дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Hau ab! Die Belarussen wollen es so!“

    „Hau ab! Die Belarussen wollen es so!“

    „Wir spielen ehrliche Musik.“ Das sagte Dimitri Golowatsch, Gitarrist der belarussischen Band Tor Band, in einem Interview. Mit ins Ohr gehenden Refrains und Melodien und Texten, die das Gefühl der Proteste von 2020 aufgreifen, wurde das bis dato völlig unbekannte Trio zu einer der populärsten Bands, ihre Songs wurden Hymnen der damaligen Demokratiebewegung. Trotz der Repressionen, die sich auch gegen Kulturschaffende richten, blieben die Musiker in Belarus. Im Januar 2023 wurde die Band zur „extremistischen Vereinigung“ erklärt, bereits im Oktober 2022 waren die Musiker festgenommen worden, seit Mitte September läuft hinter verschlossenen Türen ein Prozess gegen die Mitglieder der Band – ihnen drohen bis zu zwölf Jahre Haft.

    Der Journalist Michail Polosnjakow hat sich in einem Beitrag für Mediazona Belarus eingehend mit der weitgehend unbekannten Geschichte der Band und den Repressionen gegen die Musiker beschäftigt, die der Lukaschenko-Staat anscheinend derart fürchtet.


    Tor Band aus der ostbelarussischen Kleinstadt Rogatschow (bel. Rahatschou), das sind Dimitri Golowatsch, Jewgeni Burlo und Andrej Jaremtschik. Sie schrieben den Songtext „Wir sind kein Vieh, keine Herde, keine Feiglinge, wir sind das lebendige Volk, wir sind die Belarussen“. Das Musikvideo bekam mehr als eine Million Klicks, aufgenommen wurde es mit einzelnen Clips der Fans.

    Als die Proteste abgeflaut waren, blieb Tor Band in Belarus, Dimitri Golowatsch arbeitete weiterhin im Kulturhaus von Rogatschow. Doch irgendwann kamen sie auch an die Reihe: zuerst ein eintägiger Gewahrsam, aus dem die Musiker nicht freigelassen wurden, später wurde die Rockband zur „extremistischen Formierung“ erklärt. Den Bandmitgliedern werden mehrere Straftaten vorgeworfen, darunter auch die Diskreditierung von Belarus. 
    Mediazona stellt die Geschichte der Band vor, die die Hymne der Proteste schrieb, und sprach dazu mit Denis Daschkewitsch, ein Aktivist aus Rogatschow und ehemaliger Direktor des Kulturzentrums im Dorf Pobolowo. 

    Auftritt auf der Hauptbühne in Rogatschow am Unabhängigkeitstag

    Zu Beginn des Sommers 2020 ging Denis Daschkewitsch mit seiner Familie in Gomel im Park spazieren. An diesem Tag hörte er aus „allen Autos“ das Lied Uchodi (dt. Hau ab) von Tor Band.
    „Damals bekam ich sofort Angst um die Jungs“, sagt Daschkewitsch. 

    „Hau ab! Friedlich, still und leise
    Hau ab! Wir finden neue Ehrenleute
    Hau ab! Jetzt ist die Zeit der Mutigen, nicht der Feiglinge
    Hau ab! Die Belarussen wollen es so!“ 

    Als 2019 in Rogatschow der Unabhängigkeitstag begangen wurde, bespielte Tor Band den zentralen Platz neben der Stadtverwaltung und donnerte mit einem mehrstündigen Konzert los. Daschkewitsch erinnert sich, dass „die Jugendlichen fast durchdrehten“.
     
    Bandmitglied Dimitri Golowatsch erzählte in einem Interview. „Wir haben einen Song mit dem Text: 
    Die Revolution reift in uns heran, 
    im Innern reift Veränderung.
    Weg mit den offenen Metastasen, 
    brich die Mechanismen des Systems.
    Diesen Titel haben wir auf dem zentralen Platz von Rogatschow am Unabhängigkeitstag gespielt, Organisator war die städtische Ideologieabteilung!“

    Daschkewitsch sagt: „Bis 2020 gab es keinerlei Verdacht auf Opposition oder Terrorismus oder Extremismus. Das war eine Band, auf die die Stadtverwaltung von Rogatschow stolz war, über die in der Kreiszeitung geschrieben wurde.“ 

    Dieselbe Zeitung schrieb im März 2023 über die Band: „Ab 2020 verstärkte das eingeschworene Kollektiv aus Rogatschow seine destruktive Aktivität enorm, indem es die Interessen verschiedenster oppositioneller Strukturen bediente, und die Belarussen buchstäblich zu Brudermord und anderen rechtswidrigen Handlungen drängte.“

    Bevor sie Tor Band gründeten, spielten die Musiker in der Band Sex. Damals hatten sie Probleme mit der lokalen Verwaltung. Der Band wurde vorgeworfen, Drogenkonsum zu propagieren und Pornografie zu verbreiten. 2014 änderte die Band ihren Namen dann in Ojra. In den Texten dieser Gruppen kamen auch politische Motive vor. 

    Aus dem Titel Königreich der glücklichen Sklaven:

    „Ich sitz auf meinem Arsch an einem geilen Platz, 
    ich bin der coole Gockel auf der gold’nen Hühnerstange, 
    Jetzt verbiete ich mal all die Festivals, 
    hab kein‘ Bock zu rackern, ihr könnt mich alle mal!“

    Im Song Ach, Leute fragen die Musiker: „Wie soll man da nicht fluchen, bei 200 Dollar Monatslohn“, und „in der Glotze tönen sie, alles sei so wie es soll“. 2014 spielte die Band Konzerte in Moskau, gemeinsam mit Lyapis Trubetskoy und der Band Lumen. Außerdem gingen sie auf Tour durch die Ukraine. Bis dahin war Jewgeni Burlo der Schlagzeuger, Dimitri Golowatsch sang und spielte Gitarre – heute sind sie zwei von drei Bandmitgliedern, die im Fall der 2017 gegründeten Tor Band angeklagt sind. 

    Jewgeni Burlo hatte bis 2020 etwa zehn Jahre lang als Tontechniker im Kulturhaus von Rogatschow gearbeitet. „Er war der wichtigste Tontechniker der ganzen Stadt“, erinnert sich Denis Daschekwitsch. 
    „Alle betonten sein hohes Niveau bei Tontechnik, Bühnentechnik und Ausstattung. Woanders mussten für größere Veranstaltungen Experten aus Minsk oder Gomel kommen. In Rogatschow war das nie ein Problem.“

    Dimitri Golowatsch machte derweil Fotos und Videos auf Hochzeiten. Daschkewitsch zufolge war die Musik nicht seine Haupteinkommensquelle, sondern eher ein Hobby, in das er viel Geld hineinsteckte. 

    Ein Lied wird zum Protesthit 

    Den Titel My – ne narodez (dt. Wir sind kein Völkchen), der zu einer der Hymnen der Proteste wurde und die Band bekannt machte, hatten sie im Juni veröffentlicht. 

    „Die Leute schreiben uns: ‚Was für ein cooler Protestsong!‘ Aber es ist ein patriotischer Song, kein Protestsong. Es ist ein Song darüber, was die Leute wirklich von sich selbst denken. Seine [Lukaschenkos] Phrasen über das ‚Völkchen‘ riefen bei mir und bei vielen anderen Leuten Empörung hervor. Das hat die Selbstliebe des belarussischen Volkes wirklich stark getroffen“, sagte Golowatsch in einem Interview mit Onliner im September 2020 (der Artikel ist von der Seite gelöscht, aber noch im Webarchiv auffindbar). 

    „Wir sind kein Vieh, keine Herde, keine Feiglinge, 
    Wir sind ein lebendiges Volk, wir sind die Belarussen.
    Mit Glauben im Herzen halten wir stand, 
    die Flamme der Freiheit über uns!“

    Für den Videoclip von My – ne narodez lud die Band ihre Fans ein, Videos davon aufzunehmen, wie sie den Refrain singen. Dimitri Golowatsch zufolge haben nicht alle mitgemacht, aber diejenigen, die in den Clip aufgenommen wurden, seien „die mutigsten und verwegensten“.

    Vor dem Videodreh zu Shywje! (dt. Es lebe!) luden die Musiker per Insta-Livestream ihre Fans ein, nach Rogatschow zu kommen und im Video aufzutreten. „Als wir dann am Dnepr-Ufer die Unmenge von Autos sahen, wurden unsere Augen immer größer und in der Stadt ging das Gerücht um, eine Gang sei angerückt und bald würde wohl eine Schlägerei beginnen“, erzählte Golowatsch. 

    Noch vor dem Song My – ne narodez waren die lokalen Behörden auf die Band aufmerksam geworden. Dimitri Golowatsch berichtet, die Kreisverwaltung habe ihn angerufen und darum gebeten, weniger Aufmerksamkeit auf die Stadt Rogatschow zu lenken: „Die zentrale Aussage war: Wir wollen, dass in Rogatschow alles ruhig ist.“

    Tor Band nahmen weiterhin Songs auf und produzierten Videos. Im Clip zu Kto, jesli ne ty (dt. Wer, wenn nicht du) treten 23 Familien auf. Kinder, Eltern und Musiker singen zusammen:

    „Wer denn sonst, wenn nicht du?
    Man schenkt uns wieder Glauben
    Wir malen alles ganz weiß an
    Und vertreiben all das Grau.“

    Im Interview mit Nasha Niva sagte Dimitri Golowatsch, Tor Band habe zum Ziel, „die stabile emotionale Haltung unseres Volkes zu unterstützen“. 
    Im März 2021 brachte die Band ein Album mit allen Protesthits heraus: Finita La Commedia

    Wir waren überzeugt, dass alles vergessen sei

    „Die Musiker waren davon überzeugt, dass alles vorbei sei – und Schluss. Jewgeni Burlo nahm einen Kredit auf und kaufte sich wenige Monate vor seiner Verhaftung noch ein teures Motorrad“, erzählt Daschkewitsch. Golowatsch arbeitete auch nach den Protesten weiter als Hochzeitsfotograf, und Burlo blieb Tontechniker im Kulturhaus. Er kündigte dort Anfang Oktober 2022, wenige Wochen vor seiner Festnahme. 

    Laut Denis Daschkewitsch war eine lokale Beamtin darüber sehr empört. Nachdem die Musiker festgenommen worden waren, hatte Daschkewitsch die Beamtin angerufen. Daschkewitsch gibt an, sie habe im Gespräch zugegeben, Jewgeni Burlo schriftlich denunziert zu haben. 
    Daschkewitsch gibt ihre Worte so wieder: Er habe nicht einfach nur gekündigt. Erstens habe er den Staat verraten, der ihm auf die Beine geholfen hat. Und zweitens sei er noch so dreist gewesen, die digitale Infrastruktur zu entfernen. Mit „digitaler Insfrastruktur“ meine sie eine lizenzpflichtige Software, die Burlo nach seinem Weggang als Tontechniker im Kulturhaus deinstalliert habe. 

    „Ich sagte ihr, dass man dieses Programm zur Audioaufzeichnung aus dem Internet herunterladen kann. Habt ihr in der Kreisverwaltung  etwa alle lizensierte Windows-Versionen? Sie machen aus einer Mücke einen Elefanten“, erinnert sich Daschkewitsch. 

    Tor Band hatte noch ein weiteres Bandmitglied – den Bassisten Andrej Jaremtschik. Mediazona konnte nicht herausfinden, wann genau er zur Band gestoßen ist, und ob er 2020 dazugehörte. Neben seinem Musiker-Leben arbeitete Jaremtschik als Geschichtslehrer in der Mittelschule Nr. 5 in Rogatschow. Auf der Mitarbeiterliste der Schulwebseite ist er nach wie vor verzeichnet. 

    Plötzlich waren sie „Extremisten“ und Straftatverdächtige

    Am 28. Oktober 2022 nahmen die Silowiki alle drei Bandmitglieder sowie zwei der Ehefrauen fest. Bei den Hausdurchsuchungen wurde das komplette Musik- und Computerequipment mitgenommen, sagt Daschkewitsch. 

    „Die hätten fast einen LKW gebraucht, um das alles wegzubringen. Allein bei Golowatsch haben sie sieben Gitarren mitgenommen“, erzählt eine Bekannte der Band. 

    Damals schrieb das Menschenrechtszentrum Wjasna, dass auch die Wohnungen jener durchsucht würden, die in den Videos der Band aufgetreten waren. Dimitri Golowatschs Ehefrau Julia wurde vom Gericht zu 960 Rubel Strafe verurteilt. Die Bandmitglieder und Jaremtschuks Frau Anna Musyka wurden für 15 Tage in Gewahrsam genommen, vorgeworfen wurde ihnen die Verbreitung „extremistischen“ Materials. Bis dahin war Tor Band in keinerlei „extremistischen Listen“ aufgetaucht, aber diese Informationen verbreiteten sich in den Betrieben von Rogatschow.

    Am 4. November wurde die republikweite Liste der extremistischen Materialien um den Gerichtsbeschluss des Bezirksgerichts Gomel vom 29. August ergänzt. Die Social-Media-Seiten, der Youtube-Kanal und zehn Songs der Band wurden für „extremistisch“ erklärt. Am nächsten Tag wurden die Videos, die millionenmal angeschaut wurden, vom Youtube-Kanal der Band gelöscht. 

    Die Musiker kamen nicht nach 15 Tagen Gewahrsam frei, auch nicht nach 60 Tagen. Am 16. Januar erklärte der KGB die Band zu einer „extremistischen Vereinigung“. Neben den drei Bandmitgliedern nahm der KGB auch Julia Golowatsch in die Liste auf. 

    Die Bandmitglieder wurden in Untersuchungshaft überführt, gegen sie wurde Anklage erhoben. Man wirft ihnen Volksverhetzung, Bildung einer extremistischen Vereinigung, Diskreditierung des Landes und Beleidigung Alexander Lukaschenkos vor. Auf einen der Anklagepunkte stehen zwölf Jahre Freiheitsentzug. Der Gerichtsprozess begann am 14. September 2023 und wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. 
     
    Laut Daschkewitsch hat sich Jewgeni Burlos Gesundheitszustand in der Untersuchungshaft ernsthaft verschlechtert. Er habe bereits früher an einer Krebserkrankung gelitten, aber „ohne kritischen Verlauf“. Zudem leide der Musiker dauerhaft unter Rückenschmerzen und nehme Schmerzmittel. Informationen von Wjasna zufolge wurde bei Burlo in der U-Haft eine Hüftgelenknekrose diagnostiziert, er wurde im Gefängniskrankenhaus behandelt. 

    Über den Zustand der anderen Mitglieder von Tor Band ist nichts bekannt. 

    Weitere Themen

    Der Abgrund ist bodenlos

  • Das Ende der Republik Arzach und die Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach

    Das Ende der Republik Arzach und die Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach

    Mit einer handstreichartigen Operation hat das aserbaidschanische Militär am 19. September 2023 die Regierung der selbsternannten Republik Arzach in Bergkarabach zur Kapitulation gezwungen. Der Quasi-Staat hört zum Jahresende auf zu existieren. Fast alle Armenier sind aus der Enklave geflohen. Die Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft blieben gleichwohl verhalten. Welche Rolle spielen Russland, die Türkei und der Iran bei dem Konflikt, und wie groß ist die Gefahr für Armenien? 
    Sieben Fragen an die Politikwissenschaftlerin Cindy Wittke, die sich am Leibnitz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung mit eingefrorenen Konflikten in der Region beschäftigt. 


    1. Am 19. September, als Aserbaidschan die Enklave eroberte, waren Sie zu einem Forschungsaufenthalt in Jerewan. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

    Die Stimmung war bereits angespannt, als ich Anfang September nach Armenien eingereist bin. Ich führe für meine Forschung unter anderem Interviews mit lokalen Expert*innen und auch mit Vertreter*innen von internationalen Organisationen in der Region. Meine Gesprächspartner*innen hatten für den September mit einer erneuten Eskalation des Konfliktes um Bergkarabach gerechnet. Schon der letzte Krieg um die zumeist von Armenier*innen bewohnte Region im Jahr 2020 hatte im September begonnen und wurde im November durch das von Russland vermittelte Trilaterale Statement zunächst beendet. Aserbaidschan sah sich selbst als Sieger des sogenannten 44-Tage Kriegs. Ein weiterer Ausbruch des Konfliktes war jedoch absehbar, da Aserbaidschan noch immer keine effektive politische und militärische Herrschaft über die Region Bergkarabach hatte. Im September 2022 gab es aserbaidschanische Angriffe auf das armenische Kern-Territorium an der Kontaktlinie und seit Dezember 2022 wurde der Latschin-Korridor, der Zugang von Armenien nach Bergkarabach, trotz der Anwesenheit sogenannter Friedenstruppen aus Russland durch Aserbaidschan blockiert. Die Lage war also seit 2020 nie vollkommen befriedet, sondern hatte stets Eskalationspotential.

    Dass der Konflikt immer im September eskaliert, hat unter anderem mit dem Klima zu tun: In den Bergen sind die Sommer sehr heiß und die Winter sehr kalt. Der Übergang zwischen den Jahreszeiten ist kurz. Die Situation, die man von September bis November militärisch schafft, wird sehr wahrscheinlich den ganzen Winter und darüber hinaus politisch eingefroren. Dazu kommt, dass der Winter den Armenier*innen in Bergkarabach und auch in Armenien jedes Mal ihre Verletzlichkeit vor Augen führt. Die Bevölkerung von Bergkarabach litt im vergangenen Winter unter Strom- und Gasmangel aufgrund der Blockade und auch Armenien selbst ist arm an Ressourcen und abhängig; die Energie-Infrastruktur ist weitgehend in russischer Hand.

    Eine weitere Rolle unter den Eskalationsfaktoren wird gespielt haben, dass sich in der Woche um den 19. September die internationale Staatengemeinschaft zur jährlichen Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York getroffen hat. Schon im Vorfeld gab es eine Sondersitzung des Sicherheitsrates zur Situation in Bergkarabach, auf der die Frage behandelt wurde, ob es sich bei der Blockade von Bergkarabach durch Aserbaidschan um einen Genozid durch Aushungern handelt, wie es der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Moreno Ocampo, in einem öffentlichen Statement schrieb. Letztlich ging es Aserbaidschan meiner Ansicht nach darum, mit militärischen Mitteln Fakten zu schaffen und vor neuen international vermittelten Verhandlungen, sei es in Moskau, Washington oder Brüssel, faktisch das ganze Gebiet von Bergkarabach unter seine politische und militärische Kontrolle zu bringen.

    2. Tatsächlich gab es aus New York kaum Reaktionen. Der Sicherheitsrat hat nicht einmal ein Statement veröffentlicht. Liegt der Karabach-Konflikt zu sehr im Schatten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine?

    Die gleiche Frage habe ich meinen Gesprächspartner*innen in Jerewan auch gestellt. Einige waren der Ansicht, der 44-Tage-Krieg Aserbaidschans gegen Armenien 2020 sei der eigentliche Auftakt für die Zeitenwende gewesen. Damals habe Russland gesehen, dass die internationale Staatengemeinschaft weder mit Sanktionen und schon gar nicht militärisch einschreitet, wenn ein Land entscheidet, in einem ungelösten Territorialkonflikt, oder sogenannten eingefrorenen Konflikt, mit militärischen Mitteln abseits von Verhandlungen Fakten zu schaffen. Daraus schloss man, dass sich die Welt – insbesondere der sogenannte Westen – auch im Hinblick auf die Ukraine weitgehend auf Appelle beschränken und nicht militärisch intervenieren würde. Aktuell steht meiner Ansicht nach dieser Konflikt und sein Eskalationspotential über die humanitäre Katastrophe in Bergkarabach hinaus im Schatten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Die überregionalen Verflechtungen werden übersehen.

    3. In Aserbaidschan werden seit einiger Zeit Stimmen laut, die behaupten, es gäbe gar kein Armenien und keine Armenier. Sie bezeichnen Armenien als „West-Aserbaidschan“. Das erinnert an die russische Propaganda, die das Existenzrecht der Ukraine infrage stellt. Muss man fürchten, dass Aserbaidschan seine Angriffe auf armenisches Territorium ausweitet?

    Ich denke, dass man hier tatsächlich in gewisser Hinsicht dem Moskauer Vorbild folgt: Rhetorisch und diskursiv werden Bilder und Narrative geschaffen, denen dann militärische Operationen folgen – interessanterweise wurde das Vorgehen gegen Bergkarabach als militärische Anti-Terror-Operation bezeichnet. 2020 konnte Präsident Ilham Alijew argumentieren, dass Aserbaidschan lediglich seine territoriale Integrität in den international anerkannten Grenzen herstellen wolle und Bergkarabach von Armenien okkupiert sei. Das war nun in 2023 schon anders, und selbst wenn Bergkarabach de jure aserbaidschanisches Territorium ist und die Verfassung des Landes Aserbaidschan zum Beispiel keinen Autonomiestatus für ethnische Minderheiten vorsieht, heißt das nicht, dass Aserbaidschan mit den auf diesem Gebiet lebenden Menschen – also den Armenier*innen – tun und lassen kann, was es will. Trotzdem ist auch dieser weitere „Test“ aus aserbaidschanischer Sicht erfolgreich verlaufen; innerhalb von 24 Stunden hat Bergkarabach kapituliert und die de facto Regierung hat die Auflösung der selbsternannten, nicht anerkannten Republik Arzach für 2024 verkündet.

    International gab es im Vergleich zum Krieg gegen die Ukraine nur leisen oder mahnenden Protest im Hinblick auf die humanitäre Lage der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach, die nach heutigem Stand weitgehend nach Armenien geflohen ist. Die dringende Frage ist jetzt aber, ob Aserbaidschan noch weiter geht, und mit militärischer Gewalt etwa einen Korridor in die Exklave Nachitschewan herstellt, die von Armenien und Iran umschlossen ist und nur eine sehr schmale Grenze mit der Türkei hat. Wenn man Alijew zuhört – und ich glaube, das sollte man genauso tun, wie man Wladimir Putin vor 2022 hätte aufmerksam zuhören sollen – dann gibt es gute Gründe hier tatsächlich um die territoriale Integrität des armenischen Staates besorgt zu sein.

    Die Niederlage von 2020, der effektive Verlust Bergkarabachs im September 2023 und die verkündete Auflösung der Republik Arzach führen zu einer politischen und gesellschaftlichen Identitätskrise und setzen die Regierung von Nikol Paschinjan unter enormen Druck / Foto © Cindy Wittke

    4. Wer könnte Alijew stoppen?

    Die Akteure, die das tun könnten, sind zuvorderst unmittelbar in der Region zu suchen: die Türkei, Russland und der Iran. Ich fand es bemerkenswert, dass der russische Verteidigungsminister, einen Tag nachdem Aserbaidschan seine militärische Operation gegen Bergkarabach begonnen hatte, in Teheran war. Ich denke, dass man hier eventuell versichert hat, dass iranische Interessen hinsichtlich des Transits von Gütern durch Armenien oder Aserbaidschan gewahrt werden, und dass es keinerlei Ambitionen gibt, Aserbaidschans Territorium auch auf iranisches Territorium auszudehnen. Man darf nicht vergessen, dass im Iran eine Minderheit von circa fünf Millionen Aserbaidschaner*innen lebt. Wenn Alijew seine Visionen eines größeren Aserbaidschans skizziert, wird man in Teheran natürlich hellhörig. Die Balance der Kräfte ließe durchaus zu, dass unterschiedliche Akteure sich dafür einsetzen, dass Aserbaidschan nicht noch den nächsten Schritt tut.

    5. Das hört sich nicht so an, als könnte das die Armenier wirklich beruhigen.

    Armenien ist in einer der misslichsten politischen Lagen, die man sich denken kann. Die armenische Innen- und Außenpolitik hat das Schicksal des Landes immer eng mit dem der Karabach-Armenier*innen verbunden. Die Niederlage von 2020, der effektive Verlust Bergkarabachs im September 2023 und die verkündete Auflösung der Republik Arzach führen zu einer politischen und gesellschaftlichen Identitätskrise und setzen die Regierung von Nikol Paschinjan unter enormen Druck.

    In dieser Situation muss das Land nun noch Hunderttausend Flüchtlinge aufnehmen. Armenien hat Erfahrungen mit dem Zuzug von Flüchtlingen. Es hat eine große Zahl von Christen aufgenommen, die vor dem Krieg in Syrien geflohen sind. Vor einem Jahr sind dann viele Russen vor der Mobilmachung und im Zuge der Sanktionen gegen Russland aus ihrer Heimat nach Jerewan gekommen. Armenien hat von den Sanktionen gegen Russland indirekt profitiert. Die IT-Branche boomt, die Wirtschaft wächst, und die Währung ist stark. Aber das ist kein nachhaltiges Wachstum, von dem die Gesamtbevölkerung und das Land nachhaltig profitieren. Die Mehrzahl der Menschen, die jetzt aus Stepanakert und anderen Orten aus Bergkarabach ankommen, haben oftmals alles zurückgelassen und blicken auf Krieg und Blockade zurück. Sie brauchen Unterkunft, sie müssen versorgt werden und irgendwann werden sie auch Wohnungen brauchen. Bei den Protesten, die ich in Jerewan mitbekommen habe, haben die Demonstrant*innen der Regierung vorgeworfen, das Land nicht ausreichend auf diese Situation vorbereitet zu haben.

    Sicherheitskräfte vor dem Regierungsgebäude in Jerewan, auf deren Schildern die Arzach-Flagge zu sehen ist, werden von aufgebrachten Demonstrierenden mit Bildern aus Karabach konfrontiert und als „Türken“ beschimpft / Foto © Cindy Wittke

    6. Wird die Regierung Paschinjan das überstehen?

    Ich war schon früher in Krisensituationen in Armenien, aber ich habe noch nie erlebt, dass sich Armenierinnen und Armenier auf der Straße angesichts ihrer unterschiedlichen Positionen anschreien. Diese emotionale Aufgeladenheit und Aggressivität kannte ich nicht; mir wurde berichtet, dass es 2020 nach dem Abschluss des Trilateralen Statements in Moskau – aus dem verlorenen Krieg – bereits ähnlich war. Menschen, die eine besonders starke Position für Arzach einnahmen, beschimpften gemäßigtere Armenier*innen sowie Polizei und Sicherheitskräfte als „Türken“. Das Land ist wirklich in einer Identitätskrise. Wenn das jetzt in einen politischen Selbstzerstörungsmodus umschlägt, käme das Moskau zupass, das gern wieder eine pro-russische Führung unter seiner Kontrolle installieren würde. Andererseits muss man sagen, dass die Regierung die Situation derzeit noch relativ gut gemanagt hat. Es wurden keine Wasserwerfer oder gepanzerten Fahrzeuge gegen Demonstrant*innen eingesetzt, die den Sitz der Regierung auf dem Platz der Republik stürmen wollten. Die Plätze der Hauptstadt wurden nicht gesperrt, die Regierungsgebäude wurden mit Menschenketten geschützt und die nach 2018 neu aufgestellte Polizei hat auf Dialog gesetzt, auch wenn es zu gewaltsamen Zusammenstößen und Verhaftungen kam. Die Situation ist existenziell für Armenien. Dennoch möchte ich die Hoffnung auf die Resilienz der Armenier*innen und des Demokratieprozesses nicht aufgeben. 

    7. Was war eigentlich Ihre Forschungsfrage, mit der Sie nach Jerewan gereist sind? 

    Seit mehreren Jahren untersuche ich die oft widersprüchlichen Völkerrechtspolitiken von Staaten im sogenannten postsowjetischen Raum aus einer vergleichenden Perspektive. Meine Fallstudien sind Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldau, die Ukraine und Russland. Das Projekt basiert auf der Beobachtung, dass die Staaten, die aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion (wieder) hervorgegangen sind, seit 1991 vor der enormen Herausforderung stehen, im Rahmen ihrer Staatsbildungs- und umfassenden Transformationsprozesse ihre eigene Völkerrechtspolitik zu formulieren und umzusetzen. Konflikte um Territorien wie um Bergkarabach haben diese Prozesse entscheidend geprägt. Für meine Forschung führe ich unter anderem Experten-Interviews mit Völkerrechtler*innen in der Region durch; so auch in Armenien. Die jüngere Generation – häufig im Westen ausgebildet – hat sich sehr dafür eingesetzt, Armeniens Position und die der in Bergkarabach lebenden Armenier*innen mithilfe des Völkerrechts zu stärken und Aserbaidschans politischen und vor allem militärischen Handlungsspielraum einzuschränken. Aber wenn es um mögliche politische Verhandlungslösungen zwischen Armenien und Aserbaidschan geht, herrscht auch unter diesen Expert*innen keine Einigkeit. Das unterstreicht einmal mehr die Zerrissenheit des Landes in dieser konflikthaften Gemengelage. Im Moment schauen wir vor allem auf die Vertreibung der Karabach-Armenier*innen und auf die humanitäre Katastrophe. Aber es geht noch um mehr. Es geht wirklich auch um den demokratischen Weg und letztlich um die bedrohte Staatlichkeit Armeniens.

    Expertin: Cindy Wittke
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am 04.10.2023

    Weitere Themen

    Tschüss, Russki Mir?!

    „Nach einem Sieg der Ukraine befreien wir Tschetschenien“

    Im Schwebezustand – Südossetien

    Was ist eigentlich im Nordkaukasus los?

  • „Das unbestrafte Böse wächst“

    „Das unbestrafte Böse wächst“

    Im Herbst 2022 − ein halbes Jahr nachdem Russland, teilweise über Belarus, die Ukraine mit einem brutalen Angriffskrieg überzog − zeichnete das Nobelpreiskomitee ausgerechnet Menschenrechtsaktivisten aus den am Krieg beteiligten Ländern gemeinsam mit dem Friedensnobelpreis aus: das im eigenen Land mittlerweile verbotene Memorial aus Russland, den in Belarus aus politischen Gründen inhaftierten Ales Bjaljazki und die ukrainische NGO Zentr hromadjanskych swobod (dt. Zentrum für bürgerliche Freiheiten). 

    „Die Preisträger repräsentieren die Zivilgesellschaft in ihren Ländern. Seit vielen Jahren stehen sie für das Recht, die Herrschenden zu kritisieren und die Grundrechte der Bürger zu verteidigen. Sie stecken herausragende Bemühungen in die Dokumentation von Kriegsverbrechen, Menschenrechtsverstößen und Machtmissbrauch. Gemeinsam stehen sie für die Bedeutung der Zivilgesellschaft für Frieden und Demokratie”, begründete die Jury damals ihre Entscheidung. Besonders aus der Ukraine folgte heftige Kritik an der gemeinsamen Auszeichnung, weil sich die Angriffsopfer mit den Aggressoren gleichgestellt fühlten. 

    Im Interview mit dem russischen Exil-Medium Meduza berichtet nun die Leiterin des ukrainischen Zentrums für bürgerliche Freiheiten, Olexandra Matwiitschuk, von ihrer jahrelangen und psychisch belastenden Arbeit, zu der stets auch die Kooperation mit Menschenrechtlern aus Russland gehörte.


    Foto © STR/NurPhoto/imago images
    Foto © STR/NurPhoto/imago images

    Lilija Japparowa, Meduza: Frau Matwiitschuk, Sie beobachten und dokumentieren seit mehr als neun Jahren, wie Russland in der Ukraine Kriegsverbrechen begeht. Fühlen Sie sich manchmal hilflos? 

    Olexandra Matwiitschuk: Ein Gefühl von Hilflosigkeit ist das, was Russland in uns hervorrufen möchte. Und so ein Gefühl von Hilflosigkeit liegt dem modus operandi der russischen Gesellschaft zugrunde, die den Standpunkt einnimmt: „Was können wir schon tun?“, „Das entscheidet die Regierung, die wissen das besser“, „Wir wissen ja nicht alles“, „Ich bin nur ein kleines Rädchen“. Diese Haltung ist erbärmlich. Die Menschen in Russland können die Verantwortung nicht von sich schieben. Widerstand ist das einzig Richtige. 

    Als die Invasion begann, war Putin ja nicht der Einzige, der dachte, in drei Tagen sei Kyjiw erobert – unsere internationalen Partner glaubten das auch. Keiner glaubte an uns – und der Kampf für die Freiheit war die alleinige Entscheidung der ukrainischen Bevölkerung. Wie man sieht, sind die Menschen viel stärker, als sie selbst erwartet hätten. Und so kann die Mobilisierung einer großen Zahl gewöhnlicher Leute den Lauf der Geschichte verändern.       

    In Ihrer Kolumne für Ukrajinska Prawda schrieben Sie: „In diesem Jahr ist mir plötzlich bewusst geworden, dass ich mein ganzes Leben der Arbeit für das Recht gewidmet habe, aber es funktioniert überhaupt nicht. Die Antwort ‚Gebt uns Waffen!‘ auf die Frage, wie man der Ukraine helfen könne – ist nicht das, was man von einer Menschenrechtlerin erwartet, aber es ist die Wahrheit. Weil das ganze System der UNO nicht in der Lage ist, die russischen Gräueltaten aufzuhalten.“ Haben Sie seit dem russischen Überfall Ihre Mission als Menschenrechtsaktivistin neu überdacht?

    In dieser meiner Formulierung liegt kein Widerspruch. Denn ein Land, das angegriffen wird, hat das verbriefte Recht auf Selbstverteidigung. Der Rahmen, den der Schutz der Menschenrechte vorgibt, ist Gewaltlosigkeit, und den übertrete ich nicht.  

    Letztes Jahr hat der Internationale Gerichtshof der UNO einstweilige Verfügungen erlassen und Russland verpflichtet, seine Truppen aus der Ukraine abzuziehen. Aber Russland ignoriert das internationale Recht. Ich glaube ja, dass das nur vorübergehend ist und wir − genauso wie nach dem Zweiten Weltkrieg − seine Gültigkeit wiederherstellen werden. Aber bis dahin geht es ums Überleben – und dafür braucht man Waffen. Das ukrainische Volk hat entschieden, für die Freiheit und die Menschenwürde zu kämpfen. Also gebt uns Waffen, damit wir nicht mit bloßen Händen in den Kampf ziehen müssen. 

    Wie wurden Sie überhaupt Expertin für Menschenrechte?

    Als Schülerin lernte ich den ukrainischen Philosophen und Schriftsteller Jewhen Swerstjuk kennen. Er nahm mich unter seine Fittiche, führte mich in ukrainische Dissidentenkreise ein. Diese Menschen hatten im Kampf gegen die totalitäre Sowjetmaschinerie den Mut zu sagen, was sie dachten, und so zu leben, wie sie sagten. Sie inspirierten mich dazu, Jura zu studieren, um mich ebenfalls für die Freiheit und Würde des Menschen einzusetzen.

    2007 hatten die Leiter der Helsinki-Komitees verschiedener Länder die Idee, in Kyjiw eine Organisation zu gründen, die die Rechte und Freiheiten nicht nur auf nationaler Ebene, sondern in unserer gesamten Region schützen sollte. Damals war die Ukraine in einer Reihe von Nachbarländern eine schillernde Ausnahme: Während in Russland schon damals eine repressive Gesetzgebung installiert wurde, versuchte dagegen die Regierung in der Ukraine nach der Orangenen Revolution, gewisse demokratische Entwicklungen voranzubringen. Man atmete freier, die Arbeit fiel leichter. 

    Wir witzelten, wir hätten einen durchgedrehten Kopierer

    So entstand das Zentr hromadjanskych swobod (ZHS, dt. Zentrum für bürgerliche Freiheiten). Ich wurde seine erste Leiterin – und ich muss sagen, dass sich die Initiatoren unserer Organisation verschätzt hatten: Wenige Jahre später kam Viktor Janukowitsch an die Macht. Er begann damit, eine Machtvertikale zu errichten und Andersdenkende zu unterdrücken. Es ging ganz von selbst, dass sich das ZHS mehr um Menschenrechte und Freiheiten in der Ukraine kümmerte, und nicht, wie ursprünglich geplant, auf internationaler Ebene. 

    In der Ukraine wurden damals 1:1 die Gesetze der Russischen Föderation übernommen. Russische Menschenrechtler nannten ihre Staatsduma einen durchgedrehten Drucker, und wir witzelten, wir hätten einen durchgedrehten Kopierer, weil die Gesetze, die in Russland beschlossen wurden, nach einer Weile als Gesetzesentwürfe auch bei uns auf dem Tisch lagen. 

    2014 war das ZHS die erste Menschenrechtsorganisation, die mobile Teams auf die Krim und in den Donbas schickte. Was haben Sie dort gesehen?

    Das erste Team dieser Art bildeten wir Ende Februar 2014, als auf der Krim die so genannten „grünen Männchen“ auftauchten – Russland und Putin persönlich dementierten damals, dass das russische Soldaten waren. Wir begriffen noch gar nicht, dass ein Krieg begonnen hatte: Es ging um die Revolution der Würde, wir schliefen nur drei bis vier Stunden täglich, und an unsere gerade erst entstandene Initiative Euromaidan-SOS wandten sich hunderte Menschen, die geprügelt, gefoltert und aufgrund falscher Anklagen vor Gericht gestellt worden waren. Für Reflexion hatten wir weder Zeit noch Energie. 

    Später, im April 2014, als in den Medien der Name Igor Girkin-Strelkow auftauchte, rief mich ein Kollege aus dem mittlerweile in Russland verbotenen Menschenrechtszentrum Memorial an. Ich erinnere mich noch gut an seine Worte: „Sascha, unsere Todeslegionen sind zu euch gekommen.“

    Ich wunderte mich damals sehr über diese Ausdrucksweise, die wie ein Zitat aus einem Roman klang; noch dazu aus dem Mund dieses sonst sehr beherrschten Gesprächpartners, der schon in vielen Kriegen tätig war. Erst als wir es in den von Russland okkupierten Gebieten mit Verschleppungen, Folter und extralegaler Todesstrafe zu tun bekamen, wurde mir klar, was er meinte.    

    Wir dokumentieren menschliches Leid

    Seit dem 24. Februar 2022 haben Sie zur Dokumentation von Kriegsverbrechen des russischen Militärs viele regionale Menschenrechtsorganisationen hinzugezogen. Wie funktioniert das?

    Wir haben uns mit dutzenden, vorwiegend regionalen Organisationen zur Initiative Tribunal dlja Putina (dt. Tribunal für Putin) zusammengeschlossen – und uns das ehrgeizige Ziel gesetzt, jedes einzelne Verbrechen in jedem noch so kleinen Dorf in jeder Oblast der Ukraine zu dokumentieren. 

    Das betrifft nicht mehr nur vereinzelte illegale Verhaftungen, das Verschwinden von Menschen, Folter oder Tötung von Zivilisten, was wir zuvor schon dokumentierten – jetzt sind noch größer angelegte illegale Deportationen, Erschießungen und der Einsatz verbotener Waffen an dicht besiedelten Orten hinzugekommen. Alle denkbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

    In befreiten Gebieten befragen wir Zeugen und Opfer, in besetzten Gebieten richten wir ein Monitoring ein. Und wir verifizieren Daten aus öffentlichen Quellen. In unserer Datenbank haben wir jetzt über 49.000 Fälle von internationalen Verbrechen. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.  

    Wie suchen Sie nach Zeugen?

    Da weiß ich von den mobilen Teams, die in den befreiten Oblasten Kyjiw, Charkiw und Cherson tätig waren: Es war für sie noch nie ein Problem, Opfer und Zeugen zu finden. Denn egal, in welches Dorf man kommt – überall ist etwas passiert. In jedem Dorf gibt es eine riesige Menge Schmerz. Wir dokumentieren menschliches Leid.  

    Wie steht es um die Psyche derjenigen, die das Monitoring durchführen?

    Es gibt Sachen, auf die man sich einfach nicht vorbereiten kann. Mir fehlen noch immer Worte dafür, wie man so einen vollumfänglichen Angriff miterlebt. Es ist der totale Verlust jeglicher sozialer Netze und Strukturen. Man verliert die Kontrolle über sein Leben, weil man nicht einmal die nächsten paar Stunden planen kann: Es kann jederzeit ein Luftalarm kommen. Aber du musst weiterarbeiten − in dem Wissen, dass es weder für dich noch für deine Angehörigen einen sicheren Ort gibt, um sich vor den russischen Raketen zu schützen. 

    Bestimmte Verbrechen erschüttern ganze Gemeinden

    Jeder hat seine Grenzen. Ich zum Beispiel befrage keine Kinder. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich das nicht kann. Ich bin ein sehr empathischer Mensch, und bei Kindern … Aber viele meiner Kollegen befassen sich mit dem Schutz von Kinderrechten, und dank ihrer Arbeit habe ich von der Geschichte eines Jungen erfahren, der mit seiner Mama in Mariupol lebte. Während die russische Armee systematisch die Stadt vernichtete, versteckten sie sich in einem Keller. Der Junge wurde trotzdem verletzt, er kann nicht mehr gehen. Seine ebenfalls verletzte Mutter schaffte es mit letzten Kräften, ihren Sohn in Sicherheit zu bringen. Dann starb sie in seinen Armen. Ich weiß nicht, wie man so etwas überleben kann.    

    Wie kann man sexuelle Gewaltverbrechen dokumentieren?

    Sie werden oft „Schamverbrechen“ genannt: Oft sind Personen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, nicht bereit, den Behörden oder Menschenrechtsaktivisten davon zu erzählen. In erster Linie muss man diesen Menschen helfen, wieder auf die Beine zu kommen – danach können sie selbst entscheiden, ob sie das Erlebte bezeugen und vor Gericht gehen wollen.

    Ich habe beispielsweise Menschen befragt, die zusammen auf besetztem Gebiet festgehalten wurden. Zeugen erzählten mir von regelmäßigen Vergewaltigungen, aber das Opfer erwähnte mit keinem Wort die sexuelle Gewalt. Obwohl die Person mir alle anderen, extrem brutalen Folterungen detailreich schilderte. 

    Ein solches Verbrechen erschüttert die ganze Gemeinde. Das Wirkprinzip ist einfach: Die betroffene Person schämt sich, ihre Angehörigen fühlen sich schuldig, weil sie sie nicht beschützen konnten, und alle anderen haben Angst, dass ihnen dasselbe widerfahren könnte. All das verringert die Chance auf einen gemeinsamen Widerstand.    

    Im März 2022 haben wir auch ein Merkblatt für Menschen erstellt, die solche Gewalt erfahren haben. Da gibt es einen Abschnitt, der die aktuellen Umstände besonders gut darstellt. Wir haben ihn zusammen mit ukrainischen Gynäkologen verfasst – es geht um konkrete Selbsthilfe nach einer Vergewaltigung, wenn man sich auf besetztem Territorium befindet und sich nicht einmal gefahrlos an einen Arzt wenden kann. 

    Was berichten Ihnen Menschen, die in russischer Kriegsgefangenschaft waren?

    Seit 2014 habe ich hunderte Menschen befragt: Ihnen wurden Nägel ausgerissen, Knie zerschmettert, mit Löffeln die Augen aus den Höhlen gepult, sie wurden in Holzkisten gepfercht, ihnen wurden Tätowierungen aus der Haut geschnitten, Gliedmaßen abgehackt, Stromkabel an den Genitalien befestigt … Alles, was dem russischen Militär und den Geheimdiensten einfiel. Das machen sie mit den Menschen einfach nur, weil sie es können. Rationale Gründe … Für Folter kann es keine rationalen Gründe geben. Aber hier gibt es nicht mal irrationale. 

    Das ist wahrscheinlich der am besten dokumentierte Krieg aller Zeiten

    Ein Mann erzählte mir, dass er immer noch überall das Geräusch von Klebeband hört, wie es von der Rolle gezogen wird. Weil dort, wo er eingesperrt war, die Menschen mit Klebeband gefesselt wurden – und dann geprügelt. Ein anderer sagte: Noch schlimmer als selbst gefoltert zu werden, sei es, andere leiden zu hören. Zu hören, wie sie darum betteln, umgebracht zu werden, um der Qual und Erniedrigung zu entkommen. Jemand erzählte, wie ein Vater und sein Sohn voreinander gefoltert wurden. Um es noch schmerzhafter zu machen. 

    Der gemeinsame Nenner ist: Die Russen machen das, weil sie es können. 

    Wie können Sie verfolgen, was mit Ukrainern passiert, die in besetzten Gebieten leben oder nach Russland gebracht wurden – in Auffanglager, Kinderheime, Gefängnisse?

    Auf Mechanismen der Rechtstaatlichkeit können wir uns nicht immer verlassen, dafür aber auf die Menschen. Es gibt überall Leute, die jemandem helfen, jemanden retten wollen – auch in den besetzten Gebieten und in der Russischen Föderation. Zudem stehen uns hochentwickelte digitale Werkzeuge zur Verfügung – das ist wahrscheinlich der am besten dokumentierte Krieg aller Zeiten. Um die Täter zu identifizieren, braucht man manchmal gar nicht vor Ort zu sein. Das wissen die Täter aber nicht.   

    Was haben Sie über die Brutalität der russischen Soldaten gelernt?

    Russland setzt Kriegsverbrechen als Methode der Kriegsführung ein, versetzt die Zivilbevölkerung absichtlich in Angst und Schrecken, um ihren Widerstand zu brechen. Das ist eine Instrumentalisierung menschlichen Leids. Und das ist, wie wir im Studium gelernt haben, normalerweise eine Methode, auf die schwache Armeen zurückgreifen, die sich ihrer Stärke nicht sicher sind.   

    Die russische Armee hat in Tschetschenien, Georgien, Mali, Syrien und Zentralafrika Kriegsverbrechen begangen – und keiner wurde je bestraft. Diese Kultur der Straflosigkeit hat meiner Meinung nach dazu geführt, dass die Russen glauben, mit den Menschen alles machen zu können, was ihnen einfällt. 

    Dokumentieren Sie auch Kriegsverbrechen der ukrainischen Streitkräfte?

    Wir dokumentieren alle Verbrechen, unabhängig davon, wer sie begangen hat. So lautet unsere Position seit 2014. Wir sind Menschenrechtler, und es wäre seltsam, wenn wir das anders handhaben würden. 

    Seit dem 24. Februar 2022 fließen alle Informationen in einer Datenbank zusammen, und so kann ich zweifellos belegen: Die von uns dokumentierten Verbrechen wurden vorwiegend vom russischen Militär begangen. Aber Menschenrechte können nicht in Prozent gemessen werden: Auch Einzelfälle sind schrecklich. 

    Krieg ist eine enorme Herausforderung für das menschliche Wertesystem, aber die ukrainische Gesellschaft kann immerhin eingreifen: Anklage erheben, an die Medien gehen, Besuche internationaler Organisationen in den Gefängnissen zulassen. Ich will nicht behaupten, dass das alles einfach ist: Wir sind ein Land im Transformationsprozess: Nach dem Fall des autoritären Regimes haben bei uns die Reformen im Strafvollzug und in der Justiz erst begonnen. Aber wir haben immerhin Optionen. Wenn wir hingegen von russischen Kriegsverbrechen sprechen, dann gibt es diese Möglichkeiten nicht.     

    Sie schrieben in derselben Kolumne, es gebe keinen einzigen internationalen Gerichtshof, der Putin für diesen Angriffskrieg zur Verantwortung ziehen könnte. Woran liegt das?

    Gute Frage! Was das Regime in Russland betrifft, ist ja alles klar. Aber die Länder der so genannten progressiven Demokratie haben ebenfalls jahrzehntelang die Augen davor verschlossen, dass in der Russischen Föderation Journalisten verfolgt, Aktivisten inhaftiert und Demonstrationen niedergeschlagen werden. Man hat Putin trotzdem die Hand geschüttelt, Business as usual gemacht, Pipelines gebaut. Doch das unbestrafte Böse wächst. 

    Warum hat zum Beispiel der Internationale Strafgerichtshof keine solche Rechtsprechung, obwohl Russland heute alle Arten von internationalen Verbrechen verübt – sowohl militärische Verbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Genozid und diesen Angriffskrieg? Die Vertragsstaaten des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs haben eine zu enge Definition des Begriffs „Aggression“ und verbauen sich damit die Möglichkeit einzugreifen. Und das hat nicht einmal etwas mit Putin zu tun – das ist die Verantwortung der Vertragsstaaten.

    Bringt Ihnen der Nobelpreis nun etwas für Ihre Arbeit?

    Der Nobelpreis verschafft uns Aufmerksamkeit. Dem Menschenrechtsaktivismus unserer Region hat nie jemand zugehört, obwohl wir seit Jahrzehnten dasselbe sagen. Seit Jahrzehnten! Wir sagen, dass ein Land, das die Menschenrechte massenhaft verletzt, nicht nur für die eigenen Staatsbürger und die Nachbarländer gefährlich ist, sondern für die ganze Welt.

    Viele Ukrainer haben sich daran gestört, dass in der Liste der Preisträger die ukrainischen Menschenrechtler Seite an Seite mit Vertretern von Ländern stehen, die gegen die Ukraine Krieg führen.

    Wenn man in einer Schlagzeile liest „Russland, Ukraine und Belarus“, dann kommen natürlich sofort Assoziationen mit dem nach Naphthalin stinkenden Sowjetmythos der Brudervölker hoch – und der Eindruck, man wolle uns wieder in dieses Dreierzimmer stecken. Obwohl bereits klar ist, dass es in der UdSSR keine Brudervölker gab – sondern ein Volk dominierte und gab die Sprache und die Kultur vor. Den anderen wurde ein Platz auf Folklorefestivals eingeräumt. 

    Natürlich stößt das während eines Kriegs, in dem Russland und Belarus die Angreifer sind und die Ukraine sich verteidigt, auf Ablehnung. Wir haben unsererseits versucht klarzustellen, dass dieser Preis natürlich nicht an Länder geht, sondern an Menschen — an Menschen, die schon sehr lange zusammenarbeiten. Wir haben sowohl vor 2014 als auch danach eng mit russischen Menschenrechtsaktivisten kooperiert: Wir haben gemeinsame Werte, eine gemeinsame Mission. 

    Menschlichkeit können nicht einmal repressive Gesetze verbieten

    Als wir unser Monitoring auf der Krim und im Donbas begannen, konnten wir die Erfahrungen mobiler Gruppen nutzen, die schon in Tschetschenien aktiv gewesen waren. Ich erinnere mich, wie ich meine russischen Kollegen anrief und sagte: Wenn ihr irgendwelche Anleitungen habt, irgendwelche Fragebögen, schickt sie uns bitte – unsere Leute sind schon unterwegs, wir organisieren uns im Galopp.

    Auch jetzt, in diesen Minuten, sind von uns tausende Zivilisten in russischer Kriegsgefangenschaft – und da, wo wir keinen Zugang haben, agieren wir über russische Organisationen.   

    Was sollten Russen tun, die gegen den Krieg sind?

    Betroffenen helfen, ihre Unterstützung zum Ausdruck bringen, versuchen, dieses militärische Schwungrad zu stoppen – ich bin mir sicher, dass Menschen, die empört sind über das, was passiert, ihre Rolle finden. Mir ist klar, dass die Position „gegen den Krieg“ in Russland strafrechtlich verfolgt wird. Aber Menschlichkeit können nicht einmal repressive Gesetze verbieten.

    Weitere Themen

    Entfesselte Gewalt als Norm

    Kampf der Unabhängigkeit

    „Ist es nicht Patriotismus, wenn alle Kinder zu uns gehören?“

    Wie Putin lernte, die Ukraine zu hassen

    Revolution der Würde

    Verschleppung, Elektroschocks und versuchte „Umerziehung“

  • Von wegen russische Besatzung

    Von wegen russische Besatzung

    Belarus sei „de facto unter Militärbesatzung“ sagte die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja im November 2022 in Bezug auf Russlands erdrückenden Einfluss auf ihre Heimat. Auch deutsche Medien und internationale Politiker oder Beobachter sprechen nicht selten davon, dass der Kreml das osteuropäische Land faktisch okkupiert habe und dass Alexander Lukaschenko eigentlich nur noch eine Marionette Putins sei – ohne eigenen politischen Handlungs- und Entscheidungsraum. Zweifelsohne war und ist die politische Abhängigkeit von der russischen Führung groß, und sie ist seit den Protesten von 2020 noch größer geworden. Ohne Frage hat diese Abhängigkeit auch dazu geführt, dass Russland Belarus als Aufmarschgebiet für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine nutzen konnte. Aber kontrolliert der Kreml wirklich die Geschicke der belarussischen Machtzentrale, hat er es geschafft, die Kontrolle über Silowiki-Strukturen und Meinungsbildung im Nachbarland zu erlangen? Bleibt Lukaschenko tatsächlich nur noch das untertänige Nicken, wenn der große Bruder ruft? 

    Der belarussische Journalist und Analyst Alexander Klaskowski hält diese Sichtweisen für allzu einfach und deswegen für gefährlich. Für das Online-Medium Pozirk zeigt er anhand aktueller Entwicklungen, dass man Lukaschenko – der es seit 1994 in scheinbar ausweglosen Situationen gewohnt ist, seine Handlungsspielräume zu erweitern – nicht abschreiben sollte.


    Es gab eine Zeit, da vertrat ein Teil der Opposition vehement die These, Belarus sei von Russland besetzt. Jetzt aber scheint kaum mehr eine Handvoll russischer Truppen auf belarussischem Territorium zu stehen. Sollen wir also von einem Ende der Okkupation und Truppenabzug sprechen? 

    Wie immer ist die Wirklichkeit viel komplexer als die Politik, vor allem, wenn eine ordentliche Portion Propaganda im Spiel ist.

    Lukaschenko ist selbst in die imperialistische Falle getappt

    Den Daten des Monitoring-Projekts Belaruski Hajun zufolge (die von Kyjiw bestätigt werden) befinden sich derzeit in Belarus nicht mehr als 2000 russische Soldaten. Davon gehören 1450 zu der Funkstation Wolga bei Baranowitschi und zur Meldezentrale bei Wileika. In diesen zwei Anlagen ist schon jahrzehntelang russisches Personal im Einsatz. Weitere 600 Mann verteilen sich auf die beiden Flughäfen. Es liegt nahe, dass diese Kontingente auf die Betreuung und Bewachung von Objekten ausgerichtet sind und nicht darauf, Alexander Lukaschenkos Residenz in Drosdy zu stürmen. 

    Das hat nichts mehr zu tun mit dem Februar 2022, als der Kreml für angebliche gemeinsame Militärübungen zigtausende Soldaten mitsamt schwerer Kampftechnik in Belarus positionierte, um in Kyjiw einzumarschieren. Es gibt auch keine Trainingslager für mobilisierte Russen mehr, und die Luftwaffe der Russischen Föderation ist praktisch vollständig abgezogen. 

    Dass Moskau mit diesen paar tausend Soldaten nicht in der Lage ist, seinen Verbündeten rein militärisch in Schach zu halten, ist klar. Es gibt auf belarussischem Gebiet auch keine klassische Besatzungsverwaltung. Lukaschenko sitzt bereits das dreißigste Jahr auf seinem Thron und steuert alles über die von ihm selbst erschaffene Machtvertikale. Dass viele seiner Beamten und vor allem die Silowiki prorussisch eingestellt sind, ist ein anderes Thema.

    Allerdings ist die Abhängigkeit des Regimes vom Kreml durch die Niederschlagung der Proteste im Jahr 2020 und die Beteiligung an der Aggression [gegen die Ukraine – dek] zweifellos angewachsen. Doch nicht das Imperium hat Belarus an sich gerissen, sondern der belarussische Regent hat sich dazu entschieden, sein Land enger an das Imperium zu binden, um an der Macht zu bleiben. Er ist selbst in diese Falle getappt. 

    Marionette – hin oder her, aber … 

    Jetzt kann man sagen: Ist doch egal, wenn das Ergebnis ist, dass Lukaschenko eine Marionette von Putin ist – Unabhängigkeit gibt es nicht (Belarus ist de facto bereits eine Provinz der Russischen Föderation, sagt der litauische Präsident Gitanas Nausėda).

    Nun, Marionette hin oder her – jedoch hat Lukaschenko in den ganzen eineinhalb Jahren Krieg keinen einzigen seiner Soldaten dorthin losgeschickt. Obwohl diverse prominente Kommentatoren beherzt davon gesprochen haben, wie Putin seinen „kleinen Bruder“ angeblich auspresst. Als hätten sie das aus einer Ecke im Kreml oder einem Gebüsch in Sotschi heimlich beobachtet. 

    Ja klar, so fest presst er, dass alle wirtschaftlichen Leckerbissen sich über Minsk ergießen wie aus einem Füllhorn. Lukaschenko ist es nämlich gelungen, sein mächtiges Gegenüber davon zu überzeugen, dass das aktuelle Symbiose-Modell ihrer beiden Regime optimal ist und keine gefährlichen Experimente erforderlich sind.  

    Und sogar Kyjiw, das gern über die russische Besatzung von Belarus spricht, scheint hinter den Kulissen sein Spiel mit dessen Führungsmacht fortzusetzen (worüber dieser sich schon ein paar mal verplappert hat). Wieso sollten sie mit einer Marionette verhandeln?

    Es stimmt zwar, dass Lukaschenkos politische Eigenständigkeit geschwächt ist, doch ganz außer Acht zu lassen ist sie nicht. Erinnern wir uns an den Abzug der Söldnertruppe Wagner nach Belarus. Verschwörungen zufolge sei das Putins schlauer Plan gewesen für einen neuen Angriff auf die Ukraine vom Norden her oder überhaupt auf Europa. Mit der stillschweigenden Annahme, dass in einem solchen Fall der „kleine Bruder“ gar nicht mal gefragt würde. Aber diese Verschwörung fällt jetzt in sich zusammen, wie vom Autor dieser Zeilen vorhergesagt. Es wird immer offensichtlicher, dass die Aufnahme der Aufständischen in Belarus ein spontaner Entschluss war. Jetzt zerlegen sie Prigoshins Baby. Das Lager bei Ossipowitschi schrumpft, und überhaupt stand es unter der Fuchtel der Silowiki von Lukaschenko, der an einer Konfrontation mit der NATO wenig interessiert ist.

    Ebenso offensichtlich ist, dass er nicht will, dass die Grenzen in Richtung EU dichtgemacht werden. In den letzten Wochen gab es immer weniger Flüchtlinge aus Drittländern, die dort hinüberwollen, immer weniger; offenbar hat Minsk Regulierungsmaßnahmen ergriffen. Obwohl sehr oft und viel zu hören war, dass der Kreml diese Sache lenkt, und der „kleine Bruder“ nur brav mitspielt. 

    Atomwaffen: Putins Pläne passen zu Lukaschenkos Ambitionen 

    Indes gelangen einige Komponenten taktischer Kernwaffen aus der Russischen Föderation nach Belarus. Bestätigt wurde das jüngst von der Belarussischen Eisenbahnergesellschaft. Und dieser Tage erklärte der stellvertretende russische Außenminister, Sergej Rjabkow, dass die Stationierung der taktischen Kernwaffen in Belarus „nach Plan laufe“. 

    Allerdings wurden laut dem ukrainischen Nachrichtendienst die ersten Atomsprengköpfe erst Ende August geliefert, davor fanden nur „großangelegte Trainings mit Kernwaffen-Attrappen“ statt. Putin und Lukaschenko hingegen waren der Welle vorausgeschwommen und hatten geprotzt, dass dieser Prozess bereits in vollem Gang sei. 

    Einerseits kann man auch diesen Prozess als eine Art hybride Besatzung interpretieren. Moskau macht Belarus durch die Stationierung von taktischen Kernwaffen zu seiner atomaren Geisel. Andererseits kann auch hier keine Rede von schmerzhaftem Druck sein. Während Lukaschenko 2022 bezüglich des russischen Angriffs auf die Ukraine von belarussischem Territorium aus noch so tat, als hätte er nichts gewusst (und hätte es selbst aus dem Fernsehen erfahren), so betont er bezüglich der Kernwaffen gern, dass das seine Initiative war. 

    Es ist nicht ausgeschlossen, dass der schlaue Herrscher die Idee im Hinterkopf hat, Russland dieses Arsenal abzupressen, sollte dort nach einer Niederlage in der Ukraine alles zu bröckeln beginnen. In einer solchen Situation könnte er sogar mit dem Westen aushandeln, dass die Sanktionen aufgehoben werden und er nicht nach Den Haag muss. 

    Analysieren statt hypen

    All das ist natürlich mit Mistgabeln auf Wasser geschrieben. Noch wirkt die Anbindung des Regimes an Moskau beinahe fatal. Und die russische Militärpräsenz in Belarus kann auch bald wieder verstärkt werden. Aber obwohl der Grat viel schmaler geworden ist, fährt Lukaschenko innen- und außenpolitisch seine Manöver. Bisweilen sieht das ungelenk aus, aber in vielen Fällen durchaus geschickt.

    Manche Regimegegner wollen den Usurpator so unbedingt brandmarken, dass sie ihren Refrain über die Okkupation, die Marionettenhaftigkeit und den kompletten Verlust der Unabhängigkeit beinahe genüsslich wiederholen. Eine solche Sichtweise verhindert eine objektive Analyse der Situation im Land und um das Land herum. Immerhin ist der Umstand, dass die Staatlichkeit noch nicht vollends verloren ist, ein wichtiges Plus für einen möglichen Wandel. 

    Jedenfalls sollten jene, die sich Gedanken zur belarussischen Frage machen (und vor allem nach einer Lösung suchen), ihre Reflexionen nicht auf verschwörungstheoretische Seifenblasen reduzieren, die sich nur allzu leicht als Hype entpuppen. 

    Weitere Themen

    Lukaschenkos Furcht vor der Mobilmachung

  • „Nach einem Sieg der Ukraine befreien wir Tschetschenien“

    „Nach einem Sieg der Ukraine befreien wir Tschetschenien“

    Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow prahlt gern mit der Stärke seiner Armee, die formal zwar Teil der russischen Nationalgarde ist, faktisch aber auf seinen Befehl hört. Im Frühjahr 2023 behauptete Kadyrow, seit Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine mehr als 26.000 Tschetschenen in den Kampf gegen die Ukraine geschickt zu haben. Sogar seine minderjährigen Söhne wollte er angeblich an die Front schicken. Kadyrows Kämpfer erlangten Bekanntheit, weil sie eifrig martialische Videos aus dem Kampfgebiet in den Sozialen Netzwerken verbreiteten. Eine Weile lang wirkte das, als lieferten sich der Wagner-Chef Jewgeni Prigoshin und das Tschetschenen-Oberhaupt einen Wettbewerb, wer die furchteinflösendste Truppe kommandiert. 

    Weniger bekannt sind die tschetschenischen Freiwilligen, die auf der Seite Kyjiws im Einsatz sind. Sie sehen sich als Truppen der tschetschenischen Republik Itschkerien, die ihrem Verständnis nach von Russland besetzt ist. Viele sind schon vor Jahren aus ihrer Heimat ins Ausland geflohen. Sie hoffen darauf, nach einem Sieg der Ukraine ihre Heimatregion von der Herrschaft Kadyrows zu befreien und die Unabhängigkeit der Republik von Moskau zu erkämpfen. Das russische Portal The Insider hat mit dreien von ihnen über ihre Motive, ihr Verhältnis zu Kadyrow und die Lage an der Front gesprochen.


    ###
    „Ich bin hierhergekommen, um die ermordeten Kinder, Frauen und Alten in Tschetschenien, Inguschetien, Syrien und der Ukraine zu rächen.“

    Fatchi kämpft im Freiwilligenbataillon des Verteidigungsministeriums der itschkerischen (tschetschenischen) Exilregierung unter Achmed Sakajew. Teilnehmer am Vorstoß in das russische Gebiet Belgorod.

    „Wenn ich vor Kadyrow Angst hätte, wäre ich nicht hierhergekommen, um zu kämpfen.“ – Fatchi (rechts) kämpft im Freiwilligenbataillon der itschkerischen (tschetschenischen) Exilregierung / Foto © The Insider
    „Wenn ich vor Kadyrow Angst hätte, wäre ich nicht hierhergekommen, um zu kämpfen.“ – Fatchi (rechts) kämpft im Freiwilligenbataillon der itschkerischen (tschetschenischen) Exilregierung / Foto © The Insider
    „Ich bin aus zwei Gründen in die Ukraine gekommen: um mein Volk zu rächen, und um den Ukrainern zu helfen. Russland hat mein Land besetzt, Tschetschenien, und viele aus meiner Familie ermordet: meinen Vater, meine Brüder, meine Tante, meinen Onkel. Ich betrachte die Russen nicht nur als Feinde der Ukrainer und Tschetschenen, sondern als Feinde der gesamten Menschheit. Sie werden sich alles nehmen, was sie wollen, und niemals aufhören. Wenn wir zulassen, dass sie auf ukrainischem Boden siegen, werden sie weitermachen. Deshalb bin ich hier, um die Kinder, Frauen und Alten zu rächen, die in Tschetschenien, Inguschetien, Syrien und jetzt auch in der Ukraine umgebracht wurden.

    Ich bin 2022 gekommen. Über zwei Monate wurde ich hier ausgebildet. Dann beschloss ich, mich dem OBON anzuschließen, dem Selbständigen Bataillon für Spezielle Aufgaben. Wir haben viele erfahrene Männer, die in Tschetschenien und Syrien gekämpft haben.

    Ich habe seit meiner Kindheit davon geträumt, entweder Soldat oder Polizist zu werden. Ich wollte wie mein Vater werden [Arbi Barajew war Feldkommandeur; er wurde während des Zweiten Tschetschenienkrieges getötet und war einer der bekanntesten Anführer des Widerstandes im Krieg gegen die russischen Streitkräfte in Tschetschenien]. Mir gefällt es hier zu sein. Und wenn der Krieg vorbei ist, werde ich anderswo für Gerechtigkeit kämpfen.

    Während des Tschetschenienkrieges war ich acht oder neun Jahre alt, aber ich erinnere mich an Vieles. Meine Mutter floh mit uns aus Tschetschenien, Kadyrows Leute wollten uns umbringen. Das war Blutrache. Mein Vater war Brigadegeneral und hat Besatzer [gemeint sind Vertreter der russischen Streitkräfte und Spezialeinheiten der Polizei – dek] und Kadyrows Verräter getötet, die nachts Säuberungen veranstalteten und auf der Straße Leute umbrachten.

    Meine Mutter haben sie auch viele Male mitgenommen und verhört. Nach diesen Verhören war sie immer in einem Schockzustand und konnte nicht sprechen. Jetzt wird sie wieder eingeschüchtert, weil ich in der Ukraine kämpfe; sie will aber nicht fortgehen. Aber sie werden ihr nichts antun, weil meine Cousins in der russischen Armee dienen.

    Den Vater eines dieser Cousins haben Kadyrows Leute ebenfalls umgebracht. Sein Sohn dient aber trotzdem bei ihnen. Ich habe deshalb den Kontakt zu ihm abgebrochen.Wie kann es sein, dass jemand die gleiche Uniform trägt wie jene, die seine Familie getötet haben? Er hat mich dann einen Terroristen genannt, weil ich LGBT unterstütze und in Europa lebe. Ich lebte damals in Dänemark, und er in Tschetschenien. Ich kann nur ganz offen sagen: Wenn ich ihn hier in der Ukraine treffe, bringe ich ihn um.

    Ich habe als politischer Flüchtling in Europa gelebt, seit ich 17 war. Meine Mutter hat uns allein zurückgelassen, als ich zehn war, und ist nach Tschetschenien zurückgegangen. Ich mache ihr keinen Vorwurf, und auch meinem Vater nicht. Ich gebe allein Putin die Schuld, und jenen in der Bevölkerung in Russland, die alles unterstützen, was ihr Präsident macht. Ich habe alles zurückgelassen, als ich in die Ukraine kam: Freunde, Bekannte, meine Arbeit, und ich hoffe, dass wir bald siegen und nach Tschetschenien zurückkehren, um den ganzen Kaukasus zu befreien.
    In Tschetschenien bleiben jetzt nur die, die keine Möglichkeit haben, die Republik zu verlassen. Die Menschen haben Angst, offen zu sprechen, ihre Meinung zu sagen, oder einfach nur zu denken. Sie haben Angst, sich gegen das System zu stellen, weil man dafür in Tschetschenien ins Gefängnis wandert, oder man wird gefoltert oder umgebracht. Menschen werden einfach aufgrund von Kommentaren bei Facebook vergewaltigt und ermordet.

    Seit 25 Jahren lebt die Bevölkerung in Angst. Aber sobald sich die Möglichkeit ergibt, werden sich sogar Kadyrows Leute gegen ihn erheben. Es gibt natürlich Tschetschenen, die Kadyrow aufrichtig unterstützen. Die lieben ihn wegen des Geldes und der Macht. Es gibt aber auch welche, die einfach keine andere Wahl haben. Viele junge Leute haben keine Arbeit, und zur Armee zu gehen, ist eine einträgliche Sache. Sie hassen Kadyrow, schließen sich ihm aber wegen des Geldes an.

    Wenn ich vor Kadyrow Angst hätte, wäre ich nicht hierhergekommen, um zu kämpfen. Natürlich kenne ich das Gefühl der Angst, wie alle anderen Menschen auch, aber ich habe meine Angst im Griff. Wenn ein Soldat sagt, dass er vor nichts Angst hat, dann lügt er entweder oder hat einen psychischen Schaden.

    Die Kadyrow-Leute sind keine besonders guten Kämpfer, sie sind eher zur Show da. Es gibt Tschetschenen, die in der russischen Armee kämpfen und nicht Kadyrow unterstellt sind. Aber gerade die Kadyrow-Leute sind wie Polizisten: Die können nicht kämpfen. Die haben nur gegen Partisanen im Kaukasus „gekämpft“. Da haben sie etwa ein Haus umstellt, in dem nur ein Mann mit einer Maschinenpistole hockt. 200 Mann umzingeln einen einzigen Kerl. Die können nicht gegen die Luftwaffe Krieg führen oder gegen Artillerie; sie wissen nicht, wie man eine Stellung stürmt. Das sind Banditen, Putins Sklaven. Die können nur foltern, vergewaltigen und Leute in den Bergen jagen, die Sabotage betrieben haben.


    ###
    „Nach einem Sieg in der Ukraine können wir nach Hause zurückkehren und unser Land befreien.“

    Bertan kämpft in der Einheit Bors des Freiwilligenbataillons OBON

    Angehörige des Freiwilligenbataillons OBON, in dem auch Bertan kämpft / Foto © The Insider
    Angehörige des Freiwilligenbataillons OBON, in dem auch Bertan kämpft / Foto © The Insider
    „Nach dem Beginn des großangelegten Krieges hat eine starke antitschetschenische Propaganda eingesetzt. Die ganze Welt hielt uns für Dämonen, die zusammen mit der russischen Armee einmarschiert sind, um Ukrainer umzubringen. Diese Haltung hat sich besonders nach den Ereignissen in Butscha verstärkt, nach den Gräueltaten, die Russen verübt haben. Das hatte starke Auswirkungen auf die Tschetschenen. Es wurde so dargestellt, als sei Tschetschenien ein Land, das aus eigenen Stücken zusammen mit Russland die Ukraine überfallen hat. Und da habe ich beschlossen, dass ich in der Ukraine sein muss, dass ich helfen muss.

    Ich bin im April 2022 in die Ukraine gekommen. Und als bekannt wurde, dass endlich ein Abkommen zwischen den ukrainischen Streitkräften (SKU) und den Streitkräften der Tschetschenischen Republik Itschkerien geschlossen wurde, fingen wir an, das Verteidigungsministerium der Republik Itschkerien zu kontaktieren, um in das OBON-Bataillon zu gelangen.

    Zu dem Zeitpunkt hatte unsere Führung die Aufstellung von Bataillonen beschlossen, die der Ukraine helfen sollten. Wir alle warteten auf offizielle Informationen. Als aber die Meldungen über die Ereignisse in Butscha und Irpin um die Welt gingen, fuhr ich in die Ukraine, um wenigstens irgendwas zu tun. Ich erinnerte mich an meine Kindheit, an den ersten Tschetschenienkrieg, dann den zweiten, als es den Massenmord an Zivilisten in Nowyje Aldy gab. Ich war 16 oder 17 Jahre alt und konnte nichts tun. Jetzt, nach vielen Jahren, wo ich die Willkür sehe, mit der die Russen in der Ukraine vorgehen, können weder ich noch meine Bekannten da tatenlos zusehen. Wir erinnern uns, wie sie Grosny zerstörten, wir erinnern uns an Samaschki und sehen, wie das alles in die Ukraine weitergetragen wird, allerdings jetzt in größerem Maßstab. Für mich selbst kann ich sagen, dass der Krieg niemals aufgehört hat.

    Da ich den Krieg schon kannte – ich war mehrmals unter Beschuss und habe Bombenangriffe erlebt –, habe ich mich hier recht schnell eingelebt.

    Alle Einsätze unseres Bataillons werden mit den ukrainischen Streitkräften abgestimmt. Unser Bataillon ist Teil der Internationalen Legion, und neben den Ukrainern kooperieren wir mit Kanadiern, Amerikanern und Jungs aus Georgien.

    Den Ukrainern ist klar, dass wir einen gemeinsamen Feind haben. Das wird auf allen Ebenen verstanden, von der Führung bis zu den einfachen Kämpfern des OBON. Jetzt verteidigen wir nicht nur die Ukraine, sondern auch unsere Ehre, die von Kadyrows Leuten befleckt wurde. Das Wichtigste ist, dass man mittlerweile weltweit versteht, dass nicht alle Tschetschenen auf der Seite Russlands stehen. 

    Kadyrow ist einfach ein Idiot. Er versteht den Islam nicht im Geringsten. Er kann nicht behaupten, dass der Krieg in der Ukraine ein Dschihad ist. Wir wissen sehr genau, was Kadyrows „Armee“ eigentlich darstellt. Wir sind, anders als sie, wirklich motiviert, weil wir nur durch einen Sieg in der Ukraine nach Hause zurückkehren können, um unsere Heimat zu befreien, nachdem wir gezeigt haben, dass die Tschetschenen und die Kadyrow-Leute nicht das Gleiche sind.

    In unserem Bataillon gibt es welche, die haben den ersten und den zweiten Tschetschenienkrieg mitgemacht. Die waren bis 2014 in Tschetschenien und haben Widerstand geleistet. Nachdem die Kräfte schwanden, blieb ihnen nichts anderes übrig als abzuwarten, bis sich die Lage ändert. Und jetzt hat sie sich grundlegend geändert. Wenn wir Tschetschenen vor zehn Jahren noch als Terroristen wahrgenommen wurden, so hat sich die Meinung über unser Volk jetzt gewandelt.


    ###
    „Kadyrow zu beseitigen, würde nichts ändern. Unser Ziel ist es, den Kreml zu zerstören.“

    Mansur, Scheich-Mansur-Bataillon

    Nur Kämpfer, die in Tschetschenien keine Angehörigen mehr haben, zeigen offen ihr Gesicht. Zwei Angehörige des Scheich-Mansur-Bataillons, in dem Mansur kämpft / Foto © The Insider
    Nur Kämpfer, die in Tschetschenien keine Angehörigen mehr haben, zeigen offen ihr Gesicht. Zwei Angehörige des Scheich-Mansur-Bataillons, in dem Mansur kämpft / Foto © The Insider

    „Ich habe die Situation in der Ukraine schon 2014 verfolgt, als die Demonstrationen auf dem Maidan begannen. 2015 bin ich dann in die Ukraine gefahren. Damals schon war mir klar, dass Russland unter dem Vorwand der Friedenssicherung Gebiete besetzt, wie es in Georgien und Ossetien der Fall war. Als die Russen die Krim und die Gebiete Donezk und Luhansk besetzten, tauchten in den Medien Meldungen auf, dass es auch Tschetschenen seien, die die Ukraine überfallen haben. Damals lebte ich in der Türkei, und es hat mich sehr verletzt, solche Dinge über mein Volk zu hören. Diese Ansichten sind natürlich wegen Kadyrows Verrätern entstanden, die von den Kreml-Bonzen in die Ukraine geschickt wurden.

    Ich habe nicht lange überlegt und bin losgefahren, um jedem Ukrainer und auch den Medien zu zeigen, dass sich das tschetschenische Volk von diesen Verrätern unterscheidet. Der zweite Grund, warum ich hierhergekommen bin, war der Wunsch, dem gemeinsamen Feind aufs Maul zu hauen. Ich habe schon 1999 zur Waffe gegriffen und gehe seitdem gegen das System vor.

    Durch den Tschetschenienkrieg habe ich viel Kampferfahrung, deshalb trainiere ich jetzt selbst neue Rekruten und bringe ihnen die Kriegskunst bei. Für mich, wie auch für viele meiner Kameraden, ist dieser Krieg nichts Neues. Wir kämpfen gegen die gleichen russischen Truppen und gegen die gleiche russische Artillerie. Die ganzen Lügen und die Propaganda, die jetzt gestreut werden, die kennen wir auch schon.

    Die Kampferfahrung in unseren Reihen liegt bei mindestens zehn Jahren, aber meist sind es 20 oder 30. Junge Leute aus Tschetschenien holen wir nicht in die Ukraine, weil wir uns auf die Befreiung unseres Territoriums vorbereiten. Und wir brauchen sie dort, weil sie in Tschetschenien sehr viel mehr Nutzen bringen.

    Unsere Aufgabe ist Sabotage und Aufklärung mit einer „Bienentaktik“: losfliegen, stechen und abhauen. Die Methoden des Partisanenkrieges haben wir uns seit dem ersten und zweiten Tschetschenienkrieg bewahrt.

    Jeder Vorstoß von uns wird mit den ukrainischen Truppen abgestimmt, damit wir bei unvorhergesehenen Situationen Deckung durch die Artillerie bekommen.

    Unser verstorbener Präsident Dschochar Dudajew hat schon 1990 klar gesagt, was Russland an und für sich ist, und was es an Bösem in sich trägt. Heute werden wir alle Zeugen, dass seine Worte stimmen. Ich denke, wenn man Tschetschenien seinerzeit so geholfen hätte wie jetzt der Ukraine, dann hätten wir dieses russische Imperium längst schon bis auf die Grundmauern zerstört. Dann würde das ukrainische Volk in Frieden leben, und es gäbe schlichtweg keine Bedrohung für die baltischen Staaten und die NATO.

    Wenn wir in Tschetschenien freie Wahlen hätten, dann würden über 90 Prozent des tschetschenischen Volkes das herrschende Regime nicht unterstützen. Die Menschen bei uns werden stark unterdrückt. Seit 30 Jahren sind wir im Kriegszustand. Unsere Eltern erzählen uns von klein auf, was wirklich los ist. Mit Morden kann man uns keine Angst machen. Die Menschen fürchten sich aber vor öffentlicher Beleidigung und Erniedrigung, deswegen zielt Kadyrow auf die wundesten Punkte: Sie nehmen die Mütter, Schwestern, Frauen und Töchter und versuchen die Menschen zu manipulieren. Frauen sind für uns unantastbar, und die Menschen schweigen meistens. Tschetschenien zu verlassen ist für viele einfach nicht möglich, und viele wollen auch nicht in der Fremde leben.

    Wir verstehen, dass die Kräfte heute ungleich verteilt sind. Wenn wir jetzt einen Aufstand beginnen, dann würde Russland unter irgendeinem listigen Vorwand den Krieg in der Ukraine einfrieren und alle Kräfte gegen Tschetschenien schicken. Und wir stünden diesem Monstrum allein gegenüber. Selbst wenn man Kadyrow beseitigte, würde sich in unserer Heimat nichts ändern. Deshalb ist es unser Ziel, den Kreml zu zerstören, den Hort alles Bösen.

    Die jungen Menschen stehen jetzt stark unter dem Einfluss der Propaganda. Wenn sie in den Krieg geschickt werden, nimmt man ihnen die Telefone ab. Wenn sie es dann doch schaffen, mit ihren Verwandten zu reden, bitten sie uns um Hilfe, wie sie sich ergeben können – allerdings so, dass sie dann nicht ausgetauscht und zurück in Kadyrows System geschickt werden. Es gibt Hunderte solcher Fälle. Wir schicken ihre Koordinaten entweder an den zentralen Apparat des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU, oder an den militärischen Nachrichtendienst , und die kümmern sich dann um sie.

    Kadyrow lässt alle verfolgen, die auf der Seite der Ukraine kämpfen. Er versucht uns zu schaden, schickt Killer los. Wir sind aber auch nicht untätig. Bei all denen, die ihr Gesicht offen gezeigt haben, sind sämtliche Verwandten entweder umgekommen oder aus Tschetschenien ausgewandert. Bei mir auch, ich habe niemanden mehr.“

    Weitere Themen

    So ist das halt?!

    Die Geiselnahme von Beslan

    Was ist eigentlich im Nordkaukasus los?

    Was hat Myanmar mit dem Nordkaukasus zu tun?

    Schuld und Sühne à la Kadyrow

    Der Krieg, den es nicht gab

  • Ein Theaterstück vor Gericht

    Ein Theaterstück vor Gericht

    Ein Moskauer gericht hat die beiden Theatermacherinnen Swetlana Petriitschuk und Shenja Berkowitsch am 8. Juli 2024 zu sechs Jahren Haft verurteilt. Ihr Theaterstück Finist jasny sokol (dt. Finist, heller Falke) soll nach Auffassung des Gerichts Terrorismus gerechtfertigt haben. Es basiert auf einem klassischen russischen Märchen und handelt von russischen Frauen, die über das Internet mit Männern des IS in Kontakt kommen, nach Syrien reisen und dort heiraten. Swetlana Petriitschuk hatte das Stück auf der Grundlage von Gerichtsakten aus Verfahren gegen solche Frauen geschrieben. Shenja Berkowitsch hatte es inszeniert. Die Uraufführung war 2020.

    Im Frühjahr 2022 erhielt es den größten nationalen Theaterpreis, die Goldene Maske (Solotaja maska). Swetlana Petriitschuk wurde im Rahmen der Goldenen Maske außerdem persönlich für das beste dramatische Werk ausgezeichnet. 2023 zeichnete die Novaya Gazeta die Inszenierung mit dem Kammerton-Preis aus. In der Begründung der Jury heißt es: „… für die Wahrheit im Leben und auf der Bühne.“ Zum ersten Mal wurde der Preis nicht an Journalisten verliehen – und außerdem in Abwesenheit der Preisträgerinnen. Denn die saßen zu diesem Zeitpunkt bereits in Untersuchungshaft. 

    Mit Finist wurde erstmals in Russland ein Theaterstück vor Gericht gebracht. Das Gericht stützte sich auf Paragraph 205.2 Absatz 2 des russischen Strafgesetzbuchs. Darin geht es um „öffentlichen Aufruf zu terroristischen Aktivitäten, öffentliche Rechtfertigung des Terrorismus oder Propaganda für den Terrorismus“.

    Entlastende Aussagen von Zeugen sowohl der Verteidigung als auch der Anklage wurden nicht berücksichtigt. Stattdessen stützte sich die Anklage auf ein „destruktologisches Gutachtens“ des Religionswissenschaftlers Roman Silantjew, der ein entsprechendes Fach der Moskauer Staatlichen Linguistischen Universität lehrt. „Destruktologie“ ist weder international noch in Russland als Wissenschaft anerkannt. dekoder-Gnosistin Henrike Schmidt hat gemeinsam mit anderen Mitgliedern des Verbands der deutschen Slavistik  ein Gegengutachten erstellt. 

    Die Slavistinnen und Slavisten zeigen als Experten für Literatur und damit für fiktionale Texte, wie in dem Gutachten die Aussagen von literarischen Figuren willkürlich als solche der Autorin beziehungsweise der Regisseurin missinterpretiert werden. Sie unterstreichen, dass die „Destruktologie“ eine Pseudowissenschaft ohne ausformulierte Methode ist. Das wurde im Juni 2023 sogar vom Zentrum für gerichtliche Expertisen des russischen Justizministeriums in einer schriftlichen Stellungnahme bestätigt.

    Zu Darstellung des behaupteten Straftatbestands veröffentlicht dekoder einen Ausschnitt aus dem Theatertext in deutscher Übersetzung.


    Shenja Berkowitsch und Swetlana Petriitschuk werden der „Rechtfertigung von Terrorismus“ beschuldigt / Foto © Stanislav Krasilnikov/SNA/imago images 

    PERSONEN

    MARJUSCHKA (steht stellvertretend für etwa 2000 junge Frauen, die innerhalb der letzten Jahre [vom IS – dek] angeworben wurden)
    RICHTERIN
    AUGUSTINUS VON HIPPO
    ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
    ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
    ANGEKLAGTE [Name gelöscht]

    Dramaturgische Notiz

    Zum Märchen

    Zentral für das Stück ist das russische Zaubermärchen Die Feder von Finist, dem lichten Falken aus der Märchensammlung Narodnyje russkije skaski (1855–1863; Russische Volksmärchen) von Alexander Nikolajewitsch Afanassjew sowie Finist, heller Falke von Nikolaj Schestakow (1894–1974). Das Märchen gehört zur russischen Volksliteratur. Es ähnelt in den Motiven am ehesten dem Märchen der Brüder Grimm Das singende, springende Löweneckerchen.

    Die jüngste von drei Töchtern wünscht sich von ihrem Vater eine Feder von Finist, dem hellen Falken. Als die jüngste Tochter die Feder abends fallen lässt, verwandelt sie sich in einen Zarensohn. Ihre Schwestern sind eifersüchtig und verletzen den Falken, der daraufhin fortfliegt und der jüngsten Tochter nur noch zurufen kann, dass sie hinter dreimal neun Ländern nach ihm suchen soll, dass sie drei Paar eiserne Schuhe durchlaufen, drei eiserne Wanderstäbe durchbrechen und drei eisenharte geweihte Brote essen muss, bevor sie ihn finden kann. Sie macht sich auf den beschwerlichen Weg, um ihn zu finden und muss viele Hindernisse überwinden, bis beide endlich heiraten können.

    Zu den Namen [Name gelöscht]

    Die Autorin hat sich entschieden, den Angeklagten keine Namen zu geben, die Personen heißen Angeklagte oder [Name gelöscht]:

    Swetlana Petriitschuk: „[Name gelöscht] ist eine häufig verwendete Formulierung in gerichtlichen Entscheidungen, die in Russland veröffentlicht werden, wenn die Ermittlungen nicht vollständig abgeschlossen sind. Solche Formulierungen finden sich häufig in Sätzen über Fälle, in denen Terrorismus unterstützt wird – einschließlich den realen Dokumenten, die im Stück vorkommen. Diese Formulierung ist eine Metapher für die jungen Frauen selbst, die ihren richtigen Namen verweigern, zu einer anderen Religion konvertieren und, beeinflusst von neuen Ideen, ihre Persönlichkeit auslöschen.“

    Marjuschka steht stellvertretend für alle Angeklagten, sie steht für etwa 2000 junge Frauen, die innerhalb der letzten Jahre angeworben wurden. Die Gerichtsurteile, die in dem Stück genannt werden, sind dokumentarisch und basieren unter anderem auf der Geschichte der damals neunzehnjährigen Warwara Karaulowa, die vom IS angworben und von Interpol zunächst als vermisst gesucht wurde, später als Zeugin vernommen und dann selbst angeklagt wurde.

    Zum dreißigsten Königreich

    Der Ausdruck wird synonym für „In einem fernen Land“ oder „Hinter den sieben Bergen“ gebraucht. Im Russischen ist er zugleich ein Synonym für den IS und wird immer mit dem Hinweis versehen, dass die Organisation in Russland verboten ist.


    1
    Anweisung №1:
    Wie der Ritus der islamischen Ehe, Nikāḥ, über Skype durchzuführen ist

    Viele islamische Wissenschaftler erkennen die islamische Ehe, Nikāḥ, über Skype nicht an. Dies wird mit Stellen aus der Schrift „Rawzat at-Talibin“ begründet:

    Das Angebot und die Annahme von Nikāḥ müssen in Anwesenheit von Zeugen im selben geografischen Raum erfolgen. „Wenn eine Person die Worte der feierlichen Eheschließung an jemanden geschrieben hat, der nicht anwesend ist, dann wird eine solche Ehe nicht als gültig angesehen …, da sie unter eine Kategorie fällt, die als Kinayat bekannt ist, was ein indirekter Ausdruck ist. Und die Ehe durch indirekte Wörter wird nicht als gültig angesehen. Die technischen Neuheiten unserer Zeit eröffnen allerdings ganz andere Möglichkeiten, als die erste Generation von Muslimen überhaupt erahnen konnte. Grundlegend bei der Eheschließung ist die Anwesenheit des Bräutigams, der Braut und der Zeugen; die Zeugen sollen den Heiratsantrag hören können und bestätigen, dass sie ihn gehört haben. Wenn die eheschließenden Parteien und die Zeugen an einer gemeinsamen Skype-Sitzung teilnehmen, wenn die Zeugen die Braut und den Bräutigam „live“ sehen und gleichzeitig die Rede der beiden hören, ist eine solche Eheschließung gültig, da Schummeln oder blindes Vertrauen in eine Stimme ausgeschlossen werden können. Die Verfahrensweise des Online-Ritus ist äußerst einfach. Am vereinbarten Tag wird in unserem Büro ein Notar für Eheangelegenheiten anwesend sein. Die Zeremonie findet in einer geschmückten Empfangshalle statt, wo Sie und Ihr Bräutigam auf einem Bildschirm mit einer Diagonale von mindestens 72 cm zu sehen sein werden. Die Halle ist mit technischen Neuheiten für Ton- und Videoübertragung eingerichtet, so dass Sie ohne jegliche Hindernisse die nötigen Worte austauschen können. Nach der Zeremonie erhalten Sie ein Zertifikat und, falls erwünscht, das Video der Frontkamera. Bei Fragen wenden Sie sich bitte telefonisch an unsere Firma [Name gelöscht].

    2

    RICHTERIN
    Angeklagte, unter welchen Umständen haben Sie versucht, unbefugt die Grenze der Türkei und der Syrischen Arabischen Republik zu überqueren und ins Territorium zu gelangen, welches von der in Russland verbotenen terroristischen Vereinigung kontrolliert wird?

    ANGEKLAGTE
    Es war neben der Stadt Batman. Die Kurden nennen sie Elich. Wir fuhren lange mit dem Auto. Der Innenraum roch nach Benzin, alle Türgriffe waren abgesprengt, neben mir saßen zwei Frauen, bei einer ist das Kind müde vom Weinen eingeschlafen. Es wurde dunkel. Der Fahrer stoppte, zeigte in Feldrichtung, sagte: „Dahin gehen wir“. Es war nichts zu sehen, ich musste pinkeln. Das Kind begann wieder zu weinen. Die Grillen schrillten. Der Rock hakte an den Dornen. Ich fürchtete, auf eine Schlange zu treten. Damit ich mich nicht so furchtbar fühlte und um mich zu beruhigen, wiederholte ich den Abzählreim „Aten Baten, ging´n Soldaten“, – kennen Sie den? Der Fahrer sagte, uns treffe ein bestimmter Mann. Deshalb freuten wir uns, als die Lichter auftauchten und der Hund bellte. Aber es war die kurdische Streife. Sie begannen zu schreien, alle sollten sich auf den Boden hinlegen, sie stießen uns mit den Gewehrläufen, ich fiel hin und mein Gesicht wurde zerkratzt. Wir wurden verhaftet.

    RICHTERIN
    Sie sind nach Syrien gefahren, um eine Terroristin zu werden?

    ANGEKLAGTE
    Ich bin hingefahren, um zu heiraten.

    RICHTERIN
    Wen?

    ANGEKLAGTE
    Finist. Wlad. Karim. Nadir – ich kenne seinen Namen nicht. Aber er ist mein Zukünftiger, mein Glück, mein heller Falke.

    RICHTERIN
    Unter welchen Umständen haben Sie beide sich kennengelernt?

    ANGEKLAGTE
    Er hat mir in der Gruppe Spartak auf Vkontakte geschrieben. Er hat gesagt, er ist 21 und Nationalist. Wir? Wir haben über das Leben und über Fußball gesprochen. Ich ging mit meinem Hund etwas früher raus, sperrte mich dann im Zimmer ein, machte den Laptop an, und ein Supertyp erschien am Bildschirm. Ich habe mich sofort in ihn verliebt.

    RICHTERIN
    Wegen Fußball?

    ANGEKLAGTE
    Wegen dem Schaumkuchen. Er hat nie über seine Familie gesprochen, aber einmal hat er gesagt, als er klein war, hat seine Mutter für ihn immer Schaumkuchen gebacken. Und seine Frau soll ihm auch Schaumkuchen backen. Ich habe mir dann vorgestellt, wie ich für ihn Schaumkuchen backe, das Rezept habe ich im Internet gefunden. Ich habe mich dabei so gut gefühlt. Und da habe ich verstanden, dass wir beide seelenverwandt sind.

    RICHTERIN
    Was wissen Sie noch über ihn?

    ANGEKLAGTE
    Da, wo er geboren wurde, ziehen die Frauen Ende März ihre Stiefel aus und ihre Schuhe an. Es bedeutet, dass Frühling ist. Dass alle Männer aus seiner Familie mal graue, mal grüne Augen haben, abhängig vom Wochentag. Dass er ein Held ist, und dass ich ein Nichts bin, er mich aber so liebt, so minderwertig wie ich bin. Vorgestellt hat er sich unterschiedlich. Ein Videobild von ihm habe ich nie gesehen. Hat er nicht geschickt, weil die Kamera lügt und das Herz – nicht. Finist hat mir verboten, mit anderen Männern zu sprechen, und ich habe verstanden, dass er es ernst meint mit mir.

    Einmal hat er mich geblockt dafür, dass ich einen Wanja in Vkontakte als Freund bestätigt habe. So sind drei Jahre vergangen. Dann begann er über den Islam zu sprechen. Am Anfang nur ab und zu und danach immer häufiger. Über andere Dinge zu sprechen, weigerte er sich. Er erklärte mir alles so schön, und alles war für mich interessant. Besonders über die Frauen. Er sagte, dass die Rechtlosigkeit der Frauen im Islam nur ein Klischee sei, dass eine Frau immer von ihrem Mann behütet wird und wenn sie arbeiten möchte – dann arbeitet sie, wenn nicht, dann nicht, und der Mann soll sie umsorgen. Ich mochte diese Ideen. Und dann habe ich mich dafür entschieden, mich zu seiner Religion zu bekehren. Er sagte, dafür bräuchte ich niemanden, in die Moschee müsse ich auch nicht gehen, man müsse lediglich spezielle Worte sprechen und eine Waschung in einer Waschschüssel machen. Ich habe mir einen neuen Namen ausgedacht, habe beschlossen, dass ich [Name gelöscht] genannt werde. Er hat es genehmigt.

    RICHTERIN
    Wie sind Sie zu dem Entschluss gekommen auszureisen?

    ANGEKLAGTE
    Finist mein Falke verschwand auf einmal – kein Brief, keine Nachricht. Ich habe kiloweise Schaumkuchen gegessen, bin nicht mehr mit meinem Hund Gassi gegangen, habe fünf Mal am Tag gebetet und sündhafte Gedanken vertrieben, er tauchte aber nicht mehr auf. Und nach einigen Monaten kam eine Nachricht von einem neuen Profil, in dem stand, dass er sich in das Dreißigste Königreich aufgemacht hat, um für sein Glauben zu kämpfen. Er begann, mich einzuladen. Sagte, ich würde seine Frau sein, ich würde behütet sein, ich würde viele Freundinnen haben und das Leben würde schön sein, mit dem Krieg hätte ich nichts zu tun. Er sagte, im Dreißigsten Königreich lebten die echten Muslime, kein Trinken, kein Rauchen, die Leute behandelten einander gut, ohne Ausnahme. Er hat gefragt, ob ich ihn liebe. Er hat gesagt, wenn eine ihn liebt, findet sie ihn, und wenn sie dabei drei Paar eiserne Schuhe auftragen, drei eiserne Wanderstäbe zerbrechen, drei eiserne Kappen abreißen und drei eisenharte geweihte Brote essen müsse.

    RICHTERIN
    Und da haben Sie beschlossen, sich auf den Weg ins Dreißigste Königreich zu machen?

    ANGEKLAGTE
    Ich habe mir drei Paar eiserne Schuhe, drei eiserne Wanderstäbe, drei eiserne Kappen bestellt, habe 20 Dollar, die von meinem Geburtstag übrig waren, aus der Spardose genommen. Am vereinbarten Tag wurde ich kontaktiert, mir wurde das Flugticket geschickt und gesagt, ich solle abreisen. Ich hab meiner Mutter geschrieben, dass ich in die Uni fahre, habe einen zweiten Rock in die Tasche gepackt, und neue Dessous auch – die hatte ich schon länger mal bei Intimissimi für eine besondere Gelegenheit gekauft – und habe mich auf den Weg über Berg und Tal gemacht, um den ersehnten Finist, den hellen Falken, zu suchen. Im Flughafen von Istanbul, nach der Passkontrolle, Tuch übergezogen, festgesteckt, Handy angeschaltet – und da waren bereits alle weiteren Anweisungen.

    3
    Anweisung № 2:
    Wie ein Hidschab richtig anzuziehen ist

    Sie brauchen ein Tuch viereckiger Form. Wählen Sie ein Tuch aus Satin oder Baumwolle für warme und heiße Tage und ein dichteres Wolltuch für kalte Tage. Sie benötigen auch zwei Haarklammern oder Haarnadeln. Falten Sie die obere rechte Ecke mit der unteren linken Ecke. So wird das Tuch in Form eines Dreiecks gefaltet. Legen Sie das Tuch über den Kopf. Zwei Spitzen sollen auf die Schultern fallen. Heften Sie das Tuch unter dem Kinn fest. Öffnen Sie den Mund in der Weise, als ob Sie ein „O“ sagen, so ist es Ihnen möglich, Ihren Kiefer zu bewegen, ohne dass der Hidschab verrutscht. Legen Sie die linke Spitze des Tuches nach rechts um und die rechte Spitze nach links. Vergewissern Sie sich, dass der Hidschab festsitzt und nicht rutscht. Denken Sie daran, dass die Haare und der untere Teil des Kinns nicht zu sehen sein sollen: dieser Bereich gehört zum Gesicht und soll folglich bedeckt bleiben, genau wie der Hals. Die Frauen, deren Hals und Haare zu sehen sind, sind Sündige, da sie von fremden Männern gesehen werden.

    ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
    Ich bin in der Familie eines Chirurgen aufgewachsen, am Gymnasium hatte ich Mathe und Physik als Schwerpunkt, ich habe Punk und Hardcore gehört und die Filme von DC und Marvel geliebt. Und danach habe ich den Koran gelesen, und es wurde zum Schock: Dort steht geschrieben, dass unser Weltall sich ausdehnt, dass unser Himmel und unsere Erde am Anfang eine einheitliche „Wolke“ waren und danach getrennt wurden, dort ist der Ursprung der Fötus-Entstehung und noch vieles andere. Und ich habe gespürt, dass diese Lehre keine Schöpfung eines Menschen sein kann, dass es etwas unvergleichbar Größeres ist. Auf diese Weise nahm ich den Glauben an, habe die Schahāda gesprochen, bin Muslima geworden, habe begonnen den Salāt zu lesen. Die Frage nach dem Hidschab habe ich wie die Sorge des Schöpfers über mich wahrgenommen. Ich begann zu beten, damit der Schöpfer mir helfen würde mich so zu verschleiern, dass es ein Segen für mein jetziges Leben und für das nächste nach dem Tod werde.

    ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
    In einem Hidschab fühle ich mich unter göttlicher Schirmherrschaft, geborgen vor der äußeren Hektik. Er gibt mir eine Empfindung von Einheit, von Ruhe. Keine Sehnsucht danach, dass der Wind durch mein Haar weht. Selbst im Sommer juckt die Kopfhaut nicht. Manchmal fahre ich U-Bahn und es scheint mir ein Wahnsinn, dass die Frauen sich zeigen. Alle Religionen sagen doch, dass eine Frau wie in einem Kokon sein muss, umhüllt sein muss. Der Hidschab schützt Frauen nicht nur vor fremden Blicken, sondern auch vor sich selbst. Eine Frau ist eben ein schwaches Wesen, von ihr geht die meiste Verwirrung und das Schlechte aus, darum obliegt uns eine große Verantwortung – wir sollen unsere Schönheit lieber nicht zur Schau stellen.

    ANGEKLAGTE [Name gelöscht]
    Hätte ich figurbetonte Kleidung an, würde ich mich wie eine Diebin fühlen. Ich hätte das Gefühl, meinem Mann etwas zu stehlen und es einem Fremden zu schenken, einem, der in keiner Weise Sorge um mich getragen und mir nie einen Cent gegeben hat. Der Hidschab schützt vor den Blicken der Männer, vor denen, die dich wie ein Stück Fleisch anschauen, und verbirgt dich vor den Sünden der Welt. Der Hidschab hat mich glorifiziert und nicht erniedrigt. Falls ich eine Tochter bekomme, erkläre ich ihr von Kindheit an, dass ein Hidschab eine Verpflichtung ist, die ihr selbst zugute kommt.

    4
    Anweisung № 3:
    Wie man eine Halal Torte backt

    Damit Backwaren den Halal-Anforderungen entsprechen, vergewissern Sie sich, dass bei der Zubereitung keine alkoholischen Zutaten verwendet werden. Auch geringe Mengen von Alkohol, zum Beispiel wenn der Fondant damit bestrichen oder Lebensmittelfarbe verdünnt wird, sind verboten und die Torte darf nicht verzehrt werden. Oft wird Gelatine verwendet, die aus Schweineknorpel zubereitet wird, was sie auch verboten macht. Auf dem Produkt sollen keine Bildnisse lebender Kreaturen angebracht sein. Wichtig ist zudem, dass während jeder Essenszubereitung der Name des Schöpfers erwähnt wird.

    RICHTERIN
    Nach dem bisherigen Ermittlungsstand des Strafverfahrens hat das Tljaratinsker Bezirksgericht bezüglich der Angeklagten, geboren 1990, gebürtig und wohnhaft in der Siedlung Wizjatli, Kreis Zuntin, wegen des Verdachts einer Straftat gemäß Artikel 208 Punkt 2, Absatz 33, Satz 5 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

    a) die Angeklagte habe eine die Mitglieder einer illegalen, bewaffneten Vereinigung fördernde Handlung verübt, unter folgenden Umständen:

    aa) Im November 2011, ein genaueres Datum und die Zeit wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht festgestellt, kam die Angeklagte zu Ihrer Schwester zu Besuch. In derselben Nacht, gegen 23 Uhr, kamen zu dem oben genanntem Haushalt vier Mitglieder der illegalen, bewaffneten Vereinigung Zuntinskaya, und zwar [Name gelöscht]. Aus eigenem Antrieb, mit dem Ziel, die Tätigkeit der Vereinigung zu unterstützen, habe die Angeklagte den obengenannten Mitgliedern der Vereinigung Zuntinskaya zugesagt, Hilfe zu leisten. Und zwar habe sie für sie den Tisch gedeckt: zwei Brote, acht Stücke Käse, eine Dose Salzgurken. Aus persönlichen religiösen Motiven, im Bewusstsein ihrer rechtswidrigen Tätigkeit, buk die Angeklagte für die oben genannten Mitglieder der illegalen bewaffneten Vereinigung Zuntinskaya einen Kuchen, den sie dann verzehrten.

    Rezept des Halal Schokoladenkuchens mit Mandeln und kandierten Früchten

    Um den Kuchenboden zuzubereiten, Mehl, Butter, Zucker und ein Ei zufügen, alles verrühren, den Teig mit einer Folie umhüllen und für 30 Minuten in den Kühlschrank stellen. Den Ofen auf 190 °С anheizen, den Teig ausrollen, in eine Form legen, den Rand drei Zentimeter nach oben einrollen, dann 30 Minuten im Ofen backen. Für die Füllung Nelken in einer Kaffeemühle oder einer Mühle zermahlen, die Schokolade zerbröckeln, Butter und Schokolade in einem Wasserbad schmelzen lassen. Die Mandeln und einen Teil der kandierten Früchte zerkleinern, der Schokocreme zufügen, verrühren. Eier mit Zucker schlagen, mit der Schokocreme verrühren. Die Torte zwei Stunden nach der Zubereitung servieren. Ein Stück Halal-Torte aus Mürbeteig, gefüllt mit einer Schoko-Mandel-Creme und verfeinert mit kandierten Früchten ist ein Liebesbeweis und eine Aufmerksamkeit für Angehörige und Freunde.

    RICHTERIN
    In tatsächlicher Hinsicht legt das Gericht der Angeklagten im Wesentlichen folgendes zur Last:

    a) Die Angeklagte hat vorsätzlich eine nach Artikel 208, Punkt 2, Absatz 33, Satz 5 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation verbotene Straftat begangen – Unterstützung einer illegalen, bewaffneten Gruppierung. Mit Rücksicht auf den Charakter und den Grad der Gesellschaftsgefährlichkeit der begangenen Tat, auf den Charakter und auf den faktischen Grad der Mitwirkung der Angeklagten, die Bedeutung dieser Mitwirkung zur Durchsetzung der kriminellen Ziele der Straftat, beschließt das Gericht:

    aa) es ist von einer fehlenden Besserungsaussicht auszugehen, was die Freiheitsstrafe unentbehrlich macht
    bb) die Angeklagte wird zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr in der Ansiedlungsstrafkolonie verurteilt.

    5.
    RICHTERIN
    Ist es Ihnen Recht, wenn wir Sie weiter Marjuschka nennen?

    MARJUSCHKA
    Ich brauche mich nicht daran zu gewönnen.

    RICHTERIN
    Was planten Sie im Dreißigsten Königreich zu tun?

    MARJUSCHKA
    Zu kochen. Kleidung zu waschen. Eine Frau zu sein, wie der Schöpfer und meine Physiologie es befehlen. Und den Schaumkuchen zu backen, nun das habe ich bereits gesagt.

    RICHTERIN
    Gab es denn in Ihrem Heimatland niemanden daheim, für den Sie Kleidung waschen konnten?

    MARJUSCHKA
    In meinem Heimatland gibt es keine Männer, nur Steppenroller. Pflanzen ohne Wurzeln, vom Wind getrieben. Keine Überzeugungen, nur Halbherzigkeiten. Finist dagegen ist das Ideal eines Mannes, das äußerst schwierig zu finden ist in der modernen westlichen Gesellschaft, er ist die Gestalt eines kräftigen, furchtlosen Mannes, der bereit ist zu töten und für seine Ideale zu sterben.

    RICHTERIN:
    Nehmen wir also Folgendes an. Sie sind am Istanbuler Flughafen angekommen. Sie sind durch die Ebenen, durch den dunklen Wald und über hohe Gebirge gewandert. Der fröhliche Gesang der Vögel erfreute Ihr Herz, die Bäche wuschen Ihr Gesicht, die dunklen Wälder grüßten Sie. Niemand konnte Marjuschka etwas zuleide tun: Die grauen Wölfe, die Bären, die Füchse – alle Tiere sind ihr zugelaufen. War das alles so?

    MARJUSCHKA:
    Fast. Am Flughafen habe ich ein Taxi genommen. Dem Fahrer habe ich die Nummer gegeben, die mir per WhatsApp noch während des Fluges zugesandt wurde. Der Taxifahrer hat die Nummer gewählt und ihm wurde erklärt, wohin zu fahren ist. Er wollte zunächst nicht, doch es wurde ihm ausreichend Geld versprochen. Während er mich gefahren hat, habe ich meiner Mutter ein SMS gesandt, damit sie nicht vergessen würde, mit dem Hund rauszugehen. Bei der Einfahrt zum Haus hat mich ein Tschetschene empfangen, meine Tasche hat er nicht genommen, die habe sie selbst aus dem Kofferraum geholt. Der Taxifahrer ist sehr schnell weggefahren, ich glaube nicht, dass er nach Geld gefragt hat. Der Tschetschenen-Bruder hat gesagt, ich sei jetzt unter Gleichgesinnten und hat mich in die Wohnung geführt. Hinter der Tür waren viele Schuhe und in der Wohnung war es total still. Die Sofas waren durchgelegen, es war heiß und den Ventilator durfte man nicht benutzen. Es roch nach Erbsen und nach gewaschener Wäsche. In der Wohnung waren sechs Frauen, viele mit Kindern. Aus Russland, aus Kasachstan und auch aus Aserbaidschan. Mir wurde gesagt, meine SIM-Karte sei wegzuwerfen und Surfen im Internet sei verboten. Das Verlassen der Wohnung war untersagt. Ein Mädchen aus Baku hat die ganze Zeit geweint und mir war auch sehr nach Weinen zumute, aber ich hatte Angst, dass es jemand dem Finist erzählt. Zum Schlafen haben wir uns auf den Boden gelegt – alle Frauen in einem Zimmer, und die Kinder in der Mitte. Ich habe geträumt, dass ich an der Uni in der Philosophie Vorlesung sei. […] 
     

    Ende des Textausschnitts. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Drei Masken Verlags

    Weitere Themen

    Lavieren in Nahost

    Was ist eigentlich im Nordkaukasus los?

    Frauenstraflager

    Star Wars und die Frauenfrage

  • „Putin und Lukaschenko sehen sich als Sieger“

    „Putin und Lukaschenko sehen sich als Sieger“

    Früher hat Tamara Eidelman Geschichte an der Moskauer Schule № 67 unterrichtet. Nach dem russischen Großangriff auf die Ukraine im Februar 2022 hat sie ihre Heimat verlassen. Seitdem lebt sie in Portugal, gibt aber weiter Geschichtsstunden für ein russischsprachiges Publikum: Mehr als 1,3 Millionen Menschen haben ihren YouTube-Kanal abonniert. 

    Im Interview mit dem belarussischen Online-Medium Zerkalo spricht die russische Historikerin über Themen, die sowohl Belarus als auch Russland betreffen: das Machtverständnis von Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin, imperialistische Denkweisen, Russlands Blick auf Belarus sowie die Instrumentalisierung von Geschichte in beiden Ländern.


    Zerkalo: Manche vergleichen Wladimir Putin mit russischen Zaren oder mit Adolf Hitler. Mit welchen historischen Persönlichkeiten würden Sie ihn vergleichen?

    Tamara Eidelman: Wissen Sie, ich möchte diese Frage nicht beantworten. Tut mir leid. Putin kann sich mit jedem vergleichen, mit dem er will, von mir aus mit dem Herrgott. Die Propaganda benutzt Vergleiche, um ihm zu schmeicheln. Wenn er einen auf Peter der Große macht, so ist er doch in jeder Hinsicht zu mickrig dafür, nichts für ungut.

    Mit Hitler hat er nun nichts gemein, und das sage ich nicht, um Putin zu verteidigen. Natürlich sind beide Diktatoren und haben aggressive Kriege entfesselt, aber bis zur Massenvernichtung reicht es bei Putin Gott sei Dank noch nicht. 

    Jede historische Persönlichkeit, zumal jeder Diktator, lebt in seiner jeweiligen Epoche und muss vor diesem Hintergrund betrachtet werden. Wenn wir jetzt anfangen, darüber zu sprechen, wie viel Ähnlichkeit Russland mit Hitler-Deutschland hat, dann haben wir für unser Verständnis nichts gewonnen. Russland hat eine ganz andere Struktur, es folgt einem anderen historischen Weg und anderen Traditionen, die Zeiten sind andere. Es war nach 1938 praktisch unmöglich nachzuvollziehen, was in Deutschland passiert, heute haben wir unzählige Fakten dazu, was in Russland geschieht. Das ist wichtig, weil es sowohl eine öffentliche Meinung in Russland als auch eine internationale gibt. Und wie man es dreht und wendet, die Machthaber schauen darauf. Wenn es diese öffentliche Meinung nicht gäbe, kein Internet, keine Handys, dann würden zum Beispiel politische Gegner mit Haut und Haaren gefressen und ausgespuckt werden. Niemand wäre mehr am Leben. Ja, sie bekommen riesige Haftstrafen, aber Gott sei Dank leben sie. Das ist wichtig.

    Wenn Putin einen auf Peter der Große macht, so ist er doch in jeder Hinsicht zu mickrig dafür, nichts für ungut

    Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs verübten die Deutschen schreckliche Dinge in Polen, von denen praktisch niemand wusste, außer denen, die es selbst gesehen haben. Das volle Ausmaß der Gräueltaten wurde erst nach dem Krieg sichtbar, als man ausreichend Material gesammelt hatte. Sie können jetzt sagen, dass man auch heute nicht alles weiß, aber wenn man mit halbwegs ungetrübtem Verstand an die Masse der existierenden Informationen zu dem herangeht, was in diesem Krieg, was in Russland und in Belarus passiert, ändert das viel.

    Als nächstes kommt meistens die Frage: „Und womit wird das alles enden?“ Wenn wir davon ausgehen, dass man Russland mit [Deutschland in] den 1930er Jahren vergleichen kann, dann würde als nächstes ein Weltkrieg kommen, der Faschismus würde besiegt werden und so weiter. Aber es ist überhaupt nicht gesagt, dass es so sein wird. Zum Beispiel, weil es damals keine Atomwaffen gab. Ich mag diese Vergleiche nicht.

    War und bleibt Russland für immer ein Problem für seine Nachbarn?

    Solange dieses Regime in Russland besteht, natürlich. Ich will anmerken, dass auch das Regime in Belarus so lange bestehen wird wie das Regime in Russland. Russland wollte sich so weit wie möglich ausdehnen, aber das galt für alle starken Staaten des 18. und 19. Jahrhunderts. Bloß ist Russland an dem Punkt stehen geblieben, der für Großmächte vor 150 bis 200 Jahren normal war. Europa hingegen hat verstanden, dass man sich nicht so verhalten sollte. Daraus schließe ich, dass auch Russland das irgendwann verstehen wird.

    Meine Eltern wurden in der UdSSR geboren, lebten eine Zeitlang in Russland und dann in Belarus. An ihrem Denken gibt es nichts Imperialistisches, während unsere Verwandten, die so alt sind wie sie und ihr ganzes Leben in Russland verbracht haben, dahin tendieren. Warum ist das so?

    Das spricht wohl einfach für Ihre Eltern. Es gibt ja auch in Belarus Menschen, die das Land als Teil Russlands sehen, eines Imperiums, der UdSSR. Es geht nicht darum, wo man geboren wurde. Diese Haltung macht das Leben leichter, denn wenn du dich als Teil von etwas Großem, Grandiosem begreifst, dann werden all deine Strapazen, dein armseliges Leben, deine Probleme unwichtig. Ja, wir produzieren Raketen, wir sind Teil von diesem großartigen Land. Das flößt uns die Propaganda unermüdlich ein. Dein Privatleben ist weniger wert als das, was dich umgibt.

    Politische Haltungen und Moralvorstellungen werden nicht genetisch vererbt

    Aber politische Haltungen und Moralvorstellungen werden nicht genetisch vererbt. Das sind alles Märchen. Genau auf diesen Märchen baute die nationalsozialistische Rassenpolitik auf. Das dürfen wir auf keinen Fall schlucken. Es zählt nicht nur der Ort, an dem du lebst, sondern auch die Erziehung, deine Familie, dein sozialer Umgang.

    Lukaschenko und Putin schwelgen ständig in der Vergangenheit und ihren Kindheitserinnerungen. Wollen sie, dass wir so leben wie damals, und tun alles dafür?

    Ich glaube, im Grunde sind wir ihnen völlig schnuppe. Sie selbst wollen in einem – aus ihrer Sicht – mächtigen Land leben, vor dem alle Angst haben, und in ihrer Macht baden.

    Ich glaube, bei solchen Leuten legt sich irgendwann ein Schalter um, und sie beginnen zu denken, dass das, was für sie gut ist, auch für alle anderen gut ist. „Was würdet ihr denn ohne mich machen? Ihr seid kleine Kinder, ihr müsst mir gehorchen. Was ich mir für euch überlege, das wird für euch gut sein.“

    Alle erinnern sich gern an ihre Kindheit – ja, Plombir war lecker. Mir scheint das eher ein Propagandatrick. Sie brauchen vor allem Macht.

    Und wenn der Diktator stirbt, wird es besser?

    Ja. Im Moment versucht man uns schreckliche Angst einzujagen, dass danach alles in Blut und Chaos versinkt. Historisch gesehen ist alles möglich, und natürlich wird es auch auf irgendeine Art Chaos geben. Andererseits wird der erste Schritt zur Veränderung nach dem Tod des Diktators von Leuten aus seinem Umfeld getan. Sie verstehen, dass sie nicht so werden können wie er und ein neues Leben aufbauen müssen. Sie müssen sich mit der internationalen Gemeinschaft verständigen und für Stabilität sorgen. Das konnte man gut in der Tauwetterperiode beobachten, sowohl in der UdSSR als auch in Spanien [unter Franco] oder Portugal [unter Salazar]. Die ersten Veränderungen werden von Leuten aus dem Inneren des Systems herbeigeführt.

    Der erste Schritt zur Veränderung nach dem Tod des Diktators wird von Leuten aus seinem Umfeld getan

    Die spannende Frage ist die, was danach passiert. Das Tauwetter hat in der UdSSR ein bisschen getröpfelt, dann kam wieder der Frost. Das Regime hat sich nicht verändert, alles ist in den Händen der Leute aus demselben System geblieben. In Spanien wurden die Veränderungen zunächst von Menschen aus dem System angestoßen, aber dann von verschiedenen Parteien und Organisationen aufgegriffen, unterschiedliche soziale Schichten haben sich eingeklinkt und Druck ausgeübt, weil das System weicher geworden war. Sie bekamen die Möglichkeit zu handeln und veränderten das Regime.

    Das ist ein großes Problem für uns alle: Was werden wir tun, wenn die Regime fallen? Werden wir die Chance nutzen oder ein weiteres Mal alles verschlafen, während wir uns gegenseitig bekriegen und auf Hexenjagd gehen, und das Regime wird sich hinüberretten und alles wieder von vorne beginnen? Auf der zweiten Etappe wird sehr viel von uns abhängen.

    Was wussten Sie vor 2020 von Belarus und den Belarussen?

    Das spricht nicht gerade für mich. Abgesehen von der Band Pesnjary und ein paar groben Vorstellungen davon, was bei euch während des Kriegs und der Partisanenbewegung passierte, wusste ich kaum etwas. Und das ist falsch. Ich hatte absolut keine Vorstellung von eurer Kultur und Geschichte. Für viele, nicht nur für mich, war 2020 eine Erschütterung, weil wir Belarus als sehr sowjetische Republik wahrgenommen hatten. Aber ich glaube, das war eher Lukaschenkos Propaganda zu verdanken. Er hat dieses Bild erschaffen: Wir halten an den sowjetischen Traditionen fest. Wir dachten, bei euch ist alles noch schlimmer als bei uns. Aber dann kam dieser wundervolle Protest – wir müssen noch einiges von Belarus lernen.

    Eine der wichtigsten Epochen in der belarussischen Geschichte ist das Großfürstentum Litauen. Wie wird die Geschichte dieses Staates in Russland gelehrt?

    Gar nicht. Vielleicht wird es hier und da erwähnt. Der Geschichtsunterricht geht in den verschiedenen Teilen der ehemaligen Sowjetunion auf die sowjetische Tradition zurück, und die sowjetische Tradition auf das russische 19. Jahrhundert. Es wird Staatsgeschichte gelehrt, und alles, was außerhalb des Staates liegt, ist entweder eine Lüge oder völlig uninteressant. Und die Geschichte des russischen Staates ist die Geschichte von Moskau und Sankt Petersburg. Alles andere ist zweitrangig. Dabei sind das 14. und 15. Jahrhundert sowohl für Russland als auch für die Ukraine, Litauen und Belarus unglaublich interessant. Aber es wird alles nur aus dem Blickwinkel Moskaus präsentiert.

    Die Geschichte des russischen Staates ist die Geschichte von Moskau und Sankt Petersburg. Alles andere ist zweitrangig

    Ich würde mir wünschen, dass diese Epochen in der Zukunft nicht als Geschichte des einen oder anderen Staates gelehrt werden, sondern als Geschichte von Völkern. Dann würden wir ein Kaleidoskop von verschiedenen Menschen, Kulturen und Sprachen erhalten und sehen, wie vielfältig alles war.

    Die belarussischen Behörden bauen ihre Propaganda und Ideologie auf der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs auf. Warum ist das so, was denken Sie?

    Sie handeln im Rahmen des sowjetischen und aktuellen Narrativs. Die Machthaber schlugen seit 1945 Kapital aus dem Krieg, indem sie seine Geschichte verzerrten. Der Philologe Jewgeni Dobrenko hat ein Buch namens Posdni Stalinism (dt. Der Spätstalinismus) geschrieben, das ich gerne zitiere: „Die Geschichte des Kriegs wird zu einer Geschichte des Sieges.“

    Nach außen hin gelten alle Worte den Opfern. In der belarussischen Geschichte waren das Chatyn und andere verbrannte Dörfer. Doch das Hauptnarrativ lautet: Es gab schreckliche Leiden, aber wir haben trotzdem gesiegt, wir haben’s ihnen richtig gezeigt. Rollende Panzer, die Operation Bagration, „Da sdrawstwujet towarischtsch Stalin!“ (dt. „Hoch lebe Genosse Stalin!“). Aber in der Geschichte des Krieges ist nicht alles so einfach. Übrigens waren es die belarussischen Historiker, die davon sprachen, dass Themen wie die Partisanenbewegung – und das ist die heilige Kuh – sehr komplex seien.

    Das Hauptnarrativ lautet: Es gab schreckliche Leiden, aber wir haben trotzdem gesiegt, wir haben’s ihnen richtig gezeigt

    Daher wissen wir, dass das Bild von den Partisanen, die aus dem Wald kommen und von den Dorfbewohnern jubelnd mit den Worten: „Hurra, unsere guten Jungs sind da!“ empfangen werden, falsch ist. Auch die Partisanen waren gefürchtet. Das allein galt als schreckliche Häresie und Lästerung der Heldentaten des sowjetischen Volks. 

    Wie derzeit über den Krieg gesprochen wird, das gibt den Propagandisten die Möglichkeit zu erklären, es wäre damals nicht um Blut, Dreck und Gräueltaten gegangen, sondern um den Triumph unserer Heerführer, allen voran Genosse Stalin. Das waren die wahren Sieger, nicht die Menschen, die in den Schützengräben verfaulten. Diese Vorstellung kommt sowohl Putin als auch Lukaschenko sehr entgegen. Sie sehen sich als eben solche alle besiegenden Sieger.

    Wie wird man Lukaschenko in den Lehrbüchern beschreiben, wenn er nicht mehr an der Macht ist?

    Man wird schreiben, was für ein großer Diktator er war, das ist klar. Aber ich glaube, dass es interessanter sein wird, über Lukaschenko zu schreiben als zum Beispiel über Putin. Wie er raffiniert seinen Weg zur Macht geebnet und die Karte der Sowjetnostalgie ausgespielt hat. Natürlich hat Putin dasselbe gemacht, aber Lukaschenko war viel früher. Er hat mit irgendeinem sechsten Sinn gespürt, dass das der Köder ist, mit dem man viele Menschen kriegt. Man wird ihn als interessanten, blutrünstigen und hinterlistigen Diktator erforschen.

    Was denken Sie, wäre Lukaschenko bereit, alles Belarussische in Belarus abzuschaffen und sich selbst und die Belarussen Russen zu nennen, wenn es die politische Situation erfordert?

    Ich glaube, das tut er schon. Als die Sowjetunion zerfiel, kamen in fast allen Republiken Leute an die Macht, die nationale Ideen vorbrachten. Lukaschenko schrieb sich stattdessen die prosowjetische Idee auf die Fahne, sein größter Feind war die Nationalpartei. Er ist bereits dabei, alles Belarussische zu unterdrücken: die Sprache, die Kultur. Aber hier sind wir wieder bei der Machtfrage – bis zu welchem Punkt wird er bereit sein, das zu tun? Ist er bereit, zu Russland zu gehören? Sich Putin zu unterwerfen? Über eine Nachfolgerschaft zu verhandeln? Irgendwie scheint mir das keine Option für jemanden, der Geschmack an der Macht gefunden hat.

    In Russland gibt es jetzt Schulbücher mit einem Kapitel über die „Spezialoperation“. Darin geht es um die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, um den „Druck der Vereinigten Staaten“, „Geschichtsklitterung“ und das „Wiedererstarken des Nazismus“. Unter anderem wird in diesem Lehrbuch behauptet, die westlichen Länder hätten die fixe Idee einer „Destabilisierung der Lage in Russland“. Im Abschnitt über den Krieg in der Ukraine wird Putin mit der Aussage zitiert, Russland habe den Krieg begonnen, um die Kämpfe in der Ukraine zu beenden. Ist es ein Verbrechen, so etwas zu lehren?

    Ein solches Lehrbuch zu schreiben, ist ein Verbrechen. Unterrichten kann man nach so einem Lehrbuch auf unterschiedliche Art und Weise. Man kann sagen: „Achtet nicht drauf, was da steht.“ Aber es ist und bleibt eine schwierige Herausforderung, mit einem solchen Lehrbuch zu arbeiten.

    Weitere Themen

    „Russland wird aufs Schrecklichste verlieren“

    „Putin will das Imperium wiedererrichten – das steht außer Frage“

    Der Abgrund ist bodenlos

    Unter dem Einfluss der russischen Welt

    „Wir erleben einen historischen Umbruch, dessen Epizentren die Ukraine und Belarus sind“

    Vom Versuch der „einheitlichen“ Geschichte

  • „Jeder Verwaltungsbeamte ist ein kleiner Lukaschenko“

    „Jeder Verwaltungsbeamte ist ein kleiner Lukaschenko“

    Die Tschinowniki, die Beamten, sind eine feste Stütze des Systems von Alexander Lukaschenko. Sie sorgen in den Regionen und ihren Amtsbereichen auf zahlreichen Ebenen dafür, dass Entscheidungen im Sinne der Machthaber umgesetzt werden. Zudem agieren sie als politische Kontrolle und mitunter als Verhinderer von Problemlösungen.

    Rudabelskaja Pakasucha (dt. Rudabelka-Show) auf YouTube hat über 45.000 Abonnenten. Der Kanal geht auf den historischen Namen (Rudabelka) für die kleine Gemeinde Oktjabrski zurück, die in der Oblast Gomel liegt. Von dort stammen Olga Pauk und ihr Ex-Ehemann Andrej. Sie haben den Kanal 2011 gegründet, weil sie nicht hinnehmen wollten, dass so Einiges in ihrer Gemeinde falsch lief. Also begannen sie, zuständige Beamte in ihrer Sendung mit den Problemen zu konfrontieren, um Öffentlichkeit zu schaffen. Angespornt durch kleine Erfolge und Zuspruch weiteten sie ihr Engagement auf das ganze Land aus. Im Zuge der Repressionen, die infolge der Proteste 2020 begannen, mussten sie ihre Heimat verlassen und flohen nach Litauen. Im Mai 2023 wurde der Kanal von den belarussischen Behörden als „extremistische Vereinigung“ eingestuft.

    Dennoch betreiben sie den Kanal weiter und rufen jede Woche bei den lokalen Behörden an, um zu verstehen, warum sie so handeln, wie sie es eben tun, bzw. nicht handeln. Die Redaktion des Online-Magazins KYKY hat Olga Pauk getroffen und sich mit ihr über ihr Engagement unterhalten. Entstanden ist ein Gespräch, das seltene Einblicke in den berüchtigten, aber sehr verschlossenen Verwaltungsapparat Lukaschenkos ermöglicht.


    Die belarussische Beamtenschaft dekodieren – Olga Pauk bei der Arbeit / Foto © Screenshot/YouTube
    Die belarussische Beamtenschaft dekodieren – Olga Pauk bei der Arbeit / Foto © Screenshot/YouTube

    Irina Michno: Wie wählt ihr die Personen aus, die ihr anruft?

    Olga Pauk: Ich rufe nur Verwaltungsbeamte an – mit Sicherheitsleuten wie den Silowiki oder auch mit Denunzianten kann ich nicht sprechen, dafür sind mein Unverständnis und mein Groll zu groß. Ich habe dafür keine emotionalen Koordinaten, denn wenn ich mit jemandem spreche, der den Krieg und Lukaschenko unterstützt, zerreißt mich das innerlich. Die Verwaltungsbeamten wurden für mich in den letzten drei Jahren  zu einem Monolith: Ich mache keinen Unterschied, was sie jeweils für Menschen sind und auf welcher Stufe der Hierarchie sie stehen.

    Um im Lukaschenko-System zu bestehen, muss man anständig und Arschloch sein – oder dumm genug und ohne moralischen Kompass. 20 Jahre negative Auswahl bleiben nicht ohne Folgen. 

    Stell dir jemanden vor, der Gewalt und Manipulation ablehnt – er würde in jedem beliebigen Gebietsverwaltungsamt verrückt werden, er würde selbst kündigen oder gefeuert werden. Ich bin davon überzeugt, dass nur diejenigen geblieben sind, die das System vollumfänglich unterstützen. 

    Für jeden unserer Anrufe gibt es einen Anlass, zum Beispiel eine Meldung aus den Nachrichten. Ich bin immer auf der Suche nach Geschichten aus den Regionen (und an dieser Stelle möchte ich dem Telegram-Kanal Belarus hinterm Minsker Autobahnring danken, der die Ereignisse hervorragend filtert). Außerdem lese ich ab und zu die Propagandapresse. Und die Menschen aus Belarus schicken uns immer wieder Anfragen, ob wir etwas über Zustände in ihrem Dorf oder ihrer Stadt herausfinden können. Wo ich anrufe, hängt also davon ab, aus welchem Rajon ich Anfragen erhalte. 

    Ich rufe an, um den Sinn bestimmter Ereignisse zu hinterfragen, auch wenn ich weiß, dass ich im Grunde keine Antworten bekommen werde. Es sei denn, die Fragen betreffen Schlaglöcher oder allgemeine Infrastruktur. Alle unsere Beamten sitzen eigentlich in der Wohnungsverwaltung (lacht). Bildung, Gesundheit, Landwirtschaft – das ist alles schon Ideologie, dazu kann man nur rhetorische Fragen stellen. Jetzt werden die Kinder zum Beispiel in patriotische Ferienlager gesteckt, in die Silowiki in voller Montur kommen, inklusive Waffen. Ich rufe also in der Kreisverwaltung an und frage: „Was wollen Sie den Kindern damit sagen? Worauf bereiten Sie sie vor?“


    Die, die für den Regen beten: Olga Pauk von Rudabelskaja Pakasucha nimmt lokale Verwaltungsbeamte in die Zange

    Ich musste bei einem der Videos sehr lachen, in dem du mit einem Beamten sprichst, der für Regen gebetet hat. War das für dich auch der Hammer? Du hast ja sicher auch nicht mit einer sinnvollen Antwort gerechnet. 

    (lacht) Manchmal schreiben mir Leute in den Kommentaren: „Du musst dich besser vorbereiten!“ Aber wie soll man sich auf sowas vorbereiten? Es gab noch einen anderen interessanten Anruf: In Slonim wurde eine „taktische orthodoxe Vorbereitung der Panzersoldaten“ durchgeführt. Die Popen brachten den Panzerfahrern irgendwelche Strategien bei – das ist so hirnlos, dass man darin kaum irgendeine Logik oder einen Sinn finden kann. Und wenn man dann anruft und Fragen stellt, geraten sie ins Stocken. Es sei „von oben“ aufgetragen worden und sie hätten es gemacht, alles wie immer. Aber wenn du dann fragst, „Warum?“, dann wissen sie keine Antwort. Aber mir geht es bei diesen Anrufen nicht um Spaß. Mich interessiert wirklich, wer diese Menschen sind, die da über uns bestimmen.

    Man kann darüber lachen, aber man muss sich auch im Klaren darüber sein, dass dieser Beamte, der für Regen betet, über das Schicksal eines ganzen Rajons entscheidet. Über seinen Tisch gehen debile Entscheidungen, die Menschen verschiedenen Alters und in verschiedenen Einrichtungen dann umsetzen müssen. 

    Jeder etwas gescheitere Beamte ist eine Bedrohung für seinen Vorgesetzten 

    Es gibt Beamte, besonders in den weiter von Minsk entfernten Regionen, die ihre Arbeit machen und nicht darüber nachdenken, ob irgendetwas daran vielleicht nicht stimmt – das merkt man deutlich an ihren Antworten. Andere wiederum sind Parasiten, sie wissen, was sie tun und richten bewusst Schaden an. Mir ist es wichtig, diese Typen zu unterscheiden, denn ich werde mich mit aller Kraft für eine Lustration in Belarus einsetzen. Die heutigen „Jabatki“, diese Pro-Lukaschenko Leute, leben großartig mit dem Regime, kaufen ihren Kindern Wohnungen, schicken sie zum Studium ins Ausland – so, wie es die Machtelite im Sowok, den Zeiten der Sowjets, getan hat. Und es gibt unsereins in den Regionen, die wir uns nicht einmal die notwendige medizinische Behandlung, hochwertige Kleidung oder Essen für unsere Kinder leisten können. Von Bildung jenseits der nächsten Großstadt ganz zu schweigen, dafür ist einfach kein Geld da. Deshalb denke ich nicht, dass Lukaschenko der allerschlimmste Menschenfresser im Land ist, und all diese Vorsitzenden der Gebietsverwaltungen nur ganz kleine – in meinem Kopf sind sie alle gleich. Jeder Verwaltungsbeamte ist in seinem Amt ein kleiner Lukaschenko. 

    Das ist ja auch eine spezifische Art Mensch, noch dazu sorgsam ausgewählt. Ich habe sie oft gefragt: „Wie wird man in Belarus Staatsbeamter?“ Ich weiß nicht, warum das so ist, aber sie beantworten diese Frage nicht. Es gibt keine Wahlen, alle Rajonchefs werden ernannt. Und die Ratsmitglieder werden so gewählt, wie die Präsidenten – dort sitzen immer diejenigen, die dort sitzen sollen. Und zwar 20 Jahre lang dieselbe Person, dann wechselt eine Abgeordnete in die Kreisverwaltung und ihre Tochter übernimmt das Ratsmandat. Sie werden wirklich ausgewählt. Und es ist kein Geheimnis, dass es nach dem Prinzip geht, dass unter dir niemand klüger sein darf, als du selbst. Jeder etwas gescheitere Beamte ist eine Bedrohung für seinen Vorgesetzten. 

    Warum reden die Beamten immer noch mit dir?

    Das ist unterschiedlich. Manche Stellen erreicht man telefonisch überhaupt nicht – vielleicht haben sie eine Mitteilung aus dem Ministerium erhalten, die Gespräche mit uns zu unterbinden. In der Gebietsverwaltung von Gomel ist das zum Beispiel so. Andere erhalten scheinbar sogar Prämien, wenn es ihnen gelingt, uns schlagfertig zu antworten. Im Wirtschaftsministerium gibt es so eine, Tatjana Wiktorowna Branzewitsch, sie begrüßt mich wie eine alte Bekannte. Sie erzählt mir das Blaue vom Himmel, aber es klingt doch immer wie ein vorbereiteter Text. Sie redet wie ein Wasserfall, du kannst sie kaum unterbrechen, und dabei beantwortet sie immer die Fragen. 

    Weißt du, ich habe eigentlich keine hohe Meinung von deren geistigen Fähigkeiten. Es gibt so ein Sprichwort: „Dummheit versteckst du nicht – dafür reicht der Verstand nicht“. 2021 gab es eine interessante Situation, als wir im Verteidigungsministerium angerufen haben, damals habe ich begriffen, dass die größten Feiglinge in Belarus die Leute mit den Schulterklappen sind. Im Ministerium für Katastrophenschutz, im Innenministerium und im Verteidigungsministerium geht jetzt kaum noch jemand ran, doch gleich nach den Ereignissen von 2020 haben sie sich dort gegenseitig den Hörer aus der Hand gerissen, um uns irgendwas zu beweisen. Es war ihnen wichtig zu reden, sie glauben wirklich, im Recht zu sein. 

    Es gab auch Fälle, in denen die Beamten dachten, sie hätten schon aufgelegt, obwohl dem nicht so war. Dadurch haben wir zum ersten Mal gehört, dass es für sie eine große Ehre ist, wenn die Pauk angerufen hat. Nach ihm habe ich angerufen, in der Gebietsverwaltung von Mogiljow, und mich als gewöhnliche Bürgerin ausgegeben. Und als die Beamtin dachte, dass ich sie schon nicht mehr höre, sagte sie: „Wir melden sie dem KGB“, und nannte sogar den Namen eines KGB-Beamten. Dieser Anruf gab uns zu verstehen, wie das System heute arbeitet: Mich, Olga Pauk, wollten sie nicht an den KGB melden, dafür aber die gewöhnliche Belarussin, die über die Hotline eine Beamtin anruft. 

    Die Belarussen brauchen uns, weil uns allen nicht nur bei den Wahlen die Stimme geraubt wurde – den Belarussen wurde auch die physische Stimme genommen. Du kannst nicht den Mund aufmachen und eine Frage stellen, denn wenn du es wagst, melden sie dich dem KGB. Wir bekommen regelmäßig Feedback von den Menschen im Land, sie schreiben oft: „Gott sei Dank drückt ihr sie mit ihrer Schnauze in die Kacke – wir können es nicht, aber wir sehen, dass ihr es tut.“ 

    In deinen Videos sprichst du das „g“ frikativ als „ch“ und hast so eine Art Dienststellenakzent – wenn ich jetzt mit dir spreche, höre ich nichts davon. Sprichst du absichtlich so mit ihnen? Ist das hilfreich?

    Diese reibenden Frikative sind meine natürliche Aussprache. Ich bin im Dorf aufgewachsen und bin in eine belarussischsprachige Schule gegangen. Deshalb ist das „ch“ nicht verschwunden (lacht). Ich weiß noch, als ich in Mosyr studierte, wurde ich wegen meiner Aussprache immer gefragt: „Woher kommst du eigentlich?“

    Ich habe auch Hänseleien erlebt. Als ich klein war, bin ich zur Kinderkur gefahren, aber nicht mit der Klasse, sondern allein. Ich stand nicht auf der Liste der „Tschernobylkinder“, deshalb haben meine Eltern selbst für die Aufenthalte bezahlt. Ich kam also dorthin, und alles war auf Russisch – die Kinder und der Matheunterricht. Ich ging ja in eine belarussische Schule, deshalb war das für mich eine neue Welt. Die anderen Kinder lachten mich aus, und ich verstand nicht, warum – dann stellte sich heraus, dass es an meiner Sprache lag. Die belarussische Sprache ist auch eine Charakterprobe.

    Mit dir spreche ich Russisch – „rasgowariwaju“, aber wenn ich mit meinen Verwandten oder alten Freunden rede, dann auf Belarussisch – „chawaru“. Das ist okay für mich. 

    Und wenn du auch mit mir Trassjanka sprechen würdest – wäre das dann ein Gefühl, wie als Kind im Sanatorium?

    Wenn du willst, dann kann ich das! (Sie spricht die Buchstaben frikativ und die Vokale hart und lacht) Wahrscheinlich geht es mir darum, dass die Leute sich wohlfühlen. Ich will, dass sie den Inhalt hören, und nicht darauf achten, wie ich ihn formuliere. Wenn ich in irgendeinem weit entfernten belarussischen Rajon anrufe, dann weiß ich, dass diese Sprache dort einfach besser passt, weil sie die Leute nicht aus ihrer gewohnten Bahn wirft. Es gab Fälle, da habe ich in irgendeinem Dorf angerufen und „normal“ gesprochen und wurde sofort gefragt: „Als was arbeiten Sie? Das ist etwas verdächtig, solche Leute rufen uns normalerweise nicht an“. Deshalb passe ich mich an die Umgebung an.

    Vielleicht liege ich falsch, aber du wirst seltener abgewimmelt als Andrej – woran liegt das? Ich habe wieder eine Gender-Theorie, dass ein Beamter es sich nicht erlauben kann, eine Frau und Mutter zu beschimpfen. 

    Ich denke, ich bin listiger. Andrej ist eher direkt, außerdem ist er von Anfang an gehässig und sarkastisch. Ich will sie ja aber an die Angel kriegen – fies werden kann ich dann später. Bezüglich der Frauen stimme ich dir zu – in Gesprächen mit Beamten hört man häufig diesen überheblichen, süffisanten Ton. Sie halten sich ja a priori für klüger, und das kommt mir nur gelegen. Da sitzt er in seinem Büro, den Schlips über dem Bauch, und hält sich für einen erfolgreichen, tollen Typen: „Oh, da ruft ein Weib an, da halt ich mal ein kleines Schwätzchen.“

    Ich glaube, dank diesem Prinzip hat es Tichanowskaja auch auf die Wahlzettel geschafft (lacht). Mit wem sind die Gespräche am konfliktreichsten – mit den Silowiki? 

    Psychophysiologen geben die Antwort vor, das Niveau der allgemeinen Entwicklung eines Menschen hat starken Einfluss auf das Aggressionsniveau. Und wen nimmt das Innenministerium? Tendenziell Jungs aus der Provinz, die entweder zur Berufsausbildung an ein Polytechnikum gehen oder nach der Armee ein halbes Jahr zum Innenministerium. Natürlich wählen viele die zweite Option, wo es eine Wohnung und andere Boni gibt. Irgendwo habe ich mal gelesen, und das hat mir sehr zu schaffen gemacht, dass die Silowiki von heute Dorfjungs sind, die die Stadtjungs fertigmachen können und dabei aufrichtige Genugtuung empfinden. Ich dachte immer, wenn man etwas mehr lernen kann, als einen Stock zu schwingen, dann wird man das wahrscheinlich tun. 

    Es ist ungerecht, dass für einen Teil der Gesellschaft Diktatur herrscht und für den anderen Teil scheinbar nichts passiert ist

    Aber ich kann nicht sagen, ob die Silowiki oder jemand anders am konfliktträchtigsten sind. Vieles hängt von der Persönlichkeit ab. Man kann das nicht konkreten Bereichen zuordnen. Aus meiner Sicht unterscheidet sich das Maß an Menschlichkeit eher geografisch. Die schlimmsten Gebiete sind Gomel, Mogiljow und Witebsk, die immer unter russischem Einfluss standen. Das furchtbarste Gespräch meines Lebens war mit der Amtsvorsteherin der Gomeler Gebietsverwaltung. Damals hatte gerade der Krieg begonnen, und ich dachte: „Oje, was werden sie mir jetzt sagen, wo doch ihr zentrales ideologisches Narrativ in die Binsen gegangen ist.“ Also fragte ich sie, was sie empfinden, und dachte, dass ich damit wenigstens etwas Menschliches in ihnen finden kann – doch ich fand es nicht. Danach rief ich in Bobrujsk an, die Leute schrieben mir damals die ganze Nacht lang, dass sie nicht verstehen, was vor sich geht, jemand hatte schon 54 russische Militärflugzeuge gezählt, die gelandet waren. „Sie, als lokale Regierung, welche Position haben Sie dazu? Was soll die lokale Bevölkerung in dieser Situation tun?“ – „Welche Flugzeuge? Wir haben nichts gesehen! Nennen Sie mir den Namen des Piloten.“ Die Antworten wurden immer absurder.

    Im Westteil von Belarus waren die Menschen schon immer offener. In den Gebieten Brest und Grodno haben alle eine Karta Polaka oder sind mit Litauern verbandelt, sie reisen öfter. Auch die Beamten sind dort freundlicher und bescheidener. Sie lassen sich praktisch nie zu Rüpeleien hinreißen, genau wie im wohlerzogensten der Ministerien, dem für Auswärtiges. Dort hat scheinbar sogar die Reinigungskraft Fremdsprachenkenntnisse (lacht). Wer immer auch den Hörer abnimmt, du wirst auf höchstem Niveau bedient. Sie legen auch niemals einfach den Hörer auf, weil sie immerhin gut erzogen sind. 

    Gibt es Videos, die du nicht veröffentlicht hast, weil du dachtest, dass der befragte Beamte aufgrund des Gesprächs Repressalien ausgesetzt werden könnte?

    Das kümmert mich nicht. Es gab einen Fall, da habe ich eine Beamtin angerufen, aus Chojniki oder Narowlja. Andrej sagte danach: „Sie war doch nett, und du stellst ihr solche Fragen. Vielleicht kriegt sie eins auf den Deckel“ – „Okay.“ Sie ist eine Beamtin, und dass sie dafür auf den Deckel kriegen könnte, macht mir nicht viel aus, weil ich nicht denke, dass man jemanden von ihnen in Schutz nehmen muss. Ich bin sehr wütend auf die Menschen, die es sich aktuell leisten können, ein gewöhnliches Leben in Belarus zu führen. Es ist ungerecht, dass für einen Teil der Gesellschaft Diktatur herrscht (inklusive Tod und jahrelangen Haftstrafen) und für den anderen Teil scheinbar nichts passiert ist. Beamter zu sein oder nicht – diese Wahl treffen sie jeden Tag. Und sie tragen die Verantwortung für ihre Entscheidung. 

    Wie viele dieser Verwaltungsbeamten gibt es eigentlich in Belarus? Ich mag vermutlich einfach nicht glauben, dass es in dieser riesigen Menge keine passablen Menschen gibt. 

    Es gibt insgesamt 118 Rajons, jeder hat sein Verwaltungsamt, und das ist ein ganzes Gebäude voller Beamter (2020 wurden in Belarus 37.000 Staatsbedienstete gezählt, Anm. KYKY). Ein Beispiel: Ich weiß genau, dass 2021 alle aus den Schulen und Universitäten entlassen wurden, die Anzeichen kritischen Denkens gezeigt haben, und ich erinnere mich an keinerlei Mitgefühl für diese Menschen seitens der Beamten. Wenn ein Leser oder eine Leserin dieses Textes andere Beispiele kennt, schreibt sie mir bitte. Ich habe keine andere Perspektive kennengelernt, und da spreche ich nicht nur über die Anrufe, ich hatte seit 2015 sehr viel mit Verwaltungsmitarbeitern zu tun. Ich war in ihren Amtszimmern, auch in Ministerien. 

    Jeder Mensch, der heute in einem Amtssessel sitzt, gestaltet unsere Wirklichkeit 

    Vielleicht gab es früher auch Gute unter ihnen. Unser Baranowski (der ehemalige Vorsitzende der Kreisverwaltung Oktjabrski) zeigte am Anfang auch Anzeichen von angemessenem Verhalten. Einmal bot er mir sogar einen Job im sozialen Bereich an. Aber dann beendete ich eine Ausbildung und fand heraus, wie man auf regionaler Ebene mit Europa zusammenarbeiten kann, und begann, mit Präsentationen zur Kreisverwaltung zu gehen: „Ich kann Sie unterstützen, wir führen Solaranlagen ein und sanieren die Kinderstation des Krankenhauses“, woraufhin sie mir mit großen Augen antworteten: „Wir haben alles, wir brauchen nichts“.

    Ich habe irgendwie den Eindruck, dass du Mitleid mit ihnen hast.

    Manchmal höre ich von Belarussen den Satz: „Das sind doch auch Menschen!“ Und jedes Mal steigt in mir eine Welle der Entrüstung auf. Was seht ihr da in ihnen? Ja, biologisch sind sie Menschen wie wir, aber moralisch? Man kann das auf einer Metaebene diskutieren, im Kontext der Demokratie – aber ich denke konkret an meine eigenen Kinder, die ihre Freunde und ihr gewohntes Umfeld verloren haben. Mein ältester Sohn hat bis heute psychische Probleme durch den Umzug. Ich selbst habe meine Mutter verloren, sie kann uns nicht besuchen kommen und ich weiß nicht, ob ich sie noch einmal sehen werde. Ich habe Freunde verloren, einige wurden inhaftiert, weil sie mit mir zu tun hatten. Über was für Menschen reden wir hier also, und warum sollten sie mir leidtun? Selbst diese Schlapakowa (Vorsteherin in der Kreisverwaltung Oktjabrski) würde mich als Erste an der Birke aufhängen. 

    Ich glaube, dass sie keine Angst haben. Sie denken, da kommen diese Liberalen, die können uns nichts tun, sie werden uns vergeben, denn sie sind ja nicht blutrünstig. Solche Ansichten habe ich von Beamten gehört. Ich denke, dass jeder von ihnen vor Gericht kommen sollte, auch wenn das teuer, langwierig und schmerzhaft ist. 

    Ich mag ehrlich gesagt den Gedanken, dass wir nicht solche Menschenfresser sein werden, wie die Leute, die jetzt an der Macht sind. 

    Mir gefällt dieser Gedanke auch (lächelt). Wenn ich einmal sehr, sehr alt bin, kann ich darüber vielleicht ein Buch schreiben, in dem ich Verständnis und Vergebung für alle aufbringe, aber nicht heute. In diesem Moment kann ich die Situation nicht aus philosophischer Sicht betrachten. Ein faires Verfahren ist sicher nicht das, was wir heute von den Lukaschisten bekommen. Wir werden sicher nie so werden wie sie. 
    Meine Erfahrungen sind auch deshalb traumatisch, weil ich nicht in Minsk oder Retschiza oder irgendeiner anderen Stadt mit einem Minimum an Infrastruktur aufgewachsen bin. Bei uns in Oktjabrski gab es nicht einmal Rettungswagen. Ich weiß noch, wie eines Tages ein paar Onkel aus dem Ministerium in unseren Rajon kamen, und die Leute zusammengerufen wurden, um sie zu treffen. Da fragte eine Frau in entschuldigendem Tonfall: „Meine Tochter hat Asthma, wir müssen zwei Mal im Jahr nach Gomel zur Untersuchung fahren, aber wir schaffen es nur ein Mal – das Geld reicht nicht.“ Wenn ich also unglückliche Kinder sehe, deren Eltern trinken, weil es außer im Kolchos keine Arbeit gibt, oder abscheuliche Lehrer, die Kinder mit dem Kopf auf die Schulbank schlagen, weil es nicht mal einen Hauch von Bildung gibt … Man kann auf Menschen schimpfen, aber ich bestehe darauf, dass alles in der Politik begründet liegt. Ob du über Asphalt läufst oder in weißen Strumpfhosen durch Kuhfladen zur Schule gehst, weil es im Agrostädtchen keine Fußwege gibt, ob du 20 Minuten in einem richtigen Rettungswagen zur Geburtsklinik fährst oder zwei Stunden in einem alten sowjetischen Transporter, unter welchen Bedingungen deine Oma an Krebs stirbt – all das ist Politik. Jeder Mensch, der heute in einem Amtssessel sitzt, gestaltet unsere Wirklichkeit. Egal, ob er dumm ist, unselbständig oder unfähig, Gut und Böse zu unterscheiden. Jeder.

    Früher hast du gesagt, dass du „die Evolution des Beamten in einer konkreten Stadt“ beobachtet hast. Wie sah das damals aus, und wie ist es heute?

    Bis 2020 haben sich in unserem Rajon einige Beamte verändert, wenigstens in der Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit – und das war nur der Verdienst der Menschen selbst. Unser Baranowski war der einzige im Land, der die tatsächlichen Covid-Zahlen herausgab – weil ich eine Chatgruppe auf Viber erstellt hatte, die innerhalb eines Tages 4500 Menschen abonnierten. Ich bekam Informationen aus dem Gesundheitsdienst und von den Rettungsstellen, und er musste die Wahrheit sagen, weil die Wahrheit einfach schon in meinem Chat stand. 

    Ich habe Albträume von Belarus

    Im Rajon Oktjabrski hat es 2017–2018 zwei erfolgreiche Revolutionen gegeben. Im ersten Fall waren Funktionäre in den einzigen erfolgreichen Kolchos des Rajons gekommen und hatten verkündet: „Wir schicken euren Direktor in Pension, ihr bekommt einen neuen.“ Die Leute waren verärgert, denn sie sahen, wie es in den anderen Kolchosen lief, und wollten das nicht. Also riefen sie uns an: „Kommen Sie her, morgen früh werden wir unseren Wassiljewitsch verteidigen.“ Sie traten in einen Streik, hörten auf, die Tiere zu füttern, die Traktoristen kehrten von den Feldern zurück: „Wir werden erst wieder arbeiten, wenn ihr uns unseren Direktor zurückgebt.“ Die Führungsriege aus dem Rajon und aus dem Gebiet wurde ins Dorf geschickt, doch die Leute hielten stand. Wir informierten die Medien, und eine Funktionärin – sie war in einem weißen Mantel angereist – schrie ins Belsat-Mikrofon: „Filmt mich nicht! Ich bin in Rente!“ Und unsere Frauen antworteten ihr: „Du bist in Rente und arbeitest, aber unseren Chef willst du wegschicken?“ Die Leute streikten 16 Stunden lang, dann bekamen sie den Direktor zurück. Das war eine richtige Bauernrevolution. Später passierte dasselbe auch in einem anderen Dorf, aber dort waren keine 16 Stunden Streik nötig, die Arbeiter sagten einfach: „Ihr könnt uns gar nichts“, – und sie konnten ihnen nichts. 

    Die Verwaltungsbeamten entwickelten sich weiter, weil sich die Gesellschaft in unserem Rajon veränderte, sie erlaubte ihnen nicht mehr, sie so zu behandeln, wie bisher. Soweit ich weiß, wurde es zeitweise als Bestrafung betrachtet, in unserer Kreisverwaltung zu arbeiten: ließ sich ein Beamter etwas zuschulden kommen, dann musste er nach Oktjabrski, wo man ihm zeigte, wie der Hase läuft (lacht). 

    Bis 2020 hatte Reputation in Belarus noch eine gewisse Bedeutung, zwar recht schwach, aber doch funktional – die Beamten mussten ihr Gesicht wahren. Jetzt sind alle Fesseln gefallen, sie machen, was sie wollen. Aber wir wollen nicht, dass sie uns vergessen, dass sie denken, „die haben das Land verlassen, weiter geht’s“ – nein, so geht es nicht. Ich habe Albträume von Belarus, und wenn ich ehrlich bin, dann bin ich nervös, wenn ich dort anrufe. Am Samstagmorgen wache ich vor Sendungsbeginn mit dem Gedanken auf „Mist, es geht wieder los“, und ich muss mich fast übergeben. Aber die Beamten fühlen dasselbe, da bin ich sicher. Vielleicht komme ich ja auch in deren Albträumen vor (lacht). Und das hat nichts Edelmütiges: Wenn ich schon nichts gegen ihre Macht tun kann, ihnen aber zumindest die Stimmung versauen kann – dann tue ich das. Es ist eine Möglichkeit, an ihr Gewissen zu appellieren, auch wenn ich ein solches bislang noch nicht bei ihnen entdeckt habe. 

    Weitere Themen

    „Wer gehen will, geht leise“

    Mit System gegen das System

    Auf dem Weg in die volle Kontrolle?

    „Als wäre es ein Horrorfilm“

    Bystro #30: Warum ist Lukaschenkos Machtapparat derart stabil?

    Harter Kurs voraus

  • Debattenschau № 90: Welchen Sinn haben Wahlen in einer Diktatur?

    Debattenschau № 90: Welchen Sinn haben Wahlen in einer Diktatur?

    Am Wochenende wurde in Russland der sogenannte „einheitliche Wahltag” veranstaltet: In 21 Regionen wurde über die Regionsoberhäupter entschieden und die Zusammensetzung von 16 Regionalparlamenten neu bestimmt. Vor der Präsidentschaftswahl 2024 testet der Staat seine Kontrolle über das Land. Und die Opposition testet seine Schwachstellen. Unter Menschen, die dem Kreml gegenüber kritisch eingestellt sind, wird schon lange debattiert, ob die unfairen und manipulierten Wahlen boykottiert werden sollten, oder ob man sich allen Wahlfälschungen zum Trotz beteiligen sollte, um den Betrügern wenigstens so viele Schwierigkeiten zu machen wie möglich. Auch der prominenteste Oppositionspolitiker Alexej Nawalny forderte aus dem Gefängnis heraus seine Unterstützer auf, zur Wahl zu gehen und für die Kandidaten zu stimmen, die der Kreml-Partei Einiges Russland am ehesten Konkurrenz machen.

    In der Debattenschau stellt dekoder die Argumente der politischen Beobachter Alexander Kynew und Grigori Judin und der Moskauer Lokalpolitikerin Julia Galjamina vor. Ihre Beiträge haben sie bereits vor der Wahl für den Think Tank Kollektiwnoje deistwije (dt. kollektives Handeln) verfasst. Darüber, dass die Scheinwahlen, die in den besetzten Gebieten auf ukrainischem Staatsgebiet inszeniert wurden, illegal sind und boykottiert werden sollten, herrschte unter demokratischen Oppositionellen Einigkeit.


    Alexander Kynew: Die Wahlen sind eine Gelegenheit, etwas über die russische Gesellschaft zu erfahren

    [bilingbox]Wahlen sind keine bloße Formsache, sondern eine Gelegenheit, die Stimmung in der Gesellschaft zu messen, eine riesige soziologische Umfrage. Wie soll man etwas über eine Gesellschaft erfahren, wenn man sich nicht die Wahlen anschaut? Bei allen Problemen mit Wettbewerb und Abhängigkeit von der Staatsmacht zeigen Wahlen, wie repressiv ein System ist. Und sie spiegeln wider, wie homogen oder heterogen eine Gesellschaft ist. Selbst wenn das Messinstrument nicht ideal ist, kann es bei regelmäßiger Benutzung eine Dynamik aufzeigen.

    Wenn wir von den Wahlen sprechen, müssen wir zunächst die föderalen Wahlzyklen verstehen. Ein Zyklus dauert fünf Jahre und beginnt mit den Wahlen in die Staatsduma. Innerhalb dieses übergeordneten föderalen Zyklus finden alljährlich in unterschiedlich vielen Verwaltungseinheiten Regionalwahlen statt. 2021, im ersten Jahr des aktuellen Wahlzyklus, haben 39 Regionen ihre Parlamentswahlen zeitgleich mit den Wahlen in die Staatsduma abgehalten. Das erhöht den Einfluss der landesweiten Propaganda insbesondere in Regionen wie Sankt Petersburg, Perm und Krasnojarsk. Die Wahlen im zweiten Jahr betrafen die wenigsten Regionen und waren am unspektakulärsten: Von sechs Regionen sind vier in fester Hand der Regierungspartei, und die Höhe der Wahlbeteiligung entspricht dem Wahlergebnis für den Sieger.

    Es ist nun das dritte Jahr des Zyklus, in dem die Regionen wählen, die 2018 gewählt haben. Damals war gerade die Rentenreform beschlossen worden und Leute wie Sergej Furgal (Chabarowsk) und Walentin Konowalow (Republik Chakassien) wurden regionale Oberhäupter. Diesmal wurden 16 Parlamente neu gewählt, wenn man die annektierten Regionen in der Ukraine einmal beiseite lässt.

    Was die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk und die Oblaste Cherson und Saporischschja angeht, die Russland unrechtmäßig angegliedert hat: Dort gibt es keine klaren Grenzen, es gibt keine Wählerlisten, viele Menschen sind auf der Flucht, niemand weiß, wie viele Wahlberechtigte es dort überhaupt gibt. Wie soll ein Wahlkampf unter den Bedingungen von Kämpfen, Kriegszustand und Ausgangssperre aussehen? Ich bezweifle, dass überhaupt eine Wahl im eigentlichen Sinne stattfindet. Natürlich bekommen wir Protokolle, aber was bei diesen Wahlen wirklich passiert, bleibt ein Geheimnis.

    Was das russische Staatsgebiet betrifft: Nur zwei der 16 teilnehmenden Subjekte wurden fest von der Regierungspartei kontrolliert – die Republik Baschkirien und die Oblast Kemerowo. Auch die Oblast Rostow gehörte bis zuletzt dazu, aber jetzt pendelt sie in Richtung Protest. Dort ist die Situation wegen der Flüchtlingsströme und der wachsenden Kriminalität angespannt, nicht zuletzt hatte Prigoshins Aufstand dort seinen Anfang genommen.

    In den übrigen 13 Regionen gibt es im Zuge der Wahlen durchaus einen gewissen Wettbewerb. Die meisten dieser Regionen liegen in Sibirien oder Fernost, wie die Republiken Chakassien, Burjatien und Jakutien, die Region Transbaikalien und die Oblast Irkutsk. Auch in vielen Gemeinden, etwa in Krasnojarsk oder Abakan, gibt es unter den Kandidaten eine gewisse Konkurrenz.  So auch in der Oblast Archangelsk und dem Autonomen Kreis der Nenzen, wo 2020 die Mehrheit gegen die Verfassungsänderungen stimmte. Weliki Nowgorod und Jekaterinburg sind zwei Regionen, in denen die Fraktion Jabloko vertreten sind.

    In den Regionen, in denen es politischen Wettbewerb gibt, ist im Vergleich zu 2022 eine Belebung des politischen Lebens zu beobachten, wie man an den aktuellen politischen Kampagnen sehen kann. Ich sehe zwei Hauptgründe für diesen Aufschwung: Der erste Grund ist historisch und geografisch bedingt. Einige Regionen – wie der hohe Norden – waren schon immer protest- und wettbewerbsfreudiger, die dortige Bevölkerung ist aktiv. Der zweite Grund ist die Stabilisierung des politischen Systems. Im vergangenen Jahr standen viele Menschen unter Schock und wussten nicht, wie es weitergehen soll. Jetzt sehen sie, dass das Regime stabil ist und nicht einfach so verschwindet. Es wird sich wahrscheinlich von innen heraus verändern, seinen eigenen Gesetzen folgend.

    Unterschiede zwischen den Kandidaten in Bezug auf die „militärische Spezialoperation“ sucht man vergeblich. Die meisten sprechen darüber einfach nicht. Die Trennlinie verläuft zwischen denen, die sie aktiv unterstützen, und denen, die zur Normalität zurückkehren wollen. Niemand kämpft entschlossen für das Ende der Spezialoperation. Die Parteien verhalten sich unterschiedlich: Die einen verbünden sich mit der Regierungspartei, die anderen setzen auf die Unterstützung der Wirtschaft. Aber es gibt keine Partei, die sich für den Frieden einsetzt. 

    Insgesamt hat die außenpolitische Thematik nichts mit den Regionalwahlen zu tun: Die Organe auf dieser Ebene haben keinen Einfluss auf derartige Entscheidungen. Sie kümmern sich um lokale Probleme wie Straßensanierung oder den Bau von Krankenhäusern. 

    Bei den Gouverneurswahlen, bei denen es keinerlei Wettbewerb gibt, ist die Spezialoperation im Wahlkampf kein Thema, höchstens als Schutzreaktion: Viele Gouverneure haben Angst, jemand könnte sie denunzieren oder sich über sie beschweren, also sichern sie sich ab, ziehen Uniformen an, besuchen in Camouflage Krankenhäuser und fahren an die Front.

    Der Rest der Wahlkampagne dreht sich um die soziale Absicherung: Unterstützung für die Familien derer, die eingezogen oder getötet wurden, Ferienprogramme für Kinder aus solchen Familien oder Hilfe für bestimmte soziale Gruppen aus der Ostukraine. Es gibt viele solcher Initiativen, ich würde sie als Teil der Sozialpolitik betrachten. Lokale soziologische Studien zeigen, dass Bedarf an Hilfe für Kriegsgeschädigte besteht und von den Menschen positiv aufgenommen wird. Wenn man die globalen Dinge schon nicht beeinflussen kann, will man wenigstens den Opfern helfen – diese Überzeugung herrscht auf regionaler Ebene.~~~Выборы — это не просто формальность, — это уникальный способ измерения общественных настроений, гигантский соцопрос. Как вы что то можете знать об обществе, если вы не изучаете выборы? При всех проблемах с конкуренцией и зависимостью от власти, выборы показывают степень контроля над обществом, отражают степень однородности или разнообразия общества. Даже если инструмент измерения не идеален, он может показать динамику, если используется постоянно.

    Когда речь идет о предстоящих выборах, важно понимать концепцию федерального электорального цикла. Он длится пять лет и считается от выборов Государственную думу. Внутри этого федерального большого цикла ежегодно неравномерными группами проходят выборы по регионам. В 2021 году, в первый год цикла, 39 регионов провели выборы своего парламента одновременно с Госдумой. Так происходит в последние годы, чтобы использовать преимущества федеральной пропаганды, особенно в таких регионах как Санкт-Петербург, Пермский и Красноярский край. Потом идет второй год цикла, он самый маленький и самый неинтересный: из шести регионов, четыре — это жестко управляемые, где процент явки совпадает с максимальными процентами за победителя.

    Сейчас третий год цикла, завершается срок полномочий в тех регионах, которые голосовали после пенсионной реформы в 2018 году. В этот период были избраны такие фигуры, как Фургал (Хабаровский край) и Коновалов (Республика Хакасия). Выборы пройдут в 16 законодательных собраниях, и если учесть объявленные присоединенными области Украины, их станет 20. Кроме того, будут выборы в городские советы крупных городов.

    Что касается ЛНР, ДНР, Херсонской и Запорожской областей, объявленных присоединенными, тут есть много вопросов. В первую очередь, отсутствие четких границ делает невозможным формирование одномандатных округов. Поэтому выборы будут проводиться только по партийным спискам, как областных советах, так и на городских местных выборах. Еще одной проблемой являются списки избирателей: из-за миграции по линии фронта никто точно не знает, сколько людей находится на территории этих областей. Конкуренции там, вероятно, не будет. Какая может быть агитационная кампания в условиях военных действий, военного положения и комендантского часа? Я сомневаюсь в том, что голосование в привычном понимании этого слова вообще состоится. Конечно, будут оформлены протоколы, но что на самом деле произойдет на этих выборах, остается загадкой.

    Не считая эти территории, из 16 участвующих субъектов только два — Республика Башкортостан и Кемеровская область — строго контролируются властью. Такой была и Ростовская область, но сейчас она колеблется в сторону протестности. Там сложная ситуация из-за миграции, ухудшения криминогенной обстановки, плюс там как раз начинался Пригожинский мятеж.

    Оставшиеся 13 регионов являются конкурентными в плане выборов. Большинство из них находятся в Сибири и на Дальнем Востоке, включая Хакасию, Забайкальский край, Бурятию, Якутию и Иркутскую область. Кроме того, многие муниципалитеты, такие как Красноярска и Абакана, также являются конкурентоспособными. Также конкуренция есть в Архангельской области и Ненецком автономном округе — в 2020 году там голосовали против изменений в Конституции. Великий Новгород и Екатеринбург — два региона, где представлена фракция Яблоко.

    В конкурентных регионах происходит оживление политической жизни по сравнению с прошлым годом, если судить по текущим политическим кампаниям. Я вижу две основные причины этого оживления. Первая причина историко-географическая. Так сложилось, что некоторые регионы, например Крайний Север, всегда были более протестны и конкурентоспособны, там живут активные люди. Вторая причина — это стабилизация политической системы. В прошлом году многие были в шоке и не знали, что делать дальше. Сейчас же стало понятно, что режим устойчив и не собирается никуда исчезать. Он, скорее всего, будет меняться изнутри, следуя своим внутренним законам. Поэтому дискурс меняется в сторону того, как выживать, и какие должны быть ставки в этом выживании.

    Искать различия между кандидатами на основе их отношения к СВО бессмысленно, так как большинство из них об этом просто не говорят. Основное разделение происходит между теми, кто активно поддерживает спецоперацию, и теми, кто за возвращение к нормальной жизни. Радикальных борцов за прекращение СВО нет просто из-за рационального поведения игроков. Партии ведут себя по-разному: одни ассоциируют себя с властью, другие строят кампанию на поддержке бизнеса. Но нет такой партии, которая бы выступала за мир. Есть партии войны, которые конкурируют друг с другом. И есть несколько партий здравого смысла. 

    В целом, внешнеполитическая тематика не имеет никакого отношения к региональным выборам: органы этого уровня не влияют на принятие таких решений. Идти на местные выборы с внешнеполитической повесткой — это вводить избирателей в заблуждение. Региональные органы власти решают локальные задачи, такие как ремонт дорог или строительство больницы.

    Там, где это выборы неконкурентные, губернаторские, СВО в избирательной кампании не для избирателей, а для системы. Это защитная реакция: многие губернаторы боятся, что на них кто-то донесет, пожалуется, поэтому они перестраховываются, надевают камуфляж, посещают госпитали и ездят на фронт.

    В остальном, агитационная история касается социальной защиты. Защита семей тех кто призван или погиб, выделение путевок детям из этих семей или помощь конкретным социальным группам из Восточной Украины. Таких инициатив много, и я бы рассматривал их как часть социальной политики. Судя по локальным социологическим исследованиям, запрос на помощь пострадавшим существует и вызывает одобрение людей. Раз на глобальные вещи повлиять не могут, то надо помогать тем, кто пострадал — такое убеждение присутствует на региональном уровне.[/bilingbox]


     

    Die Verlesung der Wahlergebnisse am 11. September 2023 / Foto © Maksim Blinov/Sputnik Moscow Russia/imago-images

    Grigori Judin: Russland braucht erfahrene Demokraten in Freiheit, nicht im Gefängnis

    [bilingbox]Für die Regierung sind Wahlen unabdingbar, weil die Legitimität in Russland auf demokratischen Prinzipien basiert. Das bedeutet nicht, dass bei uns Demokratie herrscht, aber darauf basiert eben die Legitimität der Regierung. Die Regierung behauptet, allen Entscheidungen würden auf Grundlage des Volkswillens getroffen. Daher müssen regelmäßig Wahlen stattfinden. Der Erste, der ein solches System eingeführt hat, war im 19. Jahrhundert Napoleon III. in Frankreich. Es war dem im heutigen Russland sehr ähnlich. Das gesamte Verwaltungssystem des Landes ist an der Durchführung dieser Wahlen beteiligt, um die demokratische Legitimität der Regierung zu unterstützen.

    Andererseits sehe ich einen Bedarf an echter Demokratie in Russland, der vor allem von unten kommt, nämlich auf der Ebene der regionalen Selbstverwaltung. Das ist weniger die Forderung nach fairen Wahlen als vielmehr der Wunsch, auf regionaler Ebene selbständig entscheiden zu können. Vor dem Hintergrund der Wahlfälschungen bleibt dieses Bedürfnis nach Demokratie leider oft unbemerkt. Aber es ist real und stimmt optimistisch. 

    Ich bewundere das Engagement von Menschen, die sich derzeit aktiv am politischen Leben beteiligen, und glaube daran, dass gerade solche Menschen in der Zukunft etwas verändern können. Derzeit jedoch, unter den aktuellen Bedingungen, wird ihr Tun wohl kaum zu wesentlichen Veränderungen führen. Ich will die Aktivisten nicht kritisieren und sie nicht öffentlich von ihrer Mission abbringen, aber sie gefährden sich selbst: Während sie früher ihren Job riskierten, landen sie jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach im Gefängnis. Gerade weil ich ja glaube, dass sie die Zukunft in der Hand haben, will ich nicht, dass sie in Haft sitzen. 

    Was den Zusammenhang zwischen den aktuellen Wahlen und dem bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf betrifft, so sind die aktuellen Wahlen für die Verwaltung eine Art Probelauf. Es geht nicht nur um die Darstellung der Ergebnisse, sondern auch um das Funktionieren des Systems. Peskow nannte das eine „kostenintensive Bürokratie“, und ich gebe ihm Recht. Das ist nicht nur Bürokratie, sondern eine Investition ins System. Wenn man das billig machte, würde das System nicht funktionieren – nicht, weil es nicht billiger ginge, sondern weil genau das der Sinn dahinter ist. Jetzt, ein halbes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen, ist es an der Zeit, die Funktionsfähigkeit des Systems unter den neuen Bedingungen zu testen, vor allem mit Rücksicht darauf, dass das System unter Stress steht. Doch das nächste große Plebiszit wird unter einem ganz anderen Druck stattfinden. ~~~Для правительства выборы необходимы, потому что в России легитимность строится на демократических принципах. Это не означает, что у нас демократия, но именно так устроена легитимация правительства. Правительство утверждает, что все решения принимаются на основе воли народа. Поэтому требуется регулярное проведение голосований. Такая система была впервые введена Наполеоном III во Франции в 19 веке и очень похожа на то, что происходит в России сейчас. Вся административная система страны работает на проведение этих выборов, чтобы поддерживать демократическую легитимность правительства.

    С другой стороны, я вижу запрос на настоящую демократию в России, который исходит, прежде всего, снизу — с уровня местного самоуправления. Это не столько требование честных выборов, сколько желание иметь возможность самостоятельно принимать решения на местном уровне. Этот демократический запрос, к сожалению, часто остается незамеченным на фоне проблем с фальсификацией выборов. Но он реален и внушает оптимизм.

    Я уважаю усилия тех, кто сейчас активно участвует в политической жизни, и верю, что именно такие люди в будущем смогут что-то изменить. Однако сейчас, в сложившихся условиях, их действия, скорее всего, не приведут к существенным изменениям. Я не критикую и публично не отговариваю активистов, но считаю, что сегодня их деятельность просто опасна для них самих, — если раньше их просто снимали отовсюду, то сейчас, вероятней всего, будут сажать. Именно потому, что я считаю, что за ними будущее, мне не хочется, чтобы их сажали.

    Что касается связи между текущими выборами и предстоящей президентской кампанией, то в административной логике текущие выборы являются своего рода репетицией. Важно не просто рисование результатов, а работающая система. Песков назвал это «дорогостоящей бюрократией», и я согласен с ним. Это не просто бюрократия, это инвестиция в систему. Если делать это дешево, система не будет работать, — не потому, что нельзя сделать дешевле, а потому что именно в этом и смысл. Сейчас, за полгода до президентских выборов, — время для проверки функционирования системы в новых условиях, особенно учитывая, что система находится под стрессом. Но следующий, большой, плебисцит будет проведен с совершенно другим уровнем давления.[/bilingbox]


    Julia Galjamina: Die Teilnahme an Wahlen gibt Aktivisten und Wählern Hoffnung

    [bilingbox]Ich finde es wichtig, an den Wahlen teilzunehmen, weil das eine Möglichkeit ist, gegen den Autoritarismus zu protestieren. Wir können und dürfen die Hoffnung nicht verlieren und müssen jede Gelegenheit nutzen, für unsere Werte einzustehen – für Frieden, Demokratie und politische Teilhabe. In jeder Situation und in jedem Kontext kann und muss man für seine Werte einstehen und entsprechend handeln, statt nur zu warten. 

    Es gibt drei triftige Gründe, an den Wahlen teilzunehmen: die Unterstützung des aktiven Teils des politischen Spektrums in Russland, die Repolitisierung der Gesellschaft und die Einflussnahme in den jeweiligen Städten. Die Wahlkampagne der Jabloko-Kandidaten in Weliki Nowgorod zum Beispiel ist im ganzen Land bekannt und gibt allen ein Fünkchen Hoffnung – den Aktivisten genauso wie den einfachen Wählern. 

    Wie viele Kandidaten überhaupt zu den Kommunalwahlen zugelassen werden, ist regional unterschiedlich. In Krasnojarsk zum Beispiel wurden alle Kandidaten zugelassen, aber ihre Zahl lässt zu wünschen übrig. Einer der Gründe dafür ist, dass es keine politische Kultur und keine Akteure gibt, die systematisch und nicht nur vor den Wahlen an die Öffentlichkeit gehen. In Jekaterinburg im bereits erwähnten Weliki Nowgorod, und im erweiterten Stadtgebiet von Moskau, wo permanent und systematisch gearbeitet wurde, gibt es viele Kandidaten, und die meisten von ihnen wurden auch zugelassen. In Belgorod wurden die wenigen unabhängigen Kandidaten nicht zugelassen, aber dort ist die Situation auch sehr angespannt

    Generell werden derzeit nicht so viele unabhängige Kandidaten aufgestellt und registriert. Aber ich finde nicht, dass das nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. In einer konkreten Stadt kann sogar ein einziger Abgeordneter eine große Stütze für die Bevölkerung sein. So hat beispielsweise der einzige unabhängige Abgeordnete in meinem Bezirk geschafft zu verhindern, dass das Parken in den Innenhöfen kostenpflichtig wird. Auch wenn nur wenige handeln, schöpfen viele daraus Hoffnung. Deshalb muss man weiter mit gutem Beispiel vorangehen, in Übung bleiben und die über Jahre gesammelte Erfahrung mit Wahlkampagnen wachhalten.~~~Мне кажется, участие в выборах важно, потому что это один из способов сопротивления авторитаризму. Мы не можем и не должны терять надежду и использовать все возможности для продвижения своих ценностей, таких как мир, демократия и политическое участие. Сегодня с двух сторон нам навязывается двойственное видение мира: страшная тьма и прекрасный свет. Только стороны света и тьмы меняются в зависимости от того, чья это пропаганда. Но нужно противостоять этой большевистской логике. В любой ситуации, в любом контексте можно и нужно продвигать свои ценности и действовать, а не просто ждать.

    Можно выделить три главных смысла участия в выборах: поддержание активной части политического спектра России, реполитизация общества и локальное воздействие в каждом городе. Пример кампании, которую показывают, например, кандидаты от «Яблока» в Великом Новгороде (участники Земского съезда) становятся известными во всей стране и дают луч надежды всем — и активистам, и простым избирателям.

    Ситуация с количеством и регистрацией кандидатов на муниципальных выборах различается по регионам. В Красноярске, например, кандидаты были зарегистрированы, но их количество оставляет желать лучшего. Одна из причин — отсутствие сложившейся культуры политических партий и действующих игроков, которые работали бы системно, не только в период выборов. А вот в Екатеринбурге и упомянутом Великом Новгороде, в Новой Москве, где велась постоянная системная работа, — кандидатов много и большинство из них зарегистрировали. В Самаре и Воронеже, несмотря на системную работу оппозиции, просто мало мест разыгрывается, так как проводятся довыборы, поэтому кандидатов не регистрируют. В Белгороде немногочисленных независимых кандидатов тоже не зарегистрировали, но там ситуация тоже очень напряженная.

    В общем, независимых депутатов сейчас и выдвигается и регистрируется не так много. Но я не согласна, что это капля в море. В конкретном городе даже один депутат может стать большим подспорьем для местных жителей. Например, единственный депутат в моем районе смог остановить введение платных парковок во дворах. Пусть немногие действуют, но многие испытывают надежду. Поэтому важно продолжать показывать пример, сохранять практики, навыки и предвыборный опыт, наработанный годами.[/bilingbox]


    Übersetzung: Ruth Altenhofer und Jennie Seitz

    Weitere Themen

    Wahlfälschung auf Rekordniveau

    FAQ #7: Russlands Referenden: Warum nur Schein – und wozu?

    Wie Nowy Burez lebt – und stirbt

    Putins Ökonomie des Todes

    Wahlfälschungen in Russland

    Aus den Regionen

  • Ein Akt der Rache

    Ein Akt der Rache

    Der neue Präsidialerlass mit der Nummer 278 hat es in sich: Belarussen, die im Ausland leben, erhalten an den diplomatischen Vertretungen ihrer Länder keine Ausweisdokumente mehr, können ihre Pässe nicht mehr verlängern, zudem sind auch Eigentumsgeschäfte von der neuen Regelung betroffen. Für all das müssen sie nun nach Belarus reisen, wovor sich viele Belarussen scheuen. Vor allem die rund 170.000, die nach den Protesten von 2020 ins Ausland geflohen sind. 

    Andrej Strishak von BYPOL sieht den neuen Präsidialerlass in einer langen Kette von Maßnahmen: „Das belarussische Regime beschneidet seit 2020 konsequent die Möglichkeiten für Diaspora und Emigranten. Zunächst wurde angekündigt, dass man im Ausland nicht mehr an Wahlen teilnehmen kann. Der zweite Schritt besteht darin, Menschen die Staatsbürgerschaft zu entziehen, weil sie in ,extremistischen Formationen‘ mitwirken oder unter ,extremistischen‘ oder ,terroristischen‘ Paragraphen vorbestraft sind. Und jetzt kommt diese Geschichte mit den Pässen.“ Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja warnt ihre Mitbürger vor einer Rückkehr nach Belarus: „Selbst wenn Ihr Pass abläuft, sollten Sie nicht in Ihr Heimatland zurückkehren, wenn Sie Verfolgung riskieren.“

    Das Online-Medium Reform.by hat sich den Präsidialerlass genauer angeschaut und analysiert mögliche Beweggründe der belarussischen Machthaber für diesen Schritt, der die Exilbelarussen aufwühlt. 


    Einfach ausgedrückt, beim Verkauf von Eigentum werden keine Vollmachten mehr akzeptiert, die von Notaren im Ausland beglaubigt wurden. Ebenso können laut dem neuen Erlass keine Vollmachten in der belarussischen Botschaft des Aufenthaltslandes ausgefertigt werden. Dasselbe gilt für eine Vielzahl anderer Dokumente, die belarussische Staatsbürger bislang in den diplomatischen Vertretungen und Konsulaten im Ausland neu beantragen oder verlängern konnten.

    Der Erlass tritt mit dem Zeitpunkt seiner offiziellen Bekanntmachung in Kraft. Aus dem Text des Dokumentes geht hervor, dass Immobiliengeschäfte nur noch persönlich oder auf Grundlage einer Vollmacht getätigt werden können, die auf dem Gebiet von Belarus beglaubigt wurde. Auch eine Reihe weiterer sensibler bürokratischer Anliegen fallen unter diese Beschränkung. Dazu gehören standesamtliche Urkunden und Bescheinigungen, die für die Eheschließung notwendig sind, die Ausstellung von Zeugniskopien, die Beglaubigung offizieller Dokumente und vieles mehr. 

    Auch die Beantragung eines neuen Passes oder die Verlängerung seiner Gültigkeitsdauer wird nicht mehr ohne einen Besuch in der Heimat möglich sein. Im Erlass heißt es, dass Reisepässe an Staatsbürger, die dauerhaft im Ausland leben und beim zuständigen Konsulat gemeldet sind, nur von den Meldebehörden am Ort der letzten Meldeadresse im Inland ausgestellt werden können. Alle Dokumente, die bis zum Inkrafttreten des Erlasses beantragt wurden, werden noch nach dem bislang geltenden Verfahren bearbeitet. Doch wer das nicht geschafft hat, steht über kurz oder lang vor dem Problem eines abgelaufenen oder, schlimmer noch, verlorenen Passes. 

    Mehr als nur Rache

    Das Ziel, das die Auftraggeber und Verfasser dieses Erlasses verfolgen, ist klar: Den Belarussen, die das Land aus Sicherheitsgründen verlassen haben, soll das Leben so schwer wie möglich gemacht werden. Rache an den Emigranten – eine weitere Form der Repression. Auf die ein oder andere Weise trifft der Erlass alle Staatsbürger unseres Landes, die im Ausland leben. Doch während die neuen Regelungen für diejenigen, die in der Heimat keine Festnahme aus politischen Gründen fürchten müssen, nur einen Verlust an Zeit und Geld für die Fahrt bedeuten, stellen sie die politischen Emigranten vor reale Probleme. Und im Moment ist noch nicht absehbar, wie diese gelöst werden können. 

    Mit dem Erlass erkennt die Regierung indirekt das Problem und den Umfang der Emigration aus Belarus seit 2020 an. Entsprechende Beschränkungen ausschließlich für öffentliche Vertreter und Aktivisten der Demokratiebewegung einzuführen, hätte keinen besonderen Sinn gemacht. Für diese Gruppe gibt es andere Gesetzesartikel, die unter anderem die Konfiszierung des Eigentums und die Aberkennung der Staatsangehörigkeit vorsehen. Daher sind die im Erlass verankerten Regelungen gegen die Mehrheit der Emigranten gerichtet. Sie entziehen faktisch allen, die in Belarus mit Verfolgung rechnen müssen, die Möglichkeit, in der Heimat befindliches Eigentum zu verkaufen oder zu überschreiben. Zudem erschweren sie die Legalisierung des Aufenthaltes im Zufluchtsland. 

    Der Beschluss ist ein empfindlicher Schlag für alle Emigranten, die bislang noch unentschlossen waren, ob sie ihr Eigentum in der Heimat verkaufen oder lieber abwarten sollten. Für alle also, die auf eine baldige Rückkehr und eine perspektivische Änderung der Situation hofften. Einerseits hat die Regierung nach den Ereignissen von 2020 den Menschen drei Jahre Zeit gegeben, um Eigentumsangelegenheiten und Dokumente in Ordnung zu bringen. Doch viele Menschen wollten oder konnten aus verschiedenen Gründen nicht alles aufgeben, was ihnen in der Heimat geblieben war. Nun werden solche Rechtsgeschäfte unmöglich, es sei denn, man geht ein Risiko ein, das längst nicht alle auf sich nehmen werden. 

    Der Erlass wird auch jene beeinflussen, die bislang über eine Emigration nachdenken. In Anbetracht der Probleme, die sich perspektivisch daraus ergeben und der Notwendigkeit, vor der Ausreise alle Brücken abzubrechen, indem man allen Besitz verkauft, könnten einige ihre Emigrationspläne gezwungenermaßen durchaus aufgeben. 

    Die Verfasser des Erlasses verfolgen vermutlich noch ein weiteres Ziel: Wenigstens diejenigen zur Rückkehr ins Land zu zwingen, die unverzüglich Eigentums- oder Passangelegenheiten erledigen müssen. Wahrscheinlich werden sie möglichst vielen, die ein Risiko eingehen, Strafverfahren anhängen. Da die vom Regime geschaffene Rückkehrerkommission keine Ergebnisse brachte, mussten andere Methoden gefunden werden, um die Emigranten zur Rückkehr zu zwingen. 
     
    Natürlich steht es jedem frei, das selbst zu entscheiden. Doch zuvor sollten alle Faktoren sehr genau gegeneinander abgewogen werden. Wenn das Eigentum schon mehrere Jahre ohne seinen Besitzer überstanden hat, kann das vielleicht auch noch eine Weile so bleiben. Nichts währt letztlich ewig. Ist der Verkauf einer Wohnung oder eines Autos das Risiko des Freiheitsverlustes wert? Das entscheidet jeder selbst. Doch die vom Regime eingeführten Beschränkungen der Verfügungsgewalt über Eigentum sind ein Verstoß gegen die Grundrechte und eine Weigerung des Staates, seinen grundlegenden Verpflichtungen gegenüber den Staatsbürgern nachzukommen – und das ist den belarussischen Machthabern offenbar auch vollkommen bewusst. Doch der Wunsch nach Rache und Schwierigkeiten für die verhassten „Geflohenen“ überwiegt. 

    Ein weiterer Spaltungsversuch

    Der unterzeichnete Erlass ist auch ein Versuch, einen Keil in die Diaspora zu treiben. Die Perspektiven auf einen kürzlich vom Vereinten Übergangskabinett präsentierten neuen belarussischen Pass sind bislang nur vage. Das liegt vor allem daran, dass völlig unklar ist, welche Staaten ihn anerkennen werden, wann das passieren wird und ob überhaupt. Swetlana Tichanowskaja versicherte heute, dass ihr Team daran arbeite, dass die Staatsbürger nicht ohne Pässe blieben. Ihr zufolge werden im September Beratungen mit der EU-Kommission stattfinden, ebenso werde das Thema in der UN-Generalversammlung besprochen. Doch in jedem Fall nehmen diese Abstimmungsprozesse einige Zeit in Anspruch, unterdessen werden viele Belarussen bereits mit dem Ablauf der Gültigkeit ihres wichtigsten Personaldokumentes konfrontiert sein. Die daraus entstehenden Probleme wird manch einer wohl auch den Demokratischen Kräften anlasten, die ihre Mitbürger nicht ausreichend schützen. Das kann wiederum zu Konflikten zwischen Vertretern der Diaspora und der Führung der Demokratischen Kräfte führen, worauf es das Regime auch angelegt hat. 

    Und in der Zwischenzeit?

    Vieles wird davon abhängen, wie sich die Regierungen der Staaten positionieren, in denen heute viele Belarussen leben. Sie könnten zum Beispiel beschließen, die Gültigkeitsdauer belarussischer Pässe zu verlängern. Oder bei abgelaufenen Dokumenten einfach „nicht genau hingucken“. Dabei hängt auch viel von den belarussischen Demokratischen Kräften ab, die entsprechende Verhandlungen führen müssen, immer unter Berücksichtigung der schwierigen Situation, in der sich viele Belarussen auf absehbare Zeit befinden werden. Und es gibt Präzedenzfälle. In Polen können belarussische Staatsbürger beispielsweise seit dem 1. Juli in vereinfachtem Verfahren ein sogenanntes polnisches Ersatzreisedokument erhalten, das einen verlorenen oder abgelaufenen Reisepass ersetzt. Es ermöglicht die Aus- und Einreise nach bzw. aus Polen. Bislang gilt diese Regelung temporär bis Ende 2023. Doch in Anbetracht der neuen Situation nach Lukaschenkos Erlass ist es durchaus möglich, dass die polnische Regierung dieses Verfahren fortsetzt. Auch hier wird viel von den Kontakten zur polnischen Seite und den Bemühungen des Vereinten Übergangskabinetts abhängen. 

    Doch die Diaspora sollte nicht nur auf die Demokratischen Kräfte hoffen. Die Belarussen in der Emigration stehen tatsächlich vor ernstzunehmenden Herausforderungen. Aber ihre Anzahl ist groß genug, um sich gemeinsam an die Regierungen der Aufnahmestaaten zu wenden. Diese Regierungen haben zwar keinen Einfluss auf das Problem der Eigentumsgeschäfte in Belarus, doch sie können den in ihrem Land lebenden Belarussen zuhören und durchaus dabei helfen, die Probleme mit den Dokumenten zu lösen. Das Wichtigste ist also, nicht passiv zu bleiben. So ist es nunmal mittlerweile: Das Regime handelt garstig, die Belarussen suchen einen Ausweg. Und der wird sich finden. Und die Garstigkeiten werden früher oder später ein Ende finden.

    Weitere Themen

    „Für alle, die in Gefangenschaft sind“

    „Mir sind meine Wurzeln, meine Familie und meine Heimat genommen worden“

    Gefängnis oder Emigration, das ist hier die Frage

    „Wer traurig ist, gehört zu mir“

    Debattenschau № 88: Was haben die Proteste in Belarus gebracht?

    Verbot eines Klassikers