings klar: Die russische Führung hat nach entsprechender „ideologischer Vorbereitung“ tatsächlich ein System geschaffen, in dem das Leben für einen Menschen aus wirtschaftlicher Sicht nicht die beste Wahl darstellt. Mit dieser Erkenntnis wird ein Bewusstseinswandel einhergehen, der sich zweifellos auf den gesamten sozialen Bereich auswirken wird, von der Gesundheitsversorgung bis zum Rentensystem. Man hat das Land an den Tod gewöhnt und das Sterben wirtschaftlich attraktiv gemacht. 

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    Verboten in Belarus: Literatur und Autoren

    „Leser schreiben, dass sie meine Bücher aus Bibliotheken retten, damit sie nicht vernichtet werden. Sie bewahren sie bis zu besseren Zeiten auf. Wir schreiben das 21. Jahrhundert in Belarus: Bücher müssen aus Bibliotheken gerettet werden.“ Dies sagte Alhierd Bacharevič in einem Interview mit dem Online-Medium Zerkalo. Gleich zwei Romane des belarussischen Schriftstellers wurden von den Behörden in Belarus für „extremistisch“ erklärt. So gehen die Machthaber um Alexander Lukaschenko seit den Protesten von 2020 nicht nur gegen Oppositionelle, Aktivisten, Journalisten, Medien oder NGOs vor, sondern eben auch gegen Literatur. 

    Das Online-Medium Mediazona Belarus stellt Bücher und ihre Autoren vor, die auf der Liste „extremistischer Materialien“ gelandet sind, auf der sich das Medium seit 2022 selbst befindet. 


    Illustration © Taja L./Mediazona
    Illustration © Taja L./Mediazona

    Die im Folgenden vorgestellten Bücher wurden vom belarussischen Regime als „extremistisch“ eingestuft. Wer sie besitzt oder verbreitet, kann in Belarus mit Geld- oder Freiheitsstrafen geahndet werden.

    Alhierd Bacharevič: Sabaki Europy (Die Hunde Europas)

    Worum es geht: Die Hunde Europas – eine Antiutopie in sechs Einzelgeschichten. In einem der Handlungsstränge hat Belarus längst seine Souveränität verloren und gehört zu Russland.

    „Mir gefällt die Idee, dass die Hunde Europas die Belarussen sind. Der Hund ist ein Wesen, das stets in der Nähe des Menschen lebt, er hat seine eigene Sprache, seine Weltsicht. Der Hund ist scheinbar immer in unserer Nähe. Er versucht uns etwas zu sagen, aber wir verstehen es nicht“, erzählt der Autor über sein Buch.

    Der Autor: Der Schriftsteller Alhierd Bacharevič lebte in Deutschland, kehrte dann nach Belarus zurück und hat das Land nach den Protesten von 2020 erneut verlassen. Das Buch erschien erstmals 2017 im Verlag Lohvinau, 2021 wurde es im Verlag Januškievič neu aufgelegt. Die in Litauen gedruckte Auflage der Hunde wurde an der Grenze vom belarussischen Zoll beschlagnahmt, um eine Expertise „bezüglich Extremismus“ vorzunehmen. Am 17. Mai 2022 wurde der Roman per Gerichtsbeschluss in die Liste der extremistischen Materialien aufgenommen. 

    Der Verlag Januškievič musste seine Arbeit in Belarus nach einer Razzia in der gerade erst eröffneten Buchhandlung Knihauka einstellen. Zuerst waren Mitarbeiter der Propagandaabteilung dort aufgetaucht, später Silowiki. Die Bücher wurden mitgenommen, der Verlagsgründer und eine Mitarbeiterin wurden mehrfach wegen Ordnungswidrigkeiten bestraft. Heute führt der Verlag Januškievič seine Arbeit im Ausland fort.

    Alhierd Bacharevič schrieb, die beschlagnahmte Auflage der Hunde sei „mit Traktoren in die Erde gemalmt“ worden.


    Alhierd Bacharevič: Aposchnjaja kniha pana A (Das letzte Buch von Herrn A.)

    Das Buch wurde 2020 von den Verlagen Januškievič und Vesna gemeinsam herausgegeben. 

    Worum es geht: Der Protagonist des Buches, Herr A., muss zur Begleichung einer Schuld Märchen erzählen – aus denen dieses Buch besteht. Währenddessen wird die Welt von einer Epidemie heimgesucht.

    Bacharevič erläuterte, dass die Handlung erdacht wurde, „lange bevor das Wort Coronavirus auf der Welt auftauchte“. „Eine Gruppe von Intellektuellen versammelt sich in einem Minsker Haus, lauscht jeden Abend Märchen, während sich draußen etwas Unglaubliches abspielt, eine Epidemie, die Pest des 21. Jahrhunderts.“

    Das Buch wurde am 6. März 2023 für extremistisch erklärt. Eine Überprüfung des Buches auf „Extremismus“ befand die Spezialkommission für „nicht zielführend, da die Formulierungen offensichtlich sind“. Der Extremismus sei offensichtlich!

    Der Autor äußerte sich dazu in einem Interview mit Zerkalo: „In dunklen Zeiten ist Literatur immer auch Politik. Und so ist auch Das letzte Buch von Herrn A. keineswegs unpolitisch. Es erschien 2020. Auf der ersten Seite lesen wir: ,Es gibt kein Ziel außer dem, deine dir gegebenen Tage würdevoll und bewusst zu erleben, bis zum Ende, was auch immer die mächtigsten Mächtigen, die brutalen Spaßmacher und Blutsauger sich ausdenken‘ [hier zitiert nach der deutschen Übersetzung von Alhierd Bacharevič und Andreas Rostek, edition.fototapeta, 2023 – dek]. Herr A. erzählt im Buch verschiedene Geschichten, die meisten sind direkt mit der belarussischen Wirklichkeit verknüpft. In dem Märchen Raman Burak, der Mensch konstruieren Emigranten einen Robotermenschen. Er soll in das Land reisen, das sie verlassen haben, und den Führer der Nation töten. In dem Märchen In heitere Höhen (ein Zitat aus der Hymne der BSSR) tauscht ein Arbeiter die Staatsflagge am zentralen Fahnenmast des Landes aus und sieht, dass sie mit menschlichem Blut getränkt ist … Natürlich kann man all das als ,extremistisch‘ bezeichnen, wenn man die entstellte Sprache des Regimes verwenden möchte, die den Worten ihre ursprüngliche Bedeutung raubt.“


    Igor Iljasch, Jekaterina Andrejewa: Belorusski Donbass (Der Belarussische Donbass)

    Worum es geht: Das Buch ist der belarussischen Rolle im Krieg im Donbass gewidmet. Die Journalisten lassen Belarussen auf beiden Seiten der Front zu Wort kommen. 

    „Wir haben versucht, alle Berührungspunkte zu beleuchten: von der Beteiligung belarussischer Bürger an den Kampfhandlungen bis hin zur Rolle der Geheimdienste in diesem Prozess, vom illegalen Handel mit DNR und LNR bis hin zur Arbeit von Freiwilligen, von der politischen Konjunktur bis zur Informationsstrategie der Regierungen“, so die Autoren.

    Die Autoren: Die Journalisten Igor Iljasch und Jekaterina Andrejewa (Bachwalowa). 

    Das Buch wurde am 26. März 2021 für extremistisch erklärt. Jekaterina Andrejewa befindet sich in Haft. Zunächst wurde sie für einen Livestream vom Platz des Wandels zu zwei Jahren Straflager verurteilt, kurz vor dem Ende ihrer Haftzeit fand ein zweiter Prozess statt, in dem sie wegen „Staatsverrats“ angeklagt und zu acht Jahren und drei Monaten Straflager verurteilt wurde. 


    Anatoli Hatoutschyz: Adysseja kapitana BNR (Die Odyssee des BNR-Hauptmanns)

    Worum es geht: Das Buch handelt von Zimoch Wostrykau, einem Mitglied des Rates der Belarussischen Volksrepublik (BNR).

    „Das dramatische Schicksal eines seinem Heimatland ergebenen Belarussen unter dem Druck der bolschewistischen Kollektivierung, den Wirren der Kriegsjahre, erzwungener Emigration und schließlich der Rückkehr in die Heimat an Bord eines amerikanischen Flugzeugs, mit einem Fallschirm auf dem Rücken – zur Untermauerung der belarussischen Unabhängigkeit und Souveränität“, so heißt es im Klappentext des Buches über den Helden Zimoch Wostrykau.

    Schon Wostrykaus Vater war Repressionen ausgesetzt und starb im Gulag. Zimoch Wostrykau selbst verbrachte 23 Jahre in Straflagern und starb 2007 in Homel.

    Der Autor: Anatol Hatoutschyz ist Journalist in Homel und leitete die dortige Abteilung des Belarussischen Journalistenverbandes (BAJ). 

    Das Buch wurde am 16. März 2023 für extremistisch erklärt. Der Autor wurde mehrfach von Silowiki festgenommen, seine Wohnung wiederholt durchsucht. 


    Joseph Brodsky: Ballada pra malenki buksir (Die Ballade vom kleinen Schlepper), ein Kinderbuch, ins Belarussische übertragen von Alessja Aleinik

    Worum es geht: Ein kleines Schleppboot schuftet und schuftet, ohne je den Heimathafen zu verlassen: es schleppt Schiffe hinein in den Hafen und wieder hinaus.

    Der Autor: ist der russisch-amerikanische Schriftsteller, Dramaturg und Übersetzer Joseph Brodsky, die Übersetzerin Alessja Aleinik. 

    Das Buch erschien im Verlag Januškievič. Es wurde am 18. Oktober 2022 durch einen Beschluss des Stadtbezirksgerichtes Zentralny in Minsk für extremistisch erklärt. 

    Der Herausgeber Andrei Januschkewitsch schrieb, dass er während der Razzia in seinem Buchladen Knihauka in Minsk die Mitarbeiter der Antikorruptionsbehörde GUBOPiK fragte, was ihnen an diesem Buch Brodskys missfalle. „Ein Kindergedicht, veröffentlicht 1962, der Text ohne jeglichen Bezug zu Belarus … Zur Antwort bekam ich, dass die Farbgebung des Schleppbootes in den Illustrationen verdächtig sei (?!).“

    Illustration aus dem Buch Die Ballade vom kleinen Schlepper / Foto  © Andrei Januschkewitsch / Facebook
    Illustration aus dem Buch Die Ballade vom kleinen Schlepper / Foto © Andrei Januschkewitsch / Facebook

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    „Ich bin nicht für den Krieg, aber …“

    „Es tut weh, solche Zuschriften zu lesen. Dennoch werten wir sie als wichtiges Zeitdokument“, schreibt die Redaktion des russischsprachigen Exilmediums Meduza über den Artikel, in dem sie Rechtfertigungsversuche für Russlands Krieg gegen die Ukraine aus ihrer eigenen Leserschaft sammelt. 

    Darunter sind Aussagen von Personen aus Russland und seinen Nachbarstaaten, aber auch aus Deutschland und Österreich. In vielen finden sich Sorgen um die eigene Zukunft im Falle einer militärischen Niederlage Russlands. Einige spiegeln auch Phrasen und Narrative aus der russischen Propaganda wider. Auffällig ist, dass in nur einem der veröffentlichten Kommentare die ukrainische Bevölkerung vorkommt. 

    Ähnliche Erkenntnisse gewann auch das russische Forschungskollektiv Laboratorija publitschnoi soziologii (dt. Labor der öffentlichen Soziologie) in zwei Studien zur Haltung der russischen Gesellschaft gegenüber dem Krieg gegen die Ukraine. In ihrem Fazit Ende 2022 heißt es: „Ein erheblicher Teil der Unterstützung für den Krieg ist in der heutigen russischen Gesellschaft eine passive Unterstützung. Die Nicht-Gegner des Krieges würden es vorziehen, dass dieser nie begonnen hätte und wünschen sich, dass er bald endet. Und ein russischer Sieg ist für viele von ihnen sogar nur das geringere ,Übel‘.“


    „Es tut weh, solche Zuschriften zu lesen. Dennoch werten wir sie als wichtiges Zeitdokument“, schreibt Meduza über den Artikel, in dem es Rechtfertigungsversuche für Russlands Krieg gegen die Ukraine aus ihrer eigenen Leserschaft sammelt / Foto © Celestino Arcex/NurPhoto/imago images

    Andrej, 35, Wolgograd

    Der Krieg ist zu Ende, wenn eine der beiden Seiten gewonnen hat. Eine Niederlage würde für Russland eine nationale Demütigung bedeuten, das darf man nicht zulassen. Folglich müssen wir gewinnen – wir haben keine andere Wahl mehr.
    Die Ukraine will keinen Frieden. [Meduza: Ist das so? Das offizielle Kyjiw behauptet nur, es wolle alle von Russland annektierten Gebiete wieder zurückholen.] Die Ukrainer fordern immer mehr Waffen und beschießen russische Städte. Es ist schon viel zu viel Blut vergossen worden, um jetzt zu sagen: „Danke, das war’s. Lasst uns auseinandergehen.“

    Alexej, 24, Jakutsk

    Die Frage [von Meduza an die Leser nach Gründen, den Krieg zu unterstützen] ist nicht korrekt formuliert. Ich unterstütze den Krieg nicht, aber ich will auch nicht, dass Russland verliert. Dann wird es für alle noch schlimmer. Die Welt, wie wir sie kennen, wie wir sie gewohnt sind, wird mit Sicherheit zusammenbrechen, und es kommen noch dunklere Zeiten. Der Krieg ist ein Fehler, aber es darf keine Niederlage geben.

    Schlimmer als Krieg ist nur ein verlorener Krieg

    Pawel, 30, Deutschland

    Ich unterstütze den Krieg nicht, habe aber beschlossen, diesen Kommentar zu schreiben, weil die, die versuchen, Rechtfertigungen für diesen Krieg zu finden, oft mit Unterstützern gleichgesetzt werden.

    Ich bin wütend auf beide Seiten in diesem Konflikt. Auf Russland, weil es diesen dummen, blutrünstigen Krieg begonnen hat, der jeden Tag zu sinnlosem Töten führt. Auf die Länder, die die Ukraine unterstützen, bin ich wütend, weil sie nicht dazu aufrufen, die Kampfhandlungen unverzüglich einzustellen, also das sinnlose Töten zu beenden. [Meduza: Ist das so? Nein. Die westlichen Partner haben mehrfach von den russischen Machthabern gefordert, den Krieg zu beenden.] Stattdessen versorgen sie [diese Staaten] das Land immer weiter mit Waffen, obwohl sie wissen, dass das nur noch mehr Opfer bringen wird.

    Anonymer Leser, 38, ohne Ortsangabe

    Schlimmer als Krieg ist nur ein verlorener Krieg. Es war ein irrsinniger Fehler, ihn zu beginnen, aber jetzt muss man ihn gewinnen, sonst wartet auf uns das Leid der Besiegten. Putin unterstütze ich nicht, zum Teufel mit ihm.

    Oleg, 27, ohne Ortsangabe

    [Ich unterstütze den Krieg], weil ich denke, dass der „Friedensplan“, den Selensky vorgebracht hat und den der „kollektive Westen“ unterstützt, Russland mit hoher Wahrscheinlichkeit einen solchen Schaden zufügen würde, dass es daran zerbrechen könnte. Und mir ist bewusst, dass sich [in diesem Fall] mein Wohlstand, meine Sicherheit und meine Perspektiven stärker verschlechtern, als wenn die russische Armee den ukrainischen Streitkräften so sehr schadet, dass sie danach bei einem Friedensschluss mehr Kompromisse eingehen müssen.

    Mit der Zeit habe ich gesehen, wie viel Hass es gegenüber Russland und den Russen gibt

    Anonymer Leser, 36, Tjumen

    Ich unterstütze den Krieg nicht im Sinne der Z-Patrioten. Am 24. Februar [2022] war ich geplättet. Als Bürger der Russischen Föderation halte ich den Einmarsch der Truppen in die Ukraine zwar für einen Fehler, aber ein Abzug wäre ein Verbrechen. Ich habe nicht vor, die nächsten 20 Jahre Reparationen für Fehler zu bezahlen, die andere begangen haben. Mit der Verliererseite wird niemand reden.

    Zur Waffe greifen werde ich nicht. Man kann sagen, ich bin ein Beobachter, der nicht für die Ukraine ist. Ich war vor dem Maidan dutzende Male dort, ich weiß Bescheid, wie sich die Stimmung und Gesetze [im Land] verändert haben. Wenn dort ein europäischer Staat entstehen sollte, dann einer, der mit Francos Spanien oder Portugal unter Salazar vergleichbar ist und sich keinen Deut von Putins Russland unterscheiden würde.

    Viktoria, 28, Sankt Petersburg

    Am Anfang habe ich [den Krieg gegen die Ukraine] abgelehnt, wie alle kriegerischen Aktivitäten. Aber mit der Zeit habe ich gesehen, wie viel Hass es gegenüber Russland und den Russen gibt, die Schadenfreude über den Beschuss der Krim-Brücke, die aktive Aufrüstung der Ukraine durch den Westen – da wurde mir klar, dass die Russophobie und andere Dinge, die ich früher für stumpfe Propaganda gehalten hatte, nicht immer gelogen sind. Krieg bedeutet immer Leid, aber manchmal sind die unpopulären Entscheidungen die richtigen.

    Nikolaj, 27, Österreich

    Ich finde den westlichen Standpunkt nicht ganz korrekt und stimme Putins Terminologie von der monopolaren Welt mit doppelten Standards zu. Meiner Meinung nach hat der Westen das Boot selbst ins Wanken gebracht und macht nun Russland dafür verantwortlich. Darüber hinaus führen die stetige finanzielle Unterstützung der Ukraine und die kontinuierlichen Waffenlieferungen dazu, dass das ukrainische Regime den Krieg weiterführt und sich nicht auf Verhandlungen einlässt.

    Über drei Generationen büßen, die Atomwaffen abgeben und Reparationen zahlen – nein danke

    Artjom, 40, Berlin

    Ich unterstütze nicht in erster Linie den Krieg, sondern das russische Volk und Russlands Interessen. Ich war zuerst entschieden dagegen, aber im Laufe der Entwicklungen habe ich meinen Standpunkt geändert.

    Ich lebe seit 20 Jahren in Deutschland und habe noch nie solche Propaganda gesehen. Die westlichen Politiker und Medien haben eine absolut einseitige Position eingenommen: Russland ist der Aggressor, die Ukraine ein Heldenstaat; Putin hat immer Unrecht, und Selensky redet man nach dem Mund. Alle, die eine andere Position vertreten, werden aus dem Informationsfeld gedrängt und „gecancelt“.

    Die westeuropäischen Staaten erweisen sich als vollkommen willenlos und handeln auf Befehl der USA. Die Ukraine wird direkt von den Amerikanern kontrolliert. Dieser Konflikt beweist endgültig, dass es in Westeuropa keine und auch in Osteuropa kaum noch unabhängige Staaten gibt.

    Sergej, 27, Perm

    Ich stehe hinter dem Vorgehen meines Präsidenten und meines Landes. Ja, anfangs habe ich den Sinn dieser ganzen „Operation“ nicht wirklich verstanden, aber mit der Zeit habe ich die russophoben Äußerungen vonseiten der Ukraine als auch der EU und der USA gesehen. Jeder, der kritisch denken kann und auch nur irgendwie bei Trost ist, weiß: Russland ist kein „Terrorstaat“, wir verteidigen nur unsere Interessen und unsere Souveränität. Daher unterstütze ich wie die meisten russischen Staatsbürger diese militärische Spezialoperation in vollem Umfang, und wenn es erforderlich ist zu kämpfen – werde ich kämpfen.   

    Anonymer Leser, 30, Astana

    Innerhalb eines Jahres sind [meine] Autoritäten und moralischen Vorbilder zu Verrätern geworden (die den Bürgern des eigenen Landes Böses wünschen, die zu Sanktionen aufrufen, anstatt zu versuchen, sie aufzuheben), zu Schandmäulern (die finden, wir sollten uns ergeben und die Schuld auf uns nehmen), zu Schwächlingen und Lügnern. 

    Ich finde auch jetzt noch, dass Russland diesen Krieg nicht hätte beginnen sollen, das war ein großer Fehler. Aber die Art von Ausgang, den jene [Politiker] vorschlagen, auf die ich [früher] gehofft habe, ist peinlich, schmerzhaft, erniedrigend und verlogen. Da warte ich lieber auf Putins Nachfolger: In Russland gibt es genug kluge Köpfe.

    Über drei Generationen büßen, die Atomwaffen abgeben und Reparationen zahlen – nein danke. Ich hoffe, dass der Krieg bald vorbei ist und möglichst wenige Menschen darin umkommen – vor allem keine Russen, aber auch keine Ukrainer. 

    Ruslan, 28, Kasan

    Ich bin nicht für den Krieg, aber verurteile Russland auch nicht dafür. Meines Erachtens hat Russland dadurch, dass es diesen Krieg angefangen hat, seine diplomatische Schwäche und Unfähigkeit zur Einigung mit seinen Nachbarländern gezeigt. Ich teile aber nicht die Sichtweise jener, die Russland schon mit dem faschistischen Deutschland vergleichen

    Erstens hatte die Ukraine die Wahl, sie hätte in den ersten Tagen des Krieges, als alles noch nicht so weit fortgeschritten war, mit uns verhandeln und unsere Forderungen erfüllen können. Sie hätte Territorium verloren, aber wäre als Staat bestehen geblieben. Ist etwa Territorium wichtiger als Menschenleben? Daher trägt auch die Ukraine eine Teilschuld am Tod jener Menschen, die getötet wurden. Ich bin mir sicher, dass die Menschen in jenen Gebieten, die an Russland fallen würden, keinesfalls schlechter leben würden. Vielleicht sogar in mancher Hinsicht besser. [dekoder: Die seltenen Berichte aus bereits von Russland besetzten Gebieten in der Ukraine zeichnen ein anderes Bild. Sie thematisieren häufig Verfolgung, Haft und Folter von Angehörigen ukrainischer Soldaten und zivilgesellschaftlichen Aktivisten.]

    Ich habe den Eindruck, dass auf der ganzen Welt niemand versucht, den Russen eine vernünftige Alternative zu Putins Forderungen vorzuschlagen

    Murad, 28, Moskau

    Mag unsere Regierung auch korrupt und ineffektiv sein, so stellt die Ukraine doch eine Gefahr für unsere Grenzen im Süden dar. Ohne die Schwarzmeerflotte auf der Krim verlieren wir den Einfluss im Schwarzen Meer und im Kaukasus. In den Jahren 2014 bis 2022 haben alle ukrainischen Regierungen aktiv verkündet, dass sie die Krim und die Gebiete im Osten mit Gewalt oder auf diplomatischem Wege zurückholen werden. Das sind unmissverständliche Drohungen. 

    [Zum Vergleich:] Jedes beliebige Land in Europa oder den USA wendet selbstverständlich Gewalt an, wenn es seine Grenzen bedroht sieht. Ihre aktuelle Rhetorik zeigt, dass sie mit zweierlei Maß messen.    

    Dimitri, 24, Moskau

    Die Idee, diesen Krieg zu beginnen, unterstütze ich nicht, aber ich bin auch nicht dafür, ihn jetzt zu beenden. Ich habe den Eindruck, dass auf der ganzen Welt niemand versucht, den Russen eine vernünftige Alternative zu Putins Forderungen vorzuschlagen. Die Staatsmacht lässt alle in Ruhe, die studieren oder etwas machen, das zur Verteidigung beiträgt, daher lässt sich der Krieg unter dieser Regierung überleben.

    Aus dem Ausland hört man nur Gerede über die finstere Zukunft [Russlands] oder über unsere Entmenschlichung. Da bleibe ich lieber bei meinen Landsleuten, als auf das Wohlwollen irgendeines Podoljak [Mychajlo Podoljak, Berater des Leiters des ukrainischen Präsidialamts] oder eines amerikanischen Beamten zu hoffen, der am Krieg verdient.  

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