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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Du krepierst hier und keiner kriegt es mit“

    „Du krepierst hier und keiner kriegt es mit“

    Melitopol im Süden der Ukraine fiel schon im Februar 2022 unter russische Kontrolle. Seitdem wurde die Stadt zur Hochburg des ukrainischen Widerstandes gegen die Besatzer. Und gleichzeitig, wie iStories berichtet, zum „größten Gefängnis Europas“, wo Russland hunderte Zivilisten entführt und foltert. Polina Ushwak hat mit Menschen gesprochen, die Opfer dieses Terrors wurden.

     
    „Mama, ich war in der Hölle“ – die Videoreportage zum Material von iStories mit englischen Untertiteln 

    Bereits am 25. Februar 2022 kam die russische Armee nach Melitopol. In den ersten Tagen beschimpften die Stadtbewohner die Besatzer, forderten sie auf, ihr Staatsgebiet zu verlassen. „In der ersten Woche reagierten sie [die russischen Soldaten] zurückhaltend, vermieden den Kontakt. Wenn die Leute sie fragten: ‚Was wollt ihr hier? Haut ab!‘ senkten sie den Blick und schauten weg. Erst später, als sie sich ein bisschen eingelebt hatten, zeigten sie Zähne – sie errichteten Kommandanturen und Foltergefängnisse. Immer mehr Menschen verschwanden …“, erinnert sich der 29-jährige Maxim Iwanow, ein Landschaftsdesigner aus Melitopol. 

    „Umerziehung“ mit dem Gummiknüppel

    Zum ersten Mal wurden Maxim und seine Freundin Tatjana Bech Anfang April entführt. „Ich hatte eine kleine [ukrainische] Flagge bei mir. Als ein Panzer an uns vorbeifuhr, habe ich sie aus der Tasche gezogen und gerufen: ‚Verpisst euch aus unserem Land.‘ Der Panzer hielt an, und mich umzingelten an die zehn Männer, sie schmissen die Flagge auf den Boden und trampelten darauf herum. Dann sagten sie: ‚Ihr kommt jetzt mit zur Umerziehung.‘“ 

    Maxim und Tatjana mussten die Nacht in der Kommandantur verbringen. Da waren auch andere, die wegen einer proukrainischen Haltung oder Verstoß gegen die Ausgangssperre festgehalten wurden. „Sie [die russischen Soldaten] haben gesagt: ‚Du hast doch Ruhm der Ukraine gerufen? Ruf jetzt Ruhm für Russland!‘ Ich habe geantwortet, dass ich so einen Scheiß nicht rufen werde. Da haben sie mit Gummiknüppeln auf mich eingeschlagen. Damals kamen mir diese Schläge heftig vor.“ Am nächsten Tag mussten Maxim und Tatjana unterschreiben, dass sie keinerlei Beschwerden hätten, und durften gehen. 

    Erst wurden vor allem Leute aus den einheimischen Behörden entführt. Später dann Lehrkräfte, die weiter nach ukrainischen Standards unterrichteten

    Im März häuften sich solche Entführungen. Ein Notfalltelefon wurde eingerichtet (Entführt in Melitopol). Dort konnte man anrufen, wenn ein Angehöriger entführt wurde. Man wurde beraten, was man tun und welche Behörden man informieren soll. Außerdem erhielt man psychologischen Beistand. 

    Natalja, eine Mitarbeiterin des Call-Centers, erzählt, kurz nach der Besatzung seien vor allem Leute aus den einheimischen Verwaltungsbehörden entführt worden. Zum Herbst hin, als die Besatzungsmacht einen russischen Lehrplan vorschreiben wollte, begannen die Entführungen von Schulleitungen und Lehrkräften, die weiter nach ukrainischen Standards unterrichteten. „Dann kamen die Bauern dran. Es gab auch eine Phase, in der sehr viele Veteranen der ATO [Antiterroristische Operation, wie der Krieg im Donbass von 2014 bis 2018 genannt wurde, ab 2018 hieß er ,Operation der vereinten Kräfte‘ – iStories] entführt wurden“, erzählt Natalja. „Und viele Geschäftsleute, um Lösegeld zu erpressen.“

    Seit Ausbruch des vollumfänglichen Angriffskriegs verzeichnen Mitarbeitende des Notfalltelefons 311 Entführungen, 107 Menschen sind nach wie vor in Geiselhaft, zu 56 Personen liegen keine Informationen vor. Nach Einschätzung der Mitarbeitenden des Notfalltelefons Entführt in Melitopol ist die Dunkelziffer der Entführungen dreimal so hoch. 

    500.000 Rubel für Denunzianten

    Am Morgen des 22. August verließen Maxim Iwanow, der wegen der ukrainischen Flagge „zur Umerziehung“ festgenommen worden war, und seine Freundin Tatjana ihre Wohnung. Sie wollten zum Tag der Unabhängigkeit der Ukraine (24. August) Flyer kleben, doch sie schafften nur ein paar wenige. „Dann kam die sogenannte Polizei. Sie durchsuchten uns und fanden die Flyer, und außerdem noch Nachrichten auf meinem Handy an einen Menschen, dem ich Koordinaten [von russischem Militärgerät] übermittelt hatte.“ Sie warfen Maxim zu Boden, fesselten ihn und steckten ihn in den Kofferraum. So wurden Tatjana und er zum zweiten Mal festgenommen und auf das Polizeirevier in der Tschernyschewski-Straße gebracht. 

    Tatjana ist sich sicher, dass ein Einheimischer sie denunziert hat. „Die Leute bekommen Geld dafür, dass sie es gleich per Anruf melden, wenn sie etwas sehen. Diesmal haben wir mit der Klebeaktion im Stadtzentrum angefangen. Sobald wir bei den Wohnhäusern waren, war fünf Minuten später die Polizei da – jemand hatte uns verpetzt.“

    In manchen Bezirken hat die Besatzungsmacht eigene Telegram-Bots eingerichtet, wo jeder Informationen über „Saboteure“ hochladen kann. Bei einer Festnahme der beschuldigten Person soll der Denunziant angeblich 500.000 Rubel [etwa 5200 Euro – dek] bekommen. 

    Tatjana Bech und Maxim Iwanow wurden von russischen Besatzern entführt, als sie Flyer zum ukrainischen Unabhängigkeitstag klebten / Foto © privat/iStories
    Tatjana Bech und Maxim Iwanow wurden von russischen Besatzern entführt, als sie Flyer zum ukrainischen Unabhängigkeitstag klebten / Foto © privat/iStories

    „Ich habe die Koordinaten von Truppenbewegungen und Militärgerät in Melitopol und Umgebung bei einem Chat-Bot hochgeladen. Das war sehr riskant, aber ich wollte diese Dämonen aus unserer Stadt verbannen und weiß, dass das richtig war …“, erzählt Maxim.

    Schon beim ersten Verhör wurde er auf dem Polizeirevier geschlagen, ihm wurden mehrere Rippen gebrochen. Sie sind auch ein Jahr später noch nicht verheilt. Am nächsten Tag wurde er zu den Garagen unter der Brücke nach Nowy Melitopol gebracht und abermals brutal zusammengeschlagen.

    Du krepierst hier und keiner kriegt es mit

    „Sack über den Kopf und raus. Sie schubsen mich, ich falle. Sie schlagen mit einer Eisenstange und irgendwelchen Stöcken auf mich ein. Auf die Brust, auf den Rücken. Dann stülpen sie mir einen Eimer über den Kopf und hämmern darauf ein. Ich fiel immer wieder hin, verlor mehrmals das Bewusstsein. Ich habe nichts mehr gespürt. Später sah ich, dass meine großen Zehen gebrochen waren, das musste beim Hinfallen passiert sein. Sie konnten mich jeden Moment umbringen. Ich habe gefragt, ob ich meine Eltern anrufen kann, um mich zu verabschieden. Vergiss es, hieß es, du krepierst hier und keiner kriegt es mit. Dann brachten sie mich in eine Garage und ließen mich dort zurück. Ich öffnete die Augen: Das Blut rann nur so an mir herunter, es war überall“, erinnert sich Maxim Iwanow.

    Illustration © iStories
    Illustration © iStories

    Am nächsten Tag gingen die Misshandlungen weiter. „Es war immer das Gleiche. Ich stand da mit dem Gesicht zur Wand, sie kamen rein und schlugen mir von hinten auf die Rippen, richtig heftig, und auf den Nacken.“ Am fünften Tag wurden Maxim und andere Gefangene zum Duschen nach draußen gebracht. „Da war nur ein Wasserschlauch. Aber wir haben uns gefreut, wir hatten uns so lange nicht gewaschen. Ich zog mich aus, da fingen die Aufseher an zu tuscheln, dann sagte einer: ‚Der ist fertig, nehmt ihn mit.‘ Wahrscheinlich haben sie gesehen, dass mein Rücken und meine Rippen komplett schwarzblau waren, und entschieden, dass es reicht.“

    Alles „ganz zivilisiert“?

    Vor dem Krieg lebte der 23-jährige Leonid Popow bei seiner Mutter in der Oblast Poltawa. Ende 2021 kam er nach Melitopol, um mit seinem Vater Neujahr zu feiern, bei Kriegsbeginn war er immer noch dort. Von den ersten Tagen der Besatzung an führte er Tagebuch, er notierte alles, was er sah: dass ständig Schüsse zu hören waren; dass die Leute durchdrehten und Lebensmittelläden plünderten, dass er einen erschossenen Mann auf der Straße liegen sah. Seine Mutter Anna flehte Leonid immerzu an, sich evakuieren zu lassen, solange es noch gehe, aber er wollte nicht. „Nein, Mama, gerade jetzt, wenn in der Stadt so etwas passiert, gehe ich nicht weg. Ich werde hier gebraucht“, antwortete er. Anna erzählt, sie habe ihrem Sohn Geld für den Lebensunterhalt geschickt, mit dem er Bedürftige in Melitopol und Geflüchtete aus Mariupol unterstützte.

    Im Mai 2022 wurde Leonid zum ersten Mal entführt. Er verließ das Haus, um ein Schawarma zu kaufen, da wurde er in ein Auto gezerrt und in eine Kommandantur gebracht. Dort kam er erst nach drei Tagen wieder raus. Seiner Mutter erzählte er nicht, was in diesen drei Tagen geschah. Dass ihr Sohn gefoltert wurde, erfuhr sie erst von ihrem Ex-Mann. „Betrunkene Kadyrowzy haben ihn an der Wand fixiert, sie haben gelacht und mit Messern nach ihm geworfen, ihn mit Stromschlägen gequält. Er weiß bis heute nicht, warum sie ihn entführt haben. Vor der Freilassung haben sie ihm seinen Pass weggenommen und gesagt, er soll sich einen russischen besorgen – das hat er alles seinem Vater erzählt“, sagt Anna.

    Auch Leonids jüngerer Bruder Jaroslaw blieb nicht von den massenhaften Entführungen verschont. Als im Mai 2022 alle Handynetze der Stadt darniederlagen, ging er – wie viele andere – nach der Sperrstunde noch raus, um ein Signal zu suchen. Alle wurden festgenommen und auf eine Kommandantur gebracht. Anna erzählt, ihr Sohn sei mit etwa 30 Personen in einer sehr engen Zelle gewesen.

    Wenn ihr ihm nicht das Maul stopft, knallen wir euch alle ab

    Laut Jaroslaw sei darunter ein psychisch kranker oder betrunkener Mann gewesen. Er habe die ganze Zeit geschrien und Radau gemacht. „Die Soldaten sagten: ,Wenn ihr ihm nicht das Maul stopft, knallen wir euch alle ab wie junge Katzen.‘ Da haben die Leute Angst bekommen, haben zu mehreren auf den Mann eingeprügelt. Als er trotzdem weiter schrie, haben sie angefangen ihn zu würgen, damit er aufhört. Bis er tot war. Ich habe meinen Sohn gefragt: Und was hast du gemacht? Er sagte, er habe sich weggedreht, mit dem Finger in der Mauer gepult und zum ersten Mal in seinem Leben gebetet“, erzählt Anna die Erinnerungen ihres Sohnes nach.

    Jaroslaw wurde im Mai 2022 von russischen Besatzern entführt und erlebte, wie ein Mithäftling in der Zelle getötet wurde / Foto © privat/iStories
    Jaroslaw wurde im Mai 2022 von russischen Besatzern entführt und erlebte, wie ein Mithäftling in der Zelle getötet wurde / Foto © privat/iStories

    Auch nach seiner ersten Entführung und der Folter mit Stromschlägen weigerte sich Leonid Popow, Melitopol zu verlassen. Er verbrachte ein Jahr in der besetzten Stadt und war erst im April 2023 bereit, sich von freiwilligen Helfern rausbringen zu lassen. Doch zwei Tage vor der geplanten Abreise verschwand er. 

    Bei der Polizei, an die Leonids Vater sich wandte, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben, sagte man ihm, dass sein Sohn höchstwahrscheinlich von Soldaten mitgenommen worden sei. „Machen Sie sich keine Sorgen. Das ist nur so ein Kontrollverfahren, sie halten ihn zwei Wochen fest und lassen ihn wieder laufen. Alles ist gut, machen Sie sich keine Sorge, alles läuft ganz zivilisiert“, erzählt Anna die Worte ihres Ex-Mannes nach. „Das ist ja deren Lieblingssatz: Alles ganz zivilisiert“, kommentiert sie. 

    Drei Monate nach der Entführung brachten Soldaten Leonid mit akuter Unterernährung ins Krankenhaus

    Leonid kam nicht frei – nicht nach zwei Wochen und auch nicht nach zwei Monaten. Vertreter der zivilen und der Militärpolizei setzten sich mit seinen Eltern in Verbindung und versprachen, ihn zu finden. Aber Anna erfuhr erst von einem anderen Entführten, der mit Leonid in einer Zelle gewesen war, was mit ihrem Sohn passiert ist. 

    „Im Juni hat ein Mann Leonids Vater angerufen und gesagt, er sei mit unserem Sohn im Keller einer Kommandantur festgehalten worden. Er sagte, dass es Leonid sehr schlecht geht. Er liege da und bewege sich nicht, sei völlig abgemagert und flüstere ständig: ‚Ich hab Hunger.‘ Er erzählte, dass sie dort nur alle zwei, drei Tage ein bisschen Wasser kriegen. Essen bekommen sie auch nicht jeden Tag und immer nur sehr wenig. Außerdem sei das Zeug ungenießbar, schlimmer als Hundefutter. Und sie würden geschlagen.“

    Anna befürchtete, dass sich die psychische Erkrankung ihres Sohnes in Geiselhaft verschlimmern könnte. Mit 17 wurde bei Leonid Schizophrenie festgestellt. Dank einer Therapie konnte eine Remission erreicht werden, doch die Ärzte warnten Anna, dass sich Leonids Zustand bei starkem Stress verschlechtern und er auf die intellektuellen Fähigkeiten eines Zehnjährigen zurückfallen könnte.

    In Geiselhaft wurde Leonids Gesundheitszustand kritisch. Drei Monate nach der Entführung brachten ihn Soldaten mit akuter Unterernährung ins Krankenhaus: Bei einer Größe von 1,95 m wog er nur noch 40 Kilo. 

    Leonid Popow mit seiner Mutter Anna vor der russischen Invasion (links) und nach drei Monaten in russischer Gefangenschaft (rechts) / Foto © privat/iStories
    Leonid Popow mit seiner Mutter Anna vor der russischen Invasion (links) und nach drei Monaten in russischer Gefangenschaft (rechts) / Foto © privat/iStories

    Während des Krankenhausaufenthaltes gelang es Leonid, vom Handy seines Zimmernachbarn ein paar Nachrichten an seine Mutter zu schicken. „Ich hatte in der Zelle solche Angst vor dem Einschlafen. Angst, dass sie wiederkommen und mich würgen, zu Tode quälen. Durst hatte ich auch so sehr, sie gaben uns nichts zu trinken. Und Hunger. Außerdem haben sie mich heftig geschlagen. So fest, dass ich vier Tage lang nicht auf die Toilette konnte. Weswegen, Mama? Vielleicht weißt du, was ich getan habe?“, schrieb er an seine Mutter.

    Gegen Leonid wurde nie eine offizielle Anklage erhoben. Seinem Vater wurde nur mündlich mitgeteilt, Leonid sei festgenommen worden, weil er Militärtechnik fotografiert und Kontakt zur ukrainischen Armee gehabt habe. Beweise wurden dafür keine geliefert.

    Mit einer Tüte über dem Kopf und Elektroden am Arm

    Anhand von Gesprächen mit Menschen, die Entführungen und Folter überlebt haben, und mit Angehörigen von Menschen, die immer noch in Gefangenschaft sind, konnten wir fünf Adressen ausmachen, wo man die Entführten festhält.

    Meistens kommen sie in die Kommandanturen. Eine befindet sich in einem ehemaligen Gebäude der Verkehrspolizei auf der Alexejewa-Straße 26, eine andere auf der Tschernischewski-Straße 37, in einer ehemaligen Polizeidienststelle für den Kampf gegen organisierte Kriminalität.

    Leonid Popow wurde auf der Alexejewa-Straße festgehalten, bis er akut unterernährt war. Das Gebäude der Verkehrspolizei ist überhaupt nicht als Haftanstalt geeignet. 

    Die Räume, in denen verhört und gefoltert wird, befinden sich direkt neben den Zellen. Deswegen können die Gefangenen hören, wie andere gefoltert werden. Die schlimmste Folter kommt zum Einsatz, wenn jemand in der ukrainischen Armee gekämpft hat oder der Weitergabe von Koordinaten verdächtigt wird. 

    Das Wasser hat so gestunken, dass ich es nicht trinken konnte

    Bei seiner ersten, dreitägigen Entführung hielt man Leonid in der Tschenyschewski-Straße fest. Dorthin kamen auch Maxim und Tatjana. Maxim wurde am Folgetag in die Garagen unter der Brücke nach Nowy Melitopol verschleppt, wo er weiter misshandelt wurde. Tatjana wurde durchsucht, sechs Stunden lang verhört und dann in einen Container im Innenhof der Kommandantur gesperrt. „Da war ein Parkplatz, auf dem ein Container stand, wie für Frachtschiffe. Ohne Fenster, eine Tür war hineingesägt, die abgeschlossen werden konnte. Es war August – tagsüber unerträglich heiß und nachts sehr kalt. Da drin gab es zwei Bänke und einen Hocker. Auch Wasser stand da, aber es hat so gestunken, dass ich es nicht trinken konnte. In den ersten Tagen bekam ich nichts zu essen. Später brachte mir irgendein Koch was. Auf die Toilette durfte ich nur zwei Mal am Tag, aber das war unmöglich. Ich fand einen kleinen Eimer und machte da rein, das kippte ich ihnen später am Eingang vor die Füße.“

    Nach dem Container und den Misshandlungen wurden Maxim und Tatjana auf das Polizeirevier in der Getmanskaja-Straße gebracht. Dort saßen sie in verschiedenen Zellen. Tatjana wurde in Ruhe gelassen, aber Maxim wurde auch hier schwer misshandelt. 

    Sie machen den Strom erst aus, wenn ich nicht mehr schreie, sondern wegkippe

    „Zwei Männer kommen rein. Tüte übern Kopf, die sie mit Klebeband so umwickeln, dass ich kaum Luft bekomme. Ich soll mich auf den Boden setzen, sagen sie. Dann spüre ich, wie sie mir Zangen an die Zehen machen, wie so Klemmen …“, erzählt Maxim. „Mittlerweile kann ich ruhig darüber reden. Aber sobald ich es mir wieder bildlich vorstelle … Sie verpassen mir Stromschläge, ich schreie. Sie fragen mich nach dem ukrainischen Sicherheitsdienst, nach Soldaten, nach der Polizei. Ich sage ihnen, ich kenne niemanden, ich habe ja nicht einmal Kontakt zur Polizei, mit dem SBU hatte ich überhaupt noch nie zu tun. Aber die meinen: ‚Du lügst!‘ Sie verpassen mir Stromschläge, zwanzig Minuten lang. Lassen den Strom sieben Sekunden laufen und machen erst aus, wenn ich nicht mehr schreie, sondern wegkippe. Ein paar Sekunden später wieder.“

    Um den Lärm zu übertönen, schalteten die Folterer von 8 bis 22 Uhr laute Musik ein, wie uns alle erzählten, die die Folter erlebt haben. Maxim erinnert sich, dass die russische Nationalhymne dabei war, und viel „suizidales Zeug“, Songs über den Tod, aber auch russische Pop- und Rockmusik: Gasmanow, Morgenshtern, Instasamka, Korol i Schut, Aria. Es war auch der Song Das geht vorbei von Pornofilmy dabei, darin heißt es:

    „Mit einer Tüte überm Kopf
    und Elektroden am Arm
    sitzt mein Russland im Knast
    aber glaub mir: Das geht vorbei!“

     
    Inoffizieller Clip zum Song Das geht vorbei der seit 2022 im Exil lebenden Punkband Pornofilmy

    „Seltsam, dass sie das dort gespielt haben“, wundert sich Maxim. „Aber uns tat es gut, es gab Hoffnung, dass der, der die Playlist zusammenstellte, noch nicht völlig hinüber war.“

    Ganz konnte die Musik die Schreie der gefolterten Häftlinge dennoch nicht übertönen. „Es gab Tage, an denen es still war, aber die meiste Zeit wurde irgendwo gefoltert. Man hörte, wie jemand geprügelt wurde. Hörte Schreie. Manchmal schrie jemand ‚Hilfe, Gnade, es reicht, bitte‘, manchmal war es einfach nur ein langes: ‚A-a-a-a‘“, beschreibt Maxim die Zustände in den Zellen. 

    Manche Häftlinge hielten es nicht aus und begingen Suizid. „Der Wärter schaute in die Zelle, griff zum Handy und meldete nur, es habe sich einer die Pulsadern aufgeschlitzt. Danach hörte man, wie sie den Leichnam verpacken und in irgendetwas einwickeln“, erinnert sich Maxim an einen solchen Fall. Von Suiziden erzählten uns auch andere Entführte.

    Die Militärs haben das Sagen

    In der besetzten Stadt existieren weiterhin eine Staatsanwaltschaft, ein Ermittlungskomitee und die Polizei. Aber in Wirklichkeit haben allein die Militärs das Sagen. 

    Als Leonid im Krankenhaus lag, rief jemand vom Ermittlungskomitee seinen Vater an und sagte, gegen Leonid gebe es kein laufendes Verfahren, er könne seinen Sohn abholen. „Ich habe mich so gefreut! Er ist frei! Ich habe schon einen Fahrer gesucht, um zu ihm nach Melitopol zu kommen“, erinnert sich Leonids Mutter an ihre damaligen Gefühle. Die Freude währte nicht lange.

    Leonids Vater brachte ihn nach Hause. Aber kaum waren sie aus dem Wagen gestiegen, hielt ein schwarzer Niva mit getönten Scheiben neben ihnen. Ein Soldat stieg aus – es war derjenige, der Leonid in der Kommandantur das Essen gebracht hatte – und sagte, niemand habe ihn freigelassen. „Er hielt ihm die Tüte hin und sagte, so laufe das nun mal. Leonid hat sie sich selbst über den Kopf gezogen“, erzählt Leonids Vater von der dritten Entführung. 

    Beim Ermittlungskomitee sagte man Leonids Eltern, man habe keinen Einfluss auf das Militär. „Bei uns laufen Untersuchungen, um seinen Aufenthaltsort festzustellen. Bei uns ist er nicht. Wenden Sie sich an die Militär-Kommandantur. Wir haben das auch schon getan, aber wir können Ihnen die Antwort nicht mitteilen – Ermittlungsgeheimnis“, sagte die Ermittlerin, die für Leonid Popows Fall zuständig ist. 

    Nicht nur russische Soldaten

    Doch an dem System der Entführungen sind nicht nur russische Soldaten beteiligt. Nach ihrer Freilassung konnte Tatjana Bech den Ermittler Alexander Kowalenko identifizieren. Er hatte ihr erstes Verhör geführt. Vor dem Krieg war er in Melitopol bei der ukrainischen Polizei gewesen. 

    Nach Leonids Entführung nahmen drei Männer Kontakt zu seinen Eltern auf. Der erste sagte, er sei ein Ermittler von der zivilen Polizei. Er stellte sich nicht vor, sondern sagte: „Schreiben Sie einfach Fox.“

    Später rief Leonids Vater jemand an, der stellte sich als Militärpolizist vor und schlug ein Treffen vor. Er sagte, Leonid gehe es gut, er bekomme zu essen und werde nicht misshandelt, festgenommen habe man ihn, weil er Militärgerät fotografiert habe. Wir fanden heraus, dass es sich bei dem Anrufer um Igor Kara handelte, einen ehemaligen Ermittler aus Mariupol. Als wir ihn anriefen, stritt er zunächst ab, Leonid Popow zu kennen, später gab er zu, mit dessen Vater gesprochen zu haben. Dann verwies er auf das Ermittlungskomitee: „Dort ist er vermisst gemeldet. Das Ermittlungskomitee kümmert sich um die Suche.“

    Der dritte Mann, zu dem Leonids Eltern nach seiner Entführung Kontakt hatten, war ebenfalls von der Militärpolizei und hieß Lew. Anfangs gab er vor, nach Leonid zu suchen. Aber als Leonids Eltern von einem anderen ehemaligen Häftling erfuhren, dass sich ihr Sohn in der Kommandantur befindet, erklärte Lew sich bereit, Lebensmittel zu überbringen. Er war es auch, der Leonid abholte, als er zum dritten und letzten Mal entführt wurde. Mittlerweile haben alle drei Männer Annas Nummer blockiert und den Kontakt abgebrochen. 

    Ich kroch auf allen vieren und pinkelte Blut

    Maxim und Tanja wurden nach der Folter gezwungen, bei einem Propagandavideo über ein Attentat auf Jewgeni Balizki mitzumachen, den Vorsitzenden der Besatzungsverwaltung der Oblast Saporishshja. Kurz danach wurde Tatjana freigelassen. Maxim wurde noch einen weiteren Monat misshandelt. Nach zwei Monaten Gefangenschaft und Misshandlung war Maxims Zustand kritisch. „Ich konnte nicht mehr richtig gehen, ich kroch auf allen vieren und pinkelte Blut“, erinnert er sich. Ende Oktober 2022 wurde er auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet deportiert – unter der Bedingung, dass er den Russen von dort per Telegram Koordinaten der ukrainischen Armee durchgibt. Der Ermittler hatte den Namen eines Telegram-Kanals auf einen Zettel geschrieben und ihn Maxim in die Hosentasche gesteckt.

    Zu Fuß bis zum ukrainischen Kontrollposten

    Man brachte Maxim bis Wassiljewka, zum letzten Kontrollposten auf besetztem Gebiet. Damals konnte man von dort noch zum ukrainisch kontrollierten Teil der Oblast Saporishshja gelangen – mittlerweile haben die Russen diesen Weg blockiert.

     „Sie haben vor der Kamera ein Urteil gesprochen, dass ich in Melitopol eine Persona non grata sei“, erinnert sich Maxim. „Danach lief ich 40 Kilometer zu Fuß von Wassiljewka bis [zum ukrainischen Kontrollposten in] Kamenskoje. Es war die Hölle. Kamenskoje ist eine Grauzone, da sind auf einem Hügel unsere Jungs, und auf dem nächsten diese Wichser. Und ständig wird geschossen. Ich konnte einfach nicht mehr. Ich wollte irgendwo klopfen und fragen, ob ich übernachten könnte, aber das Dorf war tot, die Häuser zerstört. Ich fand eine verlassene Tankstelle und verbrachte die Nacht dort. Es war kalt – Ende Oktober. Raureif überall, meine Füße waren Eiszapfen. Ich fand ein Stück Glaswolle und deckte sie damit zu. Und ständig Schüsse. Es schlägt irgendwo neben mir ein, und ich höre die Erde herunterprasseln. Ich dachte schon, diese Tankstelle würde mein Grab.“

    Ich habe die ukrainische Flagge gesehen und bin auf die Knie gefallen

    Bei Sonnenaufgang erreichte Maxim einen Kontrollposten. „Ich habe die ukrainische Flagge gesehen und bin auf die Knie gefallen – ich hätte weinen können. Ich dachte, sie bringen mich gleich um, weil ich keine Papiere bei mir habe. Aber unsere Jungs haben mir etwas zu essen gegeben, mir Kaffee eingeschenkt und mich beruhigt. Es kamen ein paar Polizisten, sie brachten mich nach Saporishshja. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, fühlte ich gar nichts mehr. Ich konnte nicht glauben, dass das alles wahr war: dass ich die Sonne sehe, frische Luft atme und nicht beim kleinsten Geräusch zusammenzucken muss.“

    Tatjana war schon einen Monat vorher ausgewiesen worden. Heute lebt sie mit Maxim in Saporishshja. Sie arbeitet in einer Fabrik, Maxim kann noch nicht arbeiten, weil er von der Folter zu viele Verletzungen davongetragen hat, und nicht nur körperliche. „Es ist fast ein Jahr her, aber für mich fühlt es sich an wie eine Woche“, sagt Maxim. „Bei der kleinsten Beugung nach vorn habe ich furchtbare Schmerzen, denn mit den Rippen ist es leider nicht so wie mit einem Bein, man kann sie nicht eingipsen, deswegen weiß ich gar nicht, wie sie zusammengewachsen sind. Meine Zehen sind falsch zusammengewachsen. Ich habe oft Albträume. Früher kannte ich so etwas nicht. Je länger die Ereignisse zurückliegen, desto häufiger erinnert mich mein Unterbewusstsein daran … Viele glauben mir bis heute nicht, sie sagen: Was für eine Folter denn im 21. Jahrhundert? Aber ich habe es erlebt, genau wie tausend andere Männer und Frauen, und es passiert auch heute noch.“

    Den Erlass zur „Ausweisung von Bürgern, die an Terrorakten beteiligt waren“ hat der Verwaltungsvorsitzende der besetzten Oblast Saporishshja im Juli 2022 unterschrieben. Die Verwaltung stufte die Deportation als „die humanste Strafmaßnahme“ ein. Die Vorgangsweise wurde gefilmt: Den Folteropfern mit Säcken über dem Kopf wurden ihre „Urteile“ verlesen und anschließend befohlen, zum ukrainischen Kontrollposten zu laufen, der sich mehrere Dutzend Kilometer entfernt befand. Vielen bekamen ihre Ausweispapiere nicht zurück. Die letzte uns bekannte Ausweisung war im Januar 2023, seitdem wurden keine entführten Menschen mehr aus der Stadt gelassen. 

    Anna Machno weiß nicht, wo ihr Sohn ist und was mit ihm passiert ist. Seit seiner letzten Entführung sind fünf Monate vergangen. Beim russischen Verteidigungsministerium behauptet man, Leonid sei nie von russischen Soldaten festgenommen worden. Das Ermittlungskomitee in Melitopol führt Scheinermittlungen durch, obwohl eindeutige Beweise vorliegen, dass Leonid entführt und gefoltert wurde. Die russische Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa lässt Leonids Mutter bereits seit zwei Monaten auf Antwort warten. 

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  • Bilder vom Krieg #15

    Bilder vom Krieg #15

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Norman Behrendt

    Luftschutzbunker im „Institut für Automation“ in Kyjiw, 25.10.2023 / Foto © Norman Behrendt
    Luftschutzbunker im „Institut für Automation“ in Kyjiw, 25.10.2023 / Foto © Norman Behrendt

    dekoder: Sie haben gerade einen Monat lang als „Artist in residence“ in Kyjiw gearbeitet. Warum geht man als Künstler in ein Land, das sich im Krieg befindet?

    Norman Behrendt: Der Düsseldorfer Maler Paul Maciejowski hatte die Idee, Künstlern aus Deutschland einen Aufenthalt in Kyjiw zu ermöglichen. Der Titel Ich komme und sehe trifft es sehr gut: Nach bald zwei Jahren sind wir alle ein bisschen abgestumpft und viele wollen nichts mehr vom Krieg hören. Dort hinzufahren, den Alltag zu erleben und den Menschen zu begegnen, war unser Ziel. Als Künstler teilen wir unsere Erfahrungen aus dieser Zeit und können so weiter für das Thema sensibilisieren. In meiner Arbeit beschäftige ich mich schon länger mit der Architektur von Metro-Systemen; da war ich neugierig zu sehen, wie sich die Metro in Kyjiw von einem Transportsystem zu einem Schutzraum verwandelt.

    Dieses Foto ist auch in einem Luftschutzbunker entstanden. Wie kam es dazu?

    Bevor ich nach Kyjiw kam, habe ich mich gefragt, ob ich dort überhaupt konzentriert arbeiten kann, oder ob ich ständig von Fliegeralarm unterbrochen werde. Tatsächlich hat es fast zwei Wochen gedauert, bis wir zum ersten Mal einen Alarm hatten. Unser Atelier war in einem großen Gebäude, in dem zu Sowjetzeiten das Institut für Automation untergebracht war. Seit einigen Jahren arbeiten dort verschiedene Künstlergruppen. Da gibt es im Keller einen richtigen Bunker mit dicken Betonwänden und schweren Stahltüren. In Kyjiw haben alle auf ihren Handys eine App, die bei Angriffen anzeigt, wo der nächste Schutzraum ist. Aber es kamen gar nicht so viele Menschen in diesen Schutzraum. Die ukrainischen Künstler haben einfach weiter gearbeitet. Die Flugabwehr fängt ja glücklicherweise das Meiste ab.

    Das war in den ersten Tagen des russischen Überfalls anders. Auf der Tafel, die dort an der Wand hängt, hat jemand bei jedem Alarm das Datum notiert …

    In dem Bunker suchen auch viele Leute Zuflucht, die in der Nähe wohnen oder arbeiten, auch Familien mit Kindern. Diese Daten vermitteln etwas von dem bedrückenden Gefühl, jeden Tag in diesen Bunker zu müssen. Und niemand weiß, wie lange das dauern wird. Ende März hören die Aufzeichnungen auf, aber wir wissen ja, dass der Krieg immer noch andauert. Die Zeichnungen lassen vermuten, dass Kinder sich die Zeit mit Malen vertrieben haben. Das zeigt, dass selbst an so einem Ort die Fantasie lebendig ist.

    Haben Sie auch in der Metro fotografiert?

    Dafür hätte ich eine Erlaubnis gebraucht, die hatte ich nicht. Aber mich hat sehr beeindruckt, wie routiniert die Kyjiwer mit der Situation umgehen. Viele Schulklassen bringen sich bei einem Luftalarm in der Metro in Sicherheit, deshalb sind dort sehr viele junge Leute. Die Metro in Kyjiw ist sehr tief, teilweise bis zu hundert Meter unter der Erde. Da fühlt man sich sehr sicher. Das Bahnpersonal hat dann faltbare Hocker ausgeteilt, man konnte sich setzen, man konnte auf die Toilette gehen. Und die ganze Zeit fuhren auch die Züge weiter. Menschen kamen und gingen. Überhaupt hatte ich den Eindruck, die Stadt hat eine beeindruckende Resilienz, sie lebt einfach ihr Leben weiter. Wüsste man nicht, dass sich das Land im Krieg befindet, würde man sich vielleicht über die Kontrollposten in der Stadt und die Militärfahrzeuge auf den Straßen wundern. Die Leute gehen zur Arbeit, die Restaurants haben geöffnet, auf den Straßen ist viel Verkehr. Trotzdem merkt man natürlich in Gesprächen, wie der Krieg die Menschen belastet.

    Was kann Kunst an so einem Ort schaffen?

    Zusammen mit dem Berliner Fotografen Eric Pawlitzky haben wir eine Skulptur gebaut, die aus einem Notausgang und zwei Lüftungsschächten besteht. Aus den Lüftungsschächten waren Geräusche und Ansagen aus der Berliner U-Bahn und der Kyjiwer Metro zu hören. Die Idee war, eine symbolische Verbindung zwischen der deutschen und der ukrainischen Hauptstadt zu schaffen, die seit September 2023 auch Partnerstädte sind. Wir können als Künstler keine U-Bahn-Linie zwischen Berlin und Kyjiw bauen, aber wir können die Idee einer echten Verbindung der beiden Städte in die Köpfe pflanzen. 

    Ihr Aufenthalt in der Ukraine war ja an sich auch eine solche Verbindung. Wie ist das bei den Künstlern in Kyjiw angekommen?

    Die Künstler, aber auch die Menschen generell, die wir getroffen haben, waren alle sehr dankbar. Es bedeutet ihnen viel, wenn andere ganz konkret ihre Verbundenheit mit ihrem Land zeigen. Im Moment kommen außer NGO-Vertretern und Journalisten nur wenige Ausländer. Wir wurden unglaublich warmherzig aufgenommen. Ab 21. November werden unsere Arbeiten im Zentrum für Moderne Kunst M17 gezeigt. Das ist eine unglaubliche Ehre.

    Foto: Norman Behrendt
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am 16.11.2023

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    Reise in das grausige Russland der Zukunft

    Seit dem Jahr 2020, als die belarussischen Machthaber begannen, die Proteste niederzuschlagen, wurden mehr als 1400 NGOs liquidiert, berichtet das Online-Medium Pozirk. Auch die Festnahmen gehen weiter, längst werden auch Angehörige von bekannten Dissidenten, die sich im Ausland befinden, festgenommen. Kürzlich der Vater des Schriftstellers Sasha Filipenko. 

    Die Repressionen in Belarus haben mittlerweile ein Maß erreicht, über das sich selbst russische Journalisten und Dissidenten wundern. Sie befürchten, dass das System Putin die Maßnahmen aus dem Nachbarland in voller Gänze übernehmen könnte. Die russische Journalistin Katja Janschina hat am eigenen Leib erfahren, wie die belarussischen Machthaber gegen unliebsame Personen vorgehen. Sie wurde bei einer Recherchereise verhaftet und musste für 15 Tage ins Gefängnis. Was sie dort gesehen und erlebt hat, beschreibt sie in einem Beitrag für das russische Online-Portal no Future.

    Wie weit sind wir vom belarussischen Regime entfernt?

    Anfang des Jahres 2023 verschwand die russische Journalistin Katja Janschina. Sie war nach Belarus geflogen, um über den Gerichtsprozess der Mitarbeiter des Menschenrechtszentrums Wjasna zu schreiben. Sie standen vor Gericht, weil sie Menschen halfen. Nach der Verhandlung forderte man Janschina auf mitzukommen. Der Kontakt zu Katja brach ab und ihre Kolleg:innen von Memorial, Adwokatskaja uliza und das Team von no Future begannen, ihr einen Anwalt zu organisieren. Es stellte sich heraus, dass es in Belarus noch schwieriger ist, einen Anwalt zu finden, als in Russland – es gibt nahezu keine mehr. Zudem hat ihre Arbeit im Polizeistaat kaum Aussicht auf Erfolg. Nach 15 Tagen in einer überfüllten Zelle für politische Häftlinge wurde Katja nach Russland deportiert. Im Gespräch mit no Future bittet sie darum, ihre Erlebnisse nicht zu heroisieren und bezeichnet sie als „touristischen Ausflug“ – in eine Zukunft, in der man dafür verurteilt wird, dass man einen Telegram-Kanal abonniert hat, in der grundlos Wohnungen durchsucht, alte Menschen geschlagen und beleidigt werden und Polizisten voller Stolz die Bezeichnung „Oberfaschist“ tragen. 

    ***

    Zuerst sprach ein merkwürdiger Mann mit mir, er trug keine Uniform, aber seine Visage sagte ganz klar Staatssicherheit. Man merkte sofort, dass dieser Typ es gewohnt war, mit anderen Menschen auf eine ganz bestimmte Art zu sprechen. Er setzt sich hin, spricht dich sofort mit „du“ an und sagt dann mit so einer fordernden Stimme: „Vorstellen, Pass her“. Also völlig überzeugt davon, dass man ihm sofort alles gibt, alles aushändigt. Weil er es so gewohnt ist, er muss sich überhaupt nicht anstrengen. Als ich ihn im Gegenzug bat, sich vorzustellen, sagte er: „Da ich im Gericht war, sollte ja wohl klar sein, wer ich bin?“ Er muss sich also nicht vorstellen. Er fragte: „Kennst du überhaupt die belarussischen Gesetze, die Gesetze des Landes, in das du eingereist bist?“ Ich verstand, worauf er hinauswollte, aber mich ärgerte furchtbar, was gerade ablief. „Ich werde mit Ihnen nicht über Gesetze diskutieren, ich habe Jura studiert“, antwortete ich. Er fragte mich nach extremistischen Telegram-Kanälen aus. Ob ich wüsste, dass es in Belarus solche gibt. Ich erinnere mich noch, wie mich das auf die Palme brachte. Was sollte diese Frage überhaupt? Ich antwortete also: „Wenn Sie wirklich für die Rechtsschutzorgane arbeiten, dann stellen Sie normale Fragen, nicht so seltsame.“ Dann wollte er an mein Handy: „Gib mir dein Telefon und das Passwort, wir schauen mal rein.“ Ich sagte: „Auf keinen Fall.“ Er schaute mich an, als sei ich verrückt, winkte ab und sagte: „Bringt sie weg.“

    Illustration © no Future
    Illustration © no Future

    Man brachte mich auf eine typische Moskauer Polizeistation. Hätte ich nicht gewusst, dass ich in Belarus bin, hätte ich gedacht, ich sitze auf einer russischen Wache. Dieselben Typen, dieselben Gespräche, dasselbe Gefluche nach jedem Wort … Ihre Bullen sind wie unsere. Mit dem einzigen Unterschied, dass es viele junge Männer gibt, die mit politischen Fällen befasst sind. In Russland sind es meiner Erfahrung nach nur wenige junge Leute, die meisten sind Männer über 30. 

    Als ich im Protokoll las, ich hätte die Milizionäre beleidigt, angeschrien, sie provoziert und ihre Verwarnungen ignoriert, konnte ich mich nicht beherrschen. Ich wollte ihnen einfach zu verstehen geben, dass ich sehe, dass sie mir etwas anhängen wollen. Ich sagte: „Verstehen Sie eigentlich, woran Sie sich da beteiligen?“ Und die sagten nur: „Katja, du verstehst das doch alles, du bist doch ein erwachsener Mensch.“ Ich erwiderte: „Nichtsdestotrotz fabrizieren Sie hier gerade einen Fall. Auch wenn ihr nicht die Initiatoren seid, heißt das nicht, dass ihr unschuldig seid.“ Ich konnte deutlich sehen, dass es ihnen unangenehm war und sie auch alles verstehen. Sie wollten das ja gar nicht … „Du verstehst das doch“, „du bist doch erwachsen“, „wenn es nach uns ginge …“ – dieselben Reaktionen wie bei den russischen Bullen.

    Nach der Gerichtsverhandlung schickten sie mich für 15 Tage in den Strafisolator auf der Akreszina-Straße. Dort gibt es zwei Arten von Mitarbeitern: Die einen kommen, arbeiten und gehen wieder, und einige von ihnen haben sogar Mitleid mit dir. Die anderen finden es einfach geil, dass sie hier das Sagen haben. Als Masse sind sie gesichtslos in ihren Uniformen, aber einen konnte ich mir wegen seiner markanten Augenbrauen und besonderen Grausamkeit merken. „Sieh dir das an, die Smahary sehen schon genauso aus wie die Obdachlosen, genauso dreckig und verwahrlost, kein Unterschied“, sagte er zu einem Gehilfen. Smahar ist das belarussische Wort für Kämpfer – so werden die  Protestteilnehmer abfällig genannt. Später erfuhr ich, dass sein Name Jewgeni Wrublewski und er tatsächlich als einer der grausamsten Mitarbeiter bekannt war. Er selbst nannte sich den „Oberfaschisten“ von Akreszina. 

    Als die Zellentür aufging, waren da Menschen über Menschen. Sie saßen auf dem Bett, auf dem Tisch, auf der Bank, auf dem Boden … Es waren Frauen verschiedenen Alters, von 20 bis über 60 Jahre alt. Es gab eine Architektin, eine Buchhalterin, eine Klavierlehrerin, eine IT-Frau, eine Wirtschaftsanalytikerin, eine Projektleiterin, eine Mikrobiologin … Es waren keine herausstechenden Aktivistinnen – die sitzen schon alle im Gefängnis oder haben das Land verlassen. Es waren einfach Frauen, die ihr normales Leben lebten, zur Arbeit gingen und sich nicht vorstellen konnten, dass eines Tages jemand kommen und sie verhaften würde. 

    Viele werden für Reposts verhaftet. Das ist oft nicht einmal ein Post in den sozialen Netzwerken, sondern eine private Nachricht. Wenn du zum Beispiel einem Freund etwas aus einem verbotenen Telegram-Kanal weiterleitest. Und das muss nicht einmal etwas Politisches sein. Eine Frau saß in der Zelle, weil sie ihrem Freund den aktuellen Wechselkurs aus einem „extremistischen“ Kanal geschickt hatte. Aber es reicht auch schon, einfach in einer Chatgruppe zu sein, um eine Wohnungsdurchsuchung zu bekommen. Manchmal finden sie überhaupt nichts, aber dann wären sie ja umsonst da gewesen! Also schreiben sie 15 Tage Haft für Widerstand gegen die Polizei auf, holen sich dein Telefon und Passwort und suchen weiter. 

    In Belarus läuft das wie am Förderband – sie holen sich einen, dadurch finden sie die nächsten. Diese Arbeit ist dermaßen systematisiert, dass alle schon wissen: Die Razzien gegen Politische laufen am Donnerstag, also kommt immer freitags ein neuer Schwung Menschen in die Zelle …

    Illustration © no Future
    Illustration © no Future

    Die Toilette in der Zelle war zum Glück mit einer Metallwand mit Tür abgetrennt, aber alle Gerüche gingen in die Zelle, vor allem, wenn die Lüftungsanlage abgestellt war. Um sich zu waschen, gibt es in der Toilette eine Flasche, du füllst sie mit Wasser und kannst dich dann hinter der Wand der Körperpflege widmen. Man wäscht sich also am Waschbecken, dafür geben sie Haushaltsseife aus, aber man muss tagelang darum betteln. Zum Zähneputzen muss man bei der Krankenschwester um Aktivkohle bitten, und die Zähne dann alle paar Tage mit dem Finger schrubben. Damenhygiene … du fragst die Krankenschwester nach Binden, und sie gibt dir zwei ganz dünne pro Tag. Wenn die anderen Frauen nicht ihre eigene kleine Reserve hätten, wäre es kaum zu ertragen. Haarewaschen kann man dort eigentlich gar nicht, womit auch, deshalb flochten sich alle in der Zelle gegenseitig Zöpfe. Wir trugen alle diese Zöpfe. 

    In der Zelle gibt es drei sehr grelle Lampen, die ständig an sind. Wenn sich alle in eine Reihe auf den Boden schlafen legen, du deinen Kopf unter das Bett schiebst und oben jemand liegt, dann ist das Licht verdeckt … Oder man legt sich eine Socke auf die Augen. Aber, ehrlich gesagt, das Licht war noch das geringste Übel im Vergleich zu allem anderen, vor allem der stickigen Luft.

    Sie steckten immer wieder „asoziale“ Frauen in unsere Zelle. Sie brachten Läuse mit, und alle anderen bekamen sie dann auch. Manche Verwandten kamen auf die Idee, Läusemittel mitzuschicken, und so wuschen wir diesen Frauen die Haare, und uns selbst auch. Sie wurden wahrscheinlich in unsere Zelle gesteckt, um es uns noch unangenehmer zu machen und Streit zu schüren, aber das gelang nicht. Es waren ganz normale Frauen, nur eben mit gebrochenem Schicksal. Letztlich waren sie die Gestraften, denn in den anderen Zellen hätten sie ein eigenes Bett gehabt, ausgeschaltetes Licht und eine funktionierende Lüftung.
     
    Die Zelle für die Politischen ist immer voll. Aber das Schlimmste sind weder der unerträgliche Alltag noch die fünfzehn Menschen auf engstem Raum, nicht einmal die Läuse und Wanzen oder die stickige Luft. Das Schlimmste ist, dass du 15 Tage bekommen hast und bis zuletzt nicht weißt, ob du danach rauskommst oder ein Strafverfahren auf dich wartet … vielleicht bekommst du auch noch mal 15 Tage, oder sie finden in deinem Handy etwas gegen jemand anderen … Ich werde mir nie vorstellen können, was diese Frauen fühlten, die in dieser Zelle saßen und nicht wussten, ob sie am Ende rauskommen würden oder nicht. Und selbst wenn sie rauskommen, werden sie ständig in der Erwartung leben, wieder verhaftet zu werden.

    Ich hörte mir die Geschichten dieser Frauen an und dachte: „Was für ein Mist, das sind wunderbare Menschen, sie haben nicht verdient, dass das mit ihnen passiert, sie haben diesen Staat nicht verdient.“ Ich dachte darüber nach, warum so wenig darüber gesprochen wird, wo all das doch genau jetzt passiert. In dieser Zelle sitzen auch heute noch 15 Menschen, und manche werden da nicht mehr rauskommen, weil im Anschluss das Strafverfahren wartet.

    Illustration © no Future
    Illustration © no Future

    Warum erzähle ich das alles? Natürlich wird es nichts an der Regierung in Belarus ändern, es wird auch die Haftbedingungen der Politischen in Akreszina nicht menschlicher machen, aber wenigstens schaltet und waltet das Böse nicht in aller Stille und bei ausgeschaltetem Licht. Wir haben nicht viele Instrumente, um den Belarussen, besonders von Russland aus, zu helfen, aber wir sind verpflichtet, darüber zu sprechen. Und wenn es nur dazu führt, dass dieser Jewgeni Wrublewski, der Möchtegern-„Oberfaschist“, sich später seiner Verantwortung nicht entziehen kann, dass alles, was passiert, dokumentiert wird und es wenigstens später Gerechtigkeit geben kann. Damit die Menschen, die jetzt in diesem Moment das alles durchmachen müssen, das nicht umsonst tun. 

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    „Für die Z-Blogger ist Putin ein Trottel“

    Mit dem Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat sich auf Telegram ein regelrechtes Ökosystem sogenannter Z-Kanäle entwickelt: Sie werden betrieben von Militärbloggern, Frontberichterstattern, Kadyrow-Anhängern und Propagandisten aus den Staatsmedien, die alle den Krieg gegen die Ukraine befürworten und sich meist ein noch entschlosseneres Vorgehen des Kreml wünschen.

    Der Schriftsteller Iwan Filippow verfolgt diese Szene genauestens und berichtet auf seinem eigenen Telegram-Kanal darüber. Im Interview mit dem Portal Republic spricht er darüber, wie diese sogenannten „Z-Blogger“ ihre Enttäuschung über den Kriegsverlauf zeigen, warum sie Putin für einen Trottel halten und was sie zum Gaza-Krieg schreiben. 

    Fenster an einem Gebäude in Moskau formen den Buchstaben Z – das inoffizielle Symbol für den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine / Foto © Russian Look/imago images

    Jewgeni Senschin: Gibt es so etwas wie eine Z-Ideologie, oder ist das ein Mosaik aus Meinungen, Positionen, Stimmungen und Äußerungen, die nur die Idee vereint, gegen die Ukraine zu kämpfen?

    Iwan Filippow: Die Z-Ideologie ist eine Ideologie des Kriegs, die auf jeden Fall die militärische Niederlage Kyjiws und den Sieg Russlands in seiner „militärischen Spezialoperation“ umfasst. Auf dieser Basis sind sich alle einig, aber dann beginnen die „ideologischen Unstimmigkeiten“. Je nach Themengebiet haben alle unterschiedliche Vorstellungen. Wie sieht der Sieg aus? Soll die ukrainische Sprache verboten werden oder nicht? Soll die gesamte ukrainische Bevölkerung ausgerottet werden, oder kann man manche am Leben lassen? Was soll man mit Kyjiw machen: es russifizieren oder in einen gigantischen Friedhof verwandeln?

    Da gibt es viele Kannibalen, die einen Genozid befürworten

    Soll man es bei der Ukraine belassen oder auch das Baltikum und Polen erobern? Welche postsowjetische Republik soll nach der Ukraine „bestraft“ werden – Kasachstan, Armenien, Georgien? Sogar die Gründe für den Krieg sehen die Betreiber von Z-Kanälen manchmal völlig unterschiedlich.

    Nachdem Sie diese Community jetzt so lange beobachtet haben, was können Sie über deren psychische Verfassung sagen? Sind die ganz bei Sinnen oder nicht? Vielleicht ist die Eroberung Polens ja eine durchaus rationale Idee, für die es knallharte Argumente gibt? Wir verstehen sie nur einfach nicht und halten ihre Verfechter deswegen zu Unrecht für Psychos und Menschenfresser? 

    Ja, da gibt es viele Kannibalen, die einen Genozid befürworten und für Konzentrationslager und sonstige Scheußlichkeiten Stimmung machen. Zu den Ärgsten gehören da Goworit TopaZ (dt. Hier spricht TopaZ) oder Alex Parker Returns

    Der Grat ist natürlich schmal – dass Russland den Krieg gewinnt, wollen sie ja sowieso alle, aber trotzdem rufen noch lange nicht alle Autoren zu Kriegsverbrechen und bestialischen Ungeheuerlichkeiten auf. So mancher glaubt ehrlichen Herzens und nicht nur, um sich vom Kreml finanzieren zu lassen, an die Größe des Imperiums, an Russlands Waffen, an die Überlegenheit der Russen über alle anderen. Von Schlagwörtern wie „Entnazifizierung“ und sonstigen propagandistischen Klischees halten sie genauso wenig wie die Kriegsgegner, gleichzeitig glauben viele von ihnen aber tatsächlich an das zugrundeliegende Narrativ von der „Bedrohung durch die NATO“, der „Verteidigung nationaler Interessen“ und so weiter. 

    Was Militärblogger betrifft, so gibt es unter ihnen sehr viele Ideologen, die seit 2014 kämpfen und sich ein Leben ohne Krieg gar nicht mehr vorstellen können. Obwohl man auch über die Armeeangehörigen nichts Fixes sagen kann: Es gibt Zweifler, es gibt Gleichgültige, und es gibt richtige Menschenfresser.

    Der Betreiber des Kanals Ubeshischtsche №8 (dt. Schutzbunker Nr. 8) schrieb zum Beispiel einmal einen sehr prägnanten Text über die Stimmung in der Armee, der auf den einfachen Gedanken hinausläuft: Zwar sehe ich keinen Sinn in diesem Krieg, mir ist die Ukraine absolut egal, aber wenn sie mich schon losschicken und mir Geld dafür zahlen, dann kämpfe ich eben.

    Sie sehen ein Problem, bleiben aber buchstäblich einen Meter vor der richtigen Schlussfolgerung stehen

    Solche Stimmungen zu erforschen, ist deswegen interessant, weil wir daran die Entwicklung der Gedanken beobachten können. Wie Zweifel entstehen, wie sich Sichtweisen verändern, wie Reflexion beginnt. Zusammen mit Kollegen, die ebenfalls die Kreml-Propaganda untersuchen, bin ich zu folgendem Schluss gekommen: Die Denkweisen all dieser Autoren haben eine Gemeinsamkeit. Sie sehen ein Problem, das eine Lösung erfordert, bringen einleuchtende und vernünftige Argumente vor, denken logisch über das Problem nach und … bleiben buchstäblich einen Meter vor der richtigen Schlussfolgerung stehen. 

    Seht nur, schreiben die Z-Autoren, ringsum gibt es nichts als Probleme, vor allem Korruption und Willkür, es fehlt an Meinungsfreiheit, an Rechtsstaatlichkeit, an fairen Wahlen. Darüber gibt es tausende Z-Beiträge, doch keiner der Verfasser antwortet auf die Frage: „Wie kam es denn dazu?“ Tja, offenbar ist das ganz von selbst so gekommen.

    Wahrscheinlich kann man so gut wie alle Z-Blogger als Imperialisten bezeichnen. Nicht unbedingt Monarchisten, obwohl es auch die massenhaft gibt, aber generell Menschen, die davon träumen, in einem großen, mächtigen Land zu leben, einer Art neuer Sowjetunion. Als Staatsbürger von diesem Imperium auf Händen getragen zu werden und sich erhaben zu fühlen, allein durch Geburt. Amüsant war, wie sich etwa vor einem Jahr gleich mehrere Blogger verbittert über die neue Einstellung des Westens gegenüber Russland beklagten: Dass sie uns nicht mögen können, verstehen wir ja, aber warum fürchten sie uns nicht mehr? Wie können sie es wagen, keine Angst vor uns zu haben?

    Sie sprechen von einer Art Entwicklung der Ansichten. Welche Ereignisse haben diesbezüglich Einfluss? Wahrscheinlich solche wie die Verhaftung von Strelkow, Prigoshins Meuterei und seine anschließende Ermordung, dann diverse Misserfolge an der Front. Wie spiegelt sich all das in dieser „Evolution“?  

    Hierzu gehören auch der Rückzug aus der Oblast Charkiw, die Übergabe von Cherson, das Scheitern der Eroberung von Kyjiw, Prigoshins Kritik, Bachmut, Prigoshins Konflikt mit Schoigu, Prigoshins Ermordung.

    Die Geschichte mit Igor Strelkow ist für die Z-Community extrem wichtig. Es gab offenbar ein unausgesprochenes Tabu, Putin persönlich zu kritisieren. Das betraf nur Putin höchstselbst, nicht etwa seinen „Furniermarschall“. Aber je miserabler die Lage an der Front war, desto zorniger richtete sich Strelkows Kritik gezielt gegen Putin, und kurz vor seiner Verhaftung artete das schon in regelrechte Beschimpfungen aus. Und mit ihm fingen auch andere damit an … Doch kaum befand Strelkow sich in U-Haft, breitete sich ein vielsagendes Schweigen aus. Wenn man jetzt auf einem Z-Kanal eine Beleidigung oder Kritik liest, die direkt gegen Putin gerichtet ist, dann lebt der Verfasser garantiert im Ausland.

    Für sie ist Putin ein Trottel

    Ein unerwartetes Ergebnis dessen, wie sich die Z-Meinungen angesichts der Ereignisse entwickelt haben, ist Enttäuschung über Putin. Diese wird sehr dezent formuliert und nie direkt geäußert (zumindest nicht von Leuten, die noch in Russland leben), aber generell wiegt die Enttäuschung schwer. Putin hat sich als Schwächling erwiesen. Seine Anhänger wollen ihn als Feldherren sehen, als Visionär, der die Soldaten an der Front besucht und jede Sekunde seines Lebens dem Sieg Russlands widmet. Aber er ist ein Piepmatz. Es macht sie rasend, dass Putin ständig lamentiert, wie ihn der Westen betrogen hat. Darüber, dass Putin übers Ohr gehauen wurde, kursieren in der Z-Community bereits Memes. Sie und ich, wir können darüber nur schmunzeln, aber die Z-Community lacht breit und schadenfroh aus vollem Halse. Für sie ist Putin ein Trottel. Wer wird über den Tisch gezogen? Ein Trottel. Und wen können die „geschätzten Partner im Westen“ zum x-ten Mal reinlegen? Einen Trottel.       

    Gleichzeitig wird seit der Sache mit Strelkow und seit Prigoshins Tod jetzt nur mehr unpersönlich und in Andeutungen geschrieben, oder man wendet sich dem altbewährten Mythos zu: Gut ist der Zar, die Bojaren sind böse. Und wer Putin „Pynja“ oder „Pypa“ nennt, lässt uns wissen, dass er im Ausland lebt.

    Wo denn zum Beispiel?

    Eine Bloggerin lebt in England. Zwei in Spanien. Ein radikaler Autor schreibt, er lebe in Kanada. Ein anderer in Armenien. Sie lieben ihre Heimat und unterstützen den Krieg aus sicherer Entfernung. 

    Kürzlich sind an der Front ATACMS-Raketen aufgetaucht. Wie reagierte das Z-Publikum darauf?

    Der Angriff mit ATACMS auf den Flugplatz im besetzten Berdjansk, der je nach Quelle zu einem Verlust von bis zu sieben Helikoptern führte, hat die Z-Community erschüttert. Man ist aber nicht nur frustriert, sondern auch empört, und buchstäblich jeder Blogger monierte, dass es nirgendwo – weder in Russland noch in den besetzten Gebieten – Schutzbauten für Hubschrauber und Flugzeuge gebe. Sie regen sich auf, dass es seit über einem Jahr keiner schafft, diese einfachste aller Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Und sie fordern (wie immer) die Erschießung der Verantwortlichen. Die Diskussion über Perspektiven des Kriegs angesichts dieser ATACMS-Lieferungen verläuft ruhiger. Man geht davon aus, dass sie zwar keine Wende im Kriegsverlauf, aber trotzdem allerhand Probleme bringen werden. 

    Vor allem aber ärgert die Z-Blogger, dass Russland zuerst mit Tod und Teufel droht und rote Linien zieht, wenn Langstreckenraketen ins Spiel kommen sollten, und dann auf einmal: Pffft. „Was können wir denn machen? … ordentlich kämpfen (wie Israel gerade) traut sich keiner, die roten Linien gehen durch die Unterhosen der Kinder eines Tuwiners und einer Turnerin. Dafür stopfen sie den eigenen Leuten das Maul immer fester, statt den Feind zu vernichten“, schreibt der Betreiber des Channels DschRG Russitsch.

    Die Z-Community speist sich aber nicht nur aus der Ukraine. Die Weltpolitik hat auch noch die Konfrontation zwischen Hamas und Israel für sie in petto. Was sagen die denn dazu?

    Etwa 70 Prozent reagierten auf die tragischen Ereignisse in Israel mit Begeisterung. Sie hegen starke Antipathien gegen Israel, zumal dort viele Russen Zuflucht vor der Mobilmachung gefunden haben. „Ihr habt unsere Verräter aufgenommen, das habt ihr nun davon.“ Sie feiern jeden Tod in diesem Krieg, posten unzensiert die furchtbarsten Videos, die die Hamas verbreitet. Sie freuen sich über die Vernichtung israelischer Zivilisten und wünschen der Hamas den Sieg. Zugleich schreiben sie über Verbrechen des israelischen Militärs in Gaza. Und hier und da schimmert der alte banale Antisemitismus durch. Wie Sie wissen, hatte die Hamas für Freitag, den 13. Oktober, einen weltweiten Pogrom gegen Juden angekündigt, doch nichts geschah. Einer der Z-Blogger war sogar enttäuscht: „Wie denn das, kein einziger Toter, ich dachte, wenigstens die Muslime sind effektiv, aber auch die sind faul geworden und können nicht mal mehr Juden ermorden.“

    Ich betone, das ist nicht die Haltung des Mainstreams, aber der Antisemitismus nimmt in den Z-Kanälen tagtäglich zu. Zum Beispiel die aussagekräftige Reaktion nach dem Fernsehauftritt von Amir Weitmann, dem Vorsitzenden der libertären (die Hälfte schrieb irrtümlich: liberalen) Fraktion der Likud-Partei, in dem dieser versprach, nach dem Sieg Israels müsse Russland seine Rechnung zahlen. „Glauben Sie mir, Russland wird bezahlen. Russland unterstützt Israels Feinde. Russland unterstützt Nazis, die einen Genozid unseres Volkes wollen. Und Russland wird dafür bezahlen, genauso wie die Hamas bezahlt hat.“ Der Blogger von Grey Zone schrieb: „Lck mcham Arsch, eine sprechende Seife … Wir können das wiederholen.“ Oder, formal weniger radikal, Shiwow Z: „Ihr habt selber noch etliche Rechnungen offen, von der Ermordung des russischen Zaren bis zur Ausmerzung der russisch-orthodoxen Kirche und Auslöschung ganzer Klassen aus unserer Gesellschaft.“

    Die größte Freude bezüglich des Hamas-Angriffs auf Israel macht jedoch die Hoffnung, dass Amerika nicht gleichzeitig zwei Kriege unterstützen und seine Waffen statt in die Ukraine nach Israel liefern wird – was Russland natürlich zugute käme. 

    In den letzten Wochen bestand der Content von Z-Channels zu circa 40 Prozent aus Beiträgen über Israel.

    Doch in diesem Z-Strom passiert auch Skurriles. Es gibt Autoren, die ihren politischen Überzeugungen nach absolut proisraelisch sind. Doch in der aktuellen Situation wird ihnen plötzlich bewusst, dass das Land, das sie medial bedienen, nicht für Israel ist, sondern für die Hamas. Das ist für sie ein schwerer Schock. Im Fernsehen ist das Jakow Kedmi, auf Telegram Jewgeni Satanowski, der den Kanal Armageddonytsch betreibt. Wo er die Frage stellt: „Wie kann ein Land, das Budjonnowsk, Nord-Ost, Beslan hinter sich hat, die Hamas unterstützen?“ Er ist aus der Bahn geworfen und versucht, die Balance wiederzufinden. Und er kommt zu der Lösung: In der Ukraine werde ich Russland unterstützen, im Nahost-Konflikt Israel.     

    Meiner Ansicht nach sind das zwei unvereinbare Positionen, diese Haltung ist schizophren. Das vorhersehbare Ende kennen wir. Satanowski nannte in einem Interview [Außenamtssprecherin] Maria Sacharowa eine „versoffene Schlampe“ und wurde von Solowjow umgehend entlassen. Die Z-Community interpretiert diesen Vorfall durchweg dahingehend, dass „ein schlafender Agent des globalen Zionismus enttarnt wurde“. Nicht ohne immer wieder auf die Nationalität von Jewgeni Janowitsch Satanowski hinzuweisen, und ungefähr jeder zweite Text ist – mal heftiger, mal weniger – antisemitische Hetze.  

    Wie lassen sich die Stimmungen zusammenfassen, die in dieser Szene derzeit vorherrschen?

    Ich habe für mich längst beschlossen, ihre Stimmungen nicht nur anhand dessen einzuschätzen, was sie an einem konkreten Tag schreiben. Sie sind wie hyperaktive Kinder, ihre Launen schwanken in einer gigantischen Amplitude. Heute schreiben sie vielleicht: „Alles verloren, Chef!“, und morgen schon: „Klar wird Kyjiw erobert!“ Wobei natürlich sehr wohl eine allgemeine Richtung auszumachen ist. Die Gefühle, die die Z-Community heute vorwiegend durchlebt, sind Fassungslosigkeit und Besorgnis. 

    Fassungslosigkeit, weil sie nicht verstehen, wieso – so scheint es ihnen – „keiner versucht, den Krieg zu gewinnen“. Daraus wächst Misstrauen, vor allem an die Adresse Putins – er will diesen Krieg nicht so richtig führen. Außerdem kann er der Gesellschaft nicht einmal ein Bild des Sieges bieten. Der Krieg dauert nun schon weit über 600 Tage, und noch immer erhalten wir, wenn wir zwanzig Z-Bloggern die Frage stellen, wie ein Sieg Russlands in dieser „Spezialoperation“ aussieht, ganz unterschiedliche oder gar keine Antworten. Gleichzeitig ist Bitterkeit und Enttäuschung darüber zu verspüren, dass die „Spezialoperation“ irgendwie nur für den Schein sei, aber die Menschen tatsächlich darin umkommen.  

    Sie fürchten, dass sich der Kreml auf ein faules Abkommen einlassen könnte

    Die Tendenz der letzten Tage ist, dass die Z-Blogger ihre Beiträge von vor einem Jahr ausgraben, in denen sie sich über Probleme in der Armee beklagten, um damit zum Ausdruck zu bringen: „Seitdem ist nichts besser geworden.“

    All das zusammen führt zu Besorgnis. Sie befürchten, dass der Kreml sich auf ein faules Abkommen einlassen und damit die nationalen Interessen verraten könnte. Manche rechnen sogar ernsthaft damit, dass Russland die Krim abtreten könnte, was für sie einer Katastrophe gleichkommt.   

    Eine meiner wichtigsten Schlussfolgerungen, die sich auf tausende Z-Postings stützt, lautet: Heute unterstützt nur eine Minderheit der russischen Gesellschaft den Krieg. Trotz aller weit verbreiteten Mythen und Behauptungen der Propaganda ist der Krieg unpopulär, wurde nie und wird auch jetzt nicht von der großen Masse unterstützt. Die Kriegspartei ist eine marginale Minderheit, die die Interessen eines sehr kleinen Segments der russischen Gesellschaft vertritt. Und das Wichtigste, die Z-Blogger wissen das eigentlich, und es macht ihnen sehr zu schaffen, weswegen sie endlos darüber jammern.  

    Wollen Sie sie nur beobachten wie ein Biologe das Verhalten von Mäusen? Oder muss man sie als würdige Opponenten betrachten und versuchen, mit ihnen in einen Dialog zu treten, zu diskutieren, sie von etwas zu überzeugen?

    Ich glaube schon, dass man mit ihnen diskutieren sollte. Die Z-Community besteht ja aus realen Menschen. Und wie schon gesagt, viele von ihnen zweifeln, sind enttäuscht von der Regierung, ihr Denken entwickelt sich weiter. Es ist absolut nicht ausgeschlossen, auch wenn es jetzt naiv klingt, dass es manchen von ihnen sogar irgendwann dämmert, wie sinnlos und kriminell dieser Krieg ist.

    Und natürlich muss es eine Möglichkeit zum Dialog mit ihnen geben. Ich bin mir nicht sicher, ob sie dazu bereit sind, aber eine solche Möglichkeit, auch wenn sie vielleicht nur theoretisch besteht, vom Tisch zu wischen, das fände ich nicht richtig. Was meinen eigenen Kanal betrifft, so weiß ich ganz bestimmt, dass die Z-ler ihn lesen und hier und da auch beeindruckt davon sind. Das merkt man an den Kommentaren. Wobei jedoch ein Austausch mit Kriegsverbrechern, die einen Genozid rechtfertigen, nicht möglich ist. 

    Welche Prognosen könnte man ausgehend vom Content der Z-Kanäle zu den Perspektiven des Kriegs anstellen?

    Am allerwenigsten will ich ein Professor Solowei sein, Prognosen sind eindeutig sein Metier. Ich verfüge über kein geheimes Wissen. Aber die Stimmung in den Z-Kanälen ist nicht siegessicher. Der letzte Beitrag, in dem es um die Besatzung von Kyjiw ging, liegt, wenn ich mich recht erinnere, ein Jahr zurück. Sie haben schon die Rechtfertigung dafür gefunden, warum das so ist – weil Russland gegen die ganze Welt kämpft. Es herrscht Enttäuschung über Putin, über den Kriegsverlauf: Wir gehen nicht auf Angriff, und wenn doch, dann wird es ein Fleischwolf à la Awdijiwka, wir sind ständig in der Defensive, und da gewinnt man nicht, wir bekommen unser Land kriegstechnisch nicht auf Schiene … Diese Liste ließe sich endlos fortsetzen.

    Kann man daraus schließen, dass sie einsehen, dass Russland diesen Krieg schon verloren hat? 

    Ich glaube, so ganz stimmt das nicht. Obwohl – während zu Beginn sehr viel vom Sieg die Rede war, wird dieses Thema mittlerweile tatsächlich einfach ignoriert. Jetzt sind andere Themen aktuell: Hoffentlich überleben wir heute den nächsten Streubombenangriff, und was übermorgen passiert, werden wir ja dann sehen. Mit einem Wort: Kaum jemand will weit vorausdenken, weil die Zukunft völlig im Ungewissen liegt. 

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  • Christopher Nunn: War Rooms

    Christopher Nunn: War Rooms

    Der britische Fotograf Christopher Nunn hat eine Gabe, Dinge zum Sprechen zu bringen. Beim Ansehen seiner Arbeiten spielen sich ganze Geschichten im Kopf des Betrachters ab. Nach Beginn des verdeckten Krieges gegen die Ukraine im Donbass 2014 fotografierte er Fernsehgeräte in Wohnräumen und Behörden, einige in russisch kontrolliertem Gebiet gelegen, einige auf Gebiet unter ukrainischer Kontrolle. Einige Geräte zeigten die russische Sicht der Welt in der Version der staatlichen Propaganda, auf anderen liefen ukrainische Sender. Infowar nannte er das Projekt. In seinem jüngsten Projekt War Rooms geht es wieder darum, dass der Krieg in die Häuser der Menschen eingedrungen ist. Aber diesmal nicht durch den Fernseher, sondern in seiner ganzen realen Brutalität.

    Eine von Besatzern verwüstete Wohnung im Dorf Werbiwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Eine von Besatzern verwüstete Wohnung im Dorf Werbiwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn

    dekoder: Wie finden Sie die Orte, an denen Sie diese Fotos aufnehmen?

    Christopher Nunn: Ich habe bei diesem Projekt mit der ukrainischen Regisseurin Oksana Karpovych zusammengearbeitet. Ihr Film Intercepted soll im kommenden Jahr erscheinen. Die meisten Bilder entstanden während der ukrainischen Gegenoffensive im Jahr 2022 in der Region Charkiw. Wir hatten einen großartigen Producer, Artem Fysun, der selbst aus Charkiw stammt. Er hat uns in unterschiedliche Städte und Dörfer geführt, die gerade erst befreit worden waren nach Monaten russischer Besatzung.

    Wie gefährlich war es, dort zu arbeiten?

    Piwnitschna Saltiwka, ein Wohnviertel am Stadtrand von Charkiw, ist einer der am stärksten zerstörten Orte. Das Viertel wurde praktisch in eine Geisterstadt verwandelt. Das erste Mal, als wir dort hinfuhren, war kurz vor der Gegenoffensive, und die russischen Stellungen lagen noch sehr nahe an Charkiw. Wir mussten ein paar Minuten nach unserer Ankunft schon wieder gehen, weil etwa 100 Meter die Straße hoch „Grad“-Raketen eingeschlagen waren. Das war zu der Zeit die tägliche Realität der Menschen dort. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer leben heute noch immer in dieser dauernden Angst.

    Küche einer Wohnung im Dorf Werbiwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Küche einer Wohnung im Dorf Werbiwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn

    Als Betrachter fragt man sich, ob diese Räume schon lange verlassen sind, oder ob das Geschoss gerade erst eingeschlagen hat?

    Einige der Gebäude befanden sich im Zentrum von Charkiw und wurden nur wenige Stunden vor unserer Ankunft bombardiert. Einige der Bilder habe ich in der Region Kiew aufgenommen, diese wurden während der frühen Phasen der Invasion beschädigt. Die Zerstörung ist allgegenwärtig, aber die Ukrainer beeilen sich auch, zerstörte Gebäude entweder schnell zu reparieren oder abzureißen. Wir wussten daher, dass die Räume, die wir betraten, vielleicht nicht lange in diesem Zustand existieren würden.

    Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass gar nicht alle Räume durch Artillerie verwüstet wurden. Einige sind auch einfach verlassen, weil die Einwohner fliehen mussten. In anderen haben Besatzer gehaust.

    Genau. Wir sehen einen Raum, der auf die eine oder andere Weise durch den Konflikt verändert wurde und in einem Zustand der Unordnung ist. Die Räume waren im Grunde Tatorte und sie zeigen die Folgen des russischen Krieges: Tod, Vertreibung, Besatzung und Zerstörung. Je besser man die Ukraine und ihre Kultur kennt, desto mehr Details erkennt man auf den Bildern. Alltägliche Dinge wie bestimmte Tapetenmuster, die man in der Ukraine häufig findet, Ikonen oder das Blumenmuster auf einem Kochtopf zum Beispiel. Viele Wohnungen waren noch für Weihnachten und Neujahr geschmückt. Die Ukrainer begehen Weihnachten am 7. Januar, und am 24. Februar begann die Invasion.

    Wohnzimmer in Borodjanka, Gebiet Kyjiw / Foto © Christopher Nunn
    Wohnzimmer in Borodjanka, Gebiet Kyjiw / Foto © Christopher Nunn

    Gibt es etwas, was Sie an diesen Orten besonders berührt hat?

    Abgesehen von der menschlichen Tragödie dieses Krieges und dem Leid, das er verursacht, war es immer traurig, auf verlassene oder sterbende Haustiere zu treffen, oder einfach die Spuren des friedlichen Lebens zu sehen, das nicht mehr existiert. Wir haben viele zerstörte Schulen gesehen, das ist auch sehr bedrückend.

    Zerstörte Schule im Dorf Lebjasche, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Zerstörte Schule im Dorf Lebjasche, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Zerstörte Schule im Dorf Lebjasche, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Zerstörte Schule im Dorf Lebjasche, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Borodjanka, Region Kyjiw / Foto © Christopher Nunn
    Borodjanka, Region Kyjiw / Foto © Christopher Nunn
    Verwaltungsgebäude nach Abzug der russischen Besatzer, Kutusziwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Verwaltungsgebäude nach Abzug der russischen Besatzer, Kutusziwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Küche einer Wohnung in Irpin, Region Kyjiw / Foto © Christopher Nunn
    Küche einer Wohnung in Irpin, Region Kyjiw / Foto © Christopher Nunn
    Klassenzimmer einer zerstörten Schule im Dorf Wilchiwka, Gebiet Charkiw /: Foto © Christopher Nunn
    Klassenzimmer einer zerstörten Schule im Dorf Wilchiwka, Gebiet Charkiw /: Foto © Christopher Nunn
    Borodjanka, Region Kyjiw / Foto © Christopher Nunn
    Borodjanka, Region Kyjiw / Foto © Christopher Nunn
    Borodjanka, Region Kyjiw / Foto © Christopher Nunn
    Borodjanka, Region Kyjiw / Foto © Christopher Nunn
    Von Besatzern genutzte Wohnung im Dorf Werbiwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Von Besatzern genutzte Wohnung im Dorf Werbiwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Verlassene Wohnung in Bezirk Piwnitschna Saltiwka, Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Verlassene Wohnung in Bezirk Piwnitschna Saltiwka, Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Von Besatzern verwüstetes Haus im Dorf Werbiwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Von Besatzern verwüstetes Haus im Dorf Werbiwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Schlafzimmer im Zentrum von Charkiw nach russischem Beschuss / Foto © Christopher Nunn
    Schlafzimmer im Zentrum von Charkiw nach russischem Beschuss / Foto © Christopher Nunn
    Verlassenes und geplünderte Haus in Isjum, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Verlassenes und geplünderte Haus in Isjum, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Zerstörtes Haus in der vor Kurzem befreiten Stadt Kamjanka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Zerstörtes Haus in der vor Kurzem befreiten Stadt Kamjanka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Rathaus der Stadt Isjum, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Rathaus der Stadt Isjum, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Zerstörte Schule im Dorf Wilchiwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Zerstörte Schule im Dorf Wilchiwka, Region Charkiw / Foto © Christopher Nunn
    Borodjanka, Region Kyjiw / Foto © Christopher Nunn
    Borodjanka, Region Kyjiw / Foto © Christopher Nunn

    Fotografie: Christopher Nunn
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 09.11.2023

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  • „Uns steht noch so etwas wie ein Bürgerkrieg bevor”

    „Uns steht noch so etwas wie ein Bürgerkrieg bevor”

    Die belarussische Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch erhebt immer wieder ihre Stimme, wenn es um politische Themen und die Verteidigung demokratischer Grundrechte geht. Auch deswegen musste sie ihre Heimat verlassen, wo die Machthaber nach den Protesten von 2020 bis heute mit harten Repressionen gegen jegliche Form des Andersdenkens vorgehen. 

    In einem längeren Interview für das belarussische Online-Medium Zerkalo spricht Alexijewitsch über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, über die Frage einer Schuld der Belarussen an diesem Krieg, über die vielen politischen Gefangenen in ihrer Heimat und über die Auswirkungen der post-sowjetischen Ära auf die aktuelle Lage in Osteuropa.

    Zerkalo: Was machen Sie in letzter Zeit?

    Swetlana Alexijewitsch: Ich lebe in Berlin, habe Heimweh, schreibe ein Buch und reise viel. Im Grunde ist mein Leben wie immer, nur eben nicht zuhause. Belarus vermisse ich sehr. Ich habe keine Ahnung, wann ich wieder hinfahren kann. Das macht mich traurig. 

    Sie wurden in der Ukraine geboren, in Iwano-Frankiwsk. Ihre Mutter ist Ukrainerin, Ihr Vater Belarusse. Wie erleben Sie das, was derzeit passiert?

    Ich fiebere mit der Ukraine, ich wünsche mir sehr, dass sie siegt. Das würde das Machtgefüge unserer gesamten Region verändern. Sonst bleiben wir weiterhin außen vor. Die Ukraine ruft in mir nichts als Begeisterung hervor. Wie sich die Ukrainer vom ersten Tag an behauptet und gezeigt haben, dass sie ihre Heimat nicht hergeben, das kann nur begeistern. 

    Haben Sie erwartet, dass die Ukrainer sich so verhalten?

    Wissen Sie, ich habe lange genug in der Ukraine gelebt. Ich habe damit gerechnet, ja, ich wusste, dass sie die Ukraine nicht hergeben werden. Sie haben schon mehrere Maidane hinter sich. Sie sind auf ein europäisches Leben eingestellt und wollen nichts anderes mehr. Ich war dort an vielen Universitäten eingeladen, habe diese Jugend mit ihren leuchtenden Augen gesehen, die sich ein neues Land aufbauen will. Ich fürchte nur, sie sind jetzt alle tot. 

    Tragen die Belarussen Schuld an diesem Krieg und werden wir danach Reparationen an die Ukraine zahlen müssen?

    Ob wir müssen werden, weiß ich nicht, aber ich denke, wir werden helfen. Wir sind ja Geiseln unseres Regimes. In Belarus tragen nur wenige Menschen Schuld, und wenn, dann sind es Russen, die Russland unterstützen. Ich habe hier viele Belarussen getroffen, keiner hat schlecht über die Ukraine gesprochen, niemand will kämpfen und Ukrainer töten. Ich habe zwei Cousins in der Ukraine und will mir gar nicht vorstellen, wie das möglich wäre – dass wir einander umbringen. 

    Das sind nicht meine Worte, aber man hört oft: Dieser Krieg ist ein Krieg der alten Männer, der alten Überzeugungen und Vorstellungen, ein Krieg von Leuten , die diese alte Weltordnung beibehalten wollen. Schade um die ukrainische Jugend, auch um die russische, die gern anders leben würde. Ich habe hier viele Menschen gesehen, die vor der Mobilmachung geflohen sind. Sie könnten in den Schützengräben sitzen, aber sie wollen nicht sterben oder Ukrainer töten. Sie verstehen nicht, warum sie Menschen töten sollten, die einfach ihr Leben leben. Es ist also ein Krieg der Alten. Sie wollen die Zeit besiegen, aber das geht nicht. Also werden sie verlieren. Die Frage ist nur – wann?

    Sprechen wir über die politischen Gefangenen in Belarus. Halten Sie es für angebracht, wenn es einem peinlich ist, dass sie im Gefängnis sitzen?

    Ich weiß gar nicht, ob man das peinlich nennen kann. Peinlichkeit ist ein oberflächliches Gefühl, hier geht es um etwas viel Tieferes. Man begreift, dass man an ihrer Stelle sein könnte. Bei meiner Gesundheit würden mir zwei-drei Tage Gefängnis wohl reichen, aber trotzdem könnte ich an ihrer Stelle sein, bin es aber nicht. Ich bin nicht einmal im Land. 

    Was ist das also für ein Gefühl? Vielleicht ist es Scham oder Peinlichkeit, auch wenn die sehr an der Oberfläche liegen. Diese Gefühle gehen tiefer. Denn ich kenne Katja Andrejewa (eine Journalistin des Fernsehsenders Belsat, die zu 8 Jahren und 3 Monaten verurteilt wurde, Anm. d. Red.) und Maria Kolesnikowa, diese schöne Powerfrau, die eine Leitfigur im neuen Belarus hätte sein können. Wahrscheinlich ist es nicht Peinlichkeit, sondern Verzweiflung. So würde ich es nennen. 

    Ich denke ständig an Mascha Kolesnikowa, die ich sehr toll finde, an Polina Scharendo-Panasjuk, an Katja Andrejewa – so wunderbare Frauen! Ich will mir nicht vorstellen, was man ihnen dort antut, wie krank sie davon zurückkehren werden. Unsere Hilflosigkeit desillusioniert mich, dass wir nichts für sie tun können. Hilflosigkeit. Ich weiß nicht, was ich tun kann. Ich kenne viele, die im Gefängnis sitzen, sehr starke und interessante Frauen. Und auch Männer, wie Maxim Znak zum Beispiel. 

    Swetlana Alexijewitsch nach der Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2015 in Minsk / Foto © Tut.by
    Swetlana Alexijewitsch nach der Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2015 in Minsk / Foto © Tut.by

    Sollte der Westen Zugeständnisse machen, um die politischen Gefangenen zu befreien? Beispielsweise Belarus von Sanktionen befreien oder Lukaschenko als Präsidenten anerkennen?

    Ich weiß nicht. Früher war ich überzeugt, dass man alles tun sollte, um Menschen zu retten. Ich dachte das, als Nord-Ost passierte (eine Geiselnahme in Moskau im Oktober 2002, Anm. d. Red.) und als der Tschetschenienkrieg begann. Und auch jetzt denke ich, dass es unsere oberste Priorität sein sollte, Menschen zu retten. Andererseits wird die Regierung sich kaum auf Zugeständnisse einlassen. Sie halten die Häftlinge nicht nur als Tauschware im Gefängnis, sondern auch aus Rache. Sie sehen ja, die Maschine läuft, sie bleibt nicht einfach stehen, jeden Tag gibt es neue Verhaftungen. Und vor allem so brutale.

    Ich werde nie vergessen, wie eine Frau – ich glaube, es war Nikolaj Awtuchowitschs Mutter – während der Wohnungsdurchsuchung gezwungen wurde, die ganze Zeit zu knien. Vielleicht war es auch jemand anders, aber das hat sich mir eingeprägt. Letztlich hat ja nicht Lukaschenko befohlen, dass sie knien muss, das war deren Wunsch. Das bedeutet, ein Teil der Leute hasst uns, hasst uns dermaßen, dass sie eine alte Mutter vier Stunden lang knien lassen. 

    Das ist alles ziemlich gefährlich. Ich hatte immer Angst vor einem Bürgerkrieg. Wir balancieren ständig auf einem schmalen Grat. Je länger es dauert, desto tiefer geraten wir hinein. 

    Menschenrechtsaktivisten sprechen von 1500 politischen Gefangenen allein in den Untersuchungshaftanstalten und Straflagern, zudem gibt es Menschen, die ohne unser Wissen aus politischen Gründen sitzen, enorm viele haben Verhaftung, Schläge, Prozesse, Strafen, Durchsuchungen und Emigration hinter sich. Wie wird sich diese Erfahrung in unserer Bevölkerung niederschlagen?

    Es ist ein schweres historisches Trauma. Eine Demütigung. Einerseits werden wir, wenn es gut ausgeht, sagen können, dass wir standgehalten haben. Andererseits geht das nicht spurlos an einer Nation vorbei. 

    Es hängt alles davon ab, wie sich unser weiteres Leben entwickelt. Ob wir in Belarus bleiben können, wo wir nun einmal in einer geopolitischen Lage sind, in der Russland auch ohne Lukaschenko und mit einem anderen Präsidenten immer irgendwie präsent sein wird. Es ist also sehr kompliziert. Ich bin keine Politikerin, aber ich denke, dass die Bewährungsprobe für unsere Nation noch nicht zu Ende ist. Uns steht noch so etwas wie ein Bürgerkrieg bevor. 

    Die aktuelle Emigrationswelle aus Belarus ist nicht die erste, aber wohl die umfangreichste in der Geschichte des Landes. Haben Sie versucht, den Erfahrungen nachzuspüren, die die Menschen machen, die das Land verlassen und alles aufgegeben haben?

    Ja, ich treffe mich viel mit solchen Leuten und möchte ein Buch über sie schreiben. Noch vor einem Jahr hatten diese jungen Menschen leuchtende Augen und dachten, sie würden sehr bald zurückkehren. Jetzt ist dieses Strahlen erloschen. Bei Weitem nicht alle wollen hierbleiben (ich auch nicht), sie wollen nach Hause, wissen aber nicht wie.

    Gelingt es Ihnen, Kontakt mit Belarussen zu halten, die noch im Land sind? Wissen Sie, wie es denen geht?

    Es gelingt mir nur wenig, da ich weiß, dass ich abgehört werde, dafür habe ich Beweise. Ich möchte niemanden gefährden. Aber wenn wir uns treffen, dann frage ich sie aus. Ich möchte in meinem neuen Buch über sie schreiben. 

    Und dieser Streit zwischen Emigrierten und Gebliebenen … Den finde ich ungerechtfertigt. Denn auch, wer ins Ausland geht, hat es schwer. Ich kannte 50-jährige Frauen, die am Bahnhof Lasten schleppten, um zu überleben. Später fanden sie eine andere Arbeit, aber am Anfang mussten sie da durch. Ich möchte nicht, dass die Menschen in Belarus glauben, uns gehe es hier so gut. Einerseits das Heimweh, andererseits wollen bei Weitem nicht alle bleiben. Ja, viele werden hierbleiben, das ist klar, weil sie Kinder haben, die zur Schule gehen, sie werden in einem normalen Land aufwachsen. 

    Polen zum Beispiel ist sehr froh über die belarussischen Immigranten. Ich war in Wrocław, dort gibt es Fabriken, die schon geschlossen waren und nun wieder produzieren können. Für die Wirtschaft ist das sehr gut. Und die Menschen haben alles, was sie zum Leben brauchen. Aber keiner von uns weiß, wann es das neue Belarus geben wird, wer dahin zurückkehren wird. Ich denke, es werden viele sein. 

    Wenn Sie jetzt zurückblicken, drei Jahre nach den Wahlen, würden Sie dann wieder genauso handeln – dem Koordinationsrat beitreten und Ihre Solidarität mit den Protestierenden ausdrücken?

    Ja, natürlich, damals ging es gar nicht anders. Das war eine solche Bewegung, solche Gesichter! Mein Gott, wie viele wunderschöne Frauen in weißen Kleidern da auf den Straßen waren. Sie schenkten den OMON-Spezialeinheiten Blumen, worauf diese ziemlich verwirrt reagierten, bis sie ihr Kommando empfingen. Es wäre seltsam, wenn ich mit Asarjonok in dieser Rückkehrerkommission säße, während Mascha Kolesnikowa im Gefängnis ist. Nein, das ist unvorstellbar. 

    Halten Sie es für richtig, dass der Protest friedlich geblieben ist? Oder hätten die Protestierenden doch entschlossener handeln sollen?

    Diese Frage wird mir tatsächlich häufig gestellt. Ich war immer für friedlichen Protest, und nun schreibt man mir sogar Briefe, in denen man mir das vorwirft: „Sind Sie glücklich mit Ihren Luftballons und Blümchen?“ Verstehen Sie, wir haben der ganzen Welt gezeigt, dass Protest anders sein kann, dass völlig andere Menschen auf die Straße gehen können. Im Nachhinein haben wir dafür bezahlt. Aber ich reise viel, und die ganze Welt erinnert sich daran, wie schön und würdevoll alles war. Es müssen keine Reifen brennen. 

    Erstens waren die Menschen nicht bereit zum gewaltsamen Protest. Der Protest war, wie er war, weil seit dem letzten Krieg so viele Jahre vergangen und die Menschen an Frieden gewöhnt sind. Sofort eine Waffe oder einen Pflasterstein zu greifen, das ist nicht so leicht. Ich habe bei den Märschen niemanden gesehen, der dazu bereit gewesen wäre. Wenn die Situation irgendwie gekippt wäre, vielleicht wäre es dann möglich gewesen. 

    Wir hätten länger auf der Straße bleiben müssen, wir hätten nicht nachlassen dürfen

    Diese Hofgemeinschaften, die entstanden sind, das war ein völlig anderes, friedliches und modernes Belarus. Das hat die Menschen im Westen sehr beeindruckt, weil sie eher brennende Reifen kennen. Aber sehen Sie, wenn Reifen brennen wie auf dem Maidan, dann gewinnt das Land, aber wenn die Menschen in weißen Kleidern und mit Blumen auf die Straße gehen, dann bezahlen sie hinterher dafür. 

    Aber ich bin Künstlerin, ich kann mich nicht über Blutvergießen freuen oder behaupten, es sei notwendig. Auch wenn russische Schriftsteller immer sagen, dass beständig sei, wofür Blut geflossen ist. Nein, das war nie meine Überzeugung und ist es auch heute nicht. 

    Ein anderes Thema ist, dass wir länger auf der Straße hätten bleiben müssen, wir hätten nicht nachlassen dürfen. An diesem einen Tag, an dem wir so viele waren wie noch nie und Lukaschenko mit dem Maschinengewehr herumlief, kehrten wir vom Marsch zurück, und da war ein alter Mann, der weinte und sagte: „Wohin geht ihr, warum geht ihr weg?“ Verstehen Sie, er sprach aus Erfahrung. 

    Wir dachten, dass wir nach Hause gehen, um am nächsten Tag wiederzukommen. Mascha Kolesnikowa stand ebenfalls da und wollte die Leute nicht gehen lassen, sie sagte: „Bleibt hier!“ Ich weiß nicht, vielleicht wird die Geschichte sagen, dass wir im Unrecht waren, aber das war so schön. Was danach kam, war schrecklich – die Gefängnisse und all das. Für diese Schönheit müssen wir nun die Konsequenzen tragen. 

    Ihr neues Buch sollte ursprünglich von der Liebe handeln, nun habe ich gehört, Sie schreiben über die Proteste?

    Mein Buch Secondhand-Zeit trägt im Original den Untertitel Das Ende des roten Menschen. Wie sich nun herausstellt, war das noch nicht sein Ende. Er lebt weiter, er hatte sich nur versteckt. Also muss diese Geschichte weitergeschrieben werden, und das tue ich. Über den roten Menschen, was er verkörpert, wer seine Kinder sind, die nach dem Zerfall der UdSSR aufwuchsen. Ein sehr großes und ernstes Thema. 

    Ich würde gern Bücher über andere Themen schreiben, die mich interessieren, über die Liebe und das Altern. Dank der Medizin sind uns 20-30 Jahre zusätzliche Lebenszeit vergönnt. Mich interessiert, was die Menschen darüber denken, wie sie leben, wie sie diese Zeit nutzen. Aber sehen Sie, es gelingt mir nicht, die Barrikaden zu verlassen. 

    Nach dem Zerfall der UdSSR entstand ein furchtbarer Hybrid aus Kapitalismus und sowjetischem Fundament, es wurden Staaten gegründet, die nur vorgeben, Demokratien zu sein. Sie organisieren Wahlen und errichten eine Marktwirtschaft, aber in Wirklichkeit sind sie ganz normale Diktaturen, ohne klare Ideologie und mit dem einzigen Ziel, die Macht ihrer Führung zu sichern und auszuweiten. Welches der beiden Systeme ist in Ihren Augen schlimmer – das sowjetische oder das postsowjetische?

    Ich hatte mehrfach die Gelegenheit, Michail Gorbatschow zu treffen. Viel haben wir nicht gesprochen, aber er sagte wiederholt, er sei Sozialdemokrat. Ich denke auch, dass man Gorbatschows Wunsch, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu schaffen – auch wenn Russland so riesig ist und die Sowjetunion so riesig und mächtig war – als moderne Sozialdemokratie bezeichnen kann. Das ist mir sehr nah. Ich glaube, Russland hätte einen anderen Weg eingeschlagen, wenn er an der Macht geblieben wäre. Er war wohl nicht die Art Mensch, die Krieg mit der Ukraine führt. Nein, er war anders, aus einer anderen Zeit. 

    Ich erinnere mich an seine Dialoge mit dem Dalai-Lama (dem geistigen Führer Tibets, Anm. d. Red.). Die beiden formulierten sehr schöne Träume. Es gibt ein Buch darüber, aber meines Wissens nicht auf Russisch. Es soll sehr interessant sein – zwei Menschen dieses Denkens unterhalten sich über die Zukunft. Aber sehen Sie, es ist nichts daraus geworden, alles hat eine andere Richtung genommen. 

    Die Menschen hatten viele Jahre im Lager gelebt, und plötzlich ließ man sie frei. Sie traten vor die Tore, kannten nichts außer dem Lagerleben. Was sollten sie also aufbauen? Wieder ein Lager. Sie erinnern sich wieder daran, dass wir Menschen des Krieges sind, dass wir entweder kämpfen oder uns auf einen Krieg vorbereiten oder uns an einen erinnern – das ist unser Zustand. Ich habe viele Jahre lang unsere Geschichte aufgeschrieben, und ich würde sagen, die Erfahrung des Krieges und der Stalinzeit, das waren die zentralen Erfahrungen des sowjetischen Menschen. 

    Man hätte das Volk auch bilden müssen. Nicht nur füttern

    Ich erinnere mich an eine Reise nach Russland, irgendwo in die Provinz, bei Irkutsk, glaube ich. Hinterher erzählte ich meinen Freunden in Moskau: „Ihr wisst gar nicht, was die Menschen denken, die dort leben. Alles, was wir hier über Demokratie und Freiheit reden, betrifft nur unseren kleinen Kreis. Fahrt nur ein Stückchen weiter, schon weiß keiner mehr, was Freiheit ist“. Früh am Morgen hielten wir an einem Laden, vor dem schon ein Mann stand, und er sagte zu mir: „Was für eine Freiheit? Es gibt den Wodka, den du willst, es gibt sogar Bananen. Welche Freiheit? Wovon redest du?“

    Man hätte also das Volk auch bilden müssen. Nicht nur füttern, sondern auch mit ihm über die Freiheit sprechen. Über das neue Leben. Aber niemand hatte Erfahrung damit, weder die Schriftsteller noch die Ökonomen, noch die Politiker. Also ist ein neues Lager entstanden, das noch schrecklicher ist als das davor. Das Einzige, was mir trotz allem gut gefällt, sind die jungen Leute. Ich hatte Gelegenheit, mit einigen zu sprechen, die gerade das Studium beenden. Sie gefielen mir sehr. Wir haben damals vom Kosmos geträumt, von geologischen Expeditionen, wir waren Romantiker. Diese jungen Leute heute träumen konkret: Wirtschaft studieren, Manager werden, oder etwas in der Art. Sie haben so eine Selbstachtung. 

    Ich erinnere mich an eine Schülerin, die bei der Abschlussfeier des Gymnasiums für einen Lehrer eingetreten ist, der im Okrestina inhaftiert war. Ich weiß nicht, wo dieses mutige Mädchen jetzt ist, sie wurde ebenfalls verhaftet. Und dieser „Studenten-Fall“! Damit beschäftige ich mich gerade. Ja, sie wurden unter Druck gesetzt, manche vielleicht auch gebrochen, aber sie haben Großartiges geleistet, und die anderen jungen Leute werden sich daran erinnern. 

    Wissen Sie, alles was heute vor sich geht, will begriffen werden. Nicht nur Lukaschenko oder die Opposition. Man muss diese ganze Aura erfassen, die es im Land gibt, in dem um die 1000 Organisationen liquidiert wurden. Selbst ein Verein zum Schutz der Wildvögel. (Gemeint ist die Liquidation der NGO Achowa ptuschak bazkauschtschyny, Anm. d. Red.).

    Können Sie sich vorstellen, was für ein Land da geschaffen werden soll? Und doch, trotz allem können sie uns nicht aus dem globalen Kontext werfen. Es gibt Computer, einen gemeinsamen Raum im Netz. Ich wiederhole deshalb: Diese Leute kämpfen gegen die Zeit, doch die Zeit ist unbesiegbar. 

    Das heißt, die roten Menschen werden abtreten? Wie kann man die Menschen charakterisieren, die den roten Menschen ablösen werden?

    Unter diesem roten Menschen haben wir gelebt wie in einem Aquarium. Jetzt kommen Leute nach, die dem Rest der Welt gleichen. Ob es die Diktatoren wollen oder nicht, Russland und Belarus öffnen sich.. 

    Man kann heute nicht mehr in einem abgegrenzten Ghetto leben. In der heutigen Zeit sind Ghettos nicht mehr möglich. Und wenn, dann nur für kurze Zeit. Schade natürlich, dass das Leben so kurz ist, aber was will man machen?

    Wie kann man ein Land charakterisieren, in dem die Werke der einzigen Literaturnobelpreisträgerin auf Extremismus überprüft werden?

    Ja, das ist eine interessante Frage. Ich glaube, im Gebiet Hrodna hat man sogar Bücher von mir, von Uladsimir Arlou und Alhierd Bacharevič gesammelt, in eine Grube geworfen und angezündet. (Anm. d. Red.: Wir konnten keine Bestätigung für diese Information in öffentlich zugänglichen Ressourcen finden.) Die Phantasie unserer Sklaverei ist erstaunlich. Sergej Dowlatow antwortete einmal auf die Behauptung, Stalin sei an allem schuld: „Ja, Stalin. Aber wer hat die vier Millionen Denunziationen geschrieben?“ Etwas Ähnliches passiert auch bei uns. Ich habe mich mit der Stalinzeit beschäftigt und bin erschüttert, wie sehr sich alles wiederholt, wie das alles in den Hirnen festsitzt. Wieder Denunziationen, wieder lässt sich die Macht an Menschen aus, die anders denken. Es ist erschreckend. Es ist noch nicht 1937, aber es erinnert bereits daran. Besonders das Verhalten der Menschen in solchen kritischen Situationen.

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    „Russlands Resilienz hat Grenzen“

    Russland hat die Sanktionen wegen des Angriffskrieges auf die Ukraine bislang besser weggesteckt als erwartet. Das Haushaltsdefizit fällt in diesem Jahr geringer aus als geplant, der Entwurf für das kommende Jahr sieht noch einmal deutliche Steigerungen bei den Verteidigungsausgaben vor. Das liegt vor allem am hohen Ölpreis und an der schwachen Währung. Der Ökonom und Russland-Experte Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik erklärt, wo dabei die Risiken liegen und was was diese Entwicklung für die russischen Bevölkerung bedeutet.

    dekoder: Russland kurbelt seine Rüstungsproduktion massiv an. Im Haushaltsentwurf für 2024 wurden die Ausgaben für Verteidigung fast verdoppelt. Mehr als jeder dritte Rubel wird für Militär und Sicherheit ausgegeben. Ist das schon Kriegswirtschaft? 

    Janis Kluge: Aus meiner Sicht sind wir noch nicht an diesem Punkt. Um von Kriegswirtschaft zu sprechen, müssten etwa zivile Industrien per Dekret verpflichtet werden, für das Militär zu produzieren. So etwas hat es im Zweiten Weltkrieg gegeben. Wenn Fabriken, die vorher Autos herstellten, auf staatliche Anordnung hin gepanzerte Fahrzeuge vom Fließband ließen, wäre das Kriegswirtschaft. Letztlich ist das Planwirtschaft. In Russland sind aber marktwirtschaftliche Mechanismen bislang noch weitgehend in Kraft. Die Rüstungsproduktion läuft größtenteils über staatliche Unternehmen und gewöhnliche Marktprozesse. Im kommenden Jahr wird Russland insgesamt wahrscheinlich knapp zehn Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Militär und Rüstung aufwenden. Da kann man schon davon sprechen, dass die Wirtschaft auf das Kriegführen ausgerichtet wird. Aber obwohl die Kosten enorm sind, ist der wirtschaftliche Alltag davon noch relativ unbeeinträchtigt. Das wäre bei einer Kriegswirtschaft nicht mehr der Fall. 

    Wie finanziert Moskau diese Ausgaben?

    Trotz steigender Militärausgaben sollen die Ausgaben in anderen Bereichen nur leicht sinken. Dafür plant das Finanzministerium mit Mehreinnahmen in unterschiedlichen Feldern: Es gab im vergangenen Jahr eine Stundung von Sozialbeiträgen, die 2024 fällig werden. Im Öl- und Gassektor gibt es kleinere Steuererhöhungen. Dazu kommt eine neue Exportsteuer für viele Industrien, die steigt, wenn der Rubel fällt, und damit die Wechselkursgewinne der Exporteure abschöpft. Große Defizite sind nicht geplant, im Gegenteil: Das russische Haushaltsdefizit fällt in diesem Jahr sogar geringer aus als erwartet. Das Finanzministerium hatte für 2023 ein Defizit von zwei Prozent eingeplant, aktuell rechnet man nur noch mit einem Prozent. Die Kriegsausgaben lenken den Staat jedoch davon ab, nachhaltigen Wohlstand für die Bevölkerung zu schaffen.

    Welche Rolle spielt dabei der schwache Rubel?

    Der Staat profitiert von der schwachen Währung, weil er für jeden Dollar aus dem Export von Öl und Gas mehr Rubel in die Kasse bekommt. Umgekehrt werden Importprodukte teurer und der Lebensstandard der Bevölkerung sinkt. Auch Unternehmen spüren die Währungsschwäche, wenn sie zum Beispiel Maschinen aus China kaufen. Hohe Preise auf dem Weltmarkt und eine schwache Währung machen es für russische Unternehmen attraktiver, ihre Produkte zu exportieren. Der Staat hat deshalb zeitweilig den Export von Getreide und Benzin beschränkt. Denn wenn die Unternehmen mehr Geld mit dem Export verdienen können, sagen sie sich: Okay, dann erhöhe ich auch meine Preise im Inland. Für die Verbraucher wirkt die Rubelschwäche wie eine versteckte Besteuerung, im Ergebnis führt sie zu einer Umverteilung von den Bürgern in den Staatshaushalt.

    Wie lange macht die Bevölkerung das mit?

    Auf lange Sicht kann sich die Inflation zu einem Problem entwickeln. Der Staat wird deshalb auch die Renten und die Löhne staatlicher Bediensteter anpassen müssen. Auch deshalb will das Finanzministerium trotz der kurzfristigen Mehreinnahmen nicht, dass der Rubel weiter an Wert verliert. Im nächsten Jahr stehen außerdem Präsidentschaftswahlen an, und da ist es schlecht, wenn die Bevölkerung die gestiegenen Preise allzu sehr im Supermarkt spürt. 

    Wie sieht es mit dem Arbeitsmarkt aus? 

    Russlands Arbeitslosigkeit befindet sich derzeit auf einem Rekordtief, an vielen Orten herrscht Arbeitskräftemangel. Der ergibt sich aus mehreren Faktoren: Hochqualifizierte Fachkräfte verlassen das Land, weitere Arbeiter verschluckt die Mobilisierung. Außerdem treten aufgrund des demografischen Wandels aktuell ohnehin wenig junge Leute in den Arbeitsmarkt ein. Die niedrige Arbeitslosigkeit bedeutet auch: Viele Arbeitnehmer profitieren von der auf Krieg ausgerichteten Wirtschaft, denn durch die Knappheit steigen ihre Reallöhne stärker als die Inflation. Das trifft vor allem auf diejenigen zu, die in kriegsrelevanten Branchen arbeiten. Wenn einem der politische Hintergrund egal ist, ist die aktuelle Situation sogar ein guter Moment, um Karriere zu machen. Denen, die gut vernetzt sind und dem Krieg positiv gegenüberstehen, bieten sich durch die Abwanderung ausländischer Investoren viele Gelegenheiten. Deswegen fühlt es sich für viele Russinnen und Russen nicht wie eine Krise an.

    Welchen Einfluss haben da die Sanktionen?

    Von den Sanktionen sind besonders die Sektoren betroffen, die eng mit dem Westen verflochten waren, zum Beispiel die Automobilindustrie. Aber auch in vielen anderen, wirtschaftlich weniger wichtigen Branchen gibt es Auswirkungen: Kinos können sich zum Beispiel jetzt nicht mehr auf legalem Weg westliche Filme beschaffen. Hinzu kommt, dass die Sanktionen Fachleute dazu zwingen können, das Land zu verlassen, wenn sie weiterhin bestimmte westliche Software-Dienstleistungen nutzen oder Teil der vernetzten Welt sein wollen. Das macht sich vor allem in der IT-Branche bemerkbar. 

    Je nach Schätzung sind im letzten Jahr bis zu einer Million Russinnen und Russen emigriert.

    Ja, aber es haben auch einige Unternehmen ihre Zelte im Land abgebrochen. Es sind also nicht unbedingt so viele Stellen tatsächlich frei geworden, denn einige sind zurückgekehrt, nachdem sie den Schock der Teilmobilisierung überwunden hatten. Oder sie arbeiten aus der Ferne weiter für ihre russische Firma. Es ist also nicht so ganz klar, wie viele nun wirklich weg sind vom Arbeitsmarkt, deswegen ist der Effekt auf die Wirtschaftsleistung nicht eindeutig. Bei den weniger qualifizierten Berufen funktioniert weiterhin die Arbeitsmigration. Auch dieses Jahr sind wieder sehr viele Arbeitsmigranten vorrangig aus Zentralasien und dem Kaukasus nach Russland gekommen, die sind ein wichtiger Ersatz für russische Männer, die in die Armee eingezogen wurden. 

    Wo weniger gearbeitet wird, kann weniger produziert werden. Der Staat muss seine Verluste also irgendwie kompensieren. Da ist zum Einen die wachsende Rüstungsindustrie. Was noch?

    Der Staat versucht zu verhindern, dass die Produktion ausländischer Unternehmen wegfällt. Deshalb versucht die russische Führung, internationale Konzerne dazu zu zwingen, im Land zu bleiben oder ihre Unternehmen zu Spottpreisen an russische Eigentümer zu verkaufen, die das Geschäft fortführen sollen. Damit wird auch der Rubelkurs geschützt. Normalerweise müsste ein russischer Käufer, der ein deutsches Unternehmen übernimmt, erst einmal Euros besorgen, um es auszubezahlen. Der Abfluss ausländischen Kapitals schwächt aber weiter den Rubel, und das möchte man vermeiden. De facto werden Firmen wie Danone oder Carlsberg, die jetzt ihre Geschäfte aufgegeben haben, dadurch enteignet, selbst wenn sie nach den offiziellen Regeln spielen wollten.

    Volkswagen hat seine Produktion in Russland nach Beginn des Angriffskrieges eingestellt. Das Werk in Kaluga könnte an einen chinesischen Hersteller gehen / Foto © Boevaya mashina/Wikimedia (CC BY-SA 4.0)
    Volkswagen hat seine Produktion in Russland nach Beginn des Angriffskrieges eingestellt. Das Werk in Kaluga könnte an einen chinesischen Hersteller gehen / Foto © Boevaya mashina/Wikimedia (CC BY-SA 4.0)

    Und das funktioniert?

    Die Fortsetzung des Geschäfts nach so einem Eigentümerwechsel funktioniert unterschiedlich gut. Um das zu beurteilen, schaut man sich am besten die Lieferketten an. Je mehr das Unternehmen in westliche Lieferketten integriert ist, desto schwieriger ist es, die Produktion komplett vom vorherigen Eigentümer unabhängig zu betreiben. In der Automobilindustrie ist es bisher kaum gelungen, sie unter russischer Führung wieder in Gang zu bringen. Anders ist das zum Beispiel bei McDonald’s, weil es da von vornherein lokale Lieferketten gab. Aber das ist nicht alles, denn langfristig hat diese Unternehmen sicher noch mehr ausgezeichnet, als nur ein westliches Label auf irgendwelche russischen Dinge draufzuschreiben. Weil die Kommunikation mit dem Mutterkonzern jetzt abgeschnitten ist, werden wichtige Prozesse in den russischen Zombie-Unternehmen nicht weiter verbessert und dadurch fehlen Innovationen. 

    Wie lange kann der Westen den wirtschaftlichen Druck aufrechterhalten? 

    Für den Westen steht wirtschaftlich erst einmal nicht so viel auf dem Spiel wie für Russland, weil die Kosten der Sanktionen sich auf eine viel größere Volkswirtschaft verteilen, während der Schaden in Russland konzentriert auftritt. Für den Westen ist auch die Unterstützung der Ukraine nicht sehr teuer.

    Ist die Belastung des Westens durch den Krieg, die viel diskutierte „Ukraine fatigue“, nur Einbildung?

    Wenn die Unterstützer der Ukraine dauerhaft nur 0,3 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Ukrainehilfen aufbringen würden, wäre das immer noch mehr, als Russland aktuell für den Krieg ausgeben kann. Das spürt der einzelne Bürger nicht in seinem Portmonee. Aber die Frage „Unterstützen oder nicht?“ ertrinkt immer mehr in Symbolik und wird zu einem Streitthema in Wahlkämpfen. Tatsächlich kommt Deutschland trotz des Sondervermögens nur mit Ach und Krach auf die von der NATO empfohlenen 2 Prozent an Verteidigungsausgaben. Der Westen schöpft seine wirtschaftlichen Möglichkeiten, sich dem Krieg entgegenzustellen, nicht aus.

    Wann könnte Russland doch noch in Schwierigkeiten geraten?

    Der Ölpreis ist entscheidend. Russland hat aktuell kaum Reserven, um niedrige Preise abzufedern. Früher hat der Staat bei hohen Ölpreisen Reserven in ausländischen Währungen gebildet. Wenn die Preise wieder sanken, wurden die Reserven in Rubel umgetauscht, um den Rubel zu stärken. Diesen Ausgleichsmechanismus kann Russland jetzt nicht mehr auf die selbe Weise nutzen, denn durch die Sanktionen kann die Zentralbank die noch vorhandenen Reserven nicht mehr verkaufen und zumindest selbst auch keine neuen Reserven in liquiden Währungen wie Dollar und Euro anhäufen. Wenn der Preis für Öl plötzlich einbräche, wie etwa 2014, würde das Russland jetzt viel stärker treffen. Danach sieht es zwar aktuell nicht aus, aber dennoch: Russlands wirtschaftliche Resilienz hat Grenzen.

    Experte: Janis Kluge
    Interview: Alexandra Heidsiek
    Veröffentlicht am 2.11.2023

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  • „In jedem Haus ein Toter“

    „In jedem Haus ein Toter“

    Am 5. Oktober 2023 hat die russische Armee das Dorf Hrosa in der Oblast Charkiw angegriffen. Die Rakete traf eine Trauerfeier für einen gefallenen ukrainischen Soldaten aus dem Dorf. 59 Menschen kamen ums Leben, alle Opfer waren Zivilisten. Journalist Schura Burtin war am Ort der Tragödie und hat für Cherta eine Reportage über die Toten und Überlebenden von Hrosa geschrieben.

     
    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Frühmorgens, mein Kollege und ich gehen gerade in unser Hotel in Charkiw, da gibt es plötzlich einen lauten Knall. Dann einen zweiten, so dicht nacheinander, dass sie fast zu einem verschmelzen. Die Fensterscheiben zittern, wir stürzen nach draußen und sehen unseren Taxifahrer, der ganz benommen neben seinem Auto steht. Wir wissen noch nicht, wo es eingeschlagen hat, also unterhalten wir uns weiter mit der Dame an der Rezeption, frühstücken in Ruhe. Als wir schließlich an die Einschlagstelle kommen, ist die Straße schon mit Polizeiband abgesperrt. Wir sind mitten in Charkiw, in seiner schönen, beschaulichen Altstadt. Auf dem Bürgersteig liegen die zerborstenen Fensterscheiben der umstehenden Häuser.

    Eine ältere Frau steht umringt von Taschen auf der Straße und brabbelt vor sich hin

    Rettungskräfte räumen grad die Trümmer aus dem Loch, das die Rakete in das zweistöckige Backsteingebäude geschlagen hat. Das Gebäude und die Häuser daneben wirken ohne Fenster unbewohnt und verlassen. In Wirklichkeit wurden die Opfer bereits mit Krankenwagen weggebracht. Eine ältere Frau steht umringt von Taschen auf der Straße und brabbelt geistesabwesend vor sich hin. In den Taschen sind irgendwelche Sachen. Auf die Frage, wohin sie fahre, sagt sie schluchzend: „Nach Amerika. Sie sehen ja, hier geht es nicht. Gut, dass ich diese Tasche gekauft habe, eine gute Tasche ist das …“ Sie wird offenbar von einem Fluchtinstinkt getrieben. Wenn im Nachbarhaus eine Iskander-Rakete einschlägt, ist man nur noch Instinkt. Während wir mit ihr sprechen, ziehen die Helfer die Leiche eines zehnjährigen Kindes aus den Trümmern.

    Die zweite Rakete hat hundert Meter vom Puschkin-Park entfernt eingeschlagen. Die Autos sind schon ausgebrannt, die Opfer weggebracht, die Iskander-Splitter auf einer Plane ausgebreitet. Die Sonne der russischen Dichtung blickt von seinem Podest in einen Krater von fünf Metern Durchmesser. Von den Balkonen der umliegenden Häuser sind nurmehr Fetzen übrig, wie durch ein Wunder ist niemand ums Leben gekommen. Ein paar Dutzend Bewohner wurden im Schlaf lediglich von Glassplittern getroffen.

    Was hat das für einen Sinn, wenn sich Journalisten auf einen Berg von Leichen stürzen?

    Als mir am Vorabend ein Freund erzählte, dass in einem Dorf bei Charkiw 50 Menschen getötet wurden, wurde mir übel. Ich dachte daran, hinzufahren, aber dann fragte ich mich, wozu eigentlich. Was hat das für einen Sinn, wenn sich Journalisten wie die Aasgeier auf einen Berg von Leichen stürzen? Wenn jemand imstande ist, schockiert zu sein, dann kann er das auch ohne uns; Reportagen machen das Geschehene nur noch alltäglicher.

    Unser Fixer rast über die Autobahn – wir wollen vor den anderen Journalisten in Hrosa ankommen. Ich erinnere mich daran, wie ekelhaft man sich fühlt, wenn man jemanden mit Fragen löchert, der gerade einen nahen Menschen verloren hat. Soll man sich etwa erkundigen, was der Tote noch gestern gemacht hat? Die Soldaten beim Kontrollposten lassen uns ohne Weiteres passieren: Die Interessen des Präsidialbüros decken sich heute mit unseren.

    Als wir ankommen, sind bereits mehr Kameras als Menschen da. Der Ort ist winzig, es gibt nur drei Straßen. Grüppchen von jungen Psychologinnen in blauen Westen gehen herum und sprechen leise mit den Dorffrauen. Außerdem sieht man: Polizisten, UNO-Mitarbeiter in weißen Jeeps und ein paar Freiwilligen-Brigaden. Die Journalisten versuchen, einander nicht in die Quere zu kommen; wir scharen uns um die nächste verweinte Frau und stellen ihr ein und dieselben dummen Fragen: „Können Sie uns erzählen, was passiert ist?“, „Warum waren Sie nicht da?“, „Was denken Sie, warum die das getan haben?“ Dabei versuchen wir, uns möglichst so hinzustellen, dass wir nicht in einen fremden Bildausschnitt geraten. Was kann man einen am Boden zerstörten Menschen noch fragen, wenn man ihm aussagekräftige Details entlocken muss?

    Gestern, am Donnerstagmorgen, hatten sich Menschen hier zur Totenfeier für Andrij Kosir zusammengefunden, ein Dorfbewohner, der an der Front gefallen war. Vor den Trümmern sitzen drei alte Männer. Der eine, der am wichtigsten aussieht, hat einen schweren kantigen Kiefer und ein grobes, grimmiges Gesicht. Auf die Frage nach seinem Namen reagiert er misstrauisch: „Kolja …“ – „Und mit Nachnamen?“ – „Fomenko …“ Dann klären uns die drei über die Umstände auf.

    Es war dem Sohn wichtig, ihn in der Heimat beizusetzen, ihn würdig zu verabschieden

    „Andrij war in Polen, er war immer irgendwo zum Arbeiten. Als der Krieg ausbrach, sind er und [sein Sohn] Dennis sofort zurückgekommen und [an die Front] gegangen. Sie haben im selben Schützengraben gekämpft. Dann hat es sie erwischt – der Vater war sofort tot, er [der Sohn] hat überlebt. Er ist erwachsen, über zwanzig, hat gerade erst geheiratet. Andrij wurde in Dnipro beerdigt, sein Sohn kämpfte noch ein halbes Jahr. Als er sein Geld bekommen hat, beschloss er, den Vater herzuholen. Der Vater war also gefallen, jetzt ist auch der Sohn tot, seine Frau auch, und die Schwiegermutter, und sein Schwager Hrib auch, alle tot …“

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Dennis hatte den Tod seines Vaters mitangesehen. Vielleicht war es ihm deshalb so wichtig, ihn in der Heimat beizusetzen, ihn würdig zu verabschieden. Um mit der quälenden Frage abzuschließen, ob er alles getan hatte, was in seiner Macht stand. Er steckte den gesparten Kampfsold in die Feier. Die Organisation übernahm Andrijs Schwager Hrib, er kaufte ein, kümmerte sich um die Räumlichkeiten in dem Café, das seit Kriegsbeginn geschlossen war, karrte Gasflaschen heran und engagierte ein paar Frauen, die beim Kochen halfen. Die Vorbereitungen dauerten mehrere Tage, rund einhundert Gäste wurden erwartet. Offenbar sehnten sich in diesen schwierigen Zeiten viele Dorfbewohner nach einem Gefühl von Gemeinschaft, es kamen fast alle.

    „Hrib hat schon vor Wochen eingeladen“, sagt Kolja Fomenko. „Das ganze Dorf, ob Säufer oder nicht. Hrib war leitender Ingenieur hier im Büro, in der ehemaligen Kolchose. Ich hab ihn nie gemocht, diesen Schwager, er hat nie gegrüßt. Darum bin ich nicht hingegangen.“

    „Haben Sie die Explosion gehört?“

    „Was heißt gehört, ich bin plötzlich über den Boden gekugelt wie Tscheburaschka. Ich denk, was ist denn das. Ich wusste ja, dass meine Frau dort war. Ich rannte hin, aber hier lagen nur noch Leichen, Fleischfetzen, eine menschliche Leber, sowas hab ich noch nie gesehen. Die hatten da ja Gasflaschen, zum Kochen. Meine Frau wurde nicht gefunden. Das ist das Schlimmste, wenn man nicht mal was zu beerdigen hat …“ Sein grobes Gesicht wird von einem Heulkrampf verzerrt, wie bei einem kleinen Kind. Und in diesem Moment sehe ich tatsächlich das Kind in ihm, das jeder von uns ein Leben lang bleibt.

    Ich versuche, etwas über sein Leben herauszufinden. Er sagt, dass er nicht von hier stammt, sondern aus Luhansk, dass er früher einen Tanklaster gefahren ist, auch nach Russland, dann zwanzig Jahre lang Taxifahrer war (daher wohl seine grimmige Mine). Als sie in Rente gingen, beschlossen sie, in die Heimat seiner Frau zurückzukehren: „Also sind wir hergekommen, hier gibt es ja Land, man kann für sich selbst sorgen. Ich hab ein paar Schweine gehalten, meine Frau hatte den Garten, sie hat alles eingelegt, lauter Konserven, Marmelade und so, diesen ganzen Mist eben …“

    „Was hat Ihre Frau gestern gemacht?“

    „Morgens hat sie Bliny mit Quark gebraten. Ich sag zu ihr: ‚Was machst du hier für einen Wirbel?‘ Und sie: ‚Ich muss doch gleich zur Feier.‘ Also hat sie sich beeilt und ist mit den Nachbarn los. Mein Nachbar Tolik ist mit, wir wohnen Zaun an Zaun. Sie wollte mich noch überreden, aber ich hatte keine Lust. Ich kannte da keinen, warum soll ich mich da durchfüttern lassen?“

    Wladimir Kosijenko (links) und Kolja Fomenko, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Wladimir Kosijenko (links) und Kolja Fomenko, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Offenbar hat diesem Mann die Tatsache das Leben gerettet, dass er sich hier immer noch wie ein Fremder fühlt.

    „Und was haben Sie vorgestern gemacht?“, bohre ich weiter.

    „Na, das Gleiche wie immer, Unkraut gejätet, Tomaten ausgerissen, Äpfel gepflückt, gegessen, ausgeruht vor der Glotze. Nach dem Mittagessen zu den Hühnern, dies und das, gerecht, Laub zusammengefegt.“

    „Und Ihre Frau?“

    „Na, auch das Gleiche wie immer: gekocht, gewaschen, geputzt.“

    „Was war sie von Beruf?“

    „Sie hat vierzig Jahre lang im Lokwerk von Luhansk geschuftet, ihre Rente verdient, jeden Groschen umgedreht. Und jetzt? Alles für’n Arsch, alles umsonst … Ich bin runter in den Keller – alles vollgestopft bis obenhin, wozu? Ich kann das doch nicht essen …“

    Kolja weint wieder. Ich versuche mir vorzustellen, wie das wohl ist für ihn, die Konserven zu sehen, die seine Frau hinterlassen hat, und beim Essen zu wissen, dass sie nie wieder etwas einmachen wird.

    Wahrscheinlich hat jemand weitergetragen, dass sie einen Soldaten beerdigen

    „Warum ist das passiert?“, fragt einer der anderen Journalisten.

    „Wahrscheinlich hat jemand weitergetragen, dass sie einen Soldaten beerdigen. Obwohl da gar keine anderen Soldaten waren.“

    Es gibt zwei Versionen. Das ist die erste, die naheliegende: Die Russen haben gehört, dass ein Militärangehöriger beigesetzt wird, und dann beschlossen, ein paar von ihnen zu töten. Die zweite Version ist, dass sie einfach auf eine Stelle gezielt haben, wo es viele Mobiltelefone gab. An ein schreckliches Versehen glaubt hier niemand. Ich habe ja erst heute Morgen mit eigenen Augen gesehen, wie die russische Armee eine Iskander-Rakete dazu benutzt, einen zehnjährigen Jungen im bunten Pyjama und seine Großmutter zu töten. Und gleich danach noch eine, um eine friedliche Straße mitten in Charkiw zu verwüsten.

    ***

    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. Ich will da nicht hin. Mein Kollege erzählt, dass unser Fixer einen Arm gefunden hat, den er uns zeigen will.

    „Das war eine Szene – schrecklich und komisch zugleich“, sagt der Kollege philosophisch. „Die Rettungskräfte sammelten die menschlichen Überreste ein und wussten nicht, wohin damit. Also legten sie alles in eine große Bratpfanne, die sie dort gefunden hatten. Und alle machten Fotos davon. Dann fiel ihnen auf, dass das ziemlich makaber aussieht, und baten: ‚Die Bilder, die sie grad gemacht haben, bitte verwenden sie die nicht. Wir legen das woanders hin, dann können Sie neue Fotos machen …‘“

    ***

    Das Gebäude, das den Trümmern des Cafés am nächsten liegt, ist das besagte Büro des Landwirtschaftsbetriebs, der ehemaligen Kolchose. Die Fenster und Türen sind bei der Explosion zerborsten, das Dach ist eingestürzt. Im Vorgarten sehe ich drei Frauen stehen, die die Ruine anstarren, als wollten sie etwas verstehen. Eine der Frauen ist Tamara. Sie ist Buchhalterin im Betrieb und hat überlebt. Ihre beiden Kolleginnen waren bei der Trauerfeier und sind tot.

    Ich und sie stehen auf unterschiedlichen Seiten des Unglücks

    „Wir waren auf der Arbeit. Ich wollte auch [zu der Feier] gehen, aber ich habe eine bettlägerige Großmutter. Ich war noch schnell bei ihr, um sie umzuziehen – und war dann spät dran“, erinnert sich Tamara.

    „Und ich hab noch die Kuh gemolken. Da fragt meine Nachbarin: ‚Was ist, Valentina, kommst du auch mit?‘ Und ich: ‚Nee, Ira, heut nicht, ich geh nicht.‘ Sie wollte unbedingt hin, das war ja ihr Kollektiv, da muss man zusammenhalten.“

    „Wir hatten eine Betriebsprüfung, ich wollte nachmittags noch was durchrechnen.“

    „Und ich sag noch zu ihr: ‚Olja, bleib doch hier und ruh dich aus!‘ Sie war immer so nervös, so verantwortungsbewusst, was soll man da sagen.“

    Plötzlich merke ich, dass die anderen beiden Frauen Mutter und Tochter sind. Die Tochter, eine füllige junge Frau, bricht in Tränen aus. Ich frage: „War jemand von Ihren Verwandten dabei?“, aber sie schüttelt den Kopf. Ich wundere mich, dass sie so bitter um fremde Menschen weint.

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    „Die Tür geht wohl nicht mehr zu?“, fragt die ältere Frau Tamara und deutet auf das ramponierte Türschloss.

    „Nein, wir haben den halben Tag rausgeholt, was wir tragen konnten. Da ist ja die ganze Buchhaltung drin, wir sind dafür verantwortlich. Wir sammeln die Papiere ein und weinen: ‚Hrib, Hrib, was hast du nur angerichtet!‘ Einen Menschen wollten wir beerdigen und begraben jetzt das ganze Dorf. Die, die gleich tot waren, wussten zum Glück gar nicht, was da passiert. Aber die, die noch lange im Sterben lagen …“

    „Andrij ist wiedergekommen und hat alle mitgenommen …“

    Ich spüre, dass sich vor den Frauen ein Abgrund aufgetan hat. Die Todespforten haben sich geöffnet, und der zurückgekehrte Andrij Kosir hat ihre halbe Welt dorthin mitgenommen.

    Die Frauen sagen, sie hätten seit gestern nicht mehr geschlafen: „Ich habe einfach Angst zu Hause“, gesteht Tamara. „Ich fühle mich wie ein Tier in einem Käfig, ich weiß nicht, wohin mit mir. Wir werden ja immer weniger, die meisten sind in alle Himmelsrichtungen davon …“

    Deshalb kommt Tamara immer wieder zu ihrem zerstörten Büro, hält sich am Gartentor fest und starrt auf die Stelle, wo früher das Café war.

    Diese Menschen sind gestorben, ich denke, es ist wichtig, von ihnen zu erzählen

    „Wie hießen die beiden?“

    „Irina und Galina“, antwortet Tamara widerwillig.

    Ich spüre, dass sie sagen will: Was hat das jetzt noch für eine Bedeutung, wie sie hießen? Ich und sie stehen auf unterschiedlichen Seiten des Unglücks. Ich versuche, aus ihr herauszukriegen, wie die Verstorbenen gelebt, was sie gemacht haben.

    „Das waren einfach ganz normale Leute. Lebten ein ganz normales Leben. Was Buchhalterinnen eben so machen. Auf dem Feld draußen arbeiten Mechaniker, wir sammeln die Berichte ein, teilen Treibstoff zu, je nach dem, wer was braucht.“

    „Könnten Sie von einer konkreten Person erzählen?“

    „Wie, konkret? Alle lebten einfach ihr Leben. Standen am Zaun und unterhielten sich: Was gibt’s Neues, brauchst du irgendwas – so was halt. Die jungen Mädels hatten ihren Freundeskreis, wir hatten unseren. Partys gefeiert haben sie, geträumt, Reisen gemacht, fremde Länder bestaunt und uns dann davon erzählt. Auch die Besatzung haben wir friedlich durchgestanden, niemand war niemandem Feind. Und dann innerhalb einer Minute …“

    „Vielleicht könnten Sie von einer Person genauer erzählen?“

    „Twerdochleb Iryna, Chaibako Tetiana, Pantelejewa Iryna, Taran Halja, Tanja, die Frau von Andjussowytsch Mykola, ist auch dahin … Tut mir leid, ich kann das nicht.“

    „Diese Menschen sind gestorben, ich denke, es ist wichtig, von ihnen zu erzählen.“

    „Das waren einfach ganz normale Leute. Das wird sie nicht zurückbringen. Man kann nicht nur von einem konkret erzählen, man muss von allen konkret erzählen. Aber an alle zu denken, das ist schwer …“

    Offenbar versucht die Frau zu erklären, dass die Menschen nicht getrennt voneinander existieren, und das ganze verlorene Leben in fünf Minuten erzählen, das kann sie nicht.

    ***

    Wir sehen einen Mann mittleren Alters in Jogginghosen und Badelatschen. Er geht leicht wankend auf das Café zu, das es nicht mehr gibt.

    „Ich will mir mal ansehen, wie meine Frau gestorben ist“, lallt er. „Sonst nichts. Sonst einfach gar nichts. Was soll ich denn tun? Mich einfach total volllaufen lassen wie ein Russe …“, er sieht uns an, „wie ein Ukrainer – und drei Tage nicht mehr aufhören …“

    „Wie heißen Sie?“

    „Juri. Meine Frau ist tot, unser Haus ist leer. Und ich kann nichts machen! Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll! Ich war gerade auf der Arbeit, als mich die Jungs anriefen: ‚Hrosa hat‘s voll abgekriegt, das Café ist im Arsch.‘ Und meine Frau arbeitet dort im Büro. Ich hab sofort gespürt, das geht nicht gut aus. Als ich ankam, lag da meine Frau. Kurz dachte ich, sie ist davongekommen, ist sie aber nicht. Sie hatte ein Loch im Kopf, ihr Bauch war aufgerissen, das Bein … Ach, Jungs …“

    Der Mann umarmt meinen Kollegen und mich und weint. So stehen wir mitten auf der Straße da, zu dritt umschlungen mit einem betrunkenen Fremden. 

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    „Ihr seid also aus Russland? Richtet diesem Putin aus, diesem Idioten, ich komm mit einer MG … Was soll ich tun? Betrink mich eben, ich hab Wodka im Haus, kommt mich besuchen.“

    Ich würde tatsächlich furchtbar gern jetzt trinken.

    „Geht nicht, sind im Dienst.“

    „Ah, ihr seid aus den USA? Richtet diesem Biden aus, diesem Idioten, er soll den Krieg beenden. Als ob wir heiß drauf wären. Also ich geh mal …“

    Der Mann geht zu dem Trümmerhaufen. Wie es aussieht, macht er seit gestern nichts anderes, als sinnlos zwischen den Ruinen und seinem leeren Zuhause hin und her zu wanken.

    ***

    Zwei Frauen stehen abseits der Bar. Eine hübsche junge Dame vom Fernsehen fragt sie:

    „Was meinen Sie, warum haben die das gemacht? Gibt es hier militärische Objekte?“

    „Das wissen wir nicht …“

    Eine von ihnen ist schüchtern, klein, ungefähr 70 Jahre alt. Auf die Frage nach ihrem Namen antwortet sie zögerlich: „Tanja … Lukaschewa.“ Bei der Trauerfeier sind ihre Tochter und ihr Schwiegersohn ums Leben gekommen. Die zweite Frau heißt Alla Sosulja, sie ist Schulbibliothekarin und um die 60. Sie erzählt mir von diesem Schwiegersohn, einem Mathematiklehrer, und was für ein guter Mensch er war. Wie er mit den Kindern wandern war und im Wald, nach Odessa fuhr und nach Swjatohirsk, was für Ausflüge er mit ihnen gemacht hat, „und die Kinder hatten ihn von Herzen gern …“.

    „Einmal ist die Katze auf seinen Schreibtisch gesprungen“, lächelt Tanja. „Er machte gerade Online-Unterricht, am Computer. Da haben die Kinder aus der zweiten Klasse alle angefangen, ihre Katzen herzuzeigen: ‚Ich hab auch eine! Ich auch …‘“ Als sie das erzählt, sieht Tanja glücklich aus, fast selig. 

    Alla sagt, ihr Mann und ihr Sohn seien im Krieg. Sie hätten den Dienst gemeinsam angetreten: Ihr Sohn wurde einberufen, ihr Mann ging mit. Solche Geschichten, wo der Vater an die Front geht, weil er den Sohn nicht alleinlassen will, höre ich oft.

    Ich frage Tanja, was sie von Beruf ist. 

    „Stukkateurin“, sagt sie stolz. „Obwohl ich eigentlich Schweißerin gelernt habe, aber in dem Beruf war ich nicht lange, sondern mein Leben lang Stukkateurin. Mein Mann ist Pflasterer und Fliesenleger, wir waren immer auf den Bahnhöfen im Einsatz. Egal wo man hinfährt – das haben wir gemacht. Meine Enkelin fragt immer: ‚Wie kann das sein, dass ihr das alles gebaut habt?‘“ Tanja lacht glücklich.

    Es wirkt, als befinde sie sich außerhalb ihres Lebens, wo das, was passiert ist, nicht real ist

    Es wirkt, als sei sie komplett aus der Situation herausgefallen, als befinde sie sich irgendwo außerhalb ihres Lebens, wo das, was passiert ist, nicht wirklich real ist. „Ich hab meine Tochter nicht tot gesehen“, sagt Tanja gedankenverloren. „Den Schwiegersohn haben sie gefunden und identifiziert, aber meine Tochter und ihre Schwiegermutter nicht. Ich kann nicht glauben, dass sie tot ist. Zu Hause liegen ihre Sachen herum, Dinge, die sie gemacht hat …“

    Tanjas Verstand kann den Tod ihrer Tochter offenbar nicht fassen. Gerade noch war sie da, und plötzlich ist sie komplett verschwunden.

    ***

    Ein Auto hält an, der Mann fragt nach Walerka. Von Walera habe ich schon gehört; er hat sechs Angehörige verloren: seinen Bruder, seine Schwester, seine Tochter, seinen Schwiegersohn und dessen Eltern.

    Der Mann nimmt uns mit zu ihm. Unterwegs erzählt er, dass heute Morgen Schewtschenkowe beschossen wurde, ein Dorf ein paar Kilometer entfernt von Hrosa. Obwohl die Front weit weg ist, fünfzig Kilometer: „Ich kam gerade aus dem Haus, als sie einschlugen, fünf Stück, Streubomben. Eine ist bei den Nachbarn auf der Pokrowskaja Straße direkt in den Hof geflogen, bei einem Ehepaar mit einer Blumenhandlung, die Frau ist verletzt.“

    Mein Schwiegersohn, der war ein echter Kracher

    Walera Kosir ist ein Mann um die 65, mit rundem Kopf, Händen wie Baggerschaufeln und, wie bei Bauern üblich, trägt er mehrere Kleidungsschichten übereinander. Er sitzt auf einer Bank vor dem Haus seiner toten Tochter und ihres toten Mannes. Als hätte er uns erwartet, beginnt er sofort aufgeregt zu erzählen und zu gestikulieren: 

    „Auf einen Schlag, meine Tochter, ihr Mann, seine Eltern, mein Bruder, meine Schwester – sechs Verwandte und die Taufpaten dazu, alle an einem Tag! Mein Schwiegersohn, Tolik Pantelejew, was der für ein Mann war! Ich sag nur eins: Wenn ich mit dem in die Stadt fahre, da grüßen ihn alle, vom Hilfsarbeiter bis zum Polizeichef. Ein einwandfreier Mensch, wenn der zum Laden kommt, um Waren zu liefern und Wodka, fangen die Jungs zu betteln an: ‚Tolja, wir verdursten.‘ Er zieht eine Flasche raus, gibt sie ihnen, geht zur Kasse und bezahlt sie: ‚Eine Flasche hab ich genommen.‘“

    Waleri und Ljubow Kosir, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Waleri und Ljubow Kosir, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Walera spricht energisch und gestenreich. Er ist nüchtern, fast ungewöhnlich klar.

    „Mein Schwiegersohn, der war ein echter Kracher, hat auch den Tag der Lieferfahrer organisiert, 200 Hrywnja pro Nase hat er eingesammelt und selber 1000 draufgelegt, damit’s für alle reicht. Rund um die Uhr hat er geackert: Schweine angekauft, gekühlt, zerlegt, verkauft. Den ganzen Tag, von vier Uhr früh bis neun am Abend. 20 Schweine hat er gehalten. Sie sind nicht vom Land? Das ist schwere Arbeit, zu Silvester, zu Weihnachten – selber isst er nichts, aber die anderen versorgt er: ‚Ich mach das für die Kinder – sollen ihren Papa in guter Erinnerung behalten, dass sie nicht arbeiten mussten …‘ Wenn beim Töchterchen die Gangschaltung am Fahrrad kaputtging, da kauft er gleich am nächsten Tag eine neue. Und sein Telefon stand nicht still, ein Pfundskerl war das!“

    Waleri kann gar nicht aufhören, von seinem Schwiegersohn zu reden und zu reden. Ich habe den Eindruck, wenn er ihm ein Denkmal setzt, dann braucht er nicht über das Geschehene nachzudenken.

    „So ein schönes Paar, hoch angesehen auf dem Land wie in der Stadt. Alle nannten sie Oletschka, wirklich alle, nicht Olja und nicht Olga – das sagt doch was aus, oder? Vor einem halben Jahr hat Tolja gejammert, da war er beduselt: ‚Ich werde mal sterben, und du, schöne Olja, wirst mit nem anderen anbandeln.‘ Und sie so: ‚Nein, Tolja, sterben werden wir schön zusammen.‘ Und so ist es gekommen, in derselben Sekunde.

    Er wollte gar nicht hingehen, hatte keine Zeit. Musste mit seinem Vater nachts aufs Feld fahren, Wache schieben. Ich sag noch: ‚Geh halt nicht hin, musst ja noch fahren.‘ – ‚Ich trink ja nichts, will nur ein wenig mit den Jungs beisammen sitzen.‘ Sein Vater und ich sind zusammen groß geworden, haben als kleine Bengel unsere Schniedel verglichen. Ihr wisst ja, oft gibt es bei Schwiegereltern diese Streitereien, wessen Kind das Bessere ist oder wer spendabler ist. Wir haben alles zusammen gemacht, die Armee, dann wieder zurück, und so ist es gekommen, dass unsere Kinder geheiratet und uns Enkelchen geschenkt haben.“

    Mit seinem aufgeregten Bericht zeichnet Walera uns das Bild einer wunderbaren Familie, die jetzt nur mehr als Erinnerung existiert.

    Waleras Frau Ljuba schaut ins Leere, schüttelt den Kopf

    „Oletschka war am feinsten rausgeputzt, hatte sich die Haare gemacht. Bei uns gilt ja: Essen musst du nicht unbedingt, aber wenn du unter Leute gehst, musst du was hermachen. Nicht mal in der Stadt sind sie so angezogen wie bei uns auf dem Dorf, wenn Feiertag ist. Hrosa ist diese Art von Dorf, da wird man geboren, getauft, alle halten zusammen, klein aber fein, jeder Zaun ordentlich gestrichen. Erst die letzten zehn, fünfzehn Jahre gibt es Zuzug aus den anderen Oblasten, bis dahin war das Dorf wie fünf Finger an einer Hand. Drum sind auch alle zu der Beerdigung gekommen. Waren erst zehn Minuten drin, die meisten hatten noch nicht mal ein Gläschen, hatten grade mal das Vater Unser gebetet. Unser Kirchendiener sollte singen. Weißt du, hat Kassewitsch gesungen?“

    Waleras Frau Ljuba schaut ins Leere, schüttelt den Kopf.

    „27 Personen konnten sie noch erkennen, den Rest nicht mehr … Ich denk: Vielleicht eine Gedenktafel, ein gemeinsames Grab und ein Grabstein für alle? Na, wie sie halt wollen. Meine halben Kontakte kann ich aus dem Handy löschen, ins Jenseits gibt’s keine Verbindung. Ich wär ja auch dabei gewesen, aber ich musste zur Arbeit. Das ist schon das zweite Mal, dass mich das Schicksal rettet. Ich bin Wächter bei einer Tankerkolonne. Als unsere Gegend noch okkupiert war, habe ich mein Essen nicht mit zur Arbeit genommen, fuhr in der Mittagspause hierher, vier Kilometer. Hatte mir gerade Erbsensuppe genommen, da schlug dort eine HIMARS-Rakete ein. Dann der Anruf: ‚Von deinem Arbeitsplatz ist nichts mehr übrig.‘“

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Es kommen noch mehr Journalisten. Walera wiederholt seine Geschichte: „Wir waren Freunde, und dann haben unsere Kinder geheiratet“, „Wenn ich mit ihm in die Stadt fahre, hupen alle …“, „Bei meiner Tochter ging die Gangschaltung kaputt, da hat er gleich eine neue gekauft …“, „Sie waren gerade erst angekommen, noch beim ersten Glas …“ Ljuba sitzt schweigend neben ihm auf der Bank und starrt mit leerem Blick durch die Journalisten hindurch.

    „Oma und ich, wir ach egal … Wir wissen nicht, wohin mit uns, versteht ihr? Wenn es einen Ausweg gäbe …“ Walera reibt sich energisch die grauen Stoppel auf dem Kopf. „Ich weiß, es gibt keinen, ich muss da durch! Seht euch meine Hände an.“ Walera zeigt seine Handflächen her, auf einer hat er eine Narbe. „Ich hab zwanzig Jahre lang Gasflaschen geschleppt, hab in den Dörfern Flüssiggas ausgeliefert. Dann bin ich in Rente gegangen, dachte, die Kinder würden für mich da sein … Tja, wir haben keine Wahl, es geht nur noch um die Kleinen.“

    Ich merke, dass die drei Enkelkinder, die seine Obhut brauchen, für ihn eine wahre Rettung sind.

    ***

    Gegen Mittag werden die Journalisten und UNO-Mitarbeiter immer weniger, ein großer Jeep nach dem anderen rumpelt durchs Dorf Richtung Landstraße. Freiwillige verteilen von einer Ladefläche herab Hilfsgüter an die Betroffenen: Bretter, Spanplatten, Decken. Die Dorfbewohner kommen herbei und bilden eine wuselige Schlange. Viele Frauen tragen schwarze Kopftücher, drängeln, drücken, schnattern aber genauso wie alle anderen – es entsteht ein Gewusel, das nicht zur Situation passt. So eng zusammengedrängt sehen die Dorfleute hilflos und mitleiderregend aus. Wenn sie drangekommen sind und dann beim Weggehen wirken sie froh, in ihren Gummistiefeln, ein paar Gratisdecken in den Händen.  

    „Onkel Wassja! Ich hatte Sie im Geiste schon begraben …“

    „Großmutter sitzt zu Hause – drei Kinder tot, das vierte in Russland.“

    „Alinka ist jetzt auch ganz allein, vielleicht haben sie sie weggebracht. Ich wollte ihr Geld bringen, aber das Haus war zugesperrt.“

    „Ach, woher das Geld denn nehmen, und wem geben? In jedem Haus ein Toter.“

    „Halja Chodak konnte sich retten, zwischen zwei Kühlschränken. Als die Decke einbrach, war sie geschützt.“

    „Oxana kam zu sich und hatte was am Bein, am Kopf und am Kiefer. Kam zu sich und schrie immer nur ‚I! I! I ..!‘ Rief nach ihrem Igor, aber der ist tot.“

    Wir haben alle irgendwen verloren. Euch macht das neugierig, uns nicht

    „Ja, der lag da, wär er doch dort liegengeblieben, wozu ihn herbringen. Jemand hat darauf abgezielt. Die Polizei kam dann, hat die Handys kontrolliert, angeblich haben sie drei Personen mitgenommen. Vielleicht hatten die russische Nummern drauf oder was weiß ich …“

    „Die heutige Technik eben, Handykontrolle! Sie hatten sich gerade erst zu Tisch gesetzt … Als Erstes müssen die doch die kontrollieren, die nicht dort waren. Ich weiß nicht …“

    Friedhof in Hrosa. Ukrainische Flagge über Andrij Kosirs Grab. 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Friedhof in Hrosa. Ukrainische Flagge über Andrij Kosirs Grab. 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Eine Frau mit schwarzem Kopftuch lädt mit ihren beiden Kindern Platten und Bretter auf den Anhänger eines uralten Shiguli. Ich frage sie, wen sie verloren hat, sie nennt zwei Namen, die ich mir nicht gleich merken kann. Ich bitte Sie, mir von ihnen zu erzählen, biete an, ihr dafür beim Ausladen zu helfen. Sie stimmt zu. Ich hole meinen Rucksack, aber da sehe ich den Shiguli schon wegfahren, der Alte am Steuer wirft mir einen schiefen Blick zu. Als ich ihnen entschlossen hinterher will, sehe ich an der Kreuzung drei alte Frauen auf einer Bank sitzen.

    „Lasst die Fragerei“, sagt eine, „wir haben alle irgendwen verloren. Euch macht das neugierig, uns nicht.“

    Ich gehe durchs Dorf, schaue in die Höfe. Selbst lackierte Autos stehen vor jedem dritten Haus, hinter den Zäunen blicken mir düstere Minen entgegen. Ich muss an die Reporterin von vorhin denken, die auf ihre rhetorischen Fragen brauchbare Antworten erwartete. Geh doch verfickt nochmal einfach mal durch dieses Dorf, Schnalle.

    Es fängt an zu regnen, ich setze mich zu spanischen Journalisten ins Auto und fahre mit ihnen weg. Am Abend werden alle weg sein und das Dorf sich selbst überlassen bleiben, klein, grau und menschenleer.

    ***

    Zwei Tage später meldete der SBU, der Inlandsgeheimdienst der Ukraine, er habe zwei Verdächtige ausfindig gemacht. Angeblich waren es die Mamon-Brüder, zwei Polizisten aus Schewtschenkowe, die für die Besatzer gearbeitet hatten und nach Russland gegangen waren. Aus den veröffentlichten Chats geht hervor, dass der jüngere Bruder Dmitri, gebürtig aus Hrosa, mit den Dorfbewohnern Kontakt aufgenommen und seinem Bruder dann mitgeteilt hat, dass eine Beerdigung für einen Soldaten geplant war. Wladimir, der selbst nicht im Dorf wohnte, gab die Informationen dann an die Russen weiter. Und die freuten sich, eine Ansammlung von Soldaten plattzumachen.

    „Ich hab klargestellt, dass da Zivilisten sein werden, da werden sie wohl keine Geschenke hinschicken, obwohl wahrscheinlich viele aus der ukrainischen Armee kommen werden“, schrieb Wladimir seinem Bruder. Letzterer machte sich offenbar doch ein wenig Sorgen um seine alten Nachbarn aus dem Dorf. Trotzdem gaben sie Ort und Zeitpunkt der Trauerfeier preis, und den Russen waren die Zivilisten scheißegal, sie schickten sehr wohl ihre „Geschenke“. Ich finde, dieses kleine Wörtchen sagt alles darüber, wie der Krieg die Seelen der Menschen tötet. Alle Opfer waren Zivilisten.

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  • Wegbereiter der Unabhängigkeit

    Wegbereiter der Unabhängigkeit

    Im Laufe des Jahres 2023 haben die belarussischen Machthaber alle oppositionellen Parteien liquidiert. Es ist Teil der Radikalisierung des politischen Systems von Alexander Lukaschenko, das sich mit der Niederschlagung der Proteste von 2020 zusehends in Richtung Totalitarismus entwickelt, manche sagen, sich sowjetischen Zuständen annähert.

    Auch die Partyja BNF wurde im August verboten; die national-konservative Partei hat in Belarus Geschichte geschrieben. Hervorgegangen aus der Belarussischen Volksfront, die in der zweiten Hälfte der 1980er entstand, wurde die BNF zu einem wichtigen Akteur im Übergang von Belarus in die Unabhängigkeit, wie auch BNF-Mitgründer Yury Drakakhrust in seiner Analyse für dekoder schreibt.

    Das belarussische Online-Medium Zerkalo erzählt die Geschichte ihres Aufstiegs und ihres Niedergangs, die auch eine Geschichte darüber ist, wie der einst demokratisch gewählte Lukaschenko in den 1990er Jahren sein autoritäres Machtsystem etablieren konnte. 

    Die Gründungsversammlung der Belarussischen Volksfront „Wiedergeburt“ (Belaruski Narodny Front „Adradshenne“, BNF), die damals formal noch keine Partei, sondern eine Bewegung war, fand am 24. und 25. Juni 1989 in Vilnius statt, da die Minsker Behörden eine Durchführung in der Hauptstadt der BSSR nicht genehmigt hatten. Die Entstehung der BNF hatte bereits früher begonnen, begünstigt durch eine Reihe von Ereignissen.

    Vier Jahre zuvor war Michail Gorbatschow in Moskau an die Macht gekommen und hatte die Perestroika begonnen. Dies bedeutete unter anderem eine gewisse Liberalisierung des Lebens in der Sowjetunion und eine Politik der Glasnost mit einer größeren Medienfreiheit. Davon machte der Kunstwissenschaftler und Archäologe Sjanon Pasnjak Gebrauch: Am 3. Juni 1988 veröffentlichte er gemeinsam mit dem Ingenieur Jauhen Schmyhaljou (russ. Jewgeni Schmygaljow) in der Zeitung Litaratura i Mastaztwa (dt. Literatur und Kunst) den Artikel Kurapaty – Weg des Todes

    Der Text berichtete von den Massenerschießungen, die während der Stalin-Zeit im Wald von Kurapaty am heutigen Stadtrand von Minsk stattgefunden hatten. Alexander Feduta schreibt in seinem Buch Lukaschenko. Eine politische Biografie aphoristisch, damals [Ende der 1980er] sei Belarus aufgewacht. Geweckt hätten es Ales Adamowitsch mit der Wahrheit über Tschernobyl und Sjanon Pasnjak mit der Wahrheit über Kurapaty

    Die Veröffentlichung des Artikels erregte bald Aufmerksamkeit über die Grenzen der Republik hinaus, er wurde in zentralen sowjetischen und ausländischen Medien abgedruckt. Die Behörden kamen daher nicht umhin, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. An den archäologischen Grabungen nahm Pasnjak selbst teil. Die Ermittlungen ergaben, dass die Erschießungen vom NKWD durchgeführt wurden, und zwar vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion

    Sjanon Pasnjak bei einer großen Kundgebung am 30. Oktober 1988 in Kurapaty, wo unter Stalin Zehntausende Belarussen erschossen wurden. Die ersten dieser Kundgebungen gelten als Geburtsstunde der BNF / Foto © vytoki.net
    Sjanon Pasnjak bei einer großen Kundgebung am 30. Oktober 1988 in Kurapaty, wo unter Stalin Zehntausende Belarussen erschossen wurden. Die ersten dieser Kundgebungen gelten als Geburtsstunde der BNF / Foto © vytoki.net

    Die BNF konnte sich auf Vorbilder stützen, die es damals bereits in den baltischen Ländern gab. Diese „Volksfronten“ waren keine Parteien, sondern möglichst breit aufgestellte Bewegungen, in denen sich Menschen mit unterschiedlichen politischen Ansichten, aber ähnlichen Zielen versammelten. Auch die Belarussische Volksfront begann als solche Bewegung. 

    So lässt sich teilweise erklären, warum in unserem Land seitdem jegliche Regierungskritiker häufig unter dem Begriff „BNFler“ zusammengefasst werden. Andere oppositionelle Bewegungen gab es damals nicht, daher unterstützte der überwiegende Teil der demokratisch eingestellten Belarussen die BNF. Einen entscheidenden Einfluss hatte auch die Propaganda im belarussischen Fernsehen und in der staatlichen Presse seit Anbruch der Lukaschenko-Ära. Erstens verteufelte diese gerade die BNF stärker als alles andere. Zweitens sollten unter den neuen Bedingungen andere politische Parteien daran gehindert werden, sich zu entwickeln und zur Regierungsmacht aufzuschließen. Dadurch wurde im Bewusstsein der Massen die BNF zur wichtigsten Oppositionsbewegung. 

    Kehren wir zurück in die letzten Jahre der Sowjetunion. Im Februar 1989 versammelte die BNF im Minsker Dynamo-Stadion 40.000 Menschen. Das war die erste behördlich genehmigte oppositionelle Massenveranstaltung in Belarus. Dass die Menschen, wie das Portal Tut.by schrieb, neben weiß-rot-weißen Flaggen auch Flaggen der BSSR, der UdSSR sowie russische und litauische Fahnen trugen.  

    Wie bereits erwähnt, hatten die belarussischen Behörden die Gründungsversammlung der BNF in Minsk verboten, und die Delegierten mussten nach Vilnius ausweichen. Erwartungsgemäß wurde Pasnjak zum Vorsitzenden der Bewegung gewählt. Dem damaligen Zeitgeist entsprechend erhielt die Organisation den Namenszusatz Für die Perestroika, der erst zwei Jahre später abgelegt wurde. Das Programm enthielt auch Verweise auf kommunistische Grundsätze. Konkret hieß es darin, die BNF „tritt ein für den Umbau der Gesellschaft gemäß den Prinzipien von Demokratie, Humanismus und sozialer Gerechtigkeit, für die Errichtung eines Rechtsstaates, für die Wiedergeburt der leninistischen Grundsätze der Politik der Völker, für die tatsächliche Souveränität von Belarus, wie in der Verfassung der BSSR verankert“.

    1990 sollten die ersten alternativen Wahlen zum Obersten Sowjet stattfinden, dem Parlament der BSSR. Am 25. Februar organisierte die BNF vor dem Haus der Regierung eine riesige Wahlkundgebung. Sjarhej Nawumtschyk nennt in seinem Buch die Teilnehmerzahl von 100.000: „Zum ersten Mal sah Minsk eine solche Massenversammlung, zum ersten Mal fand eine öffentliche Auseinandersetzung zwischen BNF und der (Führung der) Kommunistischen Partei von Belarus [KPB – dek] statt, genauer gesagt, zwischen dem Vorsitzenden der BNF, Sjanon Pasnjak, und dem Generalsekretär des ZK [Zentralkomitee – dek] der KPB, Jefrem Sokolow. Letzterer begann seinen Auftritt begleitet von Zurufen ,Nimm deine Mütze ab! Du sprichst vor dem Volk!‘, und beendete ihn vor einer Menge, die ,Tritt ab!‘ skandierte.“ Nach der Kundgebung zogen die Menschen zum Gebäude des Staatsfernsehens und forderten Sendezeit für die BNF-Führung. Infolgedessen konnte Pasnjak im Fernsehen auftreten und die Front wurde zu einer Kraft, mit der die Machthaber immer stärker rechnen mussten. 

    Die Wahlen zum 12. Obersten Sowjet fanden wenige Wochen später statt, am 4. März. Für die noch ganz junge Bewegung wurden sie ein Erfolg – die BNF konnte 30 Abgeordnete in das gesetzgebende Organ entsenden. Insgesamt gab es 360 Abgeordnete, sodass die Front weniger als zehn Prozent des Gremiums ausmachte. Die überwiegende Mehrheit der Sitze im Ovalen Saal nahm immer noch die kommunistische Nomenklatura ein, die Reformen blockierte. Vergleicht man das Ergebnis mit den Parlamentswahlen anderer Sowjetrepubliken im selben Jahr, so schnitten die demokratischen Bewegungen dort häufig viel besser ab: In Georgien waren es etwa 70 Prozent, in Litauen 67 Prozent, in Lettland 65 Prozent und in der Ukraine 22 Prozent. Doch auch mit ihren geringen Ressourcen gelang es der BNF, Bahnbrechendes für unser Land zu erreichen. 

    Die Erklärung der Unabhängigkeit und die Präsidentschaftswahlen

    Schon bald nach den Wahlen 1990 erarbeitete die Belarussische Volksfront den Gesetzesentwurf Unabhängigkeitserklärung der BSSR, der Vorrang der belarussischen Gesetzgebung vor der sowjetischen gebot, doch das Dokument fand vorerst keine Unterstützung. Das änderte sich, als im Juni 1990 Russland seine Unabhängigkeit erklärte. Damals stand Boris Jelzin, Gorbatschows stärkster Konkurrent, dem Obersten Sowjet der RSFSR vor. Um ihm das Heft aus der Hand zu nehmen und die Bedeutung des Dokuments zu schmälern, beschloss man in Moskau, gleichlautende Deklarationen in allen Sowjetrepubliken zu verabschieden. 

    Nun machte sich die Vorarbeit der BNF bezahlt. Der damalige BNF-Abgeordnete Valentin Golubew erinnert sich: „Auf Bitte von Sjanon Pasnjak schrieb ich in einer Nacht den ersten Entwurf der Präambel (der Deklaration), wir diskutierten ihn im berühmten Raum 306 der Opposition und verteilten ihn an die Abgeordneten. Dann wurde der damalige Parlamentspräsident, Mikalaj Dsemjanzej (russ. Nikolaj Dementej) nach Moskau zu Gorbatschow bestellt. Als er zurückkam, erzählte er lebhaft: Wie gut, dass ich dieses Projekt mithatte, er [Gorbatschow – dek] sagte, in Belarus geht es wohl auch voran!“

    Sjanon Pasnjak bei der Sitzung des Obersten Sowjet zur Proklamation der Unabhängigkeit der Republik Belarus  / Foto © 90s.by
    Sjanon Pasnjak bei der Sitzung des Obersten Sowjet zur Proklamation der Unabhängigkeit der Republik Belarus  / Foto © 90s.by

    Am 18. Juni, sechs Tage nach der Verabschiedung der Souveränitätserklärung der RSFSR, wurde eine parlamentarische Kommission gegründet, um einen analogen Entwurf für Belarus vorzubereiten, der schließlich bei der Sitzung am 27. Juli 1990 angenommen wurde. Ohne die Vorbereitung der BNF hätte es dieses Dokument nicht gegeben, und bei der Formulierung der finalen Fassung wurden die Einwände der Front berücksichtigt.

    Im März 1991 gab die BNF auf dem Zweiten Parteitag ein neues Programm bekannt. Darin wurde nun ganz offen das wichtigste Ziel der Bewegung formuliert: durch die Umsetzung der Souveränitätserklärung die vollständige Unabhängigkeit von Belarus zu erreichen. Zudem plante die Organisation den Aufbau einer belarussischen Armee, die Einführung der belarussischen Staatsbürgerschaft und die Durchführung eines Allbelarussischen Gründungskongresses, der das zukünftige Staatssystem festlegen sollte. Ein weiteres Ziel der BNF war die Einführung des Privateigentums. Damals erschienen diese Ziele fantastisch. Doch schon im April 1991 wurde in Belarus massenhaft gestreikt. Die Arbeiter (unter den Mitgliedern der Streikkomitees waren auch Vertreter der BNF) forderten Lohnerhöhungen. Später kamen auch politische Forderungen hinzu: Rückzug der Vertreter der KPdSU aus den Betrieben, Auflösung des kommunistischen Obersten Sowjets, neue Parlamentswahlen, Nationalisierung des kommunistischen Eigentums, keine Unterzeichnung des neuen Unionsvertrags, und andere. 

    Zu diesem Zeitpunkt verlief der Streik ergebnislos. Doch die Erinnerung daran beeinflusste vielleicht die Vorgangsweise der prokommunistischen Mehrheit im Parlament im August 1991, als zwischen den Mitgliedsstaaten der Sowjetunion ein neuer Unionsvertrag unterzeichnet werden sollte. Michail Gorbatschows Idee war ein neuer Staatenbund anstelle der alten UdSSR, wenngleich mit derselben Abkürzung: die Union der Souveränen Sowjetrepubliken. Der sowjetische Geheimdienst und eine Reihe hoher Parteifunktionäre verstanden den neuen Vertrag als einen Schritt Richtung Zerfall des Landes und versuchten am 19. August, einen Staatsstreich zu verüben. In Minsk gingen nur Wenige gegen das von den Putschisten proklamierte Staatskomitee für den Ausnahmezustand auf die Straße, darunter die BNF. Die Volksfront, aber auch Vertreter anderer politischer Parteien, nannten den Putsch umgehend „einen Versuch der Machtergreifung“, das Staatskomitee eine „Junta“. Die kommunistische Mehrheit im belarussischen Parlament nahm eine Wartehaltung ein. Erst am 22. August, als die Niederschlagung des Putsches in Moskau offensichtlich war, beschloss das Präsidium des Obersten Sowjets, eine außerordentliche Sitzung einzuberufen. 

    In kürzester Zeit erarbeitete eine Gruppe von Abgeordneten der BNF ein Gesetzespaket und stellte es bei der Sitzung am 24. August vor. Die folgenden Tage wurden zum Triumph für die Front und für Sjanon Pasnjak persönlich. Ihr Nachdruck und eine wohlgewählte Taktik (zum Beispiel jagten sie den letzten Vorsitzenden der KP der BSSR, den allmächtigen Anatoli Malofejew, von der Tribüne, ein Schock für die Nomenklatura) trugen Früchte. Am 25. August erlangte die ein Jahr zuvor beschlossene Souveränität der BSSR den Status eines Verfassungsgesetzes, und Belarus wurde de jure unabhängig.

    In den 20 Tagen bis zur nächsten Sitzung erarbeitete die BNF-Fraktion noch 31 weitere Gesetzesentwürfe, unter anderem zur Staatsbürgerschaft, zum Aufbau einer Armee, zu Grenzschutz, Zoll, Militärgerichtsbarkeit, zur Anerkennung von privatem Grundbesitz und zur Aufhebung des Unionsvertrags von 1922. Alle diese Punkte (mit Ausnahme des privaten Grundbesitzes) konnten später umgesetzt werden. In dieser Septembersitzung wurden auch das Wappen Pahonja und die weiß-rot-weiße Flagge zu den offiziellen Staatssymbolen. Der Demokrat Stanislau Schuschkewitsch wurde zum neuen Parlamentspräsidenten gewählt. Im Dezember 1991 unterzeichnete er die Belowesher Verträge, die das Ende der UdSSR besiegelten und nach deren Ratifizierung Belarus auch de facto unabhängig war. 

    Das verweigerte Referendum und die ersten Präsidentschaftswahlen

    Die BNF hatte ihr wichtigstes Ziel, das sie kaum ein Jahr zuvor formuliert hatte, erreicht: Belarus war ein unabhängiger Staat geworden. Doch in diese neue Epoche trat das Land mit der alten Nomenklatura im Obersten Sowjet, die keine politischen und wirtschaftlichen Reformen wollte. In Fragen der Bildung und Kultur mischte sie sich weniger ein, weshalb in diesen Bereichen die größten Erfolge verzeichnet werden konnten. In der BNF hatte man die berechtigte Vermutung, dass die Zusammensetzung des Parlaments nicht dem tatsächlichen politischen Meinungsbild und den Wählersympathien entsprach. Letztlich war es noch zu Sowjetzeiten gewählt worden, unter maßgeblichem Druck des kommunistischen Systems. Daher initiierte die Front unter der Führung von Pasnjak ein Referendum über vorgezogene Wahlen zum Obersten Sowjet. Um diese Initiative durchzubringen, mussten mindestens 350.000 Unterschriften gesammelt werden. Die BNF übertraf diese Vorgabe und reichte im April 1992 sogar 442.000 Unterschriften im Zentralen Wahlkomitee ein, von denen die Mehrzahl als gültig anerkannt wurde.
     
    Dem Gesetz nach war das Parlament nun verpflichtet, ein Datum für das Referendum festzusetzen. Die Belarussen sollten gefragt werden, ob sie einer vorzeitigen Auflösung des aktuellen Parlaments und Parlamentswahlen nach neuem Gesetz zustimmen. Vorgezogene Wahlen hätten 1992 die Chance eröffnet, die Geschichte zu verändern, Reformen und einen demokratischen Wandel einzuleiten. Doch vermutlich fürchtete die Mehrheit der Abgeordneten, im Fall einer Neuwahl ihr Mandat und damit viele Privilegien zu verlieren, die den Volksvertretern zustanden. Daher widersetzten sich die Parlamentarier dem Gesetz und führten kein Referendum durch. Rückwirkend betrachtet ist dieses verweigerte Referendum einer der Points of no Return: Ab diesem Moment fuhr die Lokomotive der belarussischen Geschichte in Richtung Präsidialsystem, und dann weiter bis zu Lukaschenkos Diktatur
    Die Verweigerung des Referendums war ein Rückschlag für die BNF. Doch sie trug keine Schuld daran – es waren ihre politischen Gegner, die gesetzeswidrig gehandelt hatten. Im Folgejahr 1993 registrierte die BNF endlich eine Partei unter gleichem Namen. Ihr Vorsitzender – und auch der Vorsitzende der Bewegung Belarussische Volksfront „Wiedergeburt“ – blieb Sjanon Pasnjak. 

    Allmählich trat in Politik und Gesellschaft eine neue Frage in den Fokus: Welches System soll die Republik in Zukunft haben – ein parlamentarisches oder ein präsidiales? Die Ausarbeitung der belarussischen Verfassung dauerte bereits seit Sommer 1990 an. Die Opposition um die BNF sprach sich für die erste Variante aus. „Die Front begründete ihre Position damit, dass sich ein Präsidialsystem unter den Bedingungen fehlender demokratischer Traditionen, eines kaum entwickelten Parteiensystems und eines der Exekutive unterstellten Parlaments durch die Machtkonzentration unausweichlich zu einer Diktatur entwickeln würde“, schreibt Sjarhej Nawumtschyk in seinem Buch Vierundneunzig [Dsewjanosta tschazwerty].

    Die parlamentarische Mehrheit, die auf der Seite der Regierung stand, unterstützte das präsidiale System und sah an der Staatsspitze den damaligen Premierminister Wjatschaslau Kebitsch, einen ehemaligen Kommunisten und sogenannten „roten Direktor“. Die Verfassung wurde eigentlich ihm auf den Leib geschrieben, und er konnte letztendlich – wiederum gesetzeswidrig – die ihm passende Version durchdrücken. Nachdem er die Einführung des Präsidentenamts nicht hatte verhindern können, sah sich Pasnjak gezwungen, selbst um diesen Posten zu kämpfen. Bei den ersten Präsidentschaftswahlen standen sechs Namen auf den Wahlzetteln, doch reale Chancen auf einen Sieg hatten nur vier Personen: Kebitsch, Schuschkewitsch, Lukaschenko und Pasnjak. 

    Die beiden Ersteren wurden im Volk als Vertreter der Regierung wahrgenommen. Mit ihnen verband man die Folgen der Wirtschaftskrise und den rapiden Niedergang des Lebensstandards in den letzten Jahren. Lukaschenko und Pasnjak hatten keine Funktionen inne und konnten deshalb die Staatsmacht kritisieren. Doch die Ideen der nationalen Wiedergeburt und der Marktwirtschaft, für die der Vorsitzende der BNF eintrat, fanden bei den Wählern keine Zustimmung. Lukaschenko dagegen appellierte an das sowjetische Erbe, was in der Bevölkerung Unterstützung fand. Dem offiziellen Endergebnis des ersten Wahlgangs zufolge hatte Lukaschenko etwa 45 Prozent erreicht und ging damit gemeinsam mit Kebitsch (17,3 Prozent) in die zweite Runde, die er dann auch gewann. Den dritten Platz holte Pasnjak ein, für den 12,8 Prozent der Wähler gestimmt hatten, mehr als 757.000 Menschen. 

    Der Hungerstreik, der „Minsker Frühling“ und Pasnjaks Emigration

    Die Präsidentschaftswahlen – die einzigen in der Geschichte des Landes, an deren Ergebnis kein ernsthafter Zweifel besteht – hatten die Popularität der BNF in einem maßgeblichen Teil der belarussischen Bevölkerung gezeigt. Von einer Mehrheit konnte man zwar noch nicht reden, in jedem anderen demokratischen Land hätte eine solche Partei jedoch eine wichtige Fraktion im Parlament gebildet und damit Chancen gehabt, den Kurs der Regierung zu beeinflussen und die eigene Wählerschaft auszubauen. 

    Alexander Lukaschenko begann jedoch gleich nach der Wahl, sein persönliches Machtsystem zu implementieren, wie zum Beispiel eine Geschichte um den BNF-Abgeordneten Sergej Antontschik zeigte. Im Dezember 1994 präsentierte dieser vor dem Parlament einen Bericht über Korruption in Lukaschenkos Umfeld. Ein Jahr zuvor hatte der zukünftige Präsident dieses Thema von derselben Tribüne aus auf die Agenda gebracht. Lukaschenkos Vortrag war in der Presse abgedruckt und im Radio ausgestrahlt worden, er wurde sein Sprungbrett zur Macht. Antontschiks Rede aber wurde nicht im Radio gesendet und auch die Veröffentlichung in der Zeitung wurde verboten. Die führenden Tageszeitungen des Landes, darunter Sowjetskaja Belorussija (SB) und Narodnaja Gaseta (NG), erschienen zum Ausdruck des Protests mit weißen Flächen auf der Titelseite. Daraufhin setzte Lukaschenko den Chefredakteur der SB, Igor Ossinski, ab (später den Chef der NG, Iossif Sereditsch) und begann damit, die Presse unter Druck zu setzen. Am Ende hatte Antontschiks Rede keinerlei Folgen für Lukaschenko. Die wichtigsten Informationskanäle der Bevölkerung waren blockiert worden. 

    Die Zeitung Sowjetskaja Belorussija erschien aus Protest „geweißt“, da Lukaschenko verfügt hatte, einen Beitrag, in dem ihm selbst Korruption zur Last gelegt wurde, aus dem Blatt nehmen zu lassen / © Archiv Tut.by
    Die Zeitung Sowjetskaja Belorussija erschien aus Protest „geweißt“, da Lukaschenko verfügt hatte, einen Beitrag, in dem ihm selbst Korruption zur Last gelegt wurde, aus dem Blatt nehmen zu lassen / © Archiv Tut.by

    Dass es diese Rede überhaupt gab, zeigt deutlich, dass die BNF zu diesem Zeitpunkt Lukaschenkos wichtigste Gegnerin war. Das war dem Politiker auch bewusst, und er wollte sich offenbar rächen. In der Wahrnehmung der Bevölkerung waren die wichtigsten Erfolge der BNF der Status der belarussischen Sprache als einzige Amtssprache (der noch 1990 vom kommunistischen Obersten Sowjet beschlossen worden war) und die Einführung der historischen Staatssymbole, des historischen Wappens Pahonja und der weiß-rot-weißen Flagge (diese Änderung wurde 1991 erreicht). Daher setzte Lukaschenko ein Referendum an, in dem die Bevölkerung über eine Änderung der Staatssymbolik und die Einführung des Russischen als zweite Amtssprache abstimmen sollte. Das Gesetz über Volksbefragungen von 1991 verbot es, Fragen zu stellen, „die das unverbrüchliche Recht des belarussischen Volkes auf eine souveräne nationale Staatlichkeit und die staatliche Garantie der belarussischen nationalen Kultur und Sprache beeinträchtigen“, daher war dieses Referendum gesetzeswidrig. Doch das kümmerte Lukaschenko nicht. 

    Abgeordnete beim Hungerstreik im belarussischen Parlament im Jahr 1995 / Foto © Archiv Tut.by
    Abgeordnete beim Hungerstreik im belarussischen Parlament im Jahr 1995 / Foto © Archiv Tut.by

    Die parlamentarische Abstimmung über die Aufnahme der einzelnen Fragen ins Referendum war für den 11. April 1995 angesetzt. Die Opposition trat zum Zeichen des Protests gegen den Verfassungsbruch in den Hungerstreik, an dem insgesamt 19 Abgeordnete der BNF, angeführt von Sjanon Pasnjak, und der Belarussischen sozialdemokratischen Partei Hramada unter Führung von Aleh Trussau teilnahmen. Trussau hatte 1988 auch dem Gründungskomitee der Front angehört. 

    „Jahre später sprachen wir über diese Situation mit den anderen Abgeordneten der BNF-Fraktion und kamen überein, dass wir alle bereit waren zu sterben“, erinnert sich Sjarhej Nawumtschyk in seinem Buch Fünfundneunzig [Dsewjanosta pjaty]. „Wenn ein Mensch bereit ist, in den Tod zu gehen, wenn er sein Lebensende vor Augen hat, dann merkt man ihm das wohl an. Jedenfalls fällt es mir schwer, das, was danach geschah, irgendwie rational zu erklären. Wir saßen den anderen Abgeordneten von Angesicht zu Angesicht gegenüber, wir schauten ihnen in die Augen und sie uns.“ Die schockierten Abgeordneten, die bis vor Kurzem Lukaschenko noch uneingeschränkt unterstützt hatten, stimmten nun ganz anders ab, als der Präsident es erwartet hatte. Sie akzeptierten lediglich die Frage über eine Integration mit Russland im Referendum . 

    Die 19 Abgeordneten blieben auch nach Sitzungsende im Parlamentsgebäude. Nachts kamen der OMON und der Sicherheitsdienst des Präsidenten in den Sitzungssaal, einige hundert Mann. Sie trieben die Hungerstreikenden gewaltsam aus dem Gebäude. Die Abgeordneten wurden brutal geschlagen und dann auf dem heutigen Prospekt der Unabhängigkeit aus den Polizeiwagen geworfen. Noch in der Nacht dokumentierten die Abgeordneten die Misshandlungen und zeigten sie bei der Staatsanwaltschaft an. Das Eindringen von Geheimdiensttruppen ins Parlament hätte für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen den Präsidenten gereicht, doch die vom brutalen Vorgehen der Silowiki eingeschüchterten Abgeordneten verurteilten den Angriff auf ihre Kollegen nicht einmal, sondern beschlossen nun, alle von Lukaschenko eingebrachten Fragen zum Referendum zuzulassen. 

    Am 14. Mai 1995 fand nicht nur das Referendum statt, sondern auch der erste Wahlgang für das neue Parlament. Es gibt Gründe, die Ergebnisse dieser Wahl als gefälscht zu bezeichnen. Aus Auftritten der Oppositionskandidaten im Fernsehen sowie aus Flugblättern waren Kritik am Referendum und der Regierung gestrichen worden. Doch vor allem passierte etwas höchst Erstaunliches. Alexander Feduta schreibt im bereits erwähnten Buch: „Die Beteiligung am Referendum entsprach wundersamerweise der Nichtbeteiligung an der Parlamentswahl, obwohl dieselben Menschen wahlberechtigt waren. In 141 von 260 Wahlbezirken konnte aufgrund zu niedriger Wahlbeteiligung (weniger als 50 Prozent) kein Abgeordneter gewinnen, gleichzeitig war die Beteiligung am Referendum aber ausreichend für dessen Gültigkeit.“
    Damals sah das Wahlrecht vor, dass 50 Prozent der Wahlberechtigten in einem Wahlkreis ihre Stimme abgeben mussten, damit das Ergebnis gültig war. In vielen Fällen fehlten den Oppositionskandidaten nur wenige Dutzend Stimmen. Ein Abgeordneter der BNF, Valentin Golubew, erreichte zum Beispiel 58 Prozent der Stimmen, doch die Wahlbeteiligung in seinem Wahlkreis betrug angeblich nur 49,9 Prozent (und das war kein Einzelfall). 

    Im Ergebnis wurde kein einziger Abgeordneter der Volksfront in das neue Parlament gewählt. Die neuen Parlamentarier waren zur Kooperation mit Lukaschenko bereit. Dieser setzte nun, ohne Widerstand aus den Eliten zu begegnen, auf die Integration mit Russland. Der russische Präsident Boris Jelzin war krank, und die Chance, die Herrschaft im Kreml zu übernehmen, sah für Lukaschenko greifbar nahe aus. 

    Die Gerüchte über die Unterzeichnung eines Unionsvertrags und den drohenden Verlust der Unabhängigkeit brachten tausende junge Menschen auf die Straßen, die früher nicht an politischen Aktionen teilgenommen hatten. Eine Reihe von Kundgebungen im Jahr 1996 ging als „Minsker Frühling“ in die Geschichte ein. Organisiert wurden sie von der BNF.
    Bei der Demonstration gegen die Unterzeichnung des Unionsvertrags zwischen Belarus und Russland gingen am 24. März zwischen 15.000 und 30.000 Menschen auf die Straße. Die Nachricht über die Proteste ging weltweit durch die Medien. Am 26. März teilte Boris Jelzins Sprecher Sergej Medwedew mit, es gehe nicht darum, „einen neuen Staat zu schaffen“, was dann der am 2. April in Moskau unterzeichnete „Vertrag über die Schaffung einer Staatengemeinschaft von Belarus und Russland“ abbildete. Am selben Tag fand in Minsk eine neuerliche Aktion mit etwa 30.000 Teilnehmenden statt, diesmal ohne Auflösung und Festnahmen. Am 26. April nahmen bereits etwa 50.000 Menschen am Tschernobyl-Gedenkmarsch teil, der brutal aufgelöst wurde.

    Beim Tschernobyl-Marsch von 1996 kam es zu blutigen Zusammenstößen mit der Staatsmacht / Foto © 90s.by
    Beim Tschernobyl-Marsch von 1996 kam es zu blutigen Zusammenstößen mit der Staatsmacht / Foto © 90s.by

     

    2011 schrieb der Journalist Andrej Dynko rückblickend in Nasha Niva: „Den Demonstranten in Minsk war es gelungen, die Unionsverträge mit Russland zu stoppen und die Weltöffentlichkeit auf die Gefahr eines Anschlusses aufmerksam zu machen. Es war Zeit gewonnen und die Initiative gekapert worden. […] Hätten sie einen Monat mehr zur Verfügung gehabt, hätte die Bevölkerung geschwiegen, Belarus hätte zu einem Tatarstan (einer Republik innerhalb der Russischen Föderation, Anm. d. Red.) werden können.“
    Die Erfolge des „Minsker Frühlings“ hatten einen hohen Preis: Sjanon Pasnjak und sein Mitstreiter Sjarhej Nawumtschyk mussten das Land verlassen, da ihr Leben bedroht war. Sie erhielten Asyl in den USA. Die Situation in Belarus geriet augenblicklich ins Zentrum der Aufmerksamkeit führender amerikanischer Medien. Das führte dazu, dass die USA und die Europäische Union die Ergebnisse des Referendums von 1996 nicht anerkannten. Doch die Zukunft der Front sollte sich dadurch massiv verändern. 

    Alternative Wahlen und die Spaltung der BNF

    Zum direkten Grund für die Spaltung der BNF wurden die alternativen Wahlen. Alexander Lukaschenkos erste fünfjährige Legislatur endete laut Verfassung im Jahr 1999. Doch mit der Verfassungsnovelle von 1996 wurde festgelegt, die Legislaturperiode ab diesem Zeitpunkt neu zu beginnen.

    Diesen Umstand wollte ein Teil der Opposition für sich nutzen. Viktor Gontschar, vormals ein Mitstreiter Lukaschenkos, später sein Gegner, schlug vor, 1999 alternative Präsidentschaftswahlen durchzuführen. Da er 1996 unrechtmäßig als Leiter des Zentralen Wahlkomitees abgesetzt worden war, hatte er formal das Recht, einen solchen Wahlprozess zu organisieren. Mit dutzenden Politikern wurden Gespräche geführt, doch nur zwei Personen wollten bei einer solchen Wahl kandidieren: Der ehemalige Premierminister Michail Tschigir, der seit seinem Rücktritt 1996 in Moskau arbeitete, und Sjanon Pasnjak. 
     
    Einen Tag, nachdem seine Kandidatur „registriert“ wurde, wurde Tschigir festgenommen und des Amtsmissbrauchs, der Amtsanmaßung und der Fahrlässigkeit beschuldigt. Kurz nach Beginn des Wahlkampfs zog auch Pasnjak seine Kandidatur zurück und warf den Organisatoren Provokation vor. Damit verloren die Wahlen ihren Sinn: Es gab nur noch einen einzigen Kandidaten, der zudem im Gefängnis saß. Das ganze Vorhaben war zu einer politischen Mobilisierungsaktion der Opposition geworden, die einen widersprüchlichen Eindruck hinterließ. Unter anderem auch bei den Aktivisten der BNF.

    Tatsächlich schwelten innerhalb der BNF schon lange vorher Konflikte. Es gab keine Einigkeit bezüglich der Parteistrategie. Pasnjak und seine Gleichgesinnten hielten an der ursprünglichen Linie fest, die in den 1990er Jahren verfolgt worden war: Sie nahmen die Front als führende und eigenständige politische Kraft wahr, an die die anderen Parteien sich „anpassen“ sollten. Ihre Opponenten wiederum waren bereit, sich mit anderen oppositionellen Kräften abzusprechen und für einen Sieg der Demokratie Kompromisse einzugehen. 
    Bereits früher hatten Pasnjaks Mitstreiter ihm Autoritarismus vorgeworfen. „Im Mai [1999] teilte ich dem Rat mit, dass beim Parteitag alle meine Stellvertreter neu gewählt werden würden, dass es diesen Diskussionsklub, wie ich ihn nannte, so nicht mehr geben sollte. Danach begann die Meuterei auf dem Schiff“, räumte Pasnjak ein. Wir ergänzen hier, dass er zum Zeitpunkt dieser Entscheidung die Partei schon seit drei Jahren aus der Emigration geführt hatte, per Fax und Telefon. 

    Pasnjaks Opponenten stellten als Gegenkandidaten den 38-jährigen Philologen Winzuk Wjatschorka auf, Gründungsmitglied der Bewegung und ebenso Teil des Gründungskomitees der Partei (sein Sohn Franak Wjatschorka ist heute Berater von Swetlana Tichanowskaja). Weder er noch Pasnjak konnten eine Mehrheit erlangen. In der Folge organisierten Pasnjaks Anhänger einen eigenen Parteitag, wählten den Politiker zum Vorsitzenden und benannten die Partei um in Konservativ-Christliche Partei – BNF (KChP-BNF). Die Gegner erkannten diese Entscheidungen nicht an, trafen sich ebenfalls und wählten Wjatschorka zum Vorsitzenden, der damit die Partei BNF anführte.  

    Nach der Spaltung schlugen die Parteien verschiedene Richtungen ein, die sich nie mehr überschneiden sollten. Wjatschorkas BNF setzte auf einen Kurs der Zusammenarbeit mit anderen Organisationen. Die KChP-BNF trat für den Boykott jeglicher Wahlen ein. In den zwei Jahrzehnten nach der Spaltung gab es nicht den Funken einer Chance auf eine Wiedervereinigung. In jedem Fall aber ist die BNF in die Geschichte eingegangen, als Organisation, die das Schicksal des Landes für immer verändert hat, indem sie die Unabhängigkeitserklärung von Belarus herbeiführte und als Erste den Kampf gegen Alexander Lukaschenko aufnahm, für die Freiheit.

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  • Die Paradoxien des belarussischen Nationalismus

    Die Paradoxien des belarussischen Nationalismus

    Warum konnte die Belarussische Volksfront (BNF) ab 1988 entstehen und sich zu einer wichtigen politischen Kraft entwickeln, obwohl das Nationalbewusstsein der Belarussen im Vergleich zu den Bevölkerungen in anderen Sowjetrepubliken eher schwach ausgebildet war? In seinem Stück geht der Journalist Yury Drakakhrust, einer der Mitgründer der BNF, dieser Frage auf den Grund. 

    Warum war Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre die Belarussische Volksfront (BNF) die stärkste Oppositionskraft in Belarus? Ideologisch folgte diese Organisation einem kulturell-ethnischen Nationalismus. Ähnliche Bewegungen formierten sich, oft ebenfalls unter dem Namen „Volksfront“, Ende der 1980er in zahlreichen Republiken der UdSSR – von Aserbaidschan bis Estland (allerdings nicht in der RSFSR). Und sie waren die treibende Kraft, die sowohl demokratische Entwicklungen als auch schließlich die Unabhängigkeit von der Sowjetunion herbeiführte. 

    Wer spricht in Belarus Belarussisch?

    Auf den ersten Blick hatte dieser kulturell-ethnische Nationalismus im Vergleich zu allen anderen Sowjetrepubliken in Belarus den schlechtesten Stand. In der letzten sowjetischen Volkszählung von 1989 betrug der Anteil jener Einwohner der BSSR, die die Sprache der Titularnation (hier also Belarussisch) als Muttersprache angaben, nur 65 Prozent – einer der niedrigsten Werte im Vergleich zu anderen Sowjetrepubliken. Viele Soziologen und Personen des öffentlichen Lebens, darunter Funktionäre der BNF, sprachen immer wieder von einem schwach ausgeprägten Nationalbewusstsein der Belarussen. Im Hinblick auf die Sprachpräferenzen der Bevölkerung wurde diese These durch spätere, nunmehr im unabhängigen Belarus durchgeführte Volkszählungen nur bekräftigt. 1999, 2009 und 2019 wurde dabei folgende Frage gestellt: Welche Sprache sprechen Sie normalerweise zu Hause? 1999 war nur bei 36,7 Prozent der Bevölkerung die Antwort Belarussisch, 2019 waren es sogar nur noch 26 Prozent.  
    Bemerkenswert ist auch eine weitere Besonderheit, die die Volkszählungen zum Vorschein brachten, nämlich der Zusammenhang zwischen Mutter- bzw. Alltagssprache und sozial-demografischen Faktoren: Der höchste Anteil des Belarussischen als Mutter- und Alltagssprache ist bei älteren Menschen, Menschen mit niedrigem Bildungsstand sowie der Dorfbevölkerung zu verzeichnen. Überträgt man diese Daten rückwirkend auf die 1980er Jahre, so kann man davon ausgehen, dass die BNF bei ihrer Gründung keine besonders breite und erfolgversprechende Ausgangsbasis hatte.    

    Die Wurzeln des belarussischen Nationalismus

    Dennoch waren Ende der 1980er Jahre einige Voraussetzungen für die Entwicklung eines Nationalismus in Belarus erfüllt. Eine davon war die relativ hohe ethnische Homogenität. In der Volkszählung von 1989 betrug der Anteil der Belarussen in der Bevölkerung 77 Prozent, die ethnischen Russen machten 13,2 Prozent aus. Bereits in den 1970er Jahren bildeten sich die ersten Kreise von Anhängern des nationalen Diskurses. Das waren keine offiziellen Organisationen (die in der UdSSR nur unter Aufsicht der KPdSU gestattet waren), sondern ein informelles Netzwerk von Menschen mit ähnlichen Ansichten und Überzeugungen. In den späten 1980er Jahren, mit dem Beginn der Perestroika, weitete sich dieses Netzwerk aus und nahm immer mehr organisierte Formen an. Aus diesem Netzwerk gingen auch die Gründer der BNF hervor – Juras Chodyko, Michail Tkatschow, Viktor Iwaschkewitsch, Winzuk Wjatschorka, Ales Bjaljazki (Friedensnobelpreisträger 2022) und natürlich ihr Vorsitzender, Sjanon Pasnjak.
    Gleichzeitig erwiesen sich die Befürworter demokratischer Entwicklungen, die jedoch keinen Akzent auf nationale Werte legten, als viel weniger fähig zur Selbstorganisation. Im Wettbewerb um die politische Führung war die BNF ihren ideologisch anders gesinnten Konkurrenten damals ein gutes Stück voraus. Dieser Vorsprung war unter anderem der Tatsache zu verdanken, dass die Ideologie der BNF sowohl nationalistische als auch demokratische Komponenten umfasste. Die nationalistische Komponente sorgte für einen, wenn auch kleinen, aber umso treueren harten Kern als Basis, während die demokratische Komponente eine breite gesellschaftliche Unterstützung ermöglichte. Ein weiterer wichtiger Faktor war die Vorbildwirkung anderer Sowjetrepubliken. 
     

    Yury Drakakhrust (links mit Megaphon) und BNF-Boss Sjanon Pasnjak bei einer Kundgebung in Minsk im Februar 1990 / Foto © privat

    Wie der nationalistische David den kommunistischen Goliath besiegte

    Ich kannte einige Mitbegründer der Estnischen Volksfront persönlich und war von der Energie und Größe dieser Bewegung zutiefst beeindruckt. Unter diesem Eindruck rief ich 1988 anlässlich einer Kundgebung in Kurapaty zur Gründung einer Belarussischen Volksfront auf, die wenige Monate später tatsächlich erfolgte. Ich will meinen Beitrag nicht überbewerten, der Verweis auf meine persönliche Erfahrung soll nur zeigen, dass die Impulse zur Gründung und zum Erfolg der BNF nicht ausschließlich aus dem national-demokratischen Netzwerk der 1970er und 1980er Jahre kamen. Andererseits waren hier aber auch nicht nur Antikommunisten am Werk, wie ich 1988 einer war. Die Unabhängigkeitserklärung, ihre Aufnahme in die Verfassung sowie schließlich die Auflösung der UdSSR und Gründung der Republik Belarus – all diese Entscheidungen traf das gesetzgebende Organ der Sowjetrepublik, in dem die Kommunisten die überwiegende Mehrheit stellten, während nur ein paar Dutzend von insgesamt 360 Abgeordneten die BNF vertraten. Aber es war die BNF, die diese Themen erst auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Das lässt sich einerseits auf das politische Können der führenden BNF-Politiker zurückführen, andererseits ist auch eine andere Erklärung denkbar, in der das Narrativ vom „nationalistischen David“, der den „kommunistischen Goliath“ besiegt, nicht ganz treffend erscheint. 
    Ein erheblicher Teil der kommunistischen Elite der BSSR war keineswegs gegen die Ausweitung der Rechte der Republik und, in einer bestimmten Phase, auch nicht gegen ihre Unabhängigkeit. Goliath machte David schöne Augen, überließ ihm nach außen hin die Führungsrolle, ging jedoch fest davon aus, auch unter den neuen geopolitischen Bedingungen an der Macht zu bleiben. 
    Paradoxerweise gab es Situationen, in denen der nationalistische Impuls aus Moskau kam. Von Abgeordneten des Obersten Sowjets in Belarus wissen wir, dass 1990 die Initiative zum Beschluss der Souveränität der Republik vom Präsidenten der UdSSR Michail Gorbatschow ausging. Er sah, dass viele Republiken solche Deklarationen bereits verabschiedet hatten, und bevorzugte es, diesen Prozess auf Initiative der Kommunistischen Partei und unter ihrer Aufsicht einzuleiten, als es dem unkontrollierbaren Zufall zu überlassen, welchen Weg Belarus in seinem Streben nach Unabhängigkeit einschlägt. Aber wie es die Geschichte manchmal so will, war der Versuch, dieses Ereignis abzuwenden, erst recht ein Katalysator dafür.
    Nichtsdestoweniger war es die BNF, die das Thema Unabhängigkeit in Belarus aufgebracht hatte. 

    Wurde der Kommunismus vom Nationalismus gestürzt?

    Der Nationalismus war überall [in der späten UdSSR] die treibende Kraft zum Sturz des Kommunismus – so auch in Belarus. Die gesellschaftliche Basis war hier jedoch schwächer ausgeprägt als in anderen Sowjetrepubliken. Das stand zwar der Erlangung der Unabhängigkeit schließlich nicht im Weg – auch Länder wie Turkmenistan (wo in den Jahren der Perestroika keine Spur einer Bewegung für nationale Unabhängigkeit und Demokratie zu sehen war) wurden unabhängig –, bestimmte aber den weiteren Verlauf der Ereignisse im nunmehr souveränen Belarus.
    Hier sehen wir ein weiteres Paradox: Während das sowjetische Imperium noch existierte, fuhr die BNF im Widerstand gegen die fünf-Millionen-köpfige KPdSU und das mächtige totalitäre System, vor dem die ganze Welt Angst hatte, einen Sieg nach dem anderen ein und gestaltete die Geschichte mit. Als der wichtigste Sieg errungen war, sah sich die BNF einem provinziellen Fragment des imperialen Systems gegenüber. Dieses Fragment, dieser Überrest, hatte weder Struktur (die belarussische kommunistische Partei war liquidiert worden) noch Ideologie (der Kommunismus war auf der Müllhalde der Geschichte gelandet). Die belarussische kommunistische Elite hatte auch zu Sowjetzeiten nicht mit besonderen politischen Talenten oder politischem Willen geglänzt.

    Und trotzdem war es genau in diesem Moment – als die BNF im nun unabhängigen Belarus mit diesen Anti-Bismarcks allein dastand – vorbei mit ihren Siegen. 1992 legalisierte das belarussische Parlament die kommunistische Partei und blockierte ein Referendum über vorgezogene Parlamentswahlen, für das die BNF fast eine halbe Million Unterschriften gesammelt hatte.  
    So blieben ungefähr jene Kreise an der Macht, die auch schon vor der Unabhängigkeit regiert hatten. Eine Weile spielte die BNF noch die Rolle der Partei, die den politischen Stil vorgab und die Idee der Unabhängigkeit vorantrieb. Aber bei den Präsidentschaftswahlen 1994 schlug das Pendel in die ideologische Gegenrichtung aus, als mit Alexander Lukaschenko ein UdSSR-Romantiker und konzeptioneller Gegenspieler der BNF an die Macht kam. Bei den Parlamentswahlen 1995 musste die BNF eine bittere Niederlage einstecken, und noch im selben Jahr ließ Lukaschenko auf Basis einer Volksabstimmung die Staatssymbolik ändern. Die weiß-rot-weiße Flagge und das Pahonja-Wappen, die mit der BNF assoziiert wurden, mussten weichen. 

    „Der belarussische Nationalismus spricht Russisch“

    Übrigens ist Belarus kein Einzelfall – die sogenannten Volksfronten und ähnliche Bewegungen haben nirgendwo lange über die Unabhängigkeit ihrer jeweiligen Länder hinaus existiert. Das Schicksal des belarussischen Nationalismus erwies sich jedoch als komplexer und weitreichender. 1998 veröffentlichte ich den Artikel Der belarussische Nationalismus spricht Russisch, der sich auf Umfrageergebnisse des Unabhängigen Instituts für sozial-ökonomische und politische Studien bezog. Diese hatten gezeigt, dass die Unabhängigkeit Belarus’ mehr Zuspruch unter der russischsprachigen Bevölkerung des Landes erfahre als unter der belarussischsprachigen. In meinem Artikel erklärte ich diesen Umstand mit sozial-demografischen Faktoren: Der Anteil der Belarussischsprachigen war, wie wir bereits gesehen haben, unter Dorfbewohnern, älteren und weniger gebildeten Menschen höher. Und genau das waren die Schichten, die eher dazu tendierten, den Sowjetzeiten nachzutrauern. 
    Hier sollten wir uns die Entwicklung der öffentlichen Meinung zur Sowjetunion ansehen: Umfragen zufolge war in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit die Mehrheit der Belarussen für die Wiedererrichtung der UdSSR (siehe Tabelle 10). Doch bereits 2002, in den frühen Jahren von Lukaschenkos Regierung, verschob sich dieses Verhältnis: Der Anteil derer, die nicht mehr in der UdSSR leben wollten, überwog und wurde im weiteren Verlauf von Jahr zu Jahr höher.   

    „Nation als Schicksalsgemeinschaft“

    Sehr anschaulich wurden die Metamorphosen des belarussischen Nationalismus bei den Protesten 2020 illustriert. Die Leitfiguren des Widerstands waren Viktor Babariko, langjähriger Manager einer Gazprom-Bank, und die russischsprachige Lehrerin Swetlana Tichanowskaja. Doch schon bald nach Beginn der Proteste wählte das kollektive Bewusstsein der Belarussen die weiß-rot-weiße Flagge als Symbol – das Markenzeichen der längst vergessenen und zu diesem Zeitpunkt wenig populären BNF. Die Proteste von 2020 hatten einen explizit nationalen Charakter im Sinne von Ernest Renans „Nation als Schicksalsgemeinschaft“. Die Sprache, die die Mehrheit der protestierenden Belarussen 2020 sprach, untermauerte übrigens meine These aus dem Jahr 1998. 


    Und noch ein Paradox verdient Aufmerksamkeit: 1993 forderte Lukaschenko, damals noch Parlamentsabgeordneter, die Einheit von Belarus und Russland. Als Präsident traf er nach 1994 mehrere Integrationsvereinbarungen mit der Russischen Föderation; eine neue Sowjetunion, und sei es nur aus zwei Republiken, konnte jedoch nicht einmal ein solch großer Fan der UdSSR wie er erzielen. Die Unabhängigkeit, so zeigte sich, wird man gar nicht so leicht wieder los. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass dieser glühende Opponent der BNF, der Belarus nun schon beinahe 30 Jahre lang regiert, gewissermaßen die Ideen seiner Gegner umsetzt. 


    Hier lassen sich wiederum Parallelen zur deutschen Geschichte ziehen: 1848 kämpfte der „aggressive Junker“ Otto von Bismarck mit dem Säbel gegen die deutschen Demokraten, doch später als Kanzler war ausgerechnet er es, der jenes geeinte Deutschland schuf, von dem das Frankfurter Parlament 1848 geträumt hatte. Zwar nicht der Form nach, aber immerhin ein geeintes.
    So hat sich die „List der Vernunft“, von der einst Hegel schrieb, sowohl in der deutschen als auch in der neusten belarussischen Geschichte manifestiert – hier zu sehen am Beispiel der erstaunlichen Metamorphosen des ideellen Erbes der Belarussischen Volksfront. 

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