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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Diktatoren unter sich

    Diktatoren unter sich

    Die zwei Diktaturen Russland und Belarus sind eng miteinander verwoben. Nicht nur ist Putins Russland der Garant für Lukaschenkos Herrschaft in Belarus. Auch der kleinere Nachbar kann dem großen Kriegsherren noch innenpolitisches Vorbild sein. 

    Die Strategien des Machterhalts moderner Diktaturen setzen weniger auf Unterdrückung als auf eine Imitation von Demokratie. Manche Experten bezeichnen diesen Ansatz als Smart Authoritarianism. Der oppositionelle russische Ökonom Sergej Gurijew schlägt den Begriff der Spin Dictatorship vor. Demgegenüber stehen Diktaturen, die sich auf bloße Gewalt und Angst stützen.

    In der belarussischen Morgen-Talkshow Obytschnoje Utro verortet Gurijew das Machthaber-Gespann Putin und Lukaschenko in diesem Konzept und skizziert Szenarien für ihr Ende.


    Die zwei Diktaturen Russland und Belarus sind eng miteinander verwoben. Der russische oppositionelle Ökonom Sergej Gurijew verortet im Interview das Machthaber-Gespann Putin und Lukaschenko in seinem Konzept des Spin Dictatorship / Foto © Gavriil Grigorow/SNA/imago images

    Sergej Gurijew: Wir haben Lukaschenko von Anfang an als Diktator der Angst eingestuft. Natürlich waren die Repressionen vor 2020 nicht so heftig, aber es gab sie von Beginn [seiner Herrschaft − dek] an, und zwar offen: Oppositionelle Politiker sind nicht erst vor der Wahl 2020 verschwunden, sondern auch schon zehn Jahre davor. Präsidentschaftskandidaten wurden inhaftiert. Das waren offene Repressionen. 
    Und erinnern Sie sich, wie Lukaschenko 2020 begann, über Propaganda nachzudenken – dazu musste er Experten aus Russland einladen. Da kamen Flugzeuge voller Propagandisten an, die ihm halfen, seine Propaganda in Schwung zu bringen. Bis dahin hatte Lukaschenko nie wirklich darüber nachgedacht, dass er irgendwelche Medienmechanismen brauchen könnte. Er hatte sich einfach auf Gewalt verlassen. 

    Obytschnoje Utro: Er ist also von Anfang an ein Diktator der Angst, interessant. Können Sie sich an diesen Wettlauf von Lukaschenko und Putin ab etwa 2000 erinnern: „Wer von beiden ist der größere Diktator?“ In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Putin eher ein Diktator der Täuschung ist.

    Ja, jedenfalls was die Anwendung von Gewalt anging, lag Putin hinter Lukaschenko zurück. In Russland hieß es immer, man müsse nach Belarus schauen, weil das, was in Belarus jetzt passiere, Russland ein paar Jahre später erreiche. Aber wir sehen Putin bis 2021/2022 wirklich als einen Diktator der Täuschung. 

    Die erste Auflage unseres Buchs erschien 2022 auf Englisch. Das Manuskript war im Frühjahr 2021 fertig. Damals sagten wir, dass sich Putin anscheinend bereits in diese Richtung bewegte. Abgeschlossen war diese Transformation in der ersten Woche nach Beginn des großen Angriffs auf die Ukraine 2022, als alle unabhängigen Medien geschlossen, Facebook, Twitter und Instagram blockiert wurden und Putin eine offizielle Zensur installierte, sodass man für solche Gespräche, wie wir sie gerade führen, für viele Jahre im Gefängnis landen kann. Das ist etwas, was es in Russland in den Jahren davor noch nicht gab. Aber diesen Wettlauf, den gab es tatsächlich. 

    Insgesamt bewegt sich das russische Regime auf eine Ausweitung der Repressionen zu

    Wir beschreiben auch, wie Diktatoren voneinander lernen. Diktatoren der Täuschung lernen voneinander, wie man Propaganda und Zensur am besten einsetzt. Diktatoren der Angst wiederum bilden andere Diktatoren der Angst sowie Diktatoren der Täuschung weiter. Insofern studieren nicht nur wir die Diktatoren, sondern auch sie tauschen untereinander ihre Erfahrungen aus. 

    Seit Beginn des großangelegten Angriffskriegs 2022 wetteifern sie jetzt, wer der Abgebrühtere ist? Zum Beispiel, wenn es um das Foltern der Bevölkerung geht? Oder wer die meisten politischen Gefangenen hat? Wer ist denn der größere Herodes, wie sehen Sie das?

    Na ja, so weit wie Lukaschenko geht Putin definitiv noch nicht. Russische Oppositionelle haben noch Kontakt zur Außenwelt, wenn auch sehr beschränkt. Sogar Alexej Nawalny kann aus dem Gefängnis heraus Botschaften schicken und mit seinem Anwalt reden. Von den belarussischen Oppositionellen hört man seit Monaten gar nichts mehr. Putin macht nicht, was Lukaschenko macht: Aufnahmen aus dem Jahr 2020 durch Gesichtserkennungsprogramme jagen und die Protestierenden von damals verhaften und foltern lassen. So etwas gibt es in Russland bisher nicht. Aber insgesamt bewegt sich auch das russische Regime auf eine Ausweitung der Repressionen zu.

    Einige Politologen, wie zum Beispiel der Belarusse Waleri Karbalewitsch, der häufig bei uns zu Gast ist, sind der Meinung, dass Lukaschenko heute sehr fest auf seinem Thron sitzt und nicht vor hat abzudanken. Gleichzeitig werden die Schrauben [der Repressionen − dek] von Tag zu Tag fester angezogen. Sie aber schreiben im Vorwort zu Ihrem Buch, dass Einschüchterung immer ein Zeichen von Verzweiflung ist, das eher auf Schwäche als auf Stärke hindeutet. Je mehr Belarus zu einem Konzentrationslager werde, desto sicherer könne man davon ausgehen, dass Lukaschenkos Kräfte mit jedem Tag schwinden.

     Ja, weil es eine Sackgasse ist. Man kann nicht mehr dahin zurückkehren, wo Belarus noch vor 2020 stand. Trotz aller Unzulänglichkeiten des Wirtschaftsmodells gab es doch einen Sektor für Spitzentechnologie, der Dienstleistungen in die ganze Welt exportierte. Belarus hatte trotz aller Probleme einen konkurrenzfähigen Wirtschaftszweig. Natürlich war das Land abhängig von Hilfe aus Russland, aber trotzdem − das, was früher war, wird nicht mehr wiederkommen. 
    Und jetzt, wo im Land russische Truppen stehen, hat Belarus natürlich seine Souveränität verloren. Putin kann, wann immer er will, den Staatschef austauschen. Auch in diesem Sinne führt das, was Lukaschenko macht, sein eigenes Regime in die Katastrophe. Er hat keine wirkliche Wahl mehr, er ist direkt von Putin abhängig, nicht nur von Putins Geld, sondern auch von Putins Soldaten. Das ist ein klares Zeichen dafür, dass sein Modell gescheitert ist. 

    Apropos scheitern, nicht nur sein Regime scheitert, er stürzt auch uns ins Verderben, nicht wahr? Er ist schon seit fast 30 Jahren an der Macht. Dass er seit 2020 nicht mehr abdanken kann, ist klar. Aus Ihrer Sicht als Wirtschaftswissenschaftler, wie teuer kommt uns Lukaschenkos Wunsch zu stehen, bis zu seinem Tod an der Macht zu bleiben? Kann man sagen, je länger er auf dem Thron sitzt, desto weiter wird er Belarus herunterwirtschaften?

    Das sowieso, mit Sicherheit. Das haben wir auch 2011 und 2012 gesehen, als die Regime in Nordafrika und im Nahen Osten gestürzt wurden. Wir haben gesehen, dass es in einem Land, in dem jahrzehntelang ein brutaler Diktator an der Macht war, weder eine Zivilgesellschaft noch eine Opposition gibt. Und je länger der Diktator an der Macht war, desto schwieriger ist das Schicksal des betreffenden Landes nach seinem Ende. 
    Das heißt nicht, dass die Demokratisierung schädlich ist. Das bedeutet, dass die Perspektive eines Landes schlechter wird, je länger ein Diktator an der Macht ist. Und die Schuld daran liegt nicht bei jenen Menschen, die nach dem Diktator kommen, sondern beim Diktator, der die Zivilgesellschaft zertrampelt und ausmerzt und die Wirtschaft ruiniert. Daher ist in einem Land, in dem ein brutaler Diktator jahrzehntelang alles Lebendige und Unabhängige im Keim erstickt hat, nichts Gutes zu erwarten. 

    Was könnten wir der Welt anbieten, sagen wir mal, wenn Lukaschenko nicht mehr wäre? Landwirtschaft? Also, wenn zum Beispiel die Schweiz für Käse und Schokolade steht und Belgien für Bier und Schokolade, womit könnte Belarus sich nützlich machen für die normale Welt? 

    Wie gesagt, Belarus hatte eine konkurrenzfähige Branche, nämlich die Programmierung. Aber generell ist Belarus ein ganz normales europäisches Land. Man kann sich ansehen, was in Polen oder den baltischen Nachbarländern von Belarus in diesen besagten 30 Jahren passiert ist. Das sind Länder mit hohen Einkünften geworden. Zwar jammern viele Leute, sie hätten Probleme, die Jugend wandere ab, die Wirtschaft bleibe immer noch hinter der deutschen zurück. Das stimmt alles. Aber welchen Weg zum Beispiel Polen in diesen 30 Jahren zurückgelegt hat, zeigt, um wieviel reicher Belarus sein könnte. Polens Pro-Kopf-Einkommen lag vor 30 Jahren auf demselben Niveau wie das der Ukraine vor dem Krieg. Heute ist es dreimal höher. Und Polens Beitritt zur EU und dass es trotz aller Probleme irgendwie die Korruption in den Griff bekommen und demokratische Institutionen geschaffen hat, zeigt, wie viel auch ein Land wie Belarus gewinnen könnte, wenn es den demokratischen europäischen Weg einschlagen würde. 

    Könnte da sozusagen die Export-Marke des „belarussischen IT-Fachmanns“ entstehen, die man auf der ganzen Welt kennt, oder … 

    Diese Marke gab es ja schon, nämlich bis 2020. Der High-Tech-Park war tatsächlich eine Marke, da gab es Firmen auf globalem Spitzenniveau, darunter natürlich EPAM, das man auf der ganzen Welt kennt. Natürlich litt die belarussische Wirtschaft unter der staatlichen Dominanz, aber gerade der High-Tech-Park war so eine Insel der Freiheit und der Orientierung am Weltmarkt. 
    Aber der Gedanke, dass Belarus nur ein einziges Produkt liefern soll, ist ja eigentlich Unsinn. Belarus ist ein ganz normales europäisches Land und könnte Teil der Weltwirtschaft werden. Daran ist nichts Übernatürliches. Wir haben gesehen, wie verschiedene Länder in der globalen Arbeitsteilung ihren Platz gefunden haben. Die Slowakei zum Beispiel produziert Autos. Hätte man vor 30 oder 40 Jahren ahnen können, dass die Slowakei einer der führenden Autoproduzenten der Welt sein wird? Ja, da wurde der Tatra hergestellt, aber der war ja, wie Sie wissen, nicht das qualitativ beste Auto der Welt. Und trotzdem werden heute in der Slowakei alle möglichen Marken hergestellt. Belarus war, wie gesagt, ein Exporteur von Spitzentechnologien und hochqualifizierten IT-Dienstleistungen. Und man kann davon ausgehen, dass Belarus auch andere Sachen produzieren könnte. 

    In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie wichtig die Unterstützung durch echte demokratische World Leader für Länder ist, die diesen Weg erst noch beschreiten wollen. Wir Belarussen haben große Angst, dass es Lukaschenko nach Russlands Niederlage im Krieg, wenn es denn eine geben wird, gelingen wird, trocken aus dem Wasser zu steigen. Kürzlich hatten wir Ekaterina Schulmann in der Sendung, die mutmaßte: „So schlau, wie er ist, könnte er es durchaus schaffen, mit den Ländern des Westens in eine Art Dialog zu treten.“ Gleichzeitig finden wir in Ihrem Buch den Satz: „Wenn der Mythos der Diktatur einmal entlarvt ist, kann man ihn nicht mehr wiederherstellen.“ Wie sehen Sie das, wie wahrscheinlich ist ein Szenario, in dem Lukaschenko unbescholten bleibt und obendrein vielleicht sogar noch als Friedensstifter wahrgenommen wird?

    Ja, das ist eine berechtigte Frage. Das hatten wir 2015 schon, als er sich freute: „Ich bin nicht mehr Europas letzter Diktator.“ Da gab es die Minsker Abkommen, und Lukaschenko sagte: „Der Westen braucht mich, weil ich nicht ganz so übel bin wie Putin.“ 
    Ich habe den Eindruck, dass so etwas seit 2020 nicht mehr möglich ist. Nach den Massenrepressionen, die wir gesehen haben, nach der Folter, nach Lukaschenkos Beteiligung an dem Großangriff auf die Ukraine 2022 sehe ich keinen Weg zurück mehr. Obwohl wir auf der Welt auch schon alles Mögliche gesehen haben. 

    Lukaschenkos Schicksal hängt von Putins Schicksal ab

    Insofern, wenn es ein größeres Übel als Lukaschenko gibt, nämlich Putin, dann kann es durchaus passieren, dass der Westen wieder nach Abstufungen von Irrsinn und Brutalität unterscheidet. Aber ich glaube nicht, dass Lukaschenko in den Klub der Zivilisierten zurückkehren kann, weil die Welt die Folter gesehen hat, weil die Welt die Misshandlungen gesehen hat, weil die Welt die gestohlenen Wahlen gesehen hat. 
    In dieser Hinsicht unterscheidet sich Belarus von Russland: Denn in Russland gibt es keine legitimen Politiker, die eine Wahl gegen Putin gewonnen hätten. Aber in Belarus gibt es sie. Und es hat natürlich seinen Grund, warum 2022 nicht nur gegen das Putin-Regime Sanktionen verhängt wurden, sondern auch gegen Lukaschenkos Regime. Dann war da noch die Flugzeugentführung. Da macht es schon nochmal einen Unterschied, ob man die eigene Bevölkerung foltert oder Staatsbürger westlicher Länder in Gefahr bringt. Also, ich glaube, für Lukaschenko gibt es keinen Weg zurück. 

    Wie stellen Sie sich dann sein Ende vor? Muss er vielleicht doch nach Den Haag? Oder gibt es ein anderes Szenario? In Belarus gibt es ja genug Menschen, die gern Gaddafis Schicksal für Lukaschenko sehen würden. 

    Ich glaube nicht, dass in Belarus dasselbe passieren wird wie in Libyen. Ich glaube, dass irgendwann ein Haftbefehl gegen Lukaschenko erlassen wird. Doch das Ende des Regimes wird davon abhängen, wie es in Russland weitergeht. Ein mögliches Szenario ist, dass Putin und Lukaschenko sich überwerfen. Aber ich halte es für wahrscheinlicher, dass Putin Lukaschenko an der Macht lässt und Lukaschenko ab dem Moment, da Putin weg ist, weder Soldaten noch Geld haben wird, um sich im Sattel zu halten. Dann wird er sich irgendwohin nach Dubai oder Venezuela absetzen und das Regime in sich zusammenbrechen. 

    Ich glaube nicht, dass er festgenommen und umgebracht wird. Ich glaube, dass er versuchen wird zu flüchten. Jedenfalls wurde bereits 2020 deutlich, dass dieses Regime ohne Putins Unterstützung nicht lebensfähig ist. Für Russland sind das keine hohen Geldbeträge, mit denen es Lukaschenko stützt, das könnte es sich bis in die Ewigkeit leisten. Aber für Belarus ist die Unterstützung durch Russland entscheidend. Also hängt Lukaschenkos Schicksal von Putins Schicksal ab. 

    Auf diese Ewigkeit möchte ich genauer eingehen. Was passiert momentan mit Russlands Wirtschaft? Seit Kriegsbeginn sind schon eineinhalb Jahre vergangen … Mein Gott, seit 2014! Und dann kamen Sanktionen und nochmal Sanktionen, immer mit der Erwartung, gleich ist es mit der russischen Wirtschaft aus und vorbei – aber es geht immer weiter. Was hat Russland da zum heutigen Tag für eine Knautschzone? 

    Die Wirtschaft in Russland durchläuft keine Krise, sie steht nicht vor dem Untergang, aber sie wächst auch nicht, und Putin geht langsam das Geld aus. Wenn die Sanktionen weiter verschärft werden, wird er noch weniger Geld haben. Das wirkt sich unmittelbar auf das Geschehen auf dem Schlachtfeld aus. Putin hat nicht Geld und Munition ohne Ende, daher kann er auch nicht immer wieder neue Gebiete erobern. Andererseits sehen wir, dass die Menge an Soldaten und Munition, die Putin zur Verfügung hat, ausreicht, um die aktuelle Frontlinie zu halten. Deswegen muss der Westen, wenn er Putin wirklich auf dem Schlachtfeld besiegen will, auch mehr liefern − mehr Waffen an die Ukraine liefern, die Sanktionen verschärfen und auch die Schlupflöcher stopfen und den Preisdeckel für den Export russischen Erdöls senken. 

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  • Zahnloses Raubtier

    Zahnloses Raubtier

    Stars sind immer auch Identifikationsfiguren. Die russische Gesellschaft beobachtet sehr genau, wie sich Musikerinnen und Musiker, Künstlerinnen und Künstler zum Krieg positionieren. Lassen sie sich vor den Karren der Propaganda spannen wie der Rockbarde Grigori Leps, die Sängerin Polina Gagarina oder der einstige Skandalrocker Sergej Schnurow? Ziehen sie sich zurück und schweigen, wie die Pop-Sängerin Olga Busowa? Oder sprechen sie sich klar gegen den Krieg aus und nehmen dafür auch Konsequenzen in Kauf, wie die Schlager-Ikone Alla Pugatschowa und ihr Mann, der Comedy-Star Maxim Galkin? Und was sind die Motive für die eine oder andere Haltung? Echte Überzeugung, Anbiederung oder Zwang vonseiten der Staatsmacht? 

    Wer sich öffentlich gegen den Krieg positioniert, dessen Karriere ist in Russland schnell beendet, Konzerte sind nicht mehr möglich. Ende August hat der Fall des Pop-Rockers Roman Bilyk für Aufsehen gesorgt, bekannt unter dem Künstlernamen Zver (dt. Raubtier). Nach Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine hatte sich Bilyk wiederholt gegen den Krieg ausgesprochen. Dann tauchte plötzlich ein Video auf, in dem Zver ein Konzert vor russischen Soldaten hinter der Front gibt und sich ansieht, wie die Artillerie ein paar Schüsse abfeuert. Für viele Fans eine schmerzhafte Enttäuschung. Wie auch für den Autor der Novaya Gazeta Europe, Wjatscheslaw Polowinko.


    Nach Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine hatte sich Roman Bilyk, Frontmann der Band Zveri, wiederholt gegen den Krieg ausgesprochen, nun gab er ein Konzert für russische Soldaten an der Front / Foto © Sergei Bobylev/ITAR-Tass/imago images

    Am 21. August 2023 hat der Propangandist Semjon Pegow (auf Telegram bekannt unter dem Pseudonym War Gonzo) ein Video mit Roman Bilyk alias Roma Zver, dem Frontmann der Band Zveri verbreitet, auf dem zu sehen war, wie dieser seine Songs in der „Volksrepublik Donezk“ vor Soldaten hinter der Front spielte. Und Zver singt da nicht nur, sondern führt sich auf wie ein echter Kämpfer. Das rief heftige Reaktionen hervor, weil die Band Zveri bis dahin den umfassenden Krieg gegen die Ukraine scharf verurteilt hatte. 

    Um die Metamorphose von Roma Zver zu verstehen, werfen wir einen kurzen Blick in die Vergangenheit. Ende Mai machte der Zveri-Leadsänger in einer Bar in Samara heftig Randale, warf mit Stühlen und Sonnenblumenkernen (!), fluchte derb – mit einem Wort, er führte sich auf wie ein echter Punk. Wie steht es um die psychische Verfassung eines Menschen, der sich so verhält? Entweder ist ihm von Vornherein klar, dass das für ihn keine Folgen haben wird, oder er kann sich aufgrund von Stress (und einer nicht zu verachtenden Menge von hartem Alkohol) nicht mehr beherrschen. In Zvers Fall ist Zweiteres wahrscheinlicher: Der Musiker hatte nach Kriegsbeginn über ein Jahr lang im Netz antimilitaristische Statements veröffentlicht, und obwohl sich die Zahl seiner Konzerte nicht wirklich verringerte, standen die Zveri vonseiten der „patriotischen“ Öffentlichkeit doch ordentlich unter Druck. Ein paar Wochen nach dem Vorfall in Samara wurde ein geplantes Konzert auf dem Sankt Petersburger Wirtschaftsforum abgesagt und durch die eindeutig staatskonforme Band Tschish & Co ersetzt. Parallel dazu wurde gefordert, zu überprüfen, ob Roma Zver die ukrainischen Streitkräfte finanziell unterstützt hat. Die absolute Katastrophe für einen, der Russland nicht verlassen will.

    Und plötzlich taucht Bilyk vor ein paar Wochen in Anton Beljajews Projekt LAB mit einem Song von Jegor Letow auf: Pro duratschka – (dt. Über einen Dummkopf). LAB ist ein Großprojekt zur Produktion von Coverversionen, sozusagen von Neuinterpretationen. Wichtig ist jedoch: Zu Beginn werden diese Coverversionen auf VKontakte veröffentlicht, und Roma Zver ist der einzige Interpret mit explizit antimilitaristischer Haltung. 

    Sowohl Zvers Teilnahme an diesem Projekt als auch das Lied darüber, dass es „im Feuer des Schützengrabens keine Atheisten“ gebe, waren bereits ein Signal, dass sich etwas verändert hatte – aber was da genau passiert war, war nicht ganz klar. 

    Und jetzt ist Roma Zver in die „Volksrepublik Donezk“ gefahren und ist nicht nur vor Soldaten aus Russland aufgetreten, sondern hat auch in Helm und Panzerweste beim Kanonenbeschuss mitgemacht (nur die Munition hatte ihm schon jemand zurechtgelegt). „Sehr tiefe Frequenzen, und dann das ganze Spektrum“, kommentierte er den Sound. Und dann sang er:

    Genieße deine Siege, 
    rede, verdränge, dass du schwach bist. 
    Spar dir deine Ratschläge, Kleiner! 
    Erzähl, erzähl, wie toll du bist.

    Die ehemaligen Fans verbergen im Netz ihren Schock hinter Spott: „Der harte Alkohol zeigt Folgen“, „Alles, was mit dir zu tun hat, geht den Bach runter“, „Mädels und Jungs kämpfen – eins-zwei-drei“, „Iskander-Regen“ – und so weiter. Mit einer Zeile aus einem Zveri-Song lässt sich auch erklären, was mit Bilyk los ist: So ist es einfacher, so ist es leichter. Du löschst die Postings gegen den Krieg, singst für Russlands Soldaten, bekommst Anerkennung von Sachar Prilepin und hast mit deinen Konzerten von nun an keine Sorgen mehr. Zwei Konzerte in Moskau und Sankt Petersburg sind ausverkauft.

    Doch das Drama besteht bei Roman Bilyk nicht nur darin, dass er seine Instagram-Posts gelöscht hat und an der Front für die Russen singt. Vor dem Krieg trat Roma Zver zum Beispiel für Kirill Serebrennikow ein, als dieser mit seinem Theaterlab Sedmaja studija vor Gericht stand. Dort äußerte Roma Zver Folgendes:

    • „Dieser Prozess lässt erkennen, was die Staatsmacht von uns hält. Wir zählen für sie gar nicht.“
    • „Alle Massenmedien, alle staatlichen Kanäle verbreiten Propaganda.“
    • „Es fühlt sich an, als wären wir alle für sie nichts als Vieh, lauter ungebildete Leute: Ihr seid Vieh, haltet still und schweigt.“
    • „Peskows Märchen glaube ich nicht und will sie nicht hören, weil das auch wieder lauter Geschichten für Leute sind, die Lichtjahre entfernt sind von dem, was tatsächlich bei uns passiert.“

    Alles, was Zver da beschreibt, wurde nach dem 24. Februar 2022 nur noch schlimmer – und bis zu seiner Fahrt in die „Volksrepublik Donezk“ war ihm das auch völlig klar. Und trotzdem sagte er sich bewusst von seinen eigenen Ansichten los, knickte ein und verbog sich. Bedenkt man, dass Roman einen beträchtlichen Teil seiner Jugend in Mariupol und Kyjiw verbracht hat, wird sein Sinneswandel umso fataler. 

    Möglicherweise sitzt der Zveri-Frontmann dem Irrglauben auf, dass „es mein Land ist, auch wenn es Fehler begeht“. Vielleicht versucht Roman Bilyk, sich damit zu beruhigen, dass auch Russland offiziell gegen Kriege ist: Wie uns das staatliche Fernsehen erzählt, fängt Russland ja Kriege nicht an, sondern beendet sie nur.  

    Es ist nicht auszuschließen, dass Bilyk ein Strafverfahren angedroht und ein Angebot gemacht wurde, das er nicht ausschlagen konnte. Wir wissen es nicht, aber das ist jetzt auch egal.  

    Wie ein wucherndes Krebsgeschwür – nur ist es in diesem Fall ein Gewissenskrebs

    Der Kompromiss, zu dem viele Prominente gezwungen sind, die in Russland geblieben sind, ließ Roman in Schäbigkeit und Heuchelei abrutschen (was den „Patrioten“ nach wie vor missfallen könnte, aber mit ihrem Repertoire an Negativität werden sie sich Bilyks Meinungsumschwung mit der Phrase „Hat er’s endlich kapiert“ erklären). Was mit dem Frontmann von Zveri passiert, ist zudem insofern doppelt traurig, als hier vor unseren Augen ein Mensch bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird. Wie bei einem wuchernden Krebsgeschwür – nur ist es in diesem Fall ein Gewissenskrebs. Und es bleibt einem nichts anderes übrig als zuzusehen, wie das Ende naht. 

    Roma Zver ist natürlich nicht der Erste, der sich so verändert. Nicht nur durch psychologische Manipulation sagt man sich von seiner Meinung und seiner Vergangenheit los, sondern auch aus banaler Dummheit: Erinnern wir uns nur an Maria Schukschina, die ihr Gedenken des eigenen unter Stalin erschossenen Großvaters gegen eine Vergötterung Stalins für seine „Bewahrung der Kirche“ (!) eintauschte. Aber weder Schukschina noch Grigori Leps oder Dima Bilan, die in Videos über Kinder aus dem Donbass mitspielen, noch Valentina Talysina und Alexander Paschutin lösen eine so schwere Enttäuschung aus: Von denen war nichts anderes zu erwarten. Hier jedoch wird ein Jugendidol dekonstruiert – noch dazu ein Rocker (wenn auch ein sehr poppiger). Viele glauben – übrigens zu Unrecht –, dass einer, der Rock spielt, automatisch etwas vom Leben begriffen hat. Das ist eine absolute Illusion: Die Leute aus der Rock-Szene, die sich gegen den Krieg geäußert haben, kann man an einer Hand abzählen. Auf jeden Juri Schewtschuk kommt ein Dutzend Bands wie KnjaZz und Tschaif.    

    Das größte Unglück für Roma Zver aber ist, dass er mit dem Bewusstsein weiterleben muss, dass eine Kanone seiner ersten Heimat seine zweite Heimat beschossen und er mit Vergnügen dabei zugesehen hat. Schlimm ist nicht nur, dass Roma Zver den Krieg unterstützt, sondern dass er das auch noch geil findet. Kannibalismus ist ekelhaft – bis du den ersten Bissen Menschenfleisch kostest. Roman Bilyk scheint tief in sich drinnen einen tierischen Hunger verspürt zu haben. 

    Wessen Jugend beim Sound von Rajony-kwartaly (dt. Bezirke und Wohnblocks) blühte, der steht jetzt ebenfalls vor der Wahl. Die Musik der Zveri weiterhören, als ob nichts gewesen wäre, weil es „einfach eine so große Liebe“ ist? Oder „Sorry, Roma, ich hau ab“? Die Entscheidung scheint eindeutig – aber das scheint nur so, denn wir wissen nicht, wie viele Menschen, die eine ähnliche Verzweiflung durchgemacht haben wie der „echte Punk“ Roma Zver, genau solche Kompromisse eingehen wie ihr Idol. Nachdem auch „Helden bereit sind, für Geld zu sterben“, wieso sollen die anderen besser sein? Erst recht, wo doch die Menschen in der großen Masse gar keine Helden sind.  

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  • Unbequeme Archive: Moskau im Krieg

    Unbequeme Archive: Moskau im Krieg

    Alexander Gronsky ist einer der wenigen Fotografen, die nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in Russland geblieben sind. Er arbeitet an einer Serie von Bildern, auf denen der scheinbar kaum veränderte Moskauer Alltag untergründig im Zeichen unterschiedlicher Formen aggressiver militaristischer Propaganda verläuft. 

    dekoder sprach mit dem berühmten Moskauer Stadtlandschaftsfotografen über sein aktuelles Arbeiten, das anschließt an Moskau während des Krieges, eine Sammlung vom Juli 2022.


    Verteidigungsministerium der Russischen Föderation vom Gorki-Park aus gesehen, April 2023 / Foto © Alexander Gronsky

    dekoder: Hast du das Gefühl oder beobachtest du, dass sich die Atmosphäre auf den Straßen Moskaus in diesen eineinhalb Jahren Krieg verändert hat?

    Alexander Gronsky: Es wirkt, als hätte sich gar nichts verändert. Nur die Kriegspropaganda ist mehr geworden, aber davon gab es eigentlich auch vor dem 24. Februar 2022 schon viel, nur hat sie niemand ernst genommen. In vielerlei Hinsicht waren diese fehlenden sichtbaren Veränderungen in meinem Umfeld für mich der Ausgangspunkt meiner Arbeit. Ich befinde mich gewissermaßen inmitten der Prozesse und Ereignisse, doch die sind als solche fast unsichtbar. 

    Was bringen dir deine Streifzüge durch Moskau mit dem Fotoapparat persönlich, wofür nimmst du das alles auf, welchen Sinn siehst du darin?

    Für mich persönlich ist das eine Möglichkeit, mich zu konzentrieren und weniger in Panik zu geraten. Die Frage nach dem Sinn ist schwieriger, die verschiebe ich in die Zukunft. Das heißt, für mich ist klar, dass das Geschehen zur „unbequemen Geschichte“ gehören wird, die man lieber vergessen wollen wird, also müssen wir jetzt „unbequeme Archive“ für die Nachwelt anlegen.

    Fallen dir auf den Straßen Moskaus, abgesehen von den Propagandaplakaten und anderen „neuen“ Elementen „städtischer Ausgestaltung“ in Kriegszeiten, die deine Fotos zeigen, noch andere Spuren des Kriegs auf? Kriegsversehrte, Z-Aufkleber, Kriegsgerät, Folgen von Drohnenattacken, „Z-patriotische“ T-Shirts und dergleichen? Sind auf der Straße oder an sonstigen öffentlichen Orten Gespräche über den Krieg zu hören?

    Die Drohnenattacken sind die ersten Zeichen eines realen Kriegs, die in Moskau aufgetreten sind. Doch ich glaube, die, die hier geblieben sind, haben sich gedanklich schon auf das Schlimmste vorbereitet – diese Explosionen haben niemanden wirklich schockiert. Ansonsten ist alles wie immer, man geht shoppen und Cocktails trinken.

    Ist es im Vergleich zu den Jahren davor schwieriger geworden, auf der Straße zu fotografieren? Hat sich die Reaktion der Passanten oder vielleicht auch der Polizei auf einen Mann mit Fotoapparat verändert?

    Nein, den Eindruck habe ich nicht. 

    Wofür lebt derzeit die Moskauer oder generell die russische Fotografenszene?

    Die russische Fotografenszene lebt jetzt im Ausland. Die paar Fotografen, die geblieben sind, leisten eine wichtige Arbeit, aber sie bilden keine Szene. Es fühlt sich leer an. Allerdings hilft das, die Faulheit zu überwinden, auf einmal wirkt das Argument: „Wenn ich das jetzt nicht fotografiere, wird es womöglich keiner je fotografieren.“
         

    Riesiger Bildschirm an der Fassade eines Verwaltungsgebäudes zur Ausstrahlung von Putins alljährlicher Rede an sein „Parlament“ / Foto © Alexander Gronsky
    Gedenkmarsch „Unsterbliches Regiment“ auf der Twerskaja Straße, 9. Mai 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Haus des Unternehmers. Das Plakat wirbt für die Teilnahme an einem Wettbewerb für Drohnenentwickler. Links eine Bushaltestelle mit Werbung für den Dienst als Vertragssoldat in der russischen Armee / Foto © Alexander Gronsky
    Bolschoi-Theater am 9. Mai 2022, zum Tag des Sieges „geschmückt“ mit einer vergrößerten Kopie des sowjetischen Marschallordens „Sieg“ und Bannern sowjetischer Fronten im Zweiten Weltkrieg / Foto © Alexander Gronsky
    Probe für die Siegesparade am 8. Mai 2023 — Atomrakete „Jars“. Im Hintergrund ein Werbeslogan der staatsnahen Alfa-Bank: „Für die Klugen und Freien“ / Foto © Alexander Gronsky
    Reklametafel mit Werbung für den neuen russischen Propagandafilm „Nürnberg“ – laut Kritikern ein antiamerikanischer Blockbuster voller Verschwörungen, dessen Handlung vor dem Hintergrund der Nürnberger Prozesse spielt, März 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Figur eines altrussischen Kriegers mit einem Z, dem Symbol der Kriegspropaganda, auf dem Schild. Eisskulpturenausstellung im Museon-Park neben der neuen Tretjakow-Galerie, Dezember 2022 / Foto © Alexander Gronsky
    Militaristisches Wandbild, das auf „Die drei Recken“ von Viktor Wasnezow aus dem späten 19. Jahrhundert anspielt, wobei es eher wie eine Parodie darauf aussieht, Juli 2022 / Foto © Alexander Gronsky
    Betonzaun mit propagandistischer Bemalung und Überschrift „Befreiung Europas“. Mit Georgsbändern, die zum Symbol der putinistischen Aggression und Propaganda geworden sind, und einem Wegweiser nach Berlin, März 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Erdbeer-Kiosk. Links daneben ein Stand, an dem man sich zur Armee melden kann, Mai 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Werbebildschirm auf der Eissportarena des Zentralen Sportclubs der Armee ZSKA. Vor dem Hintergrund eines noch aus vorrevolutionären Zeiten allen russischen Staatsbürgern bekannten Gemäldes von Iwan Schischkin und Konstantin Sawizki, „Morgen im Kiefernwald“, aus dem Jahr 1886. Dazu ein Zitat des sowjetischen Schriftstellers Michail Scholochow: „Geliebtes, lichtes Vaterland! All unsere unendliche Liebe gilt dir. All unsre Gedanken sind bei dir“, Juni 2022 / Foto © Alexander Gronsky
    Bildschirm mit Werbung der Söldnertruppe Wagner mit dem Slogan „Schließ dich der Siegermannschaft an“, April 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Propagandistische „Installation“ zum Tag des Sieges. Im Hintergrund schimmert  durch ein Baustellennetz ein altes sowjetisches Propaganda-Wandbild: „Wir bauen den Kommunismus“, Mai 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Werbebildschirm mit dem Porträt eines russischen Soldaten mit der Losung „Dank der Heldentat“, Dezember 2022 / Foto © Alexander Gronsky
    Werbebildschirm mit dem Wort „Jetzt“ an der Wand eines Gebäudes aus der Breshnew-Zeit. Juni 2023 / Foto © Alexander Gronsky
    Komposition: Fenster eines Verwaltungsgebäudes leuchten in Form des Buchstaben Z, dem Symbol der russischen Aggression, Mai 2023 / Foto © Alexander Gronsky

    Fotografie: Alexander Gronsky
    Bildredaktion: Maksim Sher
    Übersetzung: Ruth Altenhofer
    Veröffentlicht am 31.08.2023

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    Verbot eines Klassikers

    Noch im September 2016 wurde für den Dramatiker und Mitbegründer der belarussischen Oper Winzent Dunin-Marzinkewitsch und den Komponisten Stanislaw Monjuschko ein Denkmal im Zentrum von Minsk enthüllt. Damals betonte der stellvertretende Vorsitzende des Exekutivkomitees der Stadt Minsk, Igor Karpenko, in seiner Rede die Bedeutung dieses Ereignisses, das am Tag der Stadt Minsk stattfand: „Am Geburtstag unserer Hauptstadt sind wir stolz darauf, dass es in der Geschichte unseres Landes so große Namen wie Stanislaw Monjuschko und Winzent Dunin-Marzinkewitsch gibt.“ Fast sieben Jahre später gilt Dunin-Marzinkewitsch, nach dem auch zahlreiche Straßen in ganz Belarus benannt sind, als „Extremist“, zwei seiner Gedichte und das Vorwort zur Gesamtausgabe des Schriftstellers wurden im August 2023 von den belarussischen Behörden als „extremistisch“ eingestuft.

    Er ist damit der erste belarussische Literaturklassiker, dessen Werke im Zuge der Repressionen nach den Protesten von 2020 de facto verboten wurden, neben dutzenden Medien, Telegramkanälen, Webseiten, Publikationen oder Büchern. Was könnten die Gründe für diese Entscheidung sein? Hat das Verbot möglicherweise mit der generellen Angst der belarussischen Machthaber vor Aufständen gegen das herrschende System zu tun? Schließlich soll Dunin-Marzinkewitsch auch an den Aufständen von 1863–1864 gegen das Zarenreich beteiligt gewesen sein. Mit diesen Fragen und mit den historischen und möglichen aktuellen politischen Hintergründen des Verbots beschäftigt sich das Online-Medium Reform.by


    Die belarussischen Gesetzeshüter graben nun in den Tiefen der Jahrhunderte und befassen sich mit den Klassikern der Nationalliteratur. Wie die Staatsanwaltschaft der Oblast Minsk mitteilte, wurden das Vorwort zur Werkausgabe sowie zwei Gedichte von Winzent Dunin-Marzinkewitsch für extremistisch erklärt. Was haben Generalstaatsanwalt Schwed und seine Mitstreiter damit im Sinn? Und warum riecht dieser Vorgang verdächtig nach dem fragwürdigen russischen Pseudohistoriker Alexander Djukow, der seine Ohren überall hat?

    Ein unbelehrbarer „Extremist“ 

    Foto © Anton Prušynski/Public Domain
    Foto © Anton Prušynski/Public Domain

    Den „Krawall“ fand die Staatsanwaltschaft in den zwei Texten Es wehen die Winde [Płynuć wietry] und Rede eines alten Mannes [Hutarka staroha dzieda]. Schon zu Lebzeiten war Dunin-Marzinkewitsch dafür vom Zarenregime abgestraft worden. Im März 1862 sandte Generalmajor Kuschaljow, interimistischer Militärgouverneur in Minsk, ein Rundschreiben aus, in dem es hieß: „Es sind mir glaubhafte Hinweise zugegangen, denen zufolge der Gutsbesitzer Marzinkewitsch in der belarussischen Volkssprache ein empörendes Gedicht schrieb, namentlich ‚Rede eines alten Mannes‘, das darauf abzielt, die Bauern der westlichen Gubernien gegen die Regierung aufzuwiegeln … und dass der Herr Marzinkewitsch versucht, sein Werk unter dem einfachen Volk zu verbreiten“.

    Dunin-Marzinkewitschs Werk erzürnte die russischen Machthaber in jeder Hinsicht, zum einen die belarussische „Volks“-Sprache, in der der Autor nicht nur schrieb, sondern sogar ein Theaterstück zur Aufführung brachte, das natürlich umgehend verboten wurde. Zum anderen stellten die Gedanken des „alten Mannes“ einen „Krawall“ auf ganzer Linie dar, einen direkten Aufruf an die Bauern, nicht dem russischen Väterchen Zar zu glauben, sondern den in Vorbereitung befindlichen Januaraufstand unter Führung Kastus Kalinouskis zu unterstützen:

    Sie sagen, die Moskalen wollen
    unser Los zum Bess’ren drehen.
    Oje! Glaubt nicht daran, ihr Leute, 
    nichts davon werden wir sehen.
    Wenn sie es denn wirklich wollten, 
    wär’s schon lange so geschehen.

    Dieses Werk entstand vermutlich Anfang 1861, wurde in der Latinica [Łacinka, auf Belarussisch in lateinischer Schrift – dek] gedruckt und im Vorfeld des Aufstands von 1863–1864 in Form eines Flugblatts unter der Bauernschaft verteilt. Dieselben Zeilen rufen offensichtlich auch heute noch Zorn in der mittlerweile belarussischen Staatsanwaltschaft hervor, die sie zu extremistischem Material erklärt. Der Kreis hat sich geschlossen – anderthalb Jahrhunderte später solidarisieren sich die hiesigen Staatsanwälte wieder mit dem russischen imperialen Regime und unterstellen demselben Schriftsteller wieder Umsturzgedanken. Ein wohl anerkannter Klassiker der belarussischen Literatur ist also ein unbelehrbarer „Extremist“. 

    Es sagt viel aus, dass auf der heute veröffentlichten Liste der extremistischen Materialien neben Dunin-Marzinkewitsch auch Bücher von Laryssa Henijusch, Natallja Arsennewa, Lidsija Arabei und Uladsimir Njakljajeu stehen. Es ist ganz klar der Versuch, eine Brücke zu schlagen von den „Extremisten“ des 19. Jahrhunderts über die „Extremisten“ des Zweiten Weltkriegs bis in unsere Zeit und über die Epochen hinweg einen „roten Faden des Hasses“ zu spannen – vom Kalinouski-Aufstand bis hin zu den Protesten von 2020.

    Wonach suchen sie eigentlich?

    Was hat die Staatsanwaltschaft vor? Und warum kommen sie plötzlich auf Dunin-Marzinkewitsch? Vielleicht steckt wirklich die Tatsache dahinter, dass der Schriftsteller eng mit dem Aufstand von 1863–1864 verbunden ist. Nach dessen Niederschlagung wurde der Poet verhaftet und saß mehr als ein Jahr in der zu trauriger Berühmtheit gelangten Pischtschalauski-Burg [dem heutigen Minsker KGB-Untersuchungsgefängnis –dek]. Eine Schuld konnten ihm die Ermittler des Zaren jedoch nicht nachweisen. Der Schriftsteller wurde freigelassen, lebte danach aber noch viele Jahre unter Überwachung der russischen Polizei. Seine Tochter Kamilla verbannten die Zaristen in den Ural, der Vorwurf lautete, in der von ihr gegründeten Schule sei Agitationsarbeit unter Soldaten und Bevölkerung geleistet worden.

    Die Angriffe auf Dunin-Marzinkewitschs Werk zeugen also davon, dass das belarussische Regime bereit ist, sich intensiv mit einer Umschreibung der Geschichte des Aufstands von 1863–1864 und seiner Teilnehmer zu beschäftigen. Dunin-Marzinkewitsch des „Extremismus“ zu bezichtigen, ist erst der erste Schritt in diese Richtung. 

    Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft kann weiterreichende Folgen haben. Heute gibt es zum Beispiel in vielen belarussischen Städten, darunter auch in Minsk, nach dem Schriftsteller benannte Straßen. Doch wie sieht das aus, wenn Straßen nach Autoren „extremistischen Materials“ benannt sind? Ist die Umbenennung der nächste Schritt?

    Danach kann man sich daran machen, die Rolle und Bedeutung des Aufstands neu zu bewerten. Da daran durch die Bank weg „Extremisten“ teilgenommen haben, kann man auch die Befreiungsbewegung insgesamt so bezeichnen. Erst die Ereignisse negativ konnotieren, um sie dann vollständig aus dem Gedächtnis der Belarussen zu streichen. Allen Helden ihren Status nehmen, bis zum Schluss auch Kastus Kalinouski an die Reihe kommt. 

    Damit wird endlich auch ein langjähriger Traum der russischen Imperialisten erfüllt, bei denen allein die Erwähnung des Aufstandes und des Namens Kalinouski abgrundtiefen Hass hervorruft. In wessen Auftrag handelt die belarussische Staatsanwaltschaft also heute?

    Imperiale Intrigen und der „Terrorist“ Kalinouski

    Den Aufstand von 1863–1864 instrumentalisieren die russischen Imperialisten schon lange und intensiv. 2020 veröffentlichte Alexander Djukow, Direktor der Stiftung Istoritscheskaja pamjat [dt. Historisches Gedächtnis], eine Liste von einfachen Menschen, die auf dem Territorium des heutigen Belarus, Litauen und Lettland von den Aufständischen ermordet wurden. Derselbe Djukow gab auch ein Buch heraus mit dem Titel Neiswestny Kalinowski. Propaganda nenawisti i powstantscheski terror na belarusskich semljach, 1862–1864 gody [dt. Der unbekannte Kalinowski. Hasspropaganda und aufständischer Terror auf dem Gebiet Belarus‘, 1862–1864].

    Die Diskreditierung historischer Ereignisse und Persönlichkeiten, die der russischen Geschichtsversion widersprechen oder nicht genehm sind, ist eine der zentralen Stoßrichtungen der von Djukow geleiteten Stiftung Historisches Gedächtnis. Eine der Hauptaufgaben dieser Organisation ist die „Entwicklung von Vorstellungen, die Russlands Interessen entsprechen und die gemeinsame Geschichte beider Staaten wissenschaftlich korrekt darstellen“. Die gesamte Tätigkeit der Stiftung kann man charakterisieren als „aktive Maßnahmen“, um den russischen Einfluss in unserem Land zu verstärken. 
     
    Djukow beschreibt Kastus Kalinouski als einen Menschen, der eine Agenda des Terrors verfolgt habe und in seinen Veröffentlichungen „zielstrebig Hass säte“. Laut Djukow sieht die „Stilisierung dieses Menschen zum Helden, die sich in der Sowjetzeit vollzog und sich jetzt fortsetzt, einigermaßen seltsam aus und sollte überprüft werden“. Djukows Thesen werden sehr gern von russischen, und mittlerweile auch von belarussischen staatlichen Medien übernommen und verbreitet. 

    Man sollte meinen, dass unwissenschaftliche Thesen zur Geschichte nur von wenigen Menschen auf der Welt vertreten werden? Doch Alexander Djukows Position findet heute Unterstützung in den oberen Etagen des belarussischen Regimes und die belarussische Vereinigung Snanije [dt. Wissen] unterzeichnete einen Kooperationsvertrag mit Djukows Stiftung Historisches Gedächtnis. Eine ebensolche Vereinbarung schloss auch das Forschungspraktische Zentrum zur Stärkung von Recht und Ordnung der belarussischen Generalstaatsanwaltschaft. Wundert man sich da immer noch, dass die Werke von Dunin-Marzinkewitschs als „extremistisches Material“ eingestuft werden? 

    Djukows Thesen wiederholt auch Igor Sergejenko, der Vorsitzende der Präsidialadministration Lukaschenkos. Der ist nebenbei auch der Vorsitzende des Republikanischen Rates für Geschichtspolitik bei der Präsidialadministration. Bei ihm finden sich „der in der sowjetischen Historiographie geschaffene Mythos von Kalinowski“ und die Beschuldigung des Aufstandsanführers der „grausamen Abrechnung mit der belarussischen orthodoxen Bevölkerung“. Die Krone des Ganzen – der Vergleich Kalinouskis mit Bandera, Schuchewitsch und Romuald „Bury“ Rajs

    Das Regime bereitet den Boden, um den Aufstand und seine Anführer von verschiedenen Seiten anzugreifen. Mithilfe der Djukow‘schen „Forschungsergebnisse“ und mit Hilfe der Diskreditierung der bekannten Aufständischen als „Extremisten“. Damit werden die Voraussetzungen geschaffen, um am Ende den Aufstand selbst für „gesetzeswidrig“ zu erklären und seine Anführer damit post mortem wegen Terrorismus, Extremismus und Genozid an der Zivilbevölkerung anklagen zu können. Bislang gibt es keine Gesetze, die das zulassen, aber wer hindert sie daran, sich neue auszudenken? Ich fürchte, Winzent Dunin-Marzinkewitsch wird zwar der erste, aber nicht der letzte „Extremist“ unter den historischen Persönlichkeiten bleiben. Der Kampf um die belarussische Geschichte hat das nächste Level erreicht. 

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  • Debattenschau № 89: Prigoshin tot?

    Debattenschau № 89: Prigoshin tot?

    Am Mittwochabend ist ein Privatjet der Wagner-Gruppe in der Region Twer abgestürzt, alle zehn Insassen sind laut russischen Medien ums Leben gekommen. An Bord soll sich der Chef der Söldnergruppe Jewgeni Prigoshin befunden haben, ebenso deren Kommandeur und Mitbegründer Dimitri Uktin.

    Genau vor zwei Monaten hatte Jewgeni Prigoshin seinen Aufstand der Wagner-Söldner gegen die russische Militärführung angeführt: Sie hatten die Millionenstadt Rostow am Don besetzt, Militärkolonnen rollten bereits auf Moskau zu, doch dann wurde der spektakuläre „Marsch der Gerechtigkeit“ überraschend abgeblasen. Vermittelt hatte das nach außen Alexander Lukaschenko, Alexej Djumin soll dabei eine zentrale Rolle gespielt haben. Putin hatte noch am Morgen des 24. Juni öffentlich von „Verrat“ und einer unweigerlichen Bestrafung gesprochen. Doch im Endeffekt konnte sich Prigoshin weiterhin frei in Russland bewegen, die Wagner-Söldner sind zum Teil wie vereinbart nach Belarus gegangen oder wurden in die russische Armee eingegliedert. 

    Angesichts dieser Vorgeschichte halten es viele Beobachter für ausgeschlossen, dass der Flugzeugabsturz ein Unfall war. dekoder hat erste Reaktionen von russischen und belarussischen Kommentatoren übersetzt.


    Alexander Baunow/Facebook: Mafia-Methode

    Russland wird schon seit über eineinhalb Jahrzehnten als ein Mafia-Staat beschrieben. Aus dieser Logik heraus erklärt auch der Analyst Alexander Baunow auf Facebook den Tod von Prigoshin.

    [bilingbox]Eine Bestrafungsmethode in Diktaturen besteht darin, den Feind/Verräter vor seiner Vernichtung für sich zu gewinnen oder sich zumindest mit ihm zu versöhnen, um so zu tun, als sei ihm vergeben worden. Das ist wie in Mafia-Filmen, wo sich rivalisierende Gruppen und ihre Bosse zusammentun, und anschließend die einen die anderen aus einer Torte erschießen, oder wie in Der Pate, wo sich alle versöhnen, bevor sie sich auslöschen.~~~Одна из технологий  наказания внутри диктатуры – приблизить врага/предателя перед уничтожением, или хотя бы помириться сделать вид, что прощен. Это как в фильмах про мафию, враждующие группы и их боссы собираются вместе, чтобы потом одни расстреляли других из торта, или в «Крестном отце» всё мирятся прежде чем  уничтожать.[/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Tatjana Stanowaja/Telegram: Eine Lehre für potenzielle Nachfolger

    Nicht einmal die russischen Propagandaorgane verbreiten die Version, dass der Absturz ein Unfall war. Die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja argumentiert auf Telegram, dass Prigoshins Ermordung eine Signalwirkung hat.

    [bilingbox]

    Was auch immer die Gründe für den Flugzeugabsturz sein mögen, jeder wird ihn als einen Akt der Rache und Vergeltung ansehen – und der Kreml wird das nicht groß verhindern. Aus der Sicht Putins – und vieler Silowiki und Militärs – soll der Tod Prigoshins allen potenziellen Nachfolgern eine Lehre sein […]

    Prigoshins Tod ist eine direkte Bedrohung für alle, die ihm bis zum Schluss treu geblieben sind oder ihn offen unterstützt haben. Dies wird eher abschrecken als zu Protesten anregen. Deswegen ist keine besondere Reaktion zu erwarten. Es wird Empörung und Unzufriedenheit geben, aber keine politischen Konsequenzen.

    ~~~

    Каковы бы ни были причины крушения самолета, все будут видеть это как акт возмездия и расправа, и Кремль не будет особенно мешать этому. С точки зрения Путина, а также многих среди силовиков и военных – смерть Пригожина должна быть уроком любым потенциальным последователям. […]

    Смерть Пригожина – прямая угроза для всех, кто оставался с ним до конца или открыто поддерживал. Это скорее напугает, чем вдохновит на протесты. Поэтому никакой особой реакции ждать не стоит. Негодование и недовольство будет, политических последствий – нет.

    [/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Ekaterina Schulmann/Telegram: Tarnung zum Untertauchen 

    In einer ersten Reaktion erinnert die russische Politologin Ekaterina Schulmann auf ihrem Telegram-Kanal daran, dass auch eine Inszenierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden kann.

    [bilingbox]Aber ein ausgebranntes Flugzeug ist auch eine gute Tarnung, um mit einem der vielen Ersatzpässe für immer unterzutauchen. Ab in die Pampa, wo keiner einen findet, bis Gras über die Sache gewachsen ist und die Spuren kalt sind. Mein Leben – ein Roman!~~~Но и для того, чтобы скрыться навсегда, взяв один из многочисленных запасных паспортов, сгоревший самолёт – тоже подходящий повод. Ворон костей не соберёт, концы в пепел, след простыл. Quel roman que ma vie![/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Michael Naki/Telegram: Alles ist so, wie es scheint 

    Manche witzeln über Michael Naki, er sei ein Prigoshinologe. Tatsächlich hat der populäre YouTuber und Militäranalyst schon im Februar 2023 vorhergesagt, dass Prigoshin keines natürlichen Todes sterben wird. Auf Telegram wendet er sich nun gegen die These, dass der Absturz eine Inszenierung sei. Für Naki ist alles in Wirklichkeit genauso, wie es auch scheint.

    [bilingbox]

    Erinnert ihr euch noch daran, als die Drohnen in den Kreml flogen? Da gab es alle möglichen Hypothesen, etwa dass der FSB da seine Finger mit drin hatte. Nichts davon konnte bestätigt werden, und ich denke, heute ist allen klar, dass es ukrainische Drohnen waren.

    Erinnert ihr euch noch an Prigoshins Meuterei? Damals hat kaum einer versäumt, sie als Inszenierung zu bezeichnen. Allerdings konnte niemand erklären, was der Zweck dieser Inszenierung war. Ich glaube, heute gibt es nur noch wenige Menschen, die an eine Inszenierung glauben.

    Jetzt haben wir die gleiche Situation. Ich kann weder zu 100 Prozent sagen, dass Prigoshin wirklich tot ist, noch, dass da irgendein raffinierter Plan dahintersteckt. Aber ich bin mir mehr als sicher, dass alles genauso ist, wie es auch aussieht. Putin hat Prigoshin demonstrativ getötet, und zwar auf eine Art und Weise, die keinen Raum lässt für Fantasien über einen Unfall oder Beteiligung der ukrainischen Streitkräfte.

    ~~~

    Помните, когда дроны прилетели в Кремль? Сколько там было всевозможных гипотез, что, мол, это дело рук ФСБ. Ни одна не подтвердилась, и, думаю, что сейчас всем очевидно, что это были украинские дроны.

    Помните мятеж Пригожина? Который только ленивый не назвал инсценировкой. Правда, никто не мог объяснить, в чем цель этой инсценировки. Думаю, что сейчас мало людей, которые все еще полагают, что это была инсценировка.

    Та же ситуация и здесь. Я не могу на 100% утверждать, что Пригожин точно мертв, и что нет каких-то хитрых планов. Но я более чем уверен, что всё именно так, как выглядит. Путин демонстративно убил Пригожина, причем способом, который не оставляет места фантазии на тему случайности или действий ВСУ.

    [/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Alexander Friedman/Telegram: Der Mann, der zuviel wusste

    Der belarussische Historiker und Analyst Alexander Friedman glaubt, dass der Tod Prigoshins auch als Warnung an Lukaschenko verstanden werden kann.

    [bilingbox]Auf jeden Fall wird Lukaschenko sagen können, dass seine Garantien für Prigoshin nur auf dem Territorium von Belarus und nicht für andere Teile des Unionsstaates galten. Der Tod von Jewgeni Prigoshin macht Alexander Lukaschenko in gewisser Weise zu einem „neuen Prigoshin”. Einerseits gibt ihm sein Tod die Möglichkeit (sollte der Kreml zustimmen), Teile der Gruppe Wagner unter seine Kontrolle zu bringen. Andererseits ist es die typische Geschichte eines Mannes, der zuviel wusste. Und das wird, wie wir heute gesehen haben, im Kreml nicht verziehen.~~~Александр Лукашенко в любом случае сможет сказать, что его гарантии Пригожину действовали только на территории Беларуси и не распространялись на другие части Союзного государства. Смерть Евгения Пригожина делает самого Александра Лукашенко в какой-то степени «новым Пригожиным». С одной стороны, она дает ему возможность (если будет на то согласие Кремля) поставить под свой контроль части ЧВК «Вагнер» в Беларуси. С другой стороны, это типичная история человека, который слишком много узнал. А такое, как мы сегодня увидели, в Кремле не прощают.[/bilingbox]

    erschienen am 23.08.2023, Original

    Alexander Klaskowski/Pozirk: Jede Menge Probleme für Lukaschenko

    Was passiert nun mit den Wagner-Söldnern in Belarus? Mit dieser Frage beschäftigt sich der belarussische Journalist Alexander Klaskowski auf Pozirk.

    [bilingbox]

    Lukaschenko kann den Tod des Wagner-Chefs nutzen, um die Spannungen in den Beziehungen zu den Nachbarländern der Europäischen Union und der NATO etwas zu senken.
    Eine andere Frage ist, ob Putin es eilig hat, diese toxische Mannschaft [die Wagner-Söldner – dek] einzusammeln oder dem belarussischen Machthaber zumindest Geld für den Unterhalt dieser problematischen Gäste zu geben. […]
    In jedem Fall hat der „kleine Bruder”, der in diesem Stück einen PR-Coup als Retter Russlands beim blutigen Aufstand leisten wollte, ordentlich viele Probleme übergeholfen bekommen.

    ~~~

    Лукашэнка можа скарыстаць смерць кіраўніка ПВК, каб трохі разрадзіць напружанне ў дачыненнях з суседнімі краінамі Еўразвязу і НАТО.
    Іншае пытанне, ці паспяшаецца Пуцін забіраць гэты таксічны актыў або хаця б даць грошай на ўтрыманне гэтых праблемных для беларускага правіцеля гасцей.

    В любом случае «младший брат», который хотел пропиариться в этом сюжете как спаситель России от кровавого бунта, получил на свою голову кучу проблем. 

    [/bilingbox]

    erschienen am 24.08.2023, Orignal

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  • Wie man mit Z-Patrioten spricht

    Wie man mit Z-Patrioten spricht

    Die USA hätten Russland einen Verteidigungskrieg aufgezwungen, Putin gehe gegen eine globale Verschwörung der Eliten vor, die NATO betreibe in der Ukraine geheime Labore zur Herstellung von Biowaffen … Nicht nur in Russland, auch im Westen können solche Erzählungen in Teilen der Gesellschaft verfangen

    Will man sie mit Fakten vom Gegenteil überzeugen, wird man nicht selten selbst zum Teil der Verschwörung und Gehilfen der „Lügenmedien“ abgestempelt. Redet man nicht miteinander, riskiert man weitere Polarisierung.

    Die Redaktion von Cherta versucht, dieses Dilemma aufzulösen und greift auf eine alte britische Rechtspraxis zurück.


    Bei Begegnungen mit Menschen, die den Krieg unterstützen und die Thesen der russischen Propaganda reproduzieren, finden wir oft keine Basis für ein konstruktives Gespräch. Bei aller Überzeugung, es besser zu wissen, stehen wir diesen Thesen, die Fakten und Realität absichtlich verzerren, doch hilflos gegenüber. Aber was, wenn wir mal das Weltbild unseres Gegenübers annehmen und auf Grundlage seiner Realität mit ihm diskutieren?

    Realitäten

    1843 fügte der Glasgower Unternehmer Daniel M'Naghten in London Edward Drummond, dem Privatsekretär von Premierminister Robert Peel, eine tödliche Verletzung zu. 

    Vor Gericht stellte sich dann heraus, dass M'Naghten unter Verfolgungswahn litt. Er glaubte, die Regierung und der Premierminister persönlich wollten ihm auf jede erdenkliche Weise schaden und hätten es auf seine Geschäfte und sein Leben abgesehen. Um sich und sein Unternehmen zu schützen, hatte M'Naghten seinen Feind töten wollen und auf Edward Drummond geschossen, im Glauben, es handle sich um Robert Peel.   

    Das Gericht sprach M'Naghten frei, was in der britischen Gesellschaft für Empörung sorgte. Königin Victoria schrieb zornige Briefe, und das House of Lords machte sogar von dem Recht Gebrauch, eine Erklärung der Richter einzufordern (ein als formal geltendes Recht, das kaum je in Anspruch genommen wurde), ob ein unzurechnungsfähiger Mensch für seine Taten verantwortlich gemacht werden könne und nach welchen Kriterien das Gericht diese Verantwortung beurteilen wolle.

    So entstand ein Dokument, das im Weiteren „M'Naghten rules“ genannt wurde und nicht nur die Theorie und Praxis des Rechtswesens, sondern auch die Entwicklungen in Psychologie und Soziologie maßgeblich beeinflusste.      

    Die Schlüsselfrage der Adeligen an die Richter lautete: „Wenn ein Mensch, dessen Wahrnehmung durch einen krankhaften Wahn beeinträchtigt ist, ein Verbrechen mit schweren Folgen begeht, ist er dann von seiner juristischen Verantwortung befreit?“ Darauf antworteten die Richter: „Wir müssen die Schuld so beurteilen, als wären die der krankhaften Verwirrung geschuldeten Annahmen tatsächlich real.“ Über solche Menschen sei also nicht anhand der realen Fakten zu urteilen, sondern anhand der „Fakten“ ihrer krankhaften Vorstellung. 

    Wenn M'Naghten in seinem Verfolgungswahn glaubte, der Premierminister wolle ihn vernichten und er habe keine andere Möglichkeit sich zu wehren, als ihn zu ermorden – dann kann man das als Notwehr betrachten. Auch wenn Robert Peel nichts dergleichen gemacht und nicht mal von M'Naghtens Existenz gewusst hat. 

    Hätte M'Naghten jedoch Drummond in der Annahme ermordet, dieser schlafe mit seiner, M'Naghtens, Frau, dann hätte man ihn verurteilen müssen, weil es für einen solchen Mord nicht einmal in der imaginierten Realität des Wahns eine juristische Legitimität gebe.

    Raus aus der Komfortzone 

    Wenn wir jetzt mit Z-Patrioten oder einfach mit Menschen, die das Weltbild der russischen Propaganda übernommen haben, diskutieren und in eine Sackgasse geraten, dann liegt das an diesen Diskrepanzen in der grundsätzlichen Beziehung zur Realität. Sie sagen: „Die Ukraine wollte Russland angreifen“, wir antworten: „Wollte sie nicht.“ Damit ist das Gespräch zu Ende oder besteht nur mehr darin, sich gegenseitig sinnlose Versatzstücke um die Ohren zu schlagen. Sinnlos deswegen, weil wir nicht in derselben Realität leben: In der Realität unseres Gegenübers gibt es einfach keine Fakten, die widerlegen, dass die Ukraine Russland angreifen wollte oder dass die USA böse Absichten verfolgen.

    Genauso bestand M'Naghtens Weltbild ausschließlich aus Beweisen dafür, dass der Premierminister sein Leben und sein Unternehmen zerstören wollte.

    Was aber, wenn man nun in Gesprächen mit der gegnerischen Seite die M'Naghten rules befolgen würde? Wenn man also die Rechtmäßigkeit, Angemessenheit und Notwendigkeit des Kriegs auf Grundlage jenes Weltbildes beurteilt, das unser Opponent vertritt?

    Wozu man in Gesprächen mit Opponenten die M’Naghten rules beachten sollte

    Wozu sollte man das tun? Erstens sind wir überzeugt, dass es für die, die diesen umfassenden Angriffskrieg entfesselt haben, in keinem Weltbild eine Rechtfertigung gibt und nicht geben kann. Auch nicht in einem völlig verqueren. Das heißt, am Ende dieses Gesprächs wird unser Opponent entweder völlig aus der Bahn geworfen oder gezwungen sein, sich seine offen menschenfeindliche Logik einzugestehen. Beide Fälle drängen ihn aus seiner Komfortzone heraus. 

    Was uns zum zweiten Grund führt: Spätestens seit Grigori Judin und andere kluge Köpfe uns das klar und deutlich erklärt haben, wissen wir, warum eine große Mehrheit das Weltbild der Propaganda so bereitwillig annimmt. Weil ihnen das nämlich hilft, an ihrem inneren Komfort festzuhalten. Für die Menschen ist es bequem und wohltuend, das Gefühl zu haben, dass das Land, in dem sie leben und arbeiten, die Regierung, der sie sich fügen, immer richtig und gerecht handelt. Äußerst unbequem und unangenehm wäre hingegen die Einsicht, dass das eigene Land ein Aggressor ist, der einen blutigen Krieg ohne Aussicht auf ein Ende angezettelt hat.    

    Versucht man, jemandem mit diesen Grundeinstellungen direkt vor den Kopf zu stoßen, so ruft das nichts als Abwehr hervor. Geht man jedoch nach der Logik der M'Naghten rules vor, ist es durchaus möglich, jemanden aus der Komfortzone herauszuholen und dafür zu sorgen, dass die gewohnten Abwehrmechanismen nicht mehr das schöne Gefühl erzeugen, alles laufe perfekt und geschehe im Dienste des Guten.

    M'Naghten rules im Praxistest 

    Im Sinne der M'Naghten rules versetzen wir uns nun also in das Weltbild unseres Gesprächspartners hinein. Wir verzichten darauf, die Ausgangsposition zu bestreiten: Der Westen verfolgt unter Führung der USA das Ziel, Russland zu vernichten, und zwar mithilfe der Ukraine, die mit Sicherheit unser Land angegriffen hätte.

    „Der Krieg war unvermeidlich. Die Ukraine hätte Russland angegriffen. Wir lassen unsere Leute nicht im Stich.“

    Zu der Logik der Unvermeidlichkeit des Kriegs angesichts des ukrainischen Angriffs kann man Folgendes fragen:

    Wo hätte die Ukraine angegriffen? Es ist völlig klar, dass sie nicht unmittelbar in russisches Territorium einmarschiert wäre. Russland ist eine einflussreiche, gefürchtete Atommacht. Gefürchtet sowohl von der Ukraine als auch von ihren westlichen Herrschern. Sogar jetzt noch, nach eineinhalb Jahren Krieg, lassen sie lieber die Finger von russischem Territorium: ein paar wenige Diversionsgruppen und verirrte Geschosse – mehr nicht. Dabei hätten sie die Krim angreifen können! Da aber unsere Truppen, die von der Krim her anrückten, gleich in den ersten Tagen [des Krieges] ein riesiges Gebiet rund um die Halbinsel einnahmen, fasste die Ukraine nie einen Angriff auf die Krim ins Auge: Sie hatte dort kaum Truppen oder Verteidigungssysteme. 

    Die Ukraine hatte es also offenbar auf Luhansk und Donezk abgesehen, wir aber lassen unsere Leute nicht im Stich.

    Aber Russland hätte doch den Schlag gegen diese Republiken abwehren können, wenn es einfach seine Truppen auf deren Gebiet stationiert hätte. Dafür hätte es ja auch nicht diesen großen Angriffskrieg gebraucht, all diese Todesopfer und Zerstörungen. 

    „Die ukrainische Regierung ist doch so unversöhnlich und hasserfüllt, dass sie trotzdem angegriffen hätte, trotz russischer Truppen.“

    Russland würde dann viel besser dastehen als jetzt. Ist es denn nicht viel besser, einen Verteidigungskrieg zu führen als einen Angriffskrieg? Die Ukraine hat nicht einmal jetzt, nach mehreren Wellen der allgemeinen Mobilisierung, ausgebildet, kampferprobt und mit westlichem Kriegsgerät bewaffnet bis an die Zähne, eine Chance gegen die befestigten Abwehranlagen der Russen. Im Februar 2022 hätte sie einfach innerhalb weniger Wochen ihre ganze Armee dort verpulvert.

    Und ist es etwa nicht günstiger, vor aller Welt nicht als Aggressor dazustehen, der auf fremdes Territorium einmarschiert ist, um Tod und Zerstörung zu bringen, sondern als Beschützer?

    Wir lassen unsere Leute nicht im Stich! Aber eigentlich haben wir durch den Krieg doch die mobilisierten Bewohner der Volksrepubliken Luhansk und Donezk erst recht in den Kampf gegen die befestigten Stellungen der ukrainischen Armee geschickt. In den vergangenen eineinhalb Jahren Krieg sind in diesem Gebiet um ein Vielfaches mehr Menschen ums Leben gekommen als zuvor in acht Jahren Widerstand gegen die Ukraine. 

    „Wir mussten den USA und der NATO einen Riegel vorschieben, die bis an unsere Grenzen vorrückten und uns unmittelbar bedrohten.“

    Natürlich mussten wir das. Aber hat der Krieg dieses Problem etwa gelöst? Ganz im Gegenteil. Finnland und Schweden sahen sich durch den Krieg dazu veranlasst, der NATO beizutreten, und damit sind es von Sankt Petersburg bis zu möglichen Stützpunkten der Allianz nur mehr höchstens 200 Kilometer. Von „Anflugszeiten“ braucht man jetzt gar nicht mehr anzufangen. Noch wurde die Ukraine nicht in die NATO aufgenommen, aber sie wird bereits mit deren Waffen ausgerüstet, und dieser Prozess ist nicht mehr aufzuhalten. 

    Und was die USA betrifft, die sind mittlerweile eigentlich die größten Nutznießer der russischen Aggression gegen die Ukraine. Noch dazu vor allem der unsympathischste und unverschämteste Teil der Eliten dieses Landes: Die Rüstungsindustrie und die Erdölkonzerne. Die amerikanischen Waffenproduzenten hätten am 24. Februar ein rauschendes Bankett zu Putins Ehren geben müssen – er hat ihnen für viele Jahre im Voraus Milliardeneinkünfte gesichert. Und die Erdölkonzerne haben kurz vor dem Krieg alle Aktiva im Bereich der Schiefergasförderung aufgekauft und unfassbare Gewinne eingefahren, als wegen des Kriegs die Gaspreise durch die Decke gingen. Vielleicht haben sie ja auch wirklich die Ukraine gegen Russland scharfgemacht, aber nie hätten sie so profitiert, wenn Russland nicht selbst diesen vollumfänglichen Krieg begonnen hätte.

    Wie es aussieht, gab es für die militärische Spezialoperation keine Grundlage. Der Krieg war nicht nur nicht unvermeidlich, sondern sogar der schlechteste Ausweg aus der Situation. Weder hat dieser Krieg die USA geschwächt, noch hat er die Bewohner der Volksrepubliken Luhansk und Donezk geschützt, noch Russland vor der NATO bewahrt. Dafür hat er zehntausenden Menschen das Leben gekostet und viele Millionen in die Flucht geschlagen. Und je länger er dauert, desto schlimmer werden die Folgen für Russland.

    „Jetzt, wo der Krieg nun mal begonnen und am Laufen ist, müssen wir unserem Land einzig den Sieg wünschen.“

    Stimmt. Aber was genau verstehen wir unter Sieg? In diesen eineinhalb Jahren hat uns keiner gesagt, was das Ziel dieses Kriegs ist und worin der Sieg bestehen soll. Ständig ertönt das Wort Sieg, ohne dass wir uns Gedanken über die Bedeutung dieses Wortes machen. In Wirklichkeit haben wir keine Ahnung und können nicht beschreiben, was der Sieg ist. Keiner kann das. Weil dieser Krieg keinen Sinn hat und es nicht um Russlands Interessen geht. Nur um Tod und Zerstörung.

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  • Menschen im Sumpf

    Menschen im Sumpf

    Es sind Bilder von Szenen und Menschen, die aus der Zeit gefallen scheinen. Pferdekarren, hölzerne Kanus als Transportmittel, unbefestigte Straßen, Frauen, die Flachs schlagen. Vielleicht stellte sich auch bei Louise Arner Boyd (1887–1972) dieser Eindruck ein, als die berühmte Forscherin 1934 das südliche Belarus mit seinen wilden Sümpfen und Wasserwegen bereiste. Schließlich kam sie aus den damals vergleichsweise hochmodernen USA in diese archaisch wirkende Region, die in Belarus von einem nahezu mystischen Faszinosum umweht ist und der der Schriftsteller Iwan Melesh (1921–1976) mit seinem Epos Menschen im Sumpf (1962) ein literarisches Denkmal setzte. 

    „In der literaturwissenschaftlichen Forschung wird Melesch oft als Beispiel für ein sakralisiertes Raumverständnis herangezogen“, schreibt die Slawistin Nina Weller in einem Feature für Deutschlandfunk. „Das Bild des Menschen im Sumpf steht demnach für einen belarussischen Menschentypus, der sich durch die Erfahrung des Überlebens unter widrigen Bedingungen, aber auch durch die unbeirrte Wiederaneignung des fremdbestimmten Raums auszeichnet. Der Mensch im Sumpf verharrt eher passiv in seinem kleinen Kosmos, passt sich dem aufgezwungenen Schicksal an, doch nutzt er die Situation gewitzt auch zum eigenen Vorteil.“

    Die Fotos, die Louise Arner Boyd auf ihrer Reise durch die Sümpfe machte, geben auch einen Eindruck von dieser kulturellen Mystik. Das belarussische Online-Medium Zerkalo hat sie für seine Leser wiederentdeckt. Die einzigartigen Bilder stammen aus der Sammlung der American Geographical Society Library, die an den University of Wisconsin-Milwaukee Libraries aufbewahrt wird. Wir zeigen eine Auswahl.


    Vor fast 90 Jahren, im Jahr 1934, unternahm die berühmte US-amerikanische Forscherin und Reisende Louise Arner Boyd nach der Teilnahme an einem internationalen Geographenkongress in Warschau eine dreimonatige Reise durch die Länder der sogenannten Kresy. Sie reiste mit dem Auto von Przemyśl in Polen über Lwiw, Kowel, Kobrin, Pinsk, Kletsk, Njaswish und Slonim nach Wilna. Ihre Fotos und Notizen über die Länder des heutigen Belarus, Polens, der Ukraine und Litauens können uns viel über das Leben der Menschen erzählen, die in der Zwischenkriegszeit in dieser Region lebten. Dabei schenkte die Reisende dem belarussischen Polesien, dem Fluss Prypjat und seinen Nebenflüssen sowie der Hauptstadt der Region – Pinsk – besondere Aufmerksamkeit. 

    Wir bieten einen Blick in das Alltagsleben der Bewohner von Polesien in der Zwischenkriegszeit, das die Reisende in ihren Fotos festgehalten hat, begleitet von ihren ureigenen Bildunterschriften bzw. Anmerkungen.

    Ein Bauer mit Pflug und Pferd in einem Boot in den Prypjatsümpfen, 1. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Eine Familie steht am späten Nachmittag am Ufer der Prypjatsümpfe, dahinter ihr Haus. Links eine Frau beim Wäschewaschen, 1. Oktober 1934
    „Die Menschen hier besitzen ihr eigenes Grundstück, und die Grundstücksgrenzen sind entlang der Uferpromenade durch Markierungen gekennzeichnet. Sie bemessen ihr Eigentum nach Sznwry, was Seil bedeutet. Sie sagen: ,Ich habe so viele Sznwry‘, anstatt in Hektar zu messen.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Mann fischt von einem Kanu aus, Prypjatsümpfe, 1. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Zwei Frauen stehen in einem Kanu und waschen Wäsche, 2. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Segelboot auf dem Fluss Pina in der Nähe von Pinsk, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Männer beim Abladen von Heu von Lastkähnen am Markt von Pinsk, 30. September 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Lastkahn, beladen mit Holz, nähert sich Pinsk, 30. September 1934
    „Viele dieser Lastkähne kommen aus der Nähe der Grenze zu Russland.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Passagierschiff legt am Ufer in Pinsk an, 30. September 1934
    „Dies ist die Art von Seitenrad-Dampfer, wie sie auf dem Prypjat und seinen Nebenflüssen verwendet werden.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Menschen in einem mit Baumstämmen beladenen Kanu vor Pinsk, 2. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Menschen sitzen in Kanus am Pinsker Markt, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Markt von Pinsk: Karren mit Heu und Birkenrinde, die für die Herstellung von Sandalen genutzt wird, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Stand mit Stiefeln auf dem Markt in Pinsk, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Eine Pferdekutsche auf der Hauptstraße in Pinsk am Markttag, 3. Oktober 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Verkaufsstände auf dem Pinsker Marktplatz, 3. Oktober 1934
    „Stände auf dem Marktplatz oberhalb der Uferpromenade. Töpferwaren, Holzwaren, Eisenwaren und so weiter auf Gehweg und Straße.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Mutter und Kind stehen neben einem strohgedeckten Gebäude, 1. Oktober 1934
    „Im Vordergrund rechts steht ein hölzernes Instrument zum Tragen von Flachs. Das Gebäude verfügt über gewebte Seitenwände, um eine Belüftung zu ermöglichen, und ist mit Stroh aus Riedgras gedeckt. Im Hintergrund stehen aufrecht am Zaun zwei Stangen zum Löschen von Dachbränden. An einem Ende befindet sich eine Bürste zum Ausschlagen der Funken und am anderen Ende ein Eisenhaken zum Abziehen des brennenden Strohs.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Automobil auf einer unbefestigten Straße östlich von Kobryn, 29. September 1934
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Frauen dreschen Flachs, 2. Oktober 1934
    „Scheune und Getreidespeicher. Links bearbeiten zwei Frauen Flachs. Rechts eine hölzerne Egge. Ein Bündel Roggen. Diesen Leuten ging es gut. Sie waren sauber und die Kinder trugen gute Kleidung. Sie waren orthodox-griechische Katholiken, und ihre Kirche befand sich zwischen den Kiefern.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Drei Dorfbewohner sitzen zusammen, 7. Oktober 1934
    „Nahaufnahme von Männern in einem Dorf. Links: langer Bart, in der Mitte Schnauzer, rechts: glatt rasiert.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd/ Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Ein Pferd zieht große Baumstämme, östlich von Iwazewitschy, 8. Oktober 1934
    „42 Meilen östlich von Iwazewitschy. Wagen mit Holzstangen, die die Hinterräder verbinden und dazu dienen, das hintere Ende der langen Baumstämme zu lenken. Form einer Wünschelrute. Links die Vorderseite eines weiteren Wagens.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd“/ Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries
    Kreuze auf einem Dorffriedhof, 5. Oktober 1934
    „Friedhof. Hohe unbemalte Kreuze ohne Namen oder Erkennungszeichen. Pflöcke markieren, wo die Toten begraben sind. Moos auf den Kreuzen.“
    Fotografin: Louise Arner Boyd / Quelle: The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

    Im Original erschienen bei Zerkalo
    Bildredaktion: Andy Heller
    Übersetzung: dekoder-Redaktion

    Mit freundlicher Genehmigung der The American Geographical Society Library, University of Wisconsin-Milwaukee Libraries

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  • Ded Putin – „Der Großvater der Nation“

    Ded Putin – „Der Großvater der Nation“

    Ein per internationalem Haftbefehl gesuchter mutmaßlicher Kriegsverbrecher im Propaganda-Gewand eines fürsorglichen Opas: Die sogenannten Imagemakery des russischen Präsidenten inszenieren ihn zunehmend als „gütigen Opa der Nation“. Die Philologin Xenja Turkowa beschreibt auf Holod, weshalb sie dieses Bild gebastelt haben – obwohl „Opa“ anfangs noch eine hämische Diffamierung war.


    Wann wurde aus dem Macho Putin der „gute Opa der Nation“? / Foto © Mikhail Klimentyev/Russian Presidential Press and Information Office/ITAR-Tass/imago-images

    Am 8. Juli ließ der stellvertretende Chef des russischen Sicherheitsrats, Dimitri Medwedew, wieder einmal eines seiner patriotischen Postings vom Stapel, in dem er wie üblich nicht mit heftigen Ausdrücken geizte. Er nannte US-Präsident Joe Biden einen „verschlafenen Volltrottel“ und „kranken, dementen alten Mann“ und schloss mit der Vermutung: „Vielleicht ist aber auch alles ganz anders. Vielleicht hat der von kranken Fantasien geplagte sterbende Alte einfach beschlossen, einen schönen Abgang hinzulegen – das nukleare Armageddon auszulösen und die halbe Menschheit mit ins Jenseits zu nehmen …“ 

    Medwedews Bild vom alten Biden, der die nukleare Keule schwingt

    Medwedews Äußerung über „den Alten“ wurde prompt überall in den sozialen Netzwerken zitiert, allerdings aus dem Zusammenhang gerissen und umgedeutet. Bei dem Bild eines sterbenden alten Mannes, der die nukleare Keule schwingt und die halbe Welt mit in den Abgrund reißen will, dachten die Menschen an jemanden ganz anderen, als der Autor wohl beabsichtigt hatte. 

    Medwedews Worte sind schon die zweite öffentliche Äußerung in den letzten Monaten, bei der das Bild des Großvaters oder Opas als Anspielung auf Putin verstanden wird. Die erste hatte es in einem Monolog von Jewgeni Prigoshin gegeben, in dem der Chef der Wagner-Gruppe nach Kräften einen gewissen „Opi“ beschimpfte: „Opi ist glücklich und glaubt, dass es ihm gut geht. […] Aber was soll das Land tun, wenn sich, nur mal angenommen, plötzlich herausstellt, dass dieser Großvater eigentlich ein Flachwichser ist?“

    Mit dem glücklichen Opi sei keinesfalls Putin gemeint, so Prigoshin

    Prigoshin selbst erklärte dann, mit „Opi“ sei keinesfalls Putin gemeint gewesen, und bot drei Alternativen zur Auswahl an: Michail Misinzew, ehemaliger stellvertretender russischer Verteidigungsminister, Waleri Gerassimow, Chef des Generalstabs der russischen Armee, sowie Natalja Chim, ehemalige Teilnehmerin der Reality-Show Dom 2, die in den sozialen Netzwerken Kisten mit Munition feilgeboten hatte. Weshalb er für die Rolle des mysteriösen „Opas“ auch eine Frau aufführte, blieb Prigoshins Geheimnis. 

    Wen auch immer Prigoshin gemeint haben mag, sein Monolog und Medwedews Telegram-Post haben gezeigt, wie stark das Bild des Opas mittlerweile mit Wladimir Putin assoziiert wird. 

    Lange Zeit war er ein echter Superman und Macho

    Der russische Präsident hat sich lange als echter Superman, Macho und Sexsymbol inszeniert: Er schwang sich mit nacktem Oberkörper aufs Pferd, tauchte nach antiken Amphoren, flog mit Kranichen, und Frauen besangen ihn und machten ihm Liebeserklärungen in den sozialen Medien. 

    Wann wurde aus dem Macho der „gute Opa der Nation“, und ab wann genau wurde „Großvater“ zum bevorzugten Spitznamen für Putin? 

    Dem Newsletter Signal zufolge verdankt er diese Bezeichnung dem Meme „Opa, nimm deine Tabletten, sonst kriegste nen Tritt in den Arsch“, das nach Alexej Nawalnys Verhaftung im Januar 2021 als Parole bei Unterstützungsaktionen verwendet wurde. 

    Wann wurde aus dem Macho der „gute Opa der Nation“?

    In Wirklichkeit begann Putins Metamorphose jedoch schon lange davor. Anfang September 2017 erschien im Magazin The New Times die Kolumne Putin als Großvater der Nation. Der Journalist Andrej Kolesnikow verglich darin den russischen Präsidenten mit Lenin: 

    „Auch Putin trifft sich in letzter Zeit oft mit der Jugend – jedenfalls öfter als mit den Vertretern anderer Altersgruppen. Wladimir Iljitsch wurde „Großväterchen Lenin“ genannt, obwohl er in einem Alter war, in dem ein ordentlicher Staatsoligarch heute gerade mal seine alte Frau gegen eine neue austauscht, die besser zu seiner eben erworbenen Yacht passt. Und ja, auch Putin verwandelt sich im Lauf seiner Direkten Drähte, Tauriden und Offenen Unterrichtsstunden nach und nach vom Vater der Nation zu ihrem Opa. Die Jugend unterhält er größtenteils mit fantastischen Erzählungen über Drohnen, Marsflüge, künstliche Intelligenz und die Passionarität des russischen Volkes, dank derer es seine Souveränität für tausend Jahre sichern und ausweiten, die eigenen Stiefel im Pazifik sauber– und alle anderen im Scheißhaus kaltmachen wird.“ 

    Tatsächlich wurden damals, 2017, einige Zusammentreffen Putins mit Studierenden und Schülern organisiert. Grund dafür war vermutlich die wachsende Popularität Nawalnys, der sich schon immer darauf verstand, eine gemeinsame Sprache mit der Jugend zu finden. Damals gab es überall im Land Kundgebungen seiner Anhänger gegen die Korruption. Laut der Politologin Maria Snegowaja „versuchten die Imagemacher des Kreml, als sie Nawalnys Popularität unter jungen Leuten bemerkten, zunächst auch Putin ein für diese Altersgruppe attraktives Image zu verleihen“. Dies habe jedoch nicht funktioniert und deshalb habe der Kreml auf das Bild des „Großvaters der Nation“ zurückgreifen müssen. 

    Selbst sein Markenzeichen, die politisch unkorrekten Scherze, sind schon veraltet 

    Die bekannte Linguistin Jelena Schmeljowa, die die rhetorischen Profile von Politikern untersucht, stellte schon 2018 in einem Interview mit dem Radiosender Golos Ameriki (Voice of America) fest, dass sich der Wandel von Putins Image vom Macho zum Großvater bereits vollzogen habe. Die Treffen mit den Schülern hätten nicht die (vom Kreml) erwünschte Wirkung gehabt, sondern Putins Unfähigkeit, die Sprache der heutigen Jugend zu sprechen, nur noch offensichtlicher werden lassen. 

    „Selbst sein Markenzeichen, die politisch unkorrekten Scherze, sind schon veraltet. Sie finden bei dieser Zielgruppe keinerlei Anklang. Bei einem Treffen mit Schülern des Sirius-Zentrums für hochbegabte Kinder in Sotschi stellte ein Junge eine Frage – eine sehr kluge übrigens: Er nannte seinen Familiennamen, der armenisch war, und sagte, er sei aus Tjumen. Darauf sagte Putin (ich erinnere mich nicht genau an den Familiennamen des Jungen, sagen wir Aslamasjan): ‚Aslamasjan aus Tjumen? Ist es da nicht ein bisschen zu kalt für dich?‘ Dem Jungen kippte die Kinnlade runter, er verstand das einfach nicht. Denn das ist nicht die Art von Scherzen, die bei der Jugend heute gut ankommt.“ 

    Putin bekam das Image des drögen Großvaters verpasst

    Laut Schmeljowa habe man wohl nach diesem Vorfall beschlossen, Putin das Image des redlichen, langweiligen Großvaters zu verpassen, der durch Erfahrung lebensklug ist und sich um alle kümmert. 

    Etwas später bestätigte auch Putin selbst, dass er sich dieses Image zu eigen gemacht hatte. Auf seiner traditionellen Pressekonferenz bemerkte er eine Journalistin, die ein Plakat mit der Aufschrift „Putin bye-bye“ hielt, und ließ ihr das Wort erteilen. Wie sich herausstellte, stand auf dem Plakat in Wirklichkeit „Putin – babai“. Die Journalistin, die aus Tatarstan kam, erklärte, dass „babai“ das tatarische Wort für „Großvater“ sei. Putin tat die Sache mit einem Scherz ab: Im Alter habe eben seine Sehkraft nachgelassen. 

    Beim Wettbewerb Wort des Jahres 2021 war „Bunker-Opa“ einer der Hauptkandidaten

    Kurz, das Image Putins als Opa kam schon lange vor 2021 in Umlauf. Massenhafte Verbreitung, später dann noch mit dem Beiwort „Bunker-“, hat dieser Spitzname jedoch tatsächlich durch Nawalny und seine Anhänger gefunden. Beim unabhängigen russischen Wettbewerb Wort des Jahres 2021 war „Bunker-Opa“ einer der drei Hauptkandidaten. 

    Der Ausdruck entstand ursprünglich während der Pandemie, als viel von Putins Selbstisolierung, seiner Angst vor Ansteckung und den strikten Quarantänevorschriften für alle die Rede war, die öffentlich mit ihm zusammentrafen. Im Juni 2020 sagte Alexej Nawalny über Putin und die ungeheuren Ausgaben für die Siegesparade in Moskau

    „Kauft mit dem Geld doch Medikamente für Rentner. […] An die Parade denken die als Letztes. Aber der Bunker-Opa will seine Parade, er muss sich ja auf der Tribüne inszenieren.“ 

    Dieser Spitzname etablierte sich später durch den Enthüllungsfilm des Nawalny-Teams zu Putins Palast in Gelendshik, in dem ein riesiger Bunker erwähnt wird. 

    Im Februar 2021 fügte Nawalny ihm bei seinem Schlusswort vor dem Stadtgericht in Chimki ein weiteres Beiwort an: „Der langfingrige Bunker-Opa“. 

    Yandex blockiert das Anzeigen von Putin-Bildern beim Suchbegriff Bunker-Opa

    Im Januar 2023, auf dem Höhepunkt des Kriegs gegen die Ukraine, brachte ein großes Datenleck des Quellcodes der Yandex-Dienste an den Tag, dass die Suchmaschine das Anzeigen von Putin-Bildern blockiert, wenn der Suchbegriff „Bunker-Opa“ (bunkerny ded) eingegeben wird. 
    Die Wörter „Ded“ und „Deduschka“ haben auf Russisch unterschiedliche Konnotationen. Inzwischen hat der Kreml jedoch offenbar mit beiden Probleme – sowohl mit dem Begriff „Ded“, der mit der Armee bzw. dem kriminellen Milieu assoziiert wird, als auch mit dem drolligen „Deduschka“ (dem Opa in Pantoffeln, der vergessen hat, seine Tabletten zu nehmen). Nach Informationen von Journalisten der Moscow Times wurde sofort nach Prigoshins Meuterei und seinen Anspielungen auf den „glücklichen Opi“ damit begonnen, auf schnellstem Weg ein neues Image für Putin zu kreieren. 

    Ein neuer Putin?

    Der neue Putin soll nicht mehr im Bunker hocken, sondern für alle zugänglich sein – ein Präsident zum Anfassen, dem man sogar einen Kuss geben kann. Was bei Putins dritter Metamorphose nach dem Macho und dem Großvater herauskommen wird, ist noch offen. Doch es wird sicher nicht leicht werden, das neue Image durchzusetzen – gerade, weil der Spitzname schon ziemlich fest haftet. Um es mit Andrej Kolesnikows Worten aus der letztjährigen Kolumne zu sagen: „Man kann den Opa aus dem Bunker herausholen, aber nie den Bunker aus dem Opa.“  

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  • Die unzivile Gesellschaft und ihre Rolle im Krieg

    Die unzivile Gesellschaft und ihre Rolle im Krieg

    Googelt man „Putins Krieg“, dann bekommt man zehntausende Ergebnisse. Dabei sagen rund 70 Prozent der Menschen in Russland bei Meinungsumfragen, dass sie die „Spezialoperation“ unterstützen. Demnach ist die russische Aggression gegen die Ukraine also nicht das Werk eines einzelnen Mannes, auch der überwiegende Großteil der Russen trägt ihn mit. „Das einfache Volk ist dumm“ heißt es da nicht selten in staatlichen und auch in unabhängigen russischen Diskursen: Von der Propaganda gehirngewaschen, obrigkeitshörig, kollektivistisch, konformistisch – die Liste der Zuschreibungen ist lang, oft kommt man überein, dass der sogenannte Sowjetmensch einfach nie überwunden wurde, und dieser sei nunmal kaum ohne den Krieg denkbar. Dies bildet für viele die gesellschaftliche Stütze des Kriegs. 

    Die russische Propagandamaschinerie läuft tatsächlich auf Hochtouren. Was sie in den Köpfen ihrer Adressaten anstellt, ist ein intensiv diskutiertes Thema. Für einen Moskauer Soziologen, der aus Sicherheitserwägungen anonym bleiben will, verdeckt diese Intensität aber ein anderes Problem: Auf Meduza argumentiert er, dass nicht so sehr der „einfache Russe“ den Krieg unterstützt, sondern die informierten und globalisierten Eliten – reiche Russen, deren Aufstieg noch während der Sowjetunion begann. 


    „Wie kann das verfickt nochmal sein?“, wiederholt Rapper Vladi immer wieder in seinem gleichnamigen Song, geschrieben 2022, nach Kriegsbeginn. Und der Fußball-Shootingstar Alexander Kershakow sagt in einem Interview: „Ich verstehe nicht, wie das sein kann. Wie so etwas in einer modernen und progressiven Gesellschaft möglich ist. Es will mir einfach nicht in den Kopf. Ich habe versucht, mir das alles irgendwie zu erklären, aber ich finde keine Antworten.“ Selbst anderthalb Jahre nach dem 24. Februar [2022] entziehen sich die Ereignisse unserem Begreifen, wirken surreal wie ein schlimmer Traum. Aber was genau begreifen wir nicht, und woher kommt das Gefühl, als würden wir träumen?

    Auch wenn der blutige Krieg gegen die Ukraine weder Grund noch Ziel hat, folgt er einer eigenen historischen und sozialen Logik. Erstens lässt sich der Krieg aus dem Weltbild Wladimir Putins und seiner Umgebung heraus erklären – diesem eigentümlichen historischen Messianismus der politischen Diktatur, die auf dem Nährboden von Geopolitik und Verschwörungen gewachsen ist. Weitere Erklärungen finden sich in den gesellschaftlichen Vorstellungen und Praktiken der russischen Bevölkerung, die, wie wir landläufig annehmen, in Ressentiment, Imperialismus und antiwestlichen Stimmungen gefangen ist und zu Gewalt neigt. Genau diese Einheit von Staatsmacht und „Volk“ wirkt über die Köpfe der prowestlichen Minderheit hinweg und lässt die irrationale russische Aggression in der Ukraine möglich (manche denken sogar folgerichtig) erscheinen. Mit diesen oder jenen Ausflüchten oder Details erklären wir uns diesen Krieg.

    Aber irgendetwas passt hier nicht zusammen. Der unaufgeregt alltägliche Grundton des gesellschaftlichen Lebens in Russland nach dem 24. Februar entspricht so gar nicht jenem Bild von Mobilisierung und Einheit, das wir mit einer Nation assoziieren, die einen totalen Krieg wie Mitte des letzten Jahrhunderts führt. Die Diskussion über die Faschisierung der russischen Gesellschaft, mit der im Frühjahr 2022 die Einordnung des russischen Einmarsches in die Ukraine begonnen hatte, ist schnell und unbemerkt verebbt. Wenn man nicht gerade in Frontnähe lebt, findet man auf den Straßen Russlands – von den Werbebannern für den Eintritt in die Armee abgesehen – kaum Spuren des Krieges.

    Das Z ist vor allem ein Symbol für sozialen Revanchismus

    Wenn Sie jemanden mit einem Z auf dem T-Shirt oder der Heckscheibe seines Autos sehen – also einen aktiven Unterstützer des Einmarsches in die Ukraine und des Kampfs gegen den Westen – und es handelt sich dabei nicht um einen hohen Beamten, einen Mitarbeiter der Propagandaorgane oder den Schauspieler Wladimir Maschkow, dann haben Sie es aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem gesellschaftlichen Verlierer zu tun. Einem Nationalgardisten, der einen LADA Granta fährt, einem Z-Poeten, der über die mangelnde Unterstützung des Staates und den fehlenden Zugang zum Druckwesen und Fernsehen klagt, oder einem patriotischen Blogger beziehungsweise seinem Follower, die sich gegenseitig bemitleiden, dass der Staat von ihrem Patriotismus nicht endlich Gebrauch machen will. Das Z ist vor allem ein Symbol für sozialen Revanchismus.

    Die breite russische Gesellschaft zeigt keine klare Unterstützung für den Krieg, sondern versteht ihn als Teil einer natürlichen sozialen Ordnung. Soziologen sprechen von einer „Mehrheit der Nicht-Ablehnung des Kriegs“.

    Aber wer steht für diese Ordnung, ihre Reproduktion und ihre Legitimierung? Das sind die Eliten, die Schicht der gesellschaftlich Erfolgreichen. Und was sind die Eliten? Diese Schicht ist besser ins System integriert als der Durchschnitt. Ihr Kapital, sei es sozial, finanziell, administrativ oder ein Kapital von Symbolen, besitzt einen hohen Grad an Liquidität, ist also frei konvertierbar. 

    Nach dem 24. Februar hat ein Teil der russischen Elite das Land verlassen, aber der Großteil ist geblieben. Mittlere und kleinere Beamte, die die politisch-militärische Maschine des Kreml am Laufen halten; staatsnahe Unternehmen, die jetzt mit Importsubstitution und dem Umgehen von Sanktionen beschäftigt sind; die obere Mittelschicht und die Leitungsebene der aus dem Staatshaushalt bezahlten Institutionen, die der Staatsmacht gegenüber auf die eine oder andere Weise Loyalität demonstrieren müssen – das sind mehrere Millionen Menschen, die sich ohne erkennbaren Willen, aber auch ohne erkennbaren Widerstand in die moralische Ökonomie der militärischen Aggression einfügen. Das Leben ist nicht stehen geblieben, es gab kaum Rücktritte von Vorstandsposten, der Optimismus der Unternehmer ist ungebrochen.

    Aber wie kann das verfickt noch mal sein? Die Leichtigkeit, mit der der Großteil der russischen Eliten den Krieg akzeptiert hat – eben darin scheint das Rätsel zu liegen, von dem Rapper Vladi und Fußballer Kershakow sprechen.

    Die unsichtbaren Eliten und die Ethik der Bereicherung

    Über die postsowjetischen Eliten wissen wir erstaunlich wenig – aus unserem soziologischen Blickfeld wurden sie völlig verdrängt durch die Gestalt des einfachen Bürgers, jenes „Volks“, mit dessen Hilfe sich die russische gebildete Klasse seit Jahrhunderten das Auf und Ab der Geschichte erklärt. Die Tendenz zu solch groben soziologischen Verallgemeinerungen wird heute auch durch Umfrageergebnisse genährt. So scheint beispielsweise die Feststellung, die Mehrheit der Russen (70 bis 80 Prozent) würde den Krieg unterstützen, die Frage nach den Gründen dafür zu erübrigen. Man nimmt einfach als gegeben hin, dass es sich wohl um eine Manifestation des nationalen Charakters handeln muss.

    Doch die Fixierung auf das große Ganze verstellt den Blick auf die Details. So weisen die Ergebnisse derselben Umfragen darauf hin, dass in der Gruppe der Unterstützer die Hauptrolle nicht, wie man vielleicht vermuten würde, die Armen spielen, sondern die Reichen. Laut dem unabhängigen soziologischen Projekt Russian Field, das die Ergebnisse seiner Umfragen systematisch in Bezug auf die finanzielle Situation der Befragten veröffentlicht, korrelieren die erklärte Unterstützung für Wladimir Putin, die „militärische Spezialoperation“ und die „Teilmobilmachung“, das Vertrauen in offizielle Erklärungen und sogar die Bereitschaft, persönlich in den Krieg zu ziehen, direkt mit dem Wohlstand der Befragten: Die Loyalität derjenigen, die ihre finanzielle Situation als „gut“ einschätzen, liegt seit Kriegsbeginn unverändert im Durchschnitt 15 bis 25 Prozentpunkte höher als die derjenigen, die ihre finanzielle Situation als „schlecht“ oder „sehr schlecht“ einschätzen.

    Wir können insgesamt annehmen, dass das Einkommensniveau, unabhängig von den politischen Einstellungen, mehr oder weniger dem Grad an sozialer Integration und dem Eingebundensein ins große Ganze entspricht. Und obwohl die Wohlhabenden besser vor wirtschaftlichen Erschütterungen geschützt sind als die, die weniger besitzen, sollte man annehmen, dass sie die Ereignisse gleichzeitig pragmatischer betrachten und die Auswirkungen der allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Situation auf die eigenen Perspektiven deutlicher spüren. Doch den Umfrageergebnissen nach zu urteilen, scheint genau dies nicht der Fall zu sein. Die wichtigsten Befürworter und Förderer des Kriegs in Wort und Tat sind nicht, wie es sich die gebildete Klasse gewöhnlich ausmalt, die von der Propaganda korrumpierten Vertreter des „gemeines Volkes“, die nie einen Reisepass besessen haben – sondern die informierten und globalisierten Eliten.

    Wer sind die Wohlhabenden in der postsowjetischen Gesellschaft?

    Aber was für Menschen sind das? Wie gestaltet sich ihr Erfolg in der postsowjetischen Gesellschaft? Paradoxerweise ist die markanteste Eigenschaft der postsowjetischen Eliten gerade ihre Unsichtbarkeit, ihre Unterrepräsentiertheit im öffentlichen Leben (abgesehen von der obersten Führung). Die russischen Eliten sind zunächst einmal keine verdienstvollen, keine gesellschaftlich anerkannten Eliten – sie sind Eliten der Korruption, also der heimlichen Errungenschaften, der Vermögen unklarer Herkunft und der hohen Zäune, die sie vor der Öffentlichkeit abschirmen. Diese Eliten existieren in einer patronal-bürokratischen Logik, selbst wenn sie nicht unmittelbar in die Staatsbürokratie eingebunden sind: Die obere Spitze der russischen Gesellschaft ist von einem dichten Netz des Bürokratie- und Silowiki-Klientel durchzogen, wobei sich die bürokratischen Muster längst über den eigentlichen Bürokratieapparat hinaus verbreitet haben. Die russischen Eliten erhalten ihren Status in der Regel von einem Gönner oder einem Vorgesetzten, und daher ist ihr Ruf nicht öffentlich; es existiert schlichtweg keine soziale Mythologie, die ihre Erfolge in den Augen der Gesellschaft, ja sogar in den eigenen Augen legitimieren würde. Die postsowjetischen Eliten sind eine Klasse der Unsichtbaren.
     

    „Ein Merkmal der postsowjetischen Eliten ist ihre totale ideelle Prinzipienlosigkeit, die ausschließlich das Recht des Stärkeren und die Macht des Geldes akzeptiert“ / Foto © UPI Foto/imago images

    Ein weiteres Merkmal dieser Eliten ist ihre totale ideelle Prinzipienlosigkeit, die ausschließlich das Recht des Stärkeren und die Macht des Geldes akzeptiert. Die russischen Eliten sind Eliten der Bereicherung und des Konsumismus, die zu einer Weltanschauung wurden. Der persönliche materielle Wohlstand ist hier der Idee des Gemeinwohls und jeglichem Idealismus demonstrativ entgegengesetzt. Dass solche Werte für die russischen Eliten absolut keine Rolle spielen, erkennt man leicht an der Qualität der sozialen Infrastruktur in Russland, angefangen bei Wohnungs- und Kommunaldienstleistungen bis hin zu den Bestattungen.

    Das Fehlen von Idealen kombinieren sie mit Hyperloyalität: Die russischen Eliten bestehen aus überzeugten Anhängern des Regimes. Nur dass sie nicht etwa deshalb loyal sind, weil sie den ideologischen Pathos des bestehenden Regimes teilen, sondern weil es die Stabilität der sozialen Ordnung gewährleistet, deren Nutznießer sie sind. Die unverhüllte und kulturell legitimierte Praxis dieser Eliten besteht in ihrer Heuchelei, die an das Orwellsche Doppeldenk erinnert: Erklärte Antiwestler investieren in die Ausbildung ihrer Sprösslinge im Ausland und Immobilien in eben jenem Westen, das Rechtswesen ist mit Schutzgelderpressung und Terror beschäftigt, und die Zahlen in den Steuererklärungen bilden nur einen Bruchteil des realen Kapitals ab. Worte und Taten klaffen radikal auseinander, und das ist die soziale Norm.

    In gleichem Maße trifft [die Heuchelei] auch auf die Staatsideologie selbst zu. Wie auch immer die Ideologie lautet, ihr Inhalt tritt für die Eliten hinter ihre soziale Funktion zurück: Der Eid auf die „offiziellen Werte“ ist lediglich ein Loyalitätsritual, der Preis für den Wohlstand.

    Die unzivile Gesellschaft und der nicht-einfache sowjetische Mensch

    Der Gedanke liegt nahe, dass diese „unsichtbaren Eliten der Bereicherung und Heuchelei“ aus den sogenannten wilden Neunzigern emporgekommen sind – der Epoche des frühen russischen Kapitalismus, der seinerzeit den sozialistischen Idealismus von der Bildfläche verdrängt hat. So sieht es zum Beispiel der vielleicht beste Kenner der postsowjetischen Bürokratie, Alexej Nawalny („Putin ist die Neunziger“). Und die heutigen Linken würden diese Eliten als Eliten des globalen Neoliberalismus bezeichnen (so beschrieb es unlängst der Soziologe Grigori Judin in einem Beitrag für Meduza). Beide Hypothesen sind jedoch falsch: Die postsowjetischen Eliten sind das spezifische Erbe einer spätsowjetischen Gesellschaftsordnung.

    Vor zehn Jahren haben der US-Historiker Stephen Kotkin und der berühmte polnisch-amerikanische Holocaust-Forscher Jan Gross das Buch Uncivil Society: 1989 and the Implosion of the Communist Establishment über den Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa geschrieben. Die „uncivil society“ – das ist die sowjetische Nomenklatura: der obere Teil des Staatsapparats, die Partei- und Militärspitze und das offiziöse Kulturestablishment, die einen geschlossenen sozialen Organismus mit gemeinsamen Werten und sozialen Strategien herausgebildet hatten. Die plötzliche Abkehr der „uncivil society“ von der Loyalität gegenüber der sowjetischen Ideologie Ende der 1980er Jahre habe die kommunistischen Regime in Osteuropa genauso zerstört, wie die Bankenpanik, der „bank run“, das Bankensystem zerstört, schreiben Kotkin und Gross. Sie stellen den Opportunismus der sozialistischen Eliten 1989 dem gewohnten Bild des Triumphs der antikommunistischen Opposition auf den Überresten der Berliner Mauer gegenüber.

    Die postsowjetischen Eliten als spezifisches Erbe einer spätsowjetischen Gesellschaftsordnung.

    Wir sollten den so treffenden Terminus „unzivile Gesellschaft“ weiter fassen und nicht nur auf die sowjetische Nomenklatura beziehen, sondern auch auf die Eliten der spätsowjetischen Gesellschaft insgesamt: die sozial fortgeschrittene urbane Klasse, die großen und kleinen Manager, die in den Kreislauf des administrativen, finanziellen und des Austauschs von Symbolen eingebunden sind. Diese Eliten formieren sich quasi in der Gegenphase zum erlöschenden sowjetischen Projekt, ihr Auftreten selbst ist eine Form des Erlöschens: Die Abneigung gegen die rhetorische Exaltiertheit und ideologische Ritualisiertheit des Sowjetischen brachte in den 1970er Jahren eine neue, anti-idealistische soziale Ethik hervor, einen eigentümlichen sowjetischen Utilitarismus. Befeuert wurde er durch den Erdöl-Boom, der Geld in die sowjetische Wirtschaft pumpte, sowie die Entspannungspolitik, die den Eisernen Vorhang, der das rasante Wachstum der Konsumwirtschaft im Westen vor den Augen der Bevölkerung der UdSSR verborgen hatte, durchlässig machte. In der Folge wurde dieser Utilitarismus zu einer Art Parallel- beziehungsweise Schattenethik der spätsowjetischen Gesellschaft und ihrer Eliten – eine Ethik des Konsumismus, die in der Welt des sozialistischen Defizits eine besondere symbolische Aufladung erfuhr.

    Aber die öffentliche Bühne der UdSSR war komplett von der sowjetischen Ideologie und dem Kampf gegen sie besetzt, weshalb es nie zu einer sozialen Mythologisierung des Kults um den persönlichen sozialen und wirtschaftlichen Erfolg kam, die ihn legitimiert hätte. Während sie nach außen hin weiter brav die Rituale der Sowjetideologie ausführte, erlebte die „uncivil society“ des späten Sozialismus im Schatten des öffentlich sanktionierten sozialen Handelns ihre Evolution.

    Eliten des spätsowjetischen Konsumismus und die postsowjetischen „Eliten der Bereicherung“ sind so ähnlich, weil sie ein und dasselbe sind

    Dass sich die Eliten des spätsowjetischen Konsumismus und die postsowjetischen „Eliten der Bereicherung“ bis zur Ununterscheidbarkeit ähneln, hat eine einfache Erklärung: Es handelt sich um dieselben Eliten und dieselbe Ethik. Ihre Apostel sind die Emporkömmlinge der 1970er Jahre, die mit dem Aufblühen der Ethik der Bereicherung groß geworden sind und in den 2000er Jahren auf die historische Bühne traten, als sie die idealistische Generation der Tauwetterperiode endgültig verlassen hatte. Einer Studie von Maria Snegowaja und Kirill Petrow zufolge sind etwa 60 Prozent der heutigen politischen Elite in Russland unmittelbar aus der spätsowjetischen Nomenklatura hervorgegangen, und einer ihrer typischen Vertreter ist ihr Präsident geworden.

    Einer ihrer typischen Vertreter ist Präsident geworden

    Dabei dominiert in unserer Gesellschaft eine ganz andere Vorstellung vom sowjetischen Erbe. Diese Vorstellung hängt mit der vorherrschenden und längst zum Allgemeinplatz gewordenen soziologischen Hypothese von der Existenz eines speziellen und dominierenden Homo sovieticus zusammen. Sie wurde ausführlich in dem Buch Die Sowjetmenschen 1989–1991. Soziogramm eines Zerfalls (der russische Titel lautet wörtlich: Der einfache sowjetische Mensch) beschrieben, das 1993 von Juri Lewada und seinen Kollegen aus dem damals gerade gegründeten WZIOM, dem Vorgänger des heutigen Lewada-Zentrums, herausgegeben wurde. 

    „Der einfache sowjetische Mensch“, wie ihn die Soziologen Anfang der 1990er Jahre sahen, ist ein beschränkter, infantiler und neidischer Mensch, der sein Schicksal dem Staat überlassen hat, nicht auffallen will, biegsam und hinterlistig ist, Angst vor Verantwortung hat und allzeit damit beschäftigt ist, irgendwie zu überleben. 1993 schien es, als würde er die gesellschaftliche Bühne verlassen, aber die weiteren Beobachtungen zwangen Lewada und seine Ko-Autoren dazu, diesen Schluss radikal zu überdenken: Sie kamen zu der Erkenntnis, dass die Anpassungsfähigkeit und Zähigkeit des Homo sovieticus sich als so hoch erwiesen hatten, dass sie ihn ins Zentrum nun auch der postsowjetischen Gesellschaftsordnung stellten. Dies wiederum habe den Weg geebnet für die Hemmung des Demokratisierungsimpulses während der Perestroika und das spätere Abgleiten Russlands in den Autoritarismus. 

    Später fügten die Soziologen den Hauptmerkmalen des „einfachen sowjetischen Menschen“ das einst von Nietzsche erfundene Ressentiment hinzu – eine Art sozialer Minderwertigkeitskomplex, der sich selbst kompensiert, indem er erfolgreichere Gesellschaftsmodelle (den „Westen“) aktiv ablehnt oder ihnen gegenüber sogar aggressiv auftritt. Das ist es, woraus die berüchtigte „Putin-Mehrheit“ besteht, die zu dem Meme „86 %“ wurde.

    Die Frage nach der realen Existenz des Homo sovieticus ist, wie man in solchen Fällen zu sagen pflegt, eine Geschichte für sich, die längst zum Thema einer wissenschaftlichen und publizistischen Diskussion geworden ist. Und dennoch, es ist erstaunlich, wie unähnlich sie sich sind: dieser „einfache sowjetische Mensch“ der russischen Soziologie, eine Geisel des Paternalismus und Ressentiments, und der „nicht-einfache sowjetische Mensch“ der spät- und postsowjetischen Eliten. Anstelle des Paternalismus steht bei diesem das administrative Unternehmertum, Geschäfte mit Hilfe und im Umfeld des Staates, und anstelle des Ressentiments die Defizite von Symbolen, das heißt die fehlende Möglichkeit, die eigenen sozialen Erfolge zu legalisieren (hieraus erklärt sich auch die Neigung der Führungsspitzen zu wissenschaftlichen Titeln, die ebenfalls auf die spätsowjetischen sozialen Moden und ihre Denkmalwut zurückgeht).

    Man muss jedenfalls klar sehen, dass hinter den heutigen Eliten Russlands eine starke, tief verwurzelte spät- und postsowjetische soziale Moral steht, die eine beständige soziale Ordnung formiert hat, welche sich seit nunmehr einem halben Jahrhundert erfolgreich evolutioniert. Im Grunde ist die postsowjetische Epoche die Epoche des „nicht-einfachen sowjetischen Menschen“: Die Korruption wurde zur faktisch legitimierten Basis des polit-ökonomischen Systems, während die Ethik der Bereicherung die Werte des sozialen und politischen Idealismus verdrängt hat, den die Generation der 1960er gepredigt hat (und dessen Sternstunde die Perestroika war).

    Trotz aller Probleme um die Anerkennung und die Öffentlichkeit besetzen heute der „nicht-einfache sowjetische Mensch“ und die „unzivile Gesellschaft“ praktisch die komplette soziale Bühne in Russland. Folglich ist das Wichtigste, das die postsowjetische Gesellschaft von der sowjetischen geerbt hat, nicht Ressentiment und Paternalismus, ja nicht einmal das imperiale Denken, sondern die spezifische Verbindung von einem sozial-bürokratischen Unternehmertum mit politischem Konformismus, also mit einer Depolitisierung.

    Die Folgen der Depolitisierung und die moralische Katastrophe

    Das Weltbild des „nicht-einfachen sowjetischen Menschen“ negiert den Wert der politischen Teilhabe. Die demokratische Maschinerie ist für ihn kein Mechanismus, sondern reine Dekoration. Die fehlende Nachfrage der postsowjetischen Eliten nach Demokratie hat dazu geführt, dass die demokratischen Institutionen im neuen Russland schnell zu einer Imitation verkommen sind und die Fälschung der Wahlergebnisse zu einer sozialen Massenpraxis, in der die Hauptrolle wiederum jene „unzivile Gesellschaft“ spielt: kleinere Führungskräfte, Schuldirektoren und Leiter anderer staatlicher Unternehmen und so weiter. So kam es, dass die Basis der postsowjetischen sozialen Ordnung nicht die öffentliche, sondern eine bürokratische Konkurrenz wurde und der zentrale Hebel nicht die öffentliche Anerkennung, sondern die Loyalität gegenüber der Obrigkeit.

    Die apolitischen Einstellungen der spät- und postsowjetischen Eliten sind das Misstrauen in die Politik als solche oder ihre Verwandlung in ein Mittel der Bereicherung. Diese Einstellungen haben das politische Regime in Russland von den Systemen der Kontrolle und Gegengewichte befreit. Das Vakuum an Symbolen, in dem diese Eliten existieren, wurde gefüllt mit Verschwörungen und antiwestlichen Stimmungen, die so ungehindert zur Staatsideologie werden konnten.

    Die Abkehr der „Eliten der Bereicherung“ von jeglichen politischen und intellektuellen Ansprüchen machte es möglich, dass sich das politische Regime in Russland in eine personalisierte Diktatur verwandeln konnte, die sich schließlich von der Realität lossagte und einen blutigen Krieg gegen die Ukraine entfesselte. Genau das ist die Formel, die die Kontinuität zwischen der postsowjetischen Welt und unserem tragischen Heute erklärt – das Bindeglied ist die gemeinsame soziale Moral: die Moral der Bereicherung und der Teilnahmslosigkeit. Der Begriff „moralische Katastrophe“ scheint auf den ersten Blick eine ausgelutschte publizistische Plattitüde, aber im Fall Russlands im Jahr 2023 besitzt sie einen konkreten soziologischen Inhalt: Die Gründe für den Krieg in der Ukraine liegen in der sozialen Ethik.

    Die Grenzen der Loyalität und die Stabilität des Regimes

    Die Loyalität der „unzivilen Gesellschaft“ gegenüber dem Regime ist begrenzt: Genau wie in der postsowjetischen Zeit ist der „nicht-einfache sowjetische Mensch“ und die aus solchen wie ihm bestehende „unzivile Gesellschaft“ völlig befreit von jedem ideologischen Pathos; hinter vorgefertigten Formeln verbirgt sie ihre Korruptions- und Bürokratie-Erfolge. Zehntausende große und kleine Führungskräfte, Beamte, Manager, Staatsunternehmer, die in das bürokratische Milieu eingebunden sind, ökonomisch erfolgreiche, „respektable“ Leute, die ihre Erfolge nicht legalisieren und der Öffentlichkeit präsentieren können – sie alle sind bereit, ihren Eid auf einen noch so menschenfressenden „nationalen Führer“, jede „militärische Spezialoperation“ und weiß der Teufel was zu schwören, solange diese ihre gesellschaftliche Stellung sicherstellen und sie mit immer neuen administrativen und wirtschaftlichen Möglichkeiten ausstatten.

    Es wird zu einer Abwendung kommen von dem radikalisierten Regime, das den Wohlstand in Gefahr bringt

    Das bedeutet wiederum, dass hinter dem hohen Grad der Unterstützung des Krieges unter den russischen Eliten, von dem die Umfragen zeugen, keine ideologische Mobilisierung steht, sondern ein Loyalitätsreflex. Noch ist sich der „nicht-einfache sowjetische Mensch“ sicher, dass die Macht Wladimir Putins seine „unzivile Gesellschaft“ schützt und als Garant für seine Prosperität fungiert. Aber irgendwann kommt es zu einem Umbruchmoment, in dem er sich, wie immer schweigend, von dem radikalisierten Regime abwendet, das seinen Wohlstand in Gefahr bringt, und dann bringt ein neuer Anfall von „Bankenpanik“ das scheinbar unerschütterliche politische System zu Fall.

    Das Regime scheint allerdings selbst sehr wohl zu verstehen, worauf seine Unterstützung beruht, und versucht, seine wahnwitzigen Ambitionen mit den Interessen des „nicht-einfachen sowjetischen Menschen“ ins Gleichgewicht zu bringen. Die Metropolen und Großstädte, die seinen hauptsächlichen Lebensraum darstellen, bleiben von der „Teilmobilmachung“ (und der Kriegspropaganda insgesamt) weitgehend verschont. Seit Kriegsbeginn werden verstärkt Antikorruptionsgesetze abgeschafft, sogar eine Aufhebung des Vergaberechts wird diskutiert. Eine Umweltschutzorganisation nach der anderen wird kriminalisiert, weil sie Unternehmern und Beamten ein Dorn im Auge sind.

    Die Frage, ob Putin in der Lage sein wird, dieses Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, ist nicht leichter zu beantworten als jede andere Frage bezüglich unserer Zukunft. Noch schwieriger ist es jedoch, sich vorzustellen, wie das Schicksal der russischen Gesellschaftsordnung und ihres Herrschers, eines „nicht-einfachen Sowjetmenschen“, auf der nächsten Windung der Geschichte aussehen wird, der wir uns im Eiltempo nähern.


    Leseempfehlungen

    Projekt: Die Hunde des Krieges. Russische Oligarchen der Kriegszeit.

    Die russischen Geldeliten unterstützen den Krieg nicht nur, sie verdienen auch daran, wie eine Recherche des gemeinnützigen Investigativ-Onlineportals Projekt zeigt. 

    „Mindestens 83 Personen aus dem letzten Forbes-Vorkriegs-Ranking der 200 reichsten Russen waren offen an der Versorgung der russischen Armee und der Rüstungsindustrie beteiligt.

    Gegen 82 von ihnen sind Sanktionen verhängt worden, aber nur 14 dieser 82 sind in allen Gerichtsbarkeiten der pro-ukrainischen Koalition sanktioniert. Und 34 überhaupt nur in der Ukraine. Die Gesamtsumme der offen zugänglichen Verträge, die die Unternehmen dieser Geschäftsleute während des Kriegs in der Ukraine (seit 2014) mit der russischen Rüstungsindustrie abgeschlossen haben, ist riesig – nicht weniger als 220 Milliarden Rubel, also fast drei Milliarden US-Dollar (im Durchschnittskurs von 2021).“

    russisches Original (vom 31.07.2023) / englisches Original (vom 31.07.2023) / Übersetzung aus Google Translate


    iStories: Wie russische Milliardäre die Armee mit Söldnern versorgen

    Die russischen Oligarchen gehören zu den größten Unterstützern des Angriffskriegs gegen die Ukraine. Laut einer Recherche des gemeinnützigen Investigativ-Onlineportals Projekt gehören sie auch zu den größten Profiteuren. iStories hat zudem herausgefunden, dass viele ihrer Unternehmen auch ziemlich direkt an dem Krieg teilnehmen: Die Firmen von Oleg Deripaska, Leonid Mikhelson und anderen Geschäftsleuten heuern Söldner an, setzen sie auf ihre Gehaltslisten – und entgehen trotzdem teilweise den westlichen Sanktionen. 

    russisches Original (vom 01.08.2023) / englisches Original (vom 01.08.2023) / Übersetzung aus Google Translate

    Diese Übersetzung wurde gefördert von: 

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    Unmoral als System

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  • Auf der Schattenseite der Geschichte

    Auf der Schattenseite der Geschichte

    Sviatlana Kurs, geboren 1972, hat als Schriftstellerin zuletzt auch international mit ihrem Roman Was suchst du, Wolf? für Aufsehen gesorgt, den sie unter ihrem Pseudonym Eva Viežnaviec veröffentlichte. Das Buch erzählt die gewaltvolle und düstere Geschichte der Menschen und vor allem der Frauen in der Region, aus der Kurs’ Familie selbst stammt: Polessje, diese mystische Sumpflandschaft im Süden von Belarus. Für den Roman erhielt sie 2021 den renommierten belarussischen Jerzy-Giedroyc-Preis, als erste Frau. 

    Auch in ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft mit der S. Fischer Stiftung geht es um die gewaltvolle Geschichte von Belarus und letztlich um die Frage, wie die Belarussen ihre Identität und damit ihre Zukunft bewahren können. In einer Zeit, in der Russland einen grausamen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, der auch Auswirkungen auf Belarus selbst hat. Kurs´ Argumentation erinnert in mancher Hinsicht auch an die Narrative der nationalen Wiedergeburtsbewegung, für die sich die Belarussische Volksfront seit Ende der 1980er Jahre einsetzte.

    Belarussisches Original


    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Man nennt uns eine Nation mit weitgehend ausgelöschter Identität, denn wir haben unsere Sprache und Kultur, unsere Architektur und das bauliche Erbe unserer Städte fast verloren. Selbst unsere Gotteshäuser wurden nach russischer Art umgebaut, statt Kreuzen tragen sie russische Kuppeln, im Volksmund Zwiebeltürme genannt. Seit 229 Jahren leben wir Belarussen unter russischer Besatzung. Von uns selbst ist hier bei uns kaum etwas übriggeblieben. 

    Auch ich dachte so, bis sich im Jahr 2020 die Schlinge um den Hals ein wenig lockerte, als die Belarussen in Millionenstärke demonstrierten und zeigten, was sie wollen. Selbst in kleinen Städtchen und Dörfern, wo man keine lebendigen Menschen mehr vermutet hätte, fanden Kundgebungen und Märsche statt.

    Doch dann erklärte Putin, er würde die Armee schicken, und mit dieser Unterstützung und hunderttausenden Silowiki erstickte Lukaschenka den Protest, indem er Menschen einfach auf der Straße erschießen ließ.

    Seit 2020 dauern die gnadenlosen Repressionen nun schon an, schon drei Jahre. Im Land wurde ein Gefängnissystem geschaffen, das in seiner Brutalität den Lagern Stalins und Hitlers in nichts nachsteht, abgesehen von den Massenmorden. 

    Schon seit über drei Monaten erhalten die Angehörigen der politischen Gefangenen keine Nachrichten mehr von ihnen. Bekannt ist, dass einige, wie Ihar Lossik, Selbstmordversuche verübt haben. Andere wie der herzkranke 61-jährige Iwan Klimowitsch starben, weil ihnen die medizinische Versorgung verwehrt wurde. 

    Iwan war für eine Lukaschenka-Karikatur in den sozialen Netzwerken inhaftiert worden. Vor Gericht sagte der ältere Mann dem Staatsanwalt und dem Richter, zwei pausbäckigen Mittdreißigern: „Sperren Sie mich nicht ein, die Ärzte sagen, in Haft werde ich sterben.“ Und doch steckten sie ihn ins Gefängnis. 

    Den 50-jährigen Witold Aschurak brachten sie einfach um, indem sie ihm alle Knochen brachen und ihn der Familie mit folgenden Worten übergaben: „Er ist unglücklich gestürzt.“

    Der 11. Juli 2023 war wieder ein tiefschwarzer Tag für Belarus: Während der Verbüßung seiner fünfjährigen Haftstrafe kam Ales Puschkin zu Tode. Er war nicht nur ein politischer Gefangener, er war ein Künstler, der uns das Land so malte, wie wir es uns träumten  mit einer schönen Vergangenheit und einer lichten Zukunft. Mit ihm raubten sie uns die Träume. 

    Zehntausende solcher Geschichten sind uns bekannt. Ihre Dokumentation ist kompliziert, da auch Menschenrechtler und Anwälte zu zigdutzend Jahren Haftstrafen verurteilt wurden und hinter Schloss und Riegel verschwunden sind. 

    Das wirft die Frage auf: Sind nur die Russen an dem Schuld, was bei uns vor sich geht?

    Um zehntausende Menschen zu erschießen, zu unterdrücken und zu töten, braucht man zehntausende andere Menschen, Landsleute, die bereit sind, ihre Mitmenschen brutal zu bestrafen. Woher kommen diese Menschen, wer sind sie?

    Ethnozid als Form des Genozids

    Das 500-jährige Russische Imperium, das in unterschiedlicher Gestalt auftritt (mal als Zarenreich, mal als UdSSR, mal als Putins Monster), verfügt über ein effizientes Instrumentarium zur Eroberung fremder Gebiete. Deshalb nimmt es auch ein Siebtel der Erdoberfläche ein. Die angewandten Methoden sind eine Kombination aus physischer Vernichtung der Eliten des eroberten Gebietes und der Auslöschung der Identität der anderen, ihrer Umerziehung zu Russen. Diese Taktik kann man hervorragend in der Ukraine beobachten: Die Eltern werden ermordet, zehntausende Kinder in die Tiefen Russlands gebracht, in Waisenlager oder Familien, wo sie indoktriniert werden, die eigene Heimat und Familie zu hassen. 

    Dasselbe ist in den vergangenen 229 Jahren mit den Belarussen passiert. Ihren Gipfel erreichte diese Politik im Jahr 1937, als die belarussische intellektuelle Elite ermordet wurde: Wissenschaftler, Künstler, Ärzte, Ingenieure. Allein am 29. Oktober 1937 wurden mehr als 100 Schriftsteller, Dichter und Wissenschaftler erschossen. Man verscharrte sie in Wäldern. Neben jedem Städtchen in Belarus gab es einen Erschießungsplatz, die Namen dieser Orte sind bekannt, die Erinnerung wird von der lokalen Bevölkerung und Aktivisten bewahrt. Erde vergisst nicht. 

    Der zweite Schritt des Genozids war die Zerstörung der belarussischen Sprache, Kultur und Bildung. Heute lernen Kinder in Belarus Russisch, belarussische Sprache und Literatur wird in einer Reihe von Fällen nur eine Stunde pro Woche unterrichtet. Auch eine belarussischsprachige Hochschulbildung ist nicht möglich, alle Universitäten sind russischsprachig. Menschen, die im Schoß der russischen Mentalität aufgewachsen sind, nehmen alles Belarussische als rückständige Dorfmacke oder feindseliges Attribut wahr.

    Wie in den besetzten Gebieten der Ukraine, so ist auch bei uns eine Quasi-Besatzerverwaltung damit beschäftigt, die nationale Selbstidentifikation durch Beeinflussung ihrer Träger zu zerschlagen und zu zermalmen. Wer nicht aus dem Land geflüchtet ist, wird im Gefängnis sitzen. Und wer nicht im Gefängnis sitzt, wird stillhalten, aus Angst, seinen Besitz, die Kinder und die Arbeit zu verlieren. Denn das sind die Methoden. Die Kinder kommen in Heime oder Pflegefamilien, der Besitz wird durch die Forderung horrender Strafzahlungen aufgezehrt. So zwingt man die Menschen zu werden, wie Russland sie sehen will: Zu Menschen, wie sie in Luhansk, Donezk, in allen besetzten Gebieten leben. Zu einer Art Als-ob-Russen, zu Trägern der russischen Idee, aber in der Metropole doch nicht ganz akzeptiert. Die etwas schlechteren Russen, um die es nicht schade ist, aber die dennoch die Russische Welt vertreten, die den Zweck einer Pufferzone zwischen dem russischen Stammland und dem „verdammten Westen“ erfüllen. 

    Zu solchen wollen sie uns machen, wenn sie aktiv die ukrainische und die belarussische Identität vernichten. Bei uns ist derzeit ein so genannter „kalter Genozid“ im Gange – durch Druck und Repression–, bei den Ukrainern ein „heißer“, durch physische Vernichtung in ihren eigenen Häusern. Dieser Ethnozid ist mal kühl und berechnend, mal karikaturartig und dumm. Doch der Prozess unserer Ausradierung von der Erdoberfläche ist im Gange. 

    Wie leisten wir Widerstand?

    Aktive und sichtbare Formen des Widerstandes sind im Moment nur in der Diaspora möglich. Die Belarussen bilden Militäreinheiten, um auf der Seite der Ukraine zu kämpfen. Sehr bekannte Formationen sind das Kalinouski-Regiment, das Belarussische Freiwilligenkorps Pahonja. Unsere Bücher und Lehrbücher verlegen wir im Ausland, bilden dort unsere Kinder aus, sammeln Spenden für die Familien der politischen Gefangenen, die ohne Existenzgrundlage zurückgeblieben sind, ohne Einkommen droht ihnen der Entzug der Kinder. Wir sammeln Geld für diejenigen, die während der Proteste oder im Krieg verkrüppelt wurden. Wir haben unsere eigene Exil-Regierung und Strukturen in der Emigration. 

    Doch wie sieht es zu Hause aus? Durch die präzedenzlosen Repressionen ist offener Protest dort unmöglich. Für ein Like auf Facebook wird man zu mehreren Jahren Haft verurteilt, für das Abonnement eines Telegramkanals, für ein einzelnes Wort, oder auch einfach so, auf Basis einer Verleumdung. 

    Doch die Menschen haben verstanden, dass sie sich unter diesen Bedingungen vereinen müssen, zusammenstehen, einander helfen. Egal, in welcher Form. Es gibt Lesetreffs, Handarbeitsklubs, Vereinigungen junger Eltern, Gruppen von Tierfreunden oder Sportlern. Die Gesellschaft trägt die Erinnerung an 2020 in sich und strebt danach, sie zu bewahren. Die Menschen sind sich bewusst, dass wir an einem Wendepunkt der Geschichte stehen, und sind jederzeit bereit, wieder auszubrechen, um uns unser Land und unser Leben zurückzuholen. 

    Das Gericht der Zukunft

    Und eine weitere äußerst wichtige Arbeit ist im Gange: Für die Gerichte der Zukunft, zum Zweck der Lustrationsprozesse, werden die Namen der Richter, Staatsanwälte, Polizisten, Geheimdienstmitarbeiter, Gefängnisaufseher, Lehrer, Propagandisten und Denunzianten gesammelt, die die Schicksale von Menschen gebrochen, sie getötet, gepeinigt, erniedrigt und die Wahlen gefälscht haben. Nach der Befreiung von Belarus wird es einen großen Prozess zur Bestrafung des Bösen geben, wozu wir nach dem Zerfall der Sowjetunion weder die historische Zeit noch die historische Chance hatten. 

    Im Untergrund und in der Emigration wird an Gesetzen gearbeitet, auf deren Grundlage das prorussische, quasibesatzerische Regime Aljaxandr Lukaschenkas, die Autoren und Ausführenden der verbrecherischen Befehle, verurteilt werden. Auch für die Normalisierung des Lebens im Land werden Gesetze geschrieben: für ein repressionsfreies, weltliches Bildungssystem, für die Belarusifizierung des Bildungswesens und der öffentlichen Verwaltung, für normale Bedingungen der Presse- und Unternehmerfreiheit.


    In der kurzen Zeit der Freiheit von 1991 bis 1994, als nach dem Zusammenbruch der UdSSR das unabhängige Belarus entstand und der prorussische Diktator Aljaxandr Lukaschenka noch nicht an die Macht gekommen war, machte Belarus einen solchen Sprung nach vorn zur Freiheit, dass wir selbst aus dem Wundern nicht mehr herauskamen. Damals traten die jungen, hellgrünen Triebe unserer zukünftigen Freiheit und Blüte hervor. Vor unseren Augen entwickelten sich Kultur, Unternehmertum, freie Presse, eine gesunde Wirtschaft und Bildung. Jeder Mensch erkannte plötzlich für sich selbst die Möglichkeit und die Chance, das Leben nicht so zu leben, wie es Partei, Staat und Ideologie vorgaben, sondern so, wie man es selbst will. 

    Warum wählte die Gesellschaft damals Aljaxandr Lukaschenka?

    Es gibt ein Sprichwort: Der erste Blin misslingt. Und das war der erste und der letzte Blin, den wir selbständig einrühren und backen durften. In den rund 200 Jahren russischer Besatzung (mit kurzen Unterbrechungen durch andere Okkupanten, die Deutschen und die Polen) kannten die Belarussen weder freie Wahlen noch freie Presse. Es ist schlicht ein Wunder, dass wir überhaupt noch irgendetwas wollen, einen eigenen Lebenswillen und Wünsche haben, und uns selber Bliny backen wollen, anstatt aus fremden Händen gefüttert zu werden. 

    Im Jahr 1994, als bei den einzigen freien Wahlen Aljaxandr Lukaschenka an die Macht kam, herrschte in Belarus noch eine schwere Wirtschaftskrise, die Bevölkerung bestand zu 25 Prozent aus alten Menschen, denen keine Rente mehr ausbezahlt wurde. Der Staat hielt über 90 Prozent der Arbeitsplätze im Land und konnte die Löhne nicht mehr bezahlen. Und das, was noch ausgezahlt wurde, fraß die Inflation auf. Es war absehbar, dass die Krise in kurzer Zeit durch unternehmerische Initiative und kreative Arbeit der Menschen überwunden werden könnte. Doch die älteren und armen Wähler konnten nicht so lange warten. Als dann der Kandidat Lukaschenka auftauchte, der versprach, die postsowjetische Korruption zu besiegen, die Betrüger hinter Gitter zu bringen, die gigantischen sowjetischen Betriebe wiederzubeleben, Arbeitsplätze, Ordnung und Stabilität zu schaffen, stimmten sie begeistert für ihn. Den Menschen gefiel die Idee der starken Hand, die alles im Land für sie übernimmt und Ordnung schafft. Sie wussten noch nicht, dass ihnen die starke Hand mit der Zeit auch an die Kehle gehen würde. 

    Wie wir uns in einem totalitären Staat wiederfanden

    Lukaschenka erfüllte sein Versprechen, den Hungrigen Essen zu geben. Er ging sofort eine Union mit Russland ein, deren Bedingungen im Großen und Ganzen so aussahen: Belarus wird zum Vasallen Russlands, zum Bestandteil des Russki Mir, mit einer Dominanz der russischen Ideologie und Kultur, und Russland bezahlt den ganzen Spaß. Lukaschenka erhält dafür die uneingeschränkte Macht. So funktioniert es seit 1994. Bald 30 Jahre also. 

    Alle paar Jahre standen die Belarussen gegen das Regime auf, wofür es Zeugen und Belege gibt, Chroniken wurden geschrieben, Monitorings durchgeführt. Unermüdlich führten sie den täglichen Kampf. Doch es gelang nicht, das Regime loszuwerden oder wenigstens ins Schwanken zu bringen.

    Einige beschuldigen die freie Welt, die internationale Gemeinschaft, sie habe uns nicht genügend unterstützt. Diesen Gedanken teile ich nicht. Die westlichen Länder unterstützten unsere Opposition und unsere Kulturarbeit mit Geld, Beratung, Bildung und Öffentlichkeit. Diese Unterstützung war riesig.

    Gegen unsere Freiheit aber stand Russland, das all die Jahre, in denen seine Rohstoffe Hochkonjunktur hatten, darauf verwendete, in allen Teilen der Welt seine imperialen Projekte zu finanzieren. Allein in den letzten 29 Jahren gab Russland für die Unterstützung des belarussischen Regimes viele Milliarden Euro aus. Riesige Summen flossen in die Bestechung der politischen und wirtschaftlichen Eliten im Westen – zum Beispiel für bekannte Agenten des russischen Einflusses in London, Berlin, Paris, Warschau, Prag oder in den Hauptstädten der Balkanstaaten. Diese Menschen und Organisationen sind öffentlich sichtbar und laut zu vernehmen. Darüber hinaus wurde russisches Geld zur Anwerbung von Agenten auf der ganzen Welt über die gewaltige und einflussreiche Struktur Rossotrudnitschestwo umgesetzt.

    All das hätte man vermutlich irgendwie überwinden können, wäre es nicht auch innerhalb der belarussischen Nation zu einer Spaltung gekommen. Denn während der Jahrhunderte der militärischen, kulturellen, wirtschaftlichen, mentalen und ideologischen Dominanz hat ein großer Teil unserer Nation die Mentalität des Russki Mir angenommen. Tatsächlich gibt es viele, denen es gefällt, in einem Imperium unmenschlicher Größe und alltäglicher Gewalt, Feindseligkeit und Bosheit zu leben.

    Deshalb haben wir verloren. Und für diese Niederlage haben wir mit dem abrupten Übergang vom autoritären zum totalitären Staat bezahlt.

    Der Unterschied zwischen einem autoritären und einem totalitären Regime ist bekanntermaßen kolossal. Während das autoritäre Regime seinen Untertanen sagt: „Macht in eurem Privatleben, was ihr wollt, Hauptsache, ihr mischt euch nicht in die Politik ein“, kriecht das totalitäre Regime den Menschen ins Bett, an den Tisch, ins Badezimmer. Wenn nötig, entzieht es dem Menschen den letzten Zipfel Privatheit und Intimität, um ihn am Ende auch um das Recht am eigenen Körper zu bringen. Den Tiefpunkt markierte wohl das totalitäre Kambodscha, in dessen Gefängnissen den Menschen verboten war, sich ohne Erlaubnis zu bewegen. Für eine unerlaubte Bewegung wurde man sofort getötet. Von zehntausenden Inhaftierten überlebten nur zwei Menschen diese Gefängnisse.

    Die belarussische Gesellschaft ist am letzten Ende des Totalitarismus angekommen, mit seinen höllischen Bedingungen. 

    Doch uns steht noch ein kleines Schlupfloch offen: Wir können in die Freie Welt fliehen. Natürlich nicht alle. Manche sind krank oder arm, manche in Haft, manche haben alte Eltern. Doch die Regierungen Litauens und Polens – Länder, die uns kulturell und historisch nahestehen – bestätigen, dass die Immigration aus Belarus seit 2020 um ein Mehrfaches angestiegen ist und weiterhin steigt. 

    Die belarussischen Machthaber schauten dabei bewusst weg und hofften, die aktiven, oppositionell eingestellten Menschen loszuwerden, den Gärstoff potenziellen Aufruhrs. Doch auch Fachleute, ohne die der Staat nicht mehr funktionieren konnte, begannen das Land zu verlassen. Einige Tausend Ärzte sind geflohen, ebenso Techniker und Wissenschaftler. Gestern traf ich in Warschau einen jungen Ingenieur, den sein Betriebsleiter nicht gehen lassen wollte. Man sagte ihm: Nein, du wirst hier arbeiten, nicht in Polen. Er ließ seine Dokumente zurück, wurde auf Grundlage des Arbeitsrechtskodex entlassen (was ihm einen Aktenvermerk einbringt, mit dem er in Belarus nie wieder in seinem Beruf eingestellt werden kann). Er sagte mir: „Ich will zum Fernfahrer umschulen und meine Familie herholen. In fünf Jahren bin ich schon zu alt, die Gesundheit lässt nach und ich komme nicht mehr weg, und die Kinder auch nicht.“

    Auch Programmierer verlassen das Land, auf die das belarussische Regime so stolz war, ihnen einen Technologiepark gebaut und vor der ganzen Welt mit ihrer Innovationskraft geprahlt hatte. Einer von ihnen kehrte nach Belarus zurück, um seinen Vater zu beerdigen. Er wurde an der Grenze festgehalten, sein Reisepass, die Karta Polaka und die Arbeitsgenehmigung geschreddert, damit er Belarus nicht mehr verlassen konnte. 

    Wird ein neuer Eiserner Vorhang an der Grenze zum Westen entstehen?

    Elemente davon gibt es bereits. Die Machthaber schaffen künstlich eine mentale und physische Kluft zwischen uns und unseren nächsten Nachbarn – den Polen, mit denen wir einige Jahrhunderte in einem Staat gelebt haben. Um nach Polen zu gelangen, warten die Menschen 8 bis 24 Stunden an den Grenzübergängen, ihre Arbeitserlaubnis wird überprüft, oft wird ihnen die Ausreise verweigert. Selbst die Uhrzeit wurde auf die Moskauer Zeitzone umgestellt, der Unterschied zu Polen beträgt nun zwei Stunden. Wenn es zum Beispiel in Brest 11 Uhr morgens ist, dann ist es in Terespol nach 15-minütiger Fahrt entfernt, erst 9 Uhr. 

    Der gekochte Frosch

    Zu den Folgen des Lebens in einem totalitären Staat gehört nicht nur erlernte Hilflosigkeit, sondern auch Deprivation, die Verkümmerung der Fähigkeit, die psychischen, physischen und sozialen Grundbedürfnisse zu befriedigen. Der Mensch verliert das Gefühl für sich selbst, für seine Bedürfnisse. Wie in dem russischen Märchenfilm, den sie uns jahrzehntelang im Fernsehen gezeigt haben: „Frei oder nicht frei – ist doch einerlei“. Selbst die mutigsten, energischsten und brilliantesten Menschen lassen den Kopf hängen, kehren dem Engagement den Rücken, wenden sich ins Private, in eine andere Kultur oder versinken in Depression und Alkohol. 

    Ein Sänger, der während der Proteste in Belarus öffentliche Chorgesänge mit tausenden Menschen organisierte, sagte mir am 7. Mai 2023 in Warschau: „Ich organisiere keine Straßenchöre mehr. Es ist sinnlos. Unser Gesang hat überhaupt nichts gebracht.“ Dieser aufrechte, motivierte, starke Mensch hat sich nicht unterkriegen lassen, er hilft heute dutzenden belarussischen politischen Flüchtlingen, in Polen Fuß zu fassen. Ohne ihn wüssten ganze Familien nicht, an wen sie sich wenden können, wie sie eine Wohnung, eine Beschäftigung, eine Schule für die Kinder finden. Doch manche Menschen ziehen sich in sich selbst zurück, essen und trinken viel, als wollten sie ihr Leben mit einem schleichenden Selbstmord beenden. Das tun viele, die die Hoffnung verloren haben oder sie Schritt für Schritt verlieren.

    Ich schreibe diesen Text im Wissen darum, dass Pawel Belawus, Inhaber eines auf die Nationalsymbolik ausgerichteten Souvenir- und Buchshops, der lange in Untersuchungshaft saß und auf seine Anklage wartete, schließlich beschuldigt wurde wegen „Verbreitung belarussischen Nationalismus“. Der Staat hat damit unterschrieben, dass er schon lange kein Staat mehr ist. Er ist eine antibelarussische, antinationale Besatzerverwaltung. 

    Ist das das Ende? Nein.

    Was kann uns also retten, abgesehen von den ukrainischen Streitkräften und ihren belarussischen Einheiten, die unseren gemeinsamen Feind vernichten, der seit Jahrhunderten unser Leben, unsere Freiheit und unser Glück vernichtet? 

    Einzig die Liebe. Es liegt in unserer Macht, unsere Identität zu bewahren. Wer keine Kraft hat, etwas zu tun, sich mit anderen Menschen zusammenzuschließen, kann sie einfach in sich selbst erhalten, wie eine Flamme – die Liebe zu sich selbst, die Liebe zu den eigenen Leuten. Aus diesem Flämmchen kann bei günstigen Bedingungen ein hohes, gleichmäßiges und starkes Feuer bis zum Himmel entbrennen – so, wie wir es 2020 gesehen haben, als sich zeigte, dass jedes Haus, jede Familie eine weiß-rot-weiße Flagge besitzt, für die man nun im Gefängnis landet, aus dem man vielleicht nie wieder heimkehrt. Die Liebe zur Freiheit, zum Schaffen, zur Selbstverwirklichung gibt einen starken Impuls. Wie ein belarussisches Sprichwort sagt: „Vom Geliebten bringen dich keine zehn Pferde weg.“ Wie die Seele eines Menschen zu seinem Kind fliegt, zum geliebten Menschen, zu den Eltern, zum heimatlichen Haus, so fliegt sie zum Belarussentum. Besonders, wenn es in Not und Unfreiheit ist. Das Wichtigste ist, die Hoffnung nicht zu verlieren. Und selbst in Schmerz, Deprivation, Hilflosigkeit und Leid muss man das Belarussische lieben und pflegen. Ohne groß nachzudenken, ohne Perfektionismus – denn das ist nur ein weiterer Ausdruck von Unfreiheit. „Ich werde der beste Belarusse von allen sein, ich werde alles retten, alle besiegen, ich werde ein Held und Aktivist sein, werde die Pflicht und die Erinnerung in mir tragen, und die superschwere Energie des Martyriums“ – das ist zu nichts nütze. Man muss lieben, ein fröhlicher Mensch sein. 

    Eines Tages wird es vorbei sein. Der Totalitarismus bricht immer unvermittelt zusammen, da er ein Feind der Liebe, der Freiheit, des Hedonismus und der Freude ist – all dieser leuchtenden Äußerungen der Menschlichkeit. Und dann, nach dieser schmerzhaften Impfung gegen Totalitarismus und fremde Ideologien à la Russki Mir, schaffen wir eine Partei, zum Beispiel zur Säuberung dieser ewig grauen Steinblöcke, die mit dummen Losungen bemalt wurden, renovieren in jeder Stadt die Rathäuser, die Märkte und Plätze, die unter der Moskauer Herrschaft abgetragen wurden, und kommt, lasst uns die Zwiebeln von unseren Kirchtürmen werfen. Wir machen Belarus wieder so, wie Gott es geschaffen hat, denn ohne es ist die Welt unvollkommen. Und wir nennen diese freie Partei nach Michal Aniempadystau – dem Künstler und Poeten, der Belarus wie kein anderer verstand. 

    Auch dann wird es nicht leicht werden, aber, wie ich schon weiter oben gesagt habe: Für das, was man liebt, kann man Berge versetzen und die Himmel neigen.

    Es lebe Belarus.

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