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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Marysia Myanovska: Oh brother, where art thou

    Marysia Myanovska: Oh brother, where art thou

    Mit ihrer Kamera macht die Kyjiwer Fotografin Marysia Myanovska sich 2019 daran, den Stadtbezirk neu zu erkunden, in dem sie und ihr ein Jahr zuvor verstorbener Bruder Witali ihre Jugend verbrachten. Trojeschtschyna ist einer der größten Schlafbezirke Europas. Er liegt am linken Ufer des Dnipro und ist durch den Fluss vom Zentrum der ukrainischen Hauptstadt getrennt. In den 1970er und 1980er Jahren wurden hier gewaltige Wohnkomplexe für Fabrikarbeiter errichtet. Pläne, eine U-Bahn-Linie zu bauen, die den Bezirk mit dem Rest Kyjiws verbinden sollte, scheiterten immer wieder am Geld. So blieben die Jugendlichen, die hier aufwuchsen, weitgehend unter sich. Ohne Cafés, Bars oder Freizeiteinrichtungen verbrachten sie die meiste Zeit auf der Straße. Nachdem die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erlangt hatte, machte das Land eine schwere Wirtschaftskrise durch und viele Bewohner von Trojeschtschyna verloren ihre Arbeit. „Mein Bruder verkörpert die erste Generation junger Menschen in der unabhängigen Ukraine”, sagt Myanovska. „Er betrat eine Welt, die geprägt war von Kriminalität, Heroin Chic, MTV, Sex und von der ersten Techno-Welle.“ Auf der Suche nach ihm lernt sie eine neue Generation kennen. Eine Generation, die die Freiheit nicht geschenkt bekam, sondern für sie kämpfen muss.

    Der nördliche Rand von Trojeschtschyna im November 2019 | Mitglied eines Freiwilligenkorps, August 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Der nördliche Rand von Trojeschtschyna im November 2019 | Mitglied eines Freiwilligenkorps, August 2022 / Foto © Marysia Myanovska

    dekoder: Sie haben sich in dem Projekt Oh Brother, Where Art Thou auf die Spuren Ihres verstorbenen Bruders gemacht. Was war er für ein Mensch?

    Marysia Myanovska: Ich bin 14 Jahre jünger als er, deshalb war er auch eine Vaterfigur für mich. Ich habe mehr Zeit mit ihm verbracht als mit meinem leiblichen Vater. Wenn er seine Freunde treffen wollte, sagte meine Mutter immer: „Oh, nimm Marysia mit“. Ich fand seine Freunde cool, die Musik, die sie hörten, die Klamotten, die sie trugen. Obwohl ich noch kein Teenager war, hat mich ihr Stil geprägt.

    Wärmekraftwerk am Nordrand von Trojeschtschyna, November 2019 | Maria und Oleg, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    Wärmekraftwerk am Nordrand von Trojeschtschyna, November 2019 | Maria und Oleg, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska

    Auf den Bildern spielt das Viertel Trojeschtschyna in Kyjiw eine wichtige Rolle. Wie war es, dort aufzuwachsen? 

    Ich benutze gern das Wort „Ghetto“, obwohl das vielen in der Ukraine nicht gefällt. Trojeschtschyna wurde als Schlafstadt für Fabrikarbeiter gebaut. Und außer schlafen konnte man dort auch nicht viel machen. Es gab Schulen, ein paar kleine Geschäfte und ein Kino, das alte Filme aus der Sowjetzeit zeigte. Mein Bruder und seine Freunde hatten keine Computerspiele, also haben sie die meiste Zeit auf der Straße verbracht. Sie haben Sport gemacht, weil es wichtig war, stark zu sein und gut kämpfen zu können. In den 1990er Jahren verloren viele Bewohner ihre Arbeit, das Viertel wurde immer düsterer, die Kriminalität nahm zu, die Menschen hatten kein Geld und keine Perspektive und wurden immer zorniger. Zuhause liefen auf MTV Clips mit coolen Jugendlichen in teuren Klamotten, und dann gehst du vor die Türe und alles ist grau. Es gab Schießereien auf der Straße, vor unserer Schule wurde ein Mädchen getötet. Junkies warfen ihre Spritzen überall hin.

    Während der Arbeit an dem Projekt begann Russland den vollumfänglichen Krieg gegen die Ukraine. Wie hat das Ihre Arbeit verändert?

    Erst wusste ich nicht, wie ich weitermachen soll. Ich hatte eine Gruppe Jugendlicher begleitet, die mich an meinen Bruder und seine Freunde erinnerten, so wie ich sie als kleines Mädchen gesehen habe. Dann verstand ich, dass es wichtig ist, diesen historischen Moment zu dokumentieren, und ich habe sie einfach weiter begleitet. Mein Bruder lebte auch in einem sehr wichtigen und sehr dramatischen Moment, als die Ukraine unabhängig wurde. Seine Generation bekam die Unabhängigkeit geschenkt und wusste nicht, was sie mit ihr anfangen soll. Die jetzige Generation muss für unsere Unabhängigkeit kämpfen.

    März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    März 2021 / Foto © Marysia Myanovska

    Wie unterscheiden sich die Generationen?

    Wir hatten keine Vorstellung davon, wer wir sein wollten. Was bedeutet unabhängig sein eigentlich in der Praxis? Es war eine sehr schwere Zeit für die Generation meines Bruders. Sie mussten damit zurechtkommen, dass ihre Realität eine ganz andere war als die, die der Fernseher zeigte. Unsere Gegenwart heute ist dramatisch, und ich glaube, für die Jugend gilt das ganz besonders. Während des Krieges ist es noch schwerer, sich eine Zukunft auszumalen, Pläne zu machen, wenn du nicht weißt, ob du vielleicht an die Front musst. Du weißt ja noch nicht einmal, ob dein Land in ein paar Jahren noch existiert.

    Zerstörungen durch einen Raketenangriff, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Zerstörungen durch einen Raketenangriff, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Grischa und Slawa, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Grischa und Slawa, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Mein Bruder Waleri und seine Freunde zuhause in unserer Küche in Trojeschtschyna Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Mein Bruder Waleri und seine Freunde zuhause in unserer Küche in Trojeschtschyna Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Mein Bruder mit seinen Freunden in einem Café Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Mein Bruder mit seinen Freunden in einem Café Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Mein Bruder zusammen mit Freunden und seiner Freundin im Freizeitpark Hidropark in Kyjiw Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Mein Bruder zusammen mit Freunden und seiner Freundin im Freizeitpark Hidropark in Kyjiw Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Waleri in der Küche unserer Wohnung in Trojeschtschyna Mitte der 1990er Jahre / Trojeschtschyna / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Waleri in der Küche unserer Wohnung in Trojeschtschyna Mitte der 1990er Jahre / Trojeschtschyna / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Grischa und Tima, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    Grischa und Tima, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    Grischa am Fenster seiner Wohnung in Trojeschtschyna | Tima in seiner Wohnung, November 2019 / Foto © Marysia Myanovska
    Grischa am Fenster seiner Wohnung in Trojeschtschyna | Tima in seiner Wohnung, November 2019 / Foto © Marysia Myanovska
    Tima mit Gewehr, November 2019 | Maria und ihre Schwester Alexandra, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    Tima mit Gewehr, November 2019 | Maria und ihre Schwester Alexandra, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    Vika, April 2022 | Trojeschtschyna, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Vika, April 2022 | Trojeschtschyna, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Im Zentrum von Trojeschtschyna, April 2022 | Maria und ihre Schwester Alexandra, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Im Zentrum von Trojeschtschyna, April 2022 | Maria und ihre Schwester Alexandra, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Nordwestlicher Rand von Trojeschtschyna / Foto © Marysia Myanovska
    Nordwestlicher Rand von Trojeschtschyna / Foto © Marysia Myanovska
    Ich und mein Bruder, Trojeschtschyna 1992 / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Ich und mein Bruder, Trojeschtschyna 1992 / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska

    Fotografie: Marysia Myanovska
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 06.12.2023

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  • Korruption in Belarus: Der Fisch stinkt vom Kopf

    Korruption in Belarus: Der Fisch stinkt vom Kopf

    Die Präsidentschaftswahl im Jahr 1994 gewann Alexander Lukaschenko unter anderem mit seinem Schlachtruf, der Korruption in Belarus endgültig das Handwerk zu legen. Seitdem hat er allerdings ein System geschaffen, in dem Korruption ein zentrales Instrument der Machterhaltung ist. Sie wird auf allem möglichen Ebenen geduldet – in der Beamtenschaft, in Staatsunternehmen, bei den Silowiki, im Gesundheits- oder Bildungssystem – solange sie nicht zum Problem für die Mächtigen selbst wird. So ist sie immer auch ein Hebel, um unliebsame Personen auszutauschen, indem man sie eben der Korruption bezichtigt.

    Warum die Korruption im Apparat von Lukaschenko systemimmanent ist und wie dieses System funktioniert, erklärt der Politologe Waleri Karbalewitsch in einer Analyse für das belarussische Online-Medium Pozirk.

    Alexander Lukaschenko hat dafür gesorgt, dass der Prozess zur „Milch-Affäre“ noch mehr Aufsehen erregt. Verdächtigt werden 26 Personen, von denen 15 in Untersuchungshaft sitzen. Der Hauptverdächtigte ist Gennadij Skitow, Generaldirektor des Unternehmens Babuschkina Krynka mit Standort in Mahiljou. Im Zusammenhang mit dem Verfahren wurde auch der ehemalige Landwirtschaftsminister und spätere Berater von Lukaschenko, der Inspektor des Gebiets Wizebsk Igor Brylo festgenommen.

    Der Beamte entscheidet alles 

    1994 hatte sich Lukaschenko bekanntermaßen die Korruptionsbekämpfung auf die Fahnen seines Präsidentschaftswahlkampfes geschrieben. Er versprach, dieser Hydra den Kopf abzuschlagen und die mafiösen Clans auszumerzen. Das Bild des unversöhnlichen Kämpfers gegen die Korruption wurde zum Aushängeschild des belarussischen Präsidenten. Er versicherte russischen Journalisten wiederholt, dass es bei uns keine Korruption im großen Stil wie in Russland geben würde, weil er angeblich selbst nicht stehle und auch seine Beamten nicht davonkommen lasse. 2018 erklärte Lukaschenko bei einem Besuch in Sluzk: „Ich habe schon bei den ersten Präsidentschaftswahlen dem Volk klar gesagt, dass es in Belarus schlichtweg keine Korruption geben kann.“

    Seit vielen Jahren liegt dem offiziellen ideologischen Konstrukt die These von einem starken Staat zugrunde, der für Ordnung sorgt. Nach dem Motto: Das Regime mag zwar autoritär sein, aber dafür kämpft es für Gerechtigkeit. Die staatlichen Güter würden nicht geplündert, es herrschte keine Willkür bei Privatunternehmern. Dabei gibt es in Belarus ganze neun Behörden, die mit Ermittlungs- und Fahndungsmaßnahmen befasst sind. Trotz alledem gedeiht die Korruption in unserem Land. Woran auch Lukaschenko nicht müde wird zu erinnern, indem er immer wieder neue Fakten über solche Vergehen enthüllt.

    Warum? Weil der Boden für Korruption in Belarus in Wirklichkeit sehr fruchtbar ist. Schon das Gesellschaftsmodell selbst begünstigt Korruptionsprozesse. Schließlich ist ein System, in dem der Staat (also die Beamten) alle Bereiche des öffentlichen Lebens kontrolliert und der staatliche Sektor eine immense Rolle in der Wirtschaft spielt, wie geschaffen für Korruption.

    Während sich in den meisten Ländern die sozialen und wirtschaftlichen Prozesse selbst regulieren, wird in Belarus alles von Beamten entschieden. Die riesige Macht der Bürokratie in einem geschlossenen, intransparenten System, in dem jede Information für geheim erklärt wird und es keine Rechtsstaatlichkeit gibt, führt dazu, dass die Korruption in einem solchen Land vorprogrammiert und quasi genetisch angelegt ist.

    Der Fisch stinkt vom Kopf her

    Die Instrumente zur Korruptionsbekämpfung sind seit langem bekannt: Verringerung der Rolle des Staates in der Wirtschaft, der Gesellschaft und dem öffentlichen Leben; Kontrolle des Staates durch die Gesellschaft; eine starke Opposition und Zivilgesellschaft sowie unabhängige Medien, die jeden Schritt der Bürokratie verfolgen; und ein Rechtsstaat mit unabhängigen Gerichten.

    In Belarus gibt es das alles nicht. Schließlich kann die Kontrolle der Beamten durch die Gesellschaft schlecht durch deren Kontrolle durch einen autoritären Herrscher ersetzt werden. Selbst wenn dieser aufrichtig interessiert daran sein sollte, dieses Übel zu beseitigen.

    Schauen wir nur, wie in Belarus das System der „Rechtsprechung“ – verzeihen Sie den Ausdruck – funktioniert. Es reicht, dass der Vorsitzende des KGB oder der Leiter der Staatlichen Kontrollkommission Lukaschenko einen Bericht über einen x-beliebigen Bürger vorlegt. Der Herrscher segnet es ab, und das war’s. Das Schicksal des Betreffenden ist besiegelt. Er bekommt keine Chance, sich zu verteidigen. Der Gerichtsprozess ist nichts weiter als eine Inszenierung, eine Fiktion. Das Gericht erlässt keine Freisprüche. Wenn man allerdings Geld hat, kann man sich freikaufen, was viele Reiche auch tun.

    Auch das Verhalten von Lukaschenko selbst, der alle anderen zur Bescheidenheit und zum Dienst am Staate aufruft, taugt nicht als gutes Beispiel. Auf Staatskosten alle möglichen Marotten zu befriedigen, angefangen bei 16 Residenzen bis hin zum alljährlichen internationalen Eishockeyturnier zu Ehren seiner selbst – das korrumpiert die Beamten mehr als alles andere.

    So drängt sich der Schluss auf, dass die korrupteste Behörde in Belarus das Präsidialamt selbst ist. Drei ihrer Leiter sind jeweils unter großem Aufsehen wegen Korruptionsvorwürfen entlassen worden. Die Einstellung zur Korruption in den Machteliten lässt sich anschaulich an der bekannten Siedlung im Minsker Stadtteil Drasdy demonstrieren, in der sich traditionell hohe Amtsträger des Staates niederlassen. Der Fisch stinkt bekanntlich vom Kopf her. Deshalb stellt sich sofort die Frage, mit welchem Geld sich die Staatsbeamten in Drasdy und Wjasnjanka Häuser bauen, die eine Million Dollar kosten?

    Lukaschenko scheint bei der Korruption in seiner Umgebung mitunter doch ein Auge zuzudrücken. Vielleicht deshalb, weil Menschen, gegen die man ernstzunehmendes Kompromat (kompromittierendes Material) in der Hand hat, am zuverlässigsten und loyalsten sind. Die können das U-Boot nicht verlassen.

    Lukaschenko hat mehrfach erklärt, dass bei der Ernennung von Kandidaten für Posten aus dem Präsidialregister diese durch den KGB und anderen „zuständigen Behörden“ überprüft würden. Allem Anschein nach gibt es über jeden Beamten ein Dossier mit kompromittierendem Material. Manchmal kommt dieses Kompromat durchaus zum Einsatz. Oftmals geht es darum, dass hohe Beamte ihre eigenen, unabhängigen und Lukaschenko nicht bekannten Einnahmequellen haben, was bereits als Revolte gilt, weil es bedeutet, sich der Kontrolle zu entziehen. Und das muss bestraft werden.

    Die Justiz funktioniert nicht. Es gibt keine gesellschaftliche Kontrolle

    Ein weiteres schädliches Element ist, dass immer wieder Amtsträger begnadigt werden, die wegen Korruption im Gefängnis sitzen. Viele kommen sehr schnell wieder frei. Sie werden dann etwa dazu verdammt, rückständige Agrarbetriebe zu leiten. Den Beamten wird der Gedanke anerzogen, dass im Land allein der Wille Lukaschenkos gilt, und nicht das Gesetz. Und wenn man große Reue zeigt und ein Bittschreiben an den Zaren richtet, in dem man ganz besonders betont, wie barmherzig er ist, dann kommt man unter Umständen schnell frei.

    Da wäre noch ein weiterer Umstand, der Korruption in Belarus begünstigt: Hier gilt ein sehr widersprüchliches Wirtschaftsrecht. Es gibt keine einheitlichen Regeln für wirtschaftliche Betätigung, die für alle gelten würden.

    In jeder Region gibt es freie Wirtschaftszonen mit besonderen Steuerbestimmungen. Es gibt den Hightech-Park und den Industriepark Weliki Kamen. Steuerrechtlich sind das im Grunde Offshore-Gebiete. Im Kreis Orscha wurden per Dekret von Lukaschenko exklusive Wirtschaftsbedingungen geschaffen. Staatsunternehmen erhalten bei staatlichen Banken Kredite zu vergünstigten Zinssätzen und müssen sie meist nicht zurückzahlen. Ausländische Investoren versuchen, mittels Lobbyarbeit exklusive Wirtschaftsbedingungen für sich herauszuschlagen. Und so weiter und so fort. Die Grenzen sind hier fließend.

    Zudem ist die Auslegung von Rechtsverstößen seitens Polizei und Justiz sehr subjektiv, beispielsweise bei Steuerhinterziehung. Dabei ist es unmöglich, deren Vorgehen anzufechten. Es sind zahlreiche Fälle bekannt, bei denen eine reiche Person hinter Gitter wandert und die Summe des Lösegelds genannt wird. Zahlt er, kommt er frei und es wird kein Strafverfahren eingeleitet. Es erübrigt sich, unter diesen Umständen von Recht zu sprechen.

    Das Fehlen von gesellschaftlicher Kontrolle über die Arbeit staatlicher Einrichtungen, die Intransparenz, die starke Neigung des staatlichen Verwaltungssystems zur Geheimhaltung, das Justizchaos, die Abhängigkeit der Gerichte von der Exekutive, die Ungleichheit der Bürger vor dem Gesetz – all das sind Zutaten für den Korruptionscocktail. Und solange das System sich nicht ändert, werden der Hydra immer neue Köpfe wachsen.

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  • LGBTQ-Verbot: „Ein gigantischer Raum für Willkür“

    Das Oberste Gericht der Russischen Föderation hat am 30. November die „internationale LGBT-Bewegung“ zur „extremistischen Organisation“ erklärt. Menschen aus der Community sehen sich in Russland schon seit Jahren mit immer restriktiveren Gesetzen konfrontiert. Im Juni etwa wurde – angeblich zum Schutz vor ausländischer Einflussnahme – ein Gesetz beschlossen, das geschlechtsangleichende Operationen verbietet. Zuvor wurde das seit 2013 bestehende Verbot „homosexueller Propaganda“ ein weiteres Mal verschärft

    Der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew erinnert auf seiner Facebook-Seite an einen Auftritt des russischen Pop-Duos Tatu vor 20 Jahren, bei dem die beiden Sängerinnen „Fuck War“-Shirts getragen und sich auf der Bühne geküsst haben: „Dafür würden sie heute 20 Jahre bekommen. We’ve come a long way baby“.

    Obwohl das Urteil offiziell erst 2024 in Kraft treten soll, gab es in Moskau bereits einen Tag nach der Verkündigung erste Razzien in Clubs und Saunen. In Sankt Petersburg hat der bekannte Szeneclub Central Station vorsorglich den Betrieb eingestellt. Welche weiteren Folgen von dem Verbot zu befürchten sind, darüber schreibt Kirill Martynow, Chefredakteur der Novaya Gazeta Europe, in einem Kommentar auf Twitter.

    Symbolbild © ITAR-TASS/imago images

    Ich habe den Eindruck, dass nicht allen meinen Landsleuten klar ist, was heute passiert ist. Die Entscheidung des Obersten Gerichts bezüglich LGBTQ-Personen wird für noch mehr Leid und Demütigung queerer Menschen sorgen. Sie ist zudem ein fundamentaler Verstoß gegen die Rechtsgrundlagen des Staates (oder zumindest gegen das, was davon noch übrig war). Und das betrifft uns alle, sogar die Homophoben. Russland schießt sich, wie Dimitri Rogosin [an einem Schießstand 2015 – dek], selbst ins Knie. 

    Das Urteil beraubt die Menschen ihrer Grundrechte, allein dafür, dass sie existieren

    Warum auch Homophobe unter dem „Extremismus“-Urteil leiden werden? Weil es seit dem 30. November 2023 in Russland rechtens ist, Menschen dafür zu verfolgen, wer sie sind. Jetzt muss ein Mensch nicht an politischen Aktionen teilnehmen oder Mitglied einer politischen Organisation sein, um verfolgt zu werden. Wenn Homosexuelle per se zu Mitgliedern einer extremistischen Bewegung erklärt werden, kann es jederzeit auch andere Gruppen treffen. Wie das Apartheidsregime in Südafrika oder die Nürnberger „Rassengesetze“ in Nazi-Deutschland beraubt das Urteil des Obersten Gerichts Menschen ihrer Grundrechte, allein dafür, dass sie existieren. Ramsan Kadyrow behauptete nach zahlreichen Fällen von Folter und Morden an queeren Menschen, in Tschetschenien gebe es keine Schwulen. Jetzt tut das Oberste Gericht das Gleiche für ganz Russland.

    Wie im Fall des „Röhm-Putschs“ in Nazideutschland, hängt auch der gegenwärtige Verstoß gegen die Rechte von Millionen Menschen in Russland mit einem politischen Machtkampf zusammen: Putin droht keine Gefahr von innen, aber gerade vor den Wahlen braucht er „Geschlossenheit“ gegen die „westlichen Agenten“. Der Duma-Abgeordnete Andrej Guruljow schlug einmal vor, 20 Prozent der russischen Bevölkerung, die Putin nicht mögen, zu vernichten. Nun ist seine Idee gar nicht so weit weg von der Wirklichkeit. Sie fangen einfach mit LGBT an.

    Staatlich geförderte Hetze

    Kommen wir zu konkreten Auswirkungen. Was gerade passiert, kann auf zweierlei Weise interpretiert werden. In einem gemäßigten Szenario werden die LGBTQ-Gegner mit Beginn des neuen Jahres, wenn das Urteil des Obersten Gerichts in Kraft tritt, wie schon bei den anderen Kampagnen gegen „Extremismus“ vorgehen: mit Bußgeldern für Symbole, Strafverfahren gegen „Anstifter“ und „böse Gesetzesbrecher“. Das hieße: Wer nicht auffällt, überlebt. 

    Das Problem dieses gemäßigten Szenarios ist, dass queere Menschen eine enorm große „extremistische Organisation“ sind und die staatliche Hetzkampagne gegen sie in einer homophoben Gesellschaft betrieben wird. Das bedeutet, dass das Oberste Gericht – und natürlich auch Putin, es ist ja seine Kampagne – einen gigantischen Raum für Willkür eröffnen. Menschen werden denunziert, bedroht und erpresst werden. Das alles gab es in der Geschichte der Diskriminierung queerer Menschen schon sehr oft. Der Unterschied liegt bloß darin, dass der Hass und die Hetze nun staatlich gefördert werden und in einer Gesellschaft stattfinden, die vor nicht allzu langer Zeit relativ offen war.

    Es entsteht ein regelrechter Markt der Gewalt, der staatlich befördert wird

    Menschen, die sich nie mit der Geschichte des Kampfes von queeren Menschen für ihre Rechte befasst haben, verstehen oft nicht, wozu es Veranstaltungen wie den CSD gibt. Ihre wesentliche Funktion liegt darin, homosexuelle Menschen sichtbar zu machen, damit sie niemand damit erpressen kann „allen zu erzählen, was sie machen“. Ein offener Umgang mit sexueller Orientierung gibt in einer freien Gesellschaft Schutz gegen Gewalt und Erniedrigung.  

    Ich habe große Angst um die Menschen. Sie können wie in Tschetschenien zusammengeschlagen oder vergewaltigt werden, denn die Täter wissen, dass die Opfer die Straftat nicht anzeigen werden, um nicht auf die Liste der „Extremisten und Terroristen“ zu kommen. Es entsteht ein regelrechter Markt der Gewalt, der de facto staatlich befördert wird. 

    Tausende weitere Menschen werden aus Russland fliehen – Menschen, die bis zuletzt auf Veränderungen gehofft hatten und im Land geblieben waren.

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  • Video #33: Putin zählt Ukrainer und Belarussen zur „großen russischen Nation“

    Video #33: Putin zählt Ukrainer und Belarussen zur „großen russischen Nation“

    Vor dem Weltkonzil des russischen Volkes hat Wladimir Putin am 28. November ein weiteres Mal seine Vorstellung von imperialer Größe dargelegt. Er sieht das Zarenreich und die Sowjetunion in einer Traditionslinie, die heute durch den Russki Mir fortgeführt werden soll. In diesem Imperium sind Russen, Belarussen und Ukrainer ein „dreieiniges Volk”. Seine Geschichte ist eine Geschichte von Macht und Größe, die nur dann Rückschläge erlitt, wenn seine Führer Schwäche zeigten. Unter ihm selbst sei Russland wieder zur Weltmacht geworden, dem russophoben Westen die Stirn biete. Außer durch den Westen sei Russlands Macht und Größe aber auch durch die Demographie bedroht. Deshalb sollten russische Frauen es ihren Vorfahren gleichtun und „sieben, acht oder mehr“ Kinder gebären. dekoder bringt Ausschnitte aus der Rede.

     
    Original: kremlin.ru (vom 28. November 2023)

    [bilingbox]Wir wissen, welcher Gefahr wir trotzen. Heute ist praktisch die offizielle Ideologie der westlichen Regierungseliten die Russophobie, andere Formen von Rassismus und Neonazismus.

    […]

    Ich denke, dass wir uns alle erinnern und erinnern müssen an die Lektionen der Revolution von 1917, den darauffolgenden Bürgerkrieg und den Zerfall der UdSSR 1991. So viele Jahre scheinen vergangen, aber die jetzt lebenden Menschen aller Nationalitäten, sogar die im 21. Jahrhundert geborenen, zahlen bis heute, noch Jahrzehnte später, für die damaligen Fehleinschätzungen, die Nachgiebigkeit, was separatistische Illusionen und Ambitionen betraf, für die Schwäche der zentralen Regierung, für die Politik der künstlichen, gewaltsamen Teilung der großen russischen Nation, des dreieinigen Volkes von Russen, Belarussen und Ukrainern.

    […]

    Der Russki Mir, die Russische Welt – das sind alle Generationen unserer Fortfahren und Nachfahren. Der Russki Mir – das ist die Alte Rus, das Moskauer Zarenreich, das russische Imperium, die Sowjetunion, es ist das moderne Russland, das seine Souveränität als Weltmacht wiedererlangt, festigt und ausweitet. Der Russki Mir vereinigt alle, die sich mit unserer Heimat geistig verbunden fühlen, die sich als Träger der russischen Sprache, Geschichte und Kultur betrachten, sogar unabhängig von ihrer nationalen oder religiösen Zugehörigkeit.

    […]

    Viele unserer Völker bewahren Gott sei Dank die Tradition der über Generationen hinweg stabilen Familien mit vier, fünf und mehr Kindern. Wir erinnern uns, dass in russischen Familien viele Großmütter und Urgroßmütter sieben, acht oder mehr Kinder hatten.

    Lassen Sie uns diese wunderbaren Traditionen bewahren und wiederbeleben. Kinderreichtum und große Familien sollen zur Norm werden, zur Lebensweise aller Völker Russlands.~~~Мы знаем, какой угрозе противостоим. Сегодня практически официальной идеологией западных правящих элит стали русофобия, другие формы расизма и неонацизма.

    […]

    Думаю, что мы все помним, нужно помнить уроки революции 1917 года и последовавшей затем Гражданской войны, распада СССР в 1991-м. Казалось бы, столько лет прошло, но живущие сейчас люди всех национальностей, даже родившиеся уже в XXI веке, до сих пор, даже спустя десятилетия, расплачиваются за допущенные тогда просчёты, за потакание сепаратистским иллюзиям и амбициям, за слабость центральной власти, за политику искусственного, насильственного разделения большой русской нации, триединого народа – русских, белорусов и украинцев.

    […]

    Русский мир – это все поколения наших предков и наши потомки, которые будут жить после нас. Русский мир – это Древняя Русь, Московское царство, Российская империя, Советский Союз, это современная Россия, которая возвращает, укрепляет и умножает свой суверенитет как мировая держава. Русский мир объединяет всех, кто чувствует духовную связь с нашей Родиной, кто считает себя носителем русского языка, истории, культуры независимо даже от национальной или религиозной принадлежности.

    […]

    У многих наших народов, слава богу, сохраняется традиция крепкой, многопоколенной семьи, где воспитываются четверо, пятеро и больше детей. Вспомним, что и в русских семьях, у многих наших бабушек, прабабушек детей было и по семь, и по восемь человек, и того больше.

    Давайте эти замечательные традиции сберегать и возрождать. Многодетность, большая семья должны стать нормой, образом жизни для всех народов России.[/bilingbox]

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  • Im Land der Mütter

    Im Land der Mütter

    „Meine Heimat ist das Haus, in dem meine Mutter wohnt“, sagt Tatsiana Tkachova. In ihrem Fotoprojekt Motherland erkundet die belarussische Fotografin die Bindung zu dem Ort, an dem sie aufgewachsen ist und den vor allem ihre Mutter und ihre Verwandten zu ihrem Zuhause gemacht haben. 

    Tkachova wurde unter anderem mit dem World Press Photo ausgezeichnet. Aktuell lebt sie in Hamburg. Wir haben mit ihr gesprochen und zeigen eine Auswahl an Bildern aus dem Projekt.

    Mama ruht sich im Garten aus, Malostowka, Juni 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama ruht sich im Garten aus, Malostowka, Juni 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova

    dekoder: Wie ist das Projekt Motherland entstanden?

    Tatsiana Tkachova: Das erste Foto entstand 2018 während meines Besuchs zu Neujahr. Ich weiß nicht mehr, was dazu beitrug, jedenfalls wollte ich das Leben meiner Mutter auf Kamera festhalten. An den Feiertagen zum Jahreswechsel besuche ich sie immer. Wir schmücken einen Tannenbaum, kochen Weihnachtsessen, reden viel und tauschen Nachrichten aus. Ich glaube, viele können sich sowas auch hier in Deutschland vorstellen. Ich mache immer Fotos, wenn ich bei meiner Mutter bin. Und dann hatte ich die Idee, meine Mama und ihre Schwestern in dem Haus zu fotografieren, in dem sie aufgewachsen sind. Aber dann kam die Corona-Pandemie, und die Schwestern konnten nicht zu Mama kommen, sie leben woanders in Belarus. Dann ging ich nach Deutschland. Ich hatte aber noch ein Archiv mit Fotos aus den letzten vier Jahren. Für mich war es wichtig, das, was jetzt vorhanden ist, zu einer runden Geschichte zusammenzufügen, soweit das möglich ist. Inspirierend waren für mich dabei Nadia Sablins Geschichte Tjotjuschki (dt. Tantchen) und Tarkowskis Film Zerkalo (dt. Der Spiegel).

    Erzählt das Projekt auch eine besonders belarussische Geschichte?

    Das weiß ich nicht, darüber habe ich nie nachgedacht. Wäre ich in einem anderen Land geboren, hätte ich wohl eine genauso enge Beziehung zu meiner Mutter und dem Ort, wo ich mein erstes halbes Lebensjahr verbracht habe. Ich liebe Belarus, ich bin hier geboren. Um genau zu sein, ist meine Heimat das Haus, in dem meine Mutter wohnt und ihre Schwestern und ihre Eltern gewohnt haben, meine Großeltern. Dieses Haus ist die Hauptfigur meiner Geschichte. Im Garten wachsen Blumen und Bäume, die mein Opa gepflanzt hat. Er und Oma sind längst tot, aber den Garten gibt es noch. Das kann man nicht erklären, das muss man fühlen. Deswegen finde ich es gut, dass Fotos visuelle Bilder erzeugen, die man schwer in Worte fassen kann, weil jeder eigene hat.

    Geht es also in gewisser Weise auch um Verlust?

    Ich würde nicht von Verlust sprechen. Ich glaube nicht, dass dieses Wort in diesen Kontext passt. Meine Mama lebt noch, und es geht ihr gut. Wir sprechen doch nicht von Verlust, wenn die Kinder zum Studieren in eine andere Stadt gehen oder in ein anderes Land. Das ist ein natürlicher Vorgang. Die Geschichte, die ich erzähle, ist zeitlos. Eine Verbindung zu dem Ort, an dem man seine Kindheit verbracht hat, und zu seiner Familie hat jeder. Das bleibt für immer in unserem Bewusstsein. Wenn wir Fotos ansehen, spüren wir die Nähe, die Intimität bestimmter Momente, die nur zwischen einander sehr nahestehenden Menschen passieren. Aber wenn man anfängt zu erklären, scheitert man immer, weil jeder seine einzigartige Erfahrung hat. Es ist das, was Umberto Eco in den Bekenntnissen eines jungen Schriftstellers beschrieb. Motherland ist ein Porträt meiner Familie und gewissermaßen ein Selbstporträt, das aus Erinnerungen an einen Ort besteht, den es nicht mehr gibt, weil man nicht in die Vergangenheit zurück kann. 

    Ein anderer Aspekt des Projekts scheint auch die Rolle der Mutter zu sein?

    Mich fasziniert das Phänomen des Mutterseins und wie Frauen imstande sind, das Gerüst einer Familie aufrechtzuerhalten. In meiner Familie war das so. Ich weiß noch, wie jeden Sommer Mutters Schwestern mit ihren Männern und Kindern in unser Elternhaus kamen und wir alle beisammen waren. Irgendwann blieben die Frauen allein, weil die Männer sich mit Opa in die Garage verzogen, um an einem Motorrad herumzuschrauben. Wir saßen im Wohnzimmer, und Oma zeigte uns Stoffe, Kleider, Tücher. Das nannten wir: Schätze bewundern. Ich fragte mich immer: Wozu sollen wir das alles anschauen, wir haben es ja letztes Jahr schon gesehen. Aber die Großmutter fand immer etwas Neues. Sie lachten viel, erinnerten sich an ihre Kindheit, lasen Gedichte. Jetzt besuchen die Verwandten in diesem Haus meine Mutter.

    Wie halten Sie Kontakt zu Ihrer Mutter?

    Ja, meine Mutter hat mich zweimal hier besucht. Ich setze meine Arbeit an Motherland fort. Wir halten genauso Kontakt wie vorher, unterhalten uns oft per Videocall. Natürlich gibt es wegen der Visabeschränkungen ein paar Dinge zu beachten, aber ich hoffe, dass wir uns auch in Zukunft treffen können.

    Haben Sie schon neue Projekte?

    Ich arbeite an mehreren Projekten, aber es ist noch zu früh, davon zu erzählen. Ich hoffe, bald Ergebnisse vorzeigen zu können. Was Motherland betrifft, möchte ich unter anderem die ursprüngliche Idee umsetzen und Fotos von Mamas Schwestern hinzufügen, wenn sie sie besuchen. Und auch ein Buch zu Motherland entsteht gerade.

    Verschneiter Himmel, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Verschneiter Himmel, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Huhn mit Äpfeln – ein traditionelles Gericht zu Neujahr, Malostowka, Januar 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Huhn mit Äpfeln – ein traditionelles Gericht zu Neujahr, Malostowka, Januar 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Kinderbadewanne, die gekauft wurde, als ich geboren wurde. Jetzt wachsen in ihr im Sommer Blumen, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Kinderbadewanne, die gekauft wurde, als ich geboren wurde. Jetzt wachsen in ihr im Sommer Blumen, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama bringt nach der Reinigung im Schnee den Teppich herein, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama bringt nach der Reinigung im Schnee den Teppich herein, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Der Weihnachtsbaum, der gekauft wurde, als ich geboren wurde. Jedes Jahr zu Neujahr schmückt meine Mama ihn zu meinem Besuch, Malostowka, Januar 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Der Weihnachtsbaum, der gekauft wurde, als ich geboren wurde. Jedes Jahr zu Neujahr schmückt meine Mama ihn zu meinem Besuch, Malostowka, Januar 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama holt Äpfel für einen Apfelkuchen, Malostowka, Dezember 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama holt Äpfel für einen Apfelkuchen, Malostowka, Dezember 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Gästezimmer. Mama hat vor, den Boden zu wischen, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Gästezimmer. Mama hat vor, den Boden zu wischen, Malostowka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Im Sommer nimmt Mama nach getaner Arbeit eine Dusche zwischen den Blumen im Garten, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Im Sommer nimmt Mama nach getaner Arbeit eine Dusche zwischen den Blumen im Garten, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Sommerterrasse. Auf dem Bett schläft die Nachbarskatze Kusma, Malostwoka, Juni 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Sommerterrasse. Auf dem Bett schläft die Nachbarskatze Kusma, Malostwoka, Juni 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Schlafzimmer, Malostowka, Dezember 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Schlafzimmer, Malostowka, Dezember 2020 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama steht in der Küche, Malostowka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama steht in der Küche, Malostowka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Im Inneren des Hauses, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Im Inneren des Hauses, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Meine Cousine Natascha raucht im Hof des Hauses, in dem meine Mama lebt, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Meine Cousine Natascha raucht im Hof des Hauses, in dem meine Mama lebt, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Ich überbrühe Brennesseln, um mir mit dem Sud nach einem Rezept meiner Großmutter die Haare zu spülen, Malostwoka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Ich überbrühe Brennesseln, um mir mit dem Sud nach einem Rezept meiner Großmutter die Haare zu spülen, Malostwoka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Blick aus dem Hofe des Hauses, in dem meine Mama wohnt, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Blick aus dem Hofe des Hauses, in dem meine Mama wohnt, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und ich sind draußen, um nach starkem Schneefall Schnee zu schippen, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und ich sind draußen, um nach starkem Schneefall Schnee zu schippen, Malostwoka, Januar 2021 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und meine Cousine bringen eine Gardinenstange an, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und meine Cousine bringen eine Gardinenstange an, Malostowka, Juli 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Phlox – Blumen, die meine Großmutter gepflanzt hat. Nun kümmert sich meine Mama um sie, Malostowka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Phlox – Blumen, die meine Großmutter gepflanzt hat. Nun kümmert sich meine Mama um sie, Malostowka, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und ich bei einem Spaziergang, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova
    Mama und ich bei einem Spaziergang, August 2019 / Foto © Tatsiana Tkachova


    Aus dem Video-Archiv von Motherland, Belarus, 2018-2021
    Screenshots aus Videotelefonaten mit meiner Mutter und anderen Verwandten in Belarus / Foto © Tatsiana Tkachova
    Screenshots aus Videotelefonaten mit meiner Mutter und anderen Verwandten in Belarus / Foto © Tatsiana Tkachova

    Fotografie: Tatsiana Tkachova
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: dekoder-Team
    Veröffentlicht am: 30.11.2023

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    „Als wäre es ein Horrorfilm“

  • „Wir wollen jedes Kind erreichen“

    „Wir wollen jedes Kind erreichen“

    Wladimir Putin setzt auf die junge Generation. Seine Strategen haben bereits Mitte der 2000er Jahre die Jugendbewegung Naschi (dt. Die Unsrigen) ins Leben gerufen. Als deren Funktionäre älter wurden, wurden sie ersetzt durch Iduschtschije Wmeste (dt. Wir gehen gemeinsam). Es folgte Set, „Das Netz“ für die Generation Social Media und natürlich die militaristisch-patriotische Junarmija, die unter der Aufsicht des Verteidigungsministeriums Wehrsport betreibt.

    Das neueste Projekt heißt Bewegung der Ersten, was nicht von Ungefähr an die Pioniere erinnert. Das Portal Verstka hat recherchiert, mit welchen Versprechen Schülerinnen und Schüler zu den Aktionen der Ersten gelockt werden und was sich der Staat die Formung der jungen Generation im Geiste von Patriotismus und Putinismus kosten lässt. 

    Bald soll eine neue Jugendorganisation an allen Schulen in Russland ihre Tätigkeit aufnehmen. Was steckt hinter der Bewegung der Ersten, und wie ist sie aufgebaut?

    Seit zwei Jahren existiert in Russland eine landesweite Organisation für Kinder und Jugendliche – die Bewegung der Ersten (Dwishenije perwych). Aktuell gibt es 30.000 Standorte im ganzen Land und in den besetzten Gebieten der Ukraine. Bis Anfang Herbst waren mehr als eine Million Menschen der Organisation beigetreten, und im laufenden Jahr ist geplant, zusätzlich sieben Millionen Schüler und Studenten als Mitglieder zu gewinnen. Die Organisation hat sich zum Ziel gesetzt, „jedes Kind zu erreichen“, deshalb sollen Ableger an allen Schulen, in den meisten Universitäten, Colleges, weiterführenden Bildungseinrichtungen und sogar in Unternehmen entstehen. Verstka hat recherchiert, wie die Bewegung Kindern die Staatsideologie einpflanzt und allmählich allgegenwärtig wird.

    „Das sind Pioniere, oder?“

    „Wir haben diese Organisation ins Leben gerufen, um Russland eine große Zukunft zu sichern. Um allen Generationen ein würdiges und glückliches Leben zu ermöglichen. Um die Welt zum Besseren zu verändern. Wir sehen uns als Pioniere unseres Vaterlandes.“ Neun Schüler einer Schule in Lipezk tragen auf der Bühne der mit Luftballons in den Farben der Trikolore geschmückten Aula das „feierliche Gelöbnis“ der Aktivisten der Bewegung der Ersten vor. „Unsere Mission ist es, für Russland zu sein, Menschen zu sein, zusammen zu sein, in Bewegung zu sein, die Ersten zu sein.“

    Der offiziellen Legende nach geht die Gründung einer russischen Kinder- und Jugendbewegung (RDDM), der Bewegung der Ersten auf Diana Krassowskaja zurück – eine Schülerin aus Sewastopol, die 2014 von Luhansk auf die Krim gezogen ist. Wladimir Putin „unterstützte“ die Idee. Im Juli 2022 unterschrieb der russische Präsident einen entsprechenden Erlass und übernahm persönlich den Vorsitz im Aufsichtsrat der Bewegung. Laut dem Erlass können sich der Bewegung Mitglieder zwischen 6 und 18 Jahren anschließen sowie Erwachsene (einschließlich volljährige Studenten), die als Mentoren fungieren und Veranstaltungen organisieren können.

    Der Name Bewegung der Ersten wurde auf der ersten Vollversammlung der Organisation im Dezember 2022 gewählt – allerdings erst im dritten Anlauf. Die anderen Vorschläge waren: Pioniere, Gagarin-Bewegung, Neue Generation und Großer Wandel. Nachdem die Wahl gefallen war, soll Putin gefragt haben: „Die Ersten – was soll das heißen? Das sind Pioniere, oder?“ Woraufhin die Vize-Premierministerin Tatjana Golikowa sagte: „Ja. Früher hießen die so.“ Und obwohl der Präsident vorschlug, den Namen noch einmal zu „überdenken“, blieb es dabei.

    Vorstandsvorsitzender der russischen Kinder- und Jugendbewegung (RDDM) wurde Grigori Gurow, der seit 2017 in der föderalen Agentur für Jugendangelegenheiten gearbeitet hatte und seit 2021 stellvertretender Minister für Wissenschaft und Hochschulbildung war.

    Der neuen Bewegung wurden die Russische Schülerbewegung (Rossiiskoje dwishenije Schkolnikow RDSch) und andere große Kinderverbände angegliedert. Dazu gehören die Junarmija (dt. Junge Armee), der Wettbewerb Großer Wandel, die Nowosibirsker Union der Pioniere und die Pioniere von Baschkortostan, die alle zu Mitbegründern der RDDM wurden.

    Die Bewegung der Ersten entstand also nicht aus dem Nichts. Die Russische Schülerbewegung gab es in Russland bereits seit 2015. Sie wurde auf eine Initiative von Wladimir Putin hin gegründet und widmete sich der „Erziehung und Lebensgestaltung“ von Schülern auf Basis des „Wertesystems der russischen Gesellschaft“. Finanziert wurde die Bewegung von der Föderalen Agentur für Jugendangelegenheiten Rosmolodjosh. Mit der Gründung der Bewegung der Ersten wurde das alte Format aufgelöst.

    Die militaristisch-patriotische Bewegung Junarmija untersteht formell nun auch der neuen Organisation. Um in die Bewegung der Ersten einzutreten, müssen sich die Mitglieder jedoch gesondert registrieren. In vielen Regionen sind die Standorte der Junarmija weiterhin autonom, auch wenn sie anlässlich militaristisch-patriotischer Veranstaltungen mit der neuen Bewegung zusammenarbeiten.

    Sie pflanzen Bäume und sehen eine Videobotschaft von Putin

    Lisa ist 15. Seit der zweiten Klasse ist sie Mitglied einer Jugendbewegung im Gebiet Krasnojarsk. Sie führt biologische Untersuchungen durch und tritt bei Konferenzen auf. 2022 erzählte ihr der wissenschaftliche Leiter von dem Forum Ökosystem, das auf der Halbinsel Kamtschatka stattfand. Dort konnten Mitglieder der Bewegung der Ersten teilnehmen, die das Auswahlverfahren erfolgreich durchlaufen hatten. Die Schülerin bewarb sich und wurde eingeladen. Im Auswahlgespräch gab sie an, dass sie sich seit ihrer Kindheit für Biologie und Ökologie interessiert.

    Bei der Eröffnung wurde eine Ansprache von Wladimir Putin übertragen, als Redner waren der [Erste stellvertretende – dek] Leiter der Präsidialverwaltung Sergej Kirijenko und andere Staatsbeamte eingeladen. Die Vorträge handelten jedoch nicht nur von Ökologie. „Die Redner kamen, um mit uns über die Welt zu sprechen, über das, was jetzt im Land passiert. Sie drückten ihre Unterstützung für unsere Bewegung aus und motivierten uns, weiterzumachen“, erinnert sich Lisa im Gespräch mit Verstka. „Sie sagten, dass jetzt nicht die günstigste Zeit für das Land sei, und dass man auf der Hut sein müsse und aufpassen, was man sagt: Man weiß ja nie, wer vor einem steht. Sie sagten auch, dass im Internet alle möglichen Leute unterwegs wären und man nicht auf jeden hören sollte, weil viele Falschinformationen verbreitet würden.“

    Die am weitesten verbreitete Form der Arbeit der Bewegung der Ersten sind Aktionen, die anlässlich staatlicher Feiertage durchgeführt werden. Hier: Hissen der russischen Flagge am Tag des Wissens in Moskau, im September 2023 / Foto © Konstantin Kokoshkin/IMAGO, Russian Look

    Inhaltlich umfasst die Bewegung der Ersten insgesamt zwölf Bereiche: Bildung und Wissen; Wissenschaft und Technik; Arbeit, Beruf und Wirtschaft; gesunde Lebensführung; Kultur und Kunst; Freiwilligenarbeit und ehrenamtliches Engagement; Sport; Medien und Kommunikation; Diplomatie und internationale Beziehungen; Tourismus und Reisen; Ökologie und Umweltschutz; Patriotismus und historisches Gedächtnis. Zu jedem Bereich initiieren die Aktivisten landesweite, regionale und schulische Projekte, Festivals, Konzerte, Wettbewerbe und Contests – im Programm der Bewegung füllen die möglichen Formate zwei ganze Seiten.

    Auch wenn nicht alle Bereiche in direktem Zusammenhang mit Patriotismus und Wehrerziehung stehen, definiert das Programm der Bewegung als Ziele ihrer Bildungsarbeit „Formulierung und Verteidigung der Interessen des Vaterlandes, Selbstverwirklichung und zivile Bildung von Kindern und Jugendlichen im Kontext der russischen Identität“. So lief beispielsweise den ganzen Sommer über die Kampagne Ein Buch für einen Freund: Schüler sammelten ihre Lieblingskinderbücher und schickten sie zu Beginn des Schuljahres an Schulen in den [okkupierten] Regionen Cherson und Saporishshja und in die sogenannten Volksrepubliken DNR und LNR.

    „Das Ziel der Bewegung der Ersten ist Patriotismus“, erklärt ein Gesprächspartner von Verstka freiheraus, der als Erziehungsberater für 17 Schulen im Föderationskreis Nordwest verantwortlich ist. „Indem man die Wissenschaft voranbringt, verbessert man den Status seines Landes. Alles ist miteinander verknüpft. Es gibt keine Erziehung ohne Bildung und keine Bildung ohne Erziehung.“

    Die Bewegung der Ersten verfolgt jedoch auch offen militaristische Projekte. Zum Beispiel die militärischen Ausbildungscamps Der Verteidiger als Mentor, in denen junge Teilnehmer der Militärischen Spezialoperation Kinder unterrichten. Oder Sarniza 2.0 – eine moderne Version des seit Sowjetzeiten bekannten militärisch-patriotischen Rollenspiels. Nach Angabe von Grigori Gurow lernen die Teilnehmer, wie man Drohnen steuert, mit Funkgeräten umgeht und Fakes entlarvt.

    Die am weitesten verbreitete und einfachste Form der Arbeit der Bewegung der Ersten sind jedoch Aktionen, die anlässlich staatlicher Feiertage durchgeführt werden. Am Tag des Vaterlandsverteidigers wurden Schulkinder beispielsweise aufgefordert, Briefe an russische Armeeangehörige zu schreiben, und am Tag der russischen Flagge sollten sie die Trikolore zeichnen. Bei einer anderen Aktion mit dem Namen Wir sind Bürger Russlands erhalten Jugendliche, die ihr 14. Lebensjahr vollendet haben, ihre Pässe an einem besonderen Datum (zum Beispiel am Tag Russlands am 12. Juni oder zum Tag des Wissens am 1. September) und in einer feierlichen Atmosphäre: mit gehisster Flagge und zur russischen Hymne.

    Daniil Ken, der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft Aljans utschitelei, ist der Meinung, dass auch der Sinn scheinbar neutraler Aktionen und Projekte letztlich auf Ideologiearbeit mit den Schülern hinausläuft. „Manche durchschauen das vielleicht nicht“, sagt er zu Verstka, „manche lassen sich vielleicht davon täuschen, dass ziemlich viele der Aktivitäten quasi unpolitisch sind. Sie spielen ja auch Volleyball, gehen ins Museum, pflanzen Bäume. Aber wie funktioniert das: Zuerst gibt es ein Event zu einem ganz neutralen Thema, und dann streuen sie eine Videobotschaft von Putin mit Glückwünschen zum Jubiläum ein. Alles, was mit dem Staat oder der Geschichte zu tun hat, zielt auf Loyalität“.

    Die Illusion eines sozialen Aufstiegs

    Wassilissa aus der Oblast Orenburg geht in die zehnte Klasse. Bei der Bewegung der Ersten ist sie seit einem halben Jahr. Es sei ihr sehr wichtig gewesen, Mitglieder aus anderen Regionen kennenzulernen, erzählt sie Verstka. Wassilissa hat im Wettbewerb Universitärer Nachwuchs (Universitetskije smeny) gewonnen und bekam eine Reise nach Moskau bezahlt, wo sie nicht nur andere Schüler und Schülerinnen, sondern auch Prominente traf.      

    Wassilissa möchte Journalistin werden und bat die Organisatoren des Projekts, am Moskauer Kulturinstitut Marketing-Team für Social Media mithelfen zu dürfen. „Ich habe bei den meisten der Veranstaltungen die Beleuchtung gemacht“, erzählt sie stolz. „Jetzt bin ich im Block für Öffentlichkeitsarbeit und würde gern in den sozialen Medien mithelfen, wenn ich darf. Ich habe große Pläne, möchte mehr über die Entstehung der Bewegung erfahren und meine Kenntnisse vertiefen.“

    Um der Bewegung der Ersten beizutreten genügt es, sich auf deren Website zu registrieren, als Teilnehmer oder als Mentor (diese Option steht Erwachsenen offen – Pädagogen, Eltern, volljährigen Studierenden), dort einen Fragebogen auszufüllen und einen Aufnahmeantrag hochzuladen. Laut Tatjana Kossatschjowa, der Vorsitzenden der Zweigstelle Rjasan, wird in der Regel jedes Kind aufgenommen.

    Ihr zufolge liegt die Motivation der Kinder darin, Neues zu lernen, sich weiterzubilden, kostenlos in andere Regionen zu reisen und dort die allrussischen Kinderzentren zu besuchen. Wer an Freiwilligenprojekten teilnimmt, bekommt ein Freiwilligenbuch, anhand dessen ihm an manchen Hochschulen Zusatzpunkte angerechnet werden (gleichwertig mit einem goldenen GTO-Abzeichen und einer guten Note für die Abschlussarbeit). Außerdem können die Sieger des Wettbewerbs Großer Wandel (Bolschaja peremena) auf Staatskosten an russischen Hochschulen studieren und bei der Aufnahmeprüfung Zusatzpunkte erhalten. Umgekehrt können Studierende, die Mitglieder der Bewegung sind, zusätzliche Bildungsangebote nutzen und dafür Bildungsnachweise nach staatlichem Muster erhalten. 

    Daniil Ken, der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft  Aljans utschitelei merkt an, dass die Bewegung der Ersten „die Illusion eines sozialen Aufstiegs für die Jugend“ erzeuge. Wer sich ausprobieren möchte, bekomme hier die Gelegenheit. Die Kinder könnten an Medienprojekten teilnehmen, dem Schulkomitee beitreten und den Leiter der Bezirksverwaltung treffen. Eine Funktion in der Bewegung bekämen aber nur einige Wenige anvertraut, sagt der Experte. 

    „Welche Perspektiven haben Oberschüler in einer Kleinstadt? Sie wissen, wie niedrig die Gehälter sind, sie kennen den Zustand der Betriebe. Ihre Aussichten sind nicht allzu rosig. Und da kommt der Staat auf sie zu und sagt: ‚Alles gut, das wird schon. Ihr werdet Karriere machen, Anerkennung bekommen und Status. Mit uns gemeinsam wachsen. Wir sind stark, stell dich unter unsere Fahne, dann wird alles gut.‘ Auf diese Weise versuchen sie, mögliche Proteststimmungen bei Oberschülern oder Studierenden einzudämmen“, sagt Ken.   

    Wie viel lässt sich der Staat die Bewegung der Ersten kosten?

    Die Bewegung hat eine föderale, eine regionale, eine lokale und eine Ebene in den Schulen und Hochschulen. Auf föderaler und regionaler Ebene gibt es Koordinationsräte. Auf föderaler Ebene hat Kirijenko den Vorsitz, auf regionaler jeweils das Oberhaupt der Region. Des Weiteren sitzen Vertreter regionaler Behörden aus den Bereichen Kultur, Sport, Wirtschaft, Medien, Bildung und Jugendpolitik in den Koordinationsräten. 

    Die allrussischen Projekte der Bewegung der Ersten sowie die Gehälter der Mitarbeiter des zentralen Apparats werden aus dem staatlichen Budget sowie mit Zuschüssen aus unterschiedlichen Haushaltsebenen finanziert. Grigori Gurow zufolge kostet die Bewegung vier Milliarden Rubel jährlich [etwa 41 Millionen Euro – dek]. Zudem werden den regionalen Zweigstellen im Wettbewerbsverfahren Subventionen zugesprochen, laut Gurow in Höhe von rund zehn Milliarden Rubel jährlich [mehr als 100 Millionen Euro – dek]. 6000 Menschen sind insgesamt in der Organisation beschäftigt, sagt er. 

    Schüler werben Schüler 

    Darja aus Omsk ist 15 Jahre alt. Vor drei Jahren ist sie der Bewegung der Schüler Russlands beigetreten und hat bereits am ersten Kongress der Bewegung der Ersten 2022 teilgenommen. Danach überzeugte sie sechs weitere Kinder aus ihrer Schule, Aktivisten der Bewegung zu werden. Sie baten ihre Schulleitung, an ihrer Schule eine Primärzelle zu registrieren, gründeten einen Sowjet perwych (dt. Rat der Ersten) und treffen sich seitdem alle paar Monate, um zukünftige Projekte zu planen. Derzeit entsteht an Darjas Schule zum Beispiel ein Naturfreunde-Verband. 

    In vielen Regionen wurden an den meisten Schulen und Colleges Vertretungen eröffnet. Jeder Pädagoge kann eine solche Zelle leiten. Meistens übernehmen diese Rolle jedoch die pädagogischen Berater, erfährt Verstka von einem Kurator des Föderationskreises Nordwestrussland. Das ist ein neues schulisches Amt, das 2023 russlandweit in allen Bildungsstätten eingerichtet wurde. Pädagogischer Berater kann werden, wer an der Ausschreibung Navigator der Kindheit (Nawigator detstwa) teilnimmt, von denen es bereits drei gab, und die jedes Jahr im Frühling neu ausgeschrieben wird. In der Stellenbeschreibung steht, dass man in dieser Funktion für das Zusammenspiel zwischen Schulen und gesellschaftlichen Organisationen zuständig ist. 

    Nicht nur an Schulen, auch an Hochschulen plant die Bewegung über hundert neue Zellen. Primärzellen entstehen an Colleges, technischen Lehranstalten und Weiterbildungsinstituten: an Sportschulen, in Kulturpalästen, Jugendzentren – und sogar in Unternehmen. Mitarbeiter all dieser Organisationen, aber auch Eltern von Studierenden melden sich als Mentoren. So führen etwa Kadetten der Militärakademien militärisch-patriotische Projekte an und Studierende der Medizin leiten ein Erste-Hilfe-Projekt. „Die Primärzellen bewegen sich über den Rahmen der Schulen hinaus, um jedes Kind zu erreichen“, sagt Tatjana Kossatschjowa, Vorsitzende der Zweigstelle Rjasan.  

    Grigori Gurow betonte mehrmals, dass die Teilnahme an der Bewegung der Ersten nicht erzwungen werden darf. Gemäß Artikel 34 des föderalen Bildungsgesetzes muss die Teilnahme an jeglichen gesellschaftlichen Vereinigungen im Rahmen der Tätigkeit von Bildungseinrichtungen freiwillig erfolgen. Formal entspricht die Tätigkeit der Bewegung an Schulen einem außerschulischen Angebot und ist nicht Teil des Lehrplans. 
    Daniil Ken berichtet Verstka allerdings, dass bei der Lehrergewerkschaft  bereits Beschwerden von Eltern eingetroffen seien, deren Kinder zu Veranstaltungen der Bewegung mitgenommen wurden, obwohl sie keine Mitglieder sind. „Manchmal macht die ganze Klasse oder Schulstufe irgendeine Aktivität, die unter der Schirmherrschaft der Bewegung und mit ihrer Symbolik stattfindet“, erzählt Ken. „Die Ressource Kind ist super-verfügbar. Man braucht nur ins Sekretariat zu gehen und zu sagen: ‚Morgen legen alle neunten Klassen am Grab des unbekannten Soldaten Blumen nieder oder kommen zum Schaman-Konzert in die Aula‘ – dann stehen alle bereit.“

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    Warum Lukaschenko von einer Pattsituation in der Ukraine profitiert

    Waleri Salushny, Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, sorgte mit seinen Aussagen in einem Interview mit dem Economist und mit seiner Analyse von einer Pattsituation im Krieg in seiner Heimat für kontroverse Diskussionen. Sowohl in der Ukraine als auch im Westen. Was aber würde ein langanhaltender Stellungskrieg, in dem sich die Ukraine und Russland gegenseitig über längere Zeit aufreiben, für Belarus und für den dortigen Machthaber Alexander Lukaschenko bedeuten und vor allem für einen politischen Wandel, auf den die belarussische Opposition im Exil hofft? Dies fragt sich der Politanalyst Artyom Shraibman in seinem Beitrag für das belarussische Online-Medium Zerkalo.

    „Ein auf Sparflamme dahinköchelnder Krieg ist für Lukaschenko politisch gesehen ein Geschenk“, so Shraibman / Foto © Sven Simon/IMAGO

    Salushnys Aussagen müssen durch das Prisma seiner Rolle als Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte gelesen werden. Er ist dafür zuständig, sein Land zu befreien. Er ist weder Militäranalytiker noch hat er Spaß daran, das heimische und das westliche Publikum in tiefe Depressionen zu stürzen. Wenn dieser Artikel und das Interview veröffentlicht werden, dann bedeutet das, dass dahinter konkrete militär-politische Ziele stehen.

    Diese werden offensichtlich, wenn man die ungekürzte Fassung des Textes auf Ukrainisch liest: Salushny erklärt ruhig und methodisch, welche Arten von Waffen und Kriegstechnik die ukrainischen Streitkräfte benötigen, um aus der aktuellen Sackgasse herauszukommen. Sein Text ist ein Versuch, den Bündnispartnern der Ukraine klarzumachen, dass sie keine besseren Ergebnisse auf dem Schlachtfeld erwarten können, wenn sie die Unterstützung Kyjiws mit Waffen nicht ernster nehmen. Dafür muss er den Westen wachrütteln, auch wenn das bedeutet, die unangenehme Wahrheit laut auszusprechen. Welche Folgen diese kalte Dusche haben wird, wissen wir nicht. Entweder die westlichen Partner helfen der Ukraine, aus dem von Salushny beschriebenen Dilemma herauszukommen, und der Krieg nimmt eine Wende. Oder sie machen weiter damit, die ukrainische Armee nicht für einen Sieg auszurüsten, sondern nur für die Vermeidung einer Niederlage. Wir wissen auch nicht viel über den Erschöpfungsgrad der russischen Truppen oder darüber, wie sehr ihnen die aktuelle Kriegsform langfristig schaden wird – mit regelmäßigen Angriffen mit Langstreckenraketen und Drohnen auf Lager, Schiffe und Stabsquartiere seitens der Ukraine. Ich sage das, damit wir den wichtigsten Aspekt jedes und insbesondere dieses Kriegs nicht aus den Augen verlieren: Wir können nicht in die Zukunft blicken. Was heute wie eine neue Realität auf Jahre aussieht, kann in ein paar Wochen ganz anders sein, und dann können wir alle Pläne und Prognosen, die wir in Erwartung einer jahrelangen Pattsituation erstellt haben, wieder vergessen.

    Die Versuche mancher Stimmen im Westen, Druck auf Kyjiw auszuüben, doch endlich mit Moskau zu verhandeln, ignorieren die politische Realität sowohl in Russland als auch in der Ukraine

    Aber es wäre auch falsch, ein solches Szenario zu ignorieren, und ich finde, es ist an der Zeit, ernsthaft darüber zu sprechen. Viele Belarussen, die sich den Wandel wünschen, so auch ich selbst, sind daran gewöhnt, sich die Zukunft im Format „vorher – nachher“ vorzustellen, mit Russlands Niederlage im Krieg als Zeitenwende. Auf lange Sicht hat diese Auffassung durchaus ihre Berechtigung. Doch Salushnys Artikel und eine nüchterne Analyse der Situation auf dem Schlachtfeld sowie der wirtschaftlichen Lage der kriegführenden Parteien legen nahe, dass das „Vorher“ noch viele Jahre lang andauern könnte.

    Diese Jahre müssen nicht einmal von Waffenstillstand oder Feuerpausen begleitet sein. Die Versuche mancher Stimmen im Westen, Druck auf Kyjiw auszuüben, doch endlich mit Moskau zu verhandeln, ignorieren die politische Realität sowohl in Russland als auch in der Ukraine. Putin hat von sich aus keine Motivation, die Kampfhandlungen einzustellen – sein Regime ist untrennbar mit dem Kriegszustand verschmolzen, bezieht daraus Legitimität und Langlebigkeit. In der Ukraine wiederum ist es unmöglich, der Regierung oder den Wählern beizubringen, warum sie dem Kreml glauben sollten, dass er auch nur irgendwelche Vertragsbedingungen erfüllen und die Pause nicht für eine Nachrüstung nutzen und dann erneut zum Angriff übergehen wird.

    Was die Aussicht auf Veränderungen in Belarus betrifft, ist diese Pattsituation wohl das aussichtsloseste Szenario. Ein auf Sparflamme dahinköchelnder Krieg ist für Lukaschenko politisch gesehen ein Geschenk. So haben jene Belarussen, die im Land geblieben und leicht zu verunsichern sind, stets ein Abschreckungsbeispiel vor Augen, dass das Leben noch schlimmer werden kann. Russland ist weiterhin mit dem Krieg beschäftigt und hat keine Zeit für andere Abenteuer wie etwa die Eingliederung von Belarus. Dabei ist Russlands Antrieb, Lukaschenko finanziell zu unterstützen, stärker als in Friedenszeiten, wenn eher die Buchhaltung den Ausschlag gibt. Gleichzeitig arbeitet die russische Rüstungsindustrie weiterhin auf Hochtouren und sichert auch für die belarussische Produktion eine stabile Auftragslage. Was könnten Triebfedern für einen Wandel in Belarus sein, wenn ein schwelender Konflikt im Ukrainekrieg auf Jahre zur Realität wird?

    Mal abgesehen von Putins oder Lukaschenkos Tod, der irgendwann unausweichlich, aber nicht allzu vorhersehbar eintreten wird, gibt es zwei mögliche Problemquellen für Minsk: die Wirtschaft und das Wohlwollen Russlands. Wobei man sich eine Situation, in der nur einer dieser Pfeiler wegbricht und der andere bestehen bleibt, schwer vorstellen kann. Ja, eine hausgemachte Finanzkrise nach dem Muster von 2011, hervorgerufen lediglich durch Fehler der Wirtschaftsorgane, ist in Belarus durchaus möglich. Das Wachstum zum höchsten Ziel erhoben, überschwemmt die Regierung den Markt schon jetzt mit billigem Geld und hält die Preise mithilfe von administrativen Maßnahmen niedrig. Wirtschaftsexperten warnen vor der Gefahr, dass diese Blase platzen könnte.

    Es gibt zwei Szenarien, die zu ernsthaften wirtschaftlichen Konflikten zwischen Minsk und Moskau wie in alten Zeiten führen könnten

    Doch für sich genommen bringt eine Wirtschaftskrise zwar noch mehr Volatilität in die allgemeine Situation im Land, aber nicht zwangsläufig politische Probleme für Lukaschenko. Solange er die Gesellschaft fest in seiner Gewalt hat und die Loyalität zu Moskau aufrechterhält, wird Putin immer ein paar Milliarden übrig haben, um in Belarus einen Brand zu löschen. 

    Schlimmer für ihn wäre es, wenn die Krise durch eine bewusste Entscheidung Moskaus ausgelöst würde, den Hahn abzudrehen: Weniger Hilfe zu leisten, als Minsk gerne hätte, oder die Verluste durch eine sich verschlechternde Wirtschaftslage weltweit und in Russland nicht mehr auszugleichen. Eine solche Verschlechterung könnte vieles provozieren – von stark fallenden Rohölpreisen und einer neuerlichen russischen Rezession bis hin zur Verdrängung belarussischer Waren vom russischen Markt durch die Konkurrenz aus China. 

    Es gibt zwei Szenarien, die zu ernsthaften wirtschaftlichen Konflikten zwischen Minsk und Moskau wie in alten Zeiten führen könnten. Erstens, wenn Putin etwas fordert, das Lukaschenko ihm nicht geben will (eine stärkere Integration oder allzu unangenehme militärische Zugeständnisse), und zweitens, wenn Minsk allzu offen den Dialog mit dem Westen wiederherzustellen versucht. Ersteres hängt in hohem Maße von den Launen der russischen Regierung ab und ist deswegen schwer prognostizierbar. Hier gibt es viele Variablen – von Putins persönlicher Lust, den Retter zu spielen, bis hin zur Kriegsmüdigkeit der russischen Gesellschaft, die dazu führen könnte, dass der Kreml die Aufmerksamkeit auf neue außenpolitische Siege lenken will, etwa die Vereinigung mit Belarus. Beim zweiten Szenario – Moskau fühlt sich von einem neuerlichen Flirt zwischen Minsk und dem Westen provoziert – gibt es ebenfalls viele Unbekannte. Doch je länger der Stellungskrieg in der Ukraine dauert, desto höher stehen die Chancen für eine solche Neuaufnahme des Dialogs. 

    Nach den Wahlen 2025 werden die Proteste und die Gewalt von 2020 für die neue Generation europäischer und amerikanischer Politiker in ferner Vergangenheit und für die meisten vor ihrer Zeit liegen. Die politischen Gefangenen werden zum Teil wieder frei sein, also ist nicht ausgeschlossen, dass ihre Zahl im Vergleich zu heute geringer sein wird. Die belarussische Beteiligung am Einmarsch in der Ukraine 2022 wird den westlichen Regierungen, wenn Lukaschenko sie nicht selbst daran erinnert, noch weniger präsent sein als der Krieg selbst. In diesem Szenario wird der Krieg für den Westen leider genauso zur Routine werden wie vor dem 24. Februar 2022. Im Westen wird es immer mehr und immer einflussreichere Stimmen geben, die eine gezielte Lockerung der Sanktionen für Belarus wollen und dafür nur eine Forderung stellen: die Freilassung der restlichen politischen Häftlinge.

    Wird Lukaschenko in seinem Dialog mit dem Westen Putins rote Linien überschreiten? 

    Bis dahin wird die Idee, dass man Lukaschenkos Regime mit Sanktionen zu Fall bringen kann, wenn man nur noch ein kleines bisschen ausharrt, endgültig verworfen sein. So werden die Sanktionen allmählich ihre heutige „Immunität“ verlieren. Minsk wird seinerseits immer noch an der Aufhebung dieser Beschränkungen interessiert sein, vor allem, wenn sich der wirtschaftliche Effekt durch das explosionsartige Wachstum der russischen Rüstungsindustrie und ihrer Nachfrage nach belarussischen Gütern langsam erschöpft. 

    Wird Lukaschenko in seinem Dialog mit dem Westen Putins rote Linien überschreiten? Werden diese roten Linien wiederum noch unflexibler werden, je älter Putin wird und je mehr sein Regime verpuppt? Wird es neue Phänomene geben, die den zivilen Widerstand in Belarus anheizen, so wie 2020 die Pandemie? An den „Krieg im Hintergrund“ wird sich mit der Zeit nicht nur der Westen gewöhnen, sondern auch die belarussische Gesellschaft, sodass das Argument von „Lukaschenko als Friedensgarant“ an Überzeugungskraft verlieren wird. 

    All diese Fragen sind für unsere Zukunft von größter Bedeutung. Im Moment müssen wir jedoch davon ausgehen, dass ein Wandel in Belarus kaum vorstellbar ist, solange Putin und Lukaschenko an der Macht und die Beziehungen zwischen Minsk und Moskau intakt sind. Was die Aussicht auf eine Demokratisierung in Belarus betrifft, so wird diese wiederum nur möglich, wenn sich Moskau entweder als unfähig erweist oder das Interesse daran verliert, eine prorussische Diktatur in unserem Land aufrechtzuerhalten. Die Fortsetzung eines festgefahrenen Stellungskriegs in der Ukraine, wie von Salushny beschrieben, befreit Lukaschenko nicht von allen potenziellen Problemen der nächsten Jahre. Von allen Alternativen dürfte sie jedoch das entspannteste Szenario für ihn sein. 

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  • Gaza und die Juden im Kaukasus

    Gaza und die Juden im Kaukasus

    Am 29. Oktober stürmten mehrere hundert überwiegend junge Männer den Flughafen von Machatschkala in der russischen Teilrepublik Dagestan. Sie überrannten Absperrungen, stürmten auf das Flugfeld und suchten Juden, die sie unter den Passagieren einer Maschine aus Tel Aviv vermuteten. Mindestens 20 Menschen wurden verletzt, zahlreiche Passagiere verbrachten Stunden in Angst an Bord ihrer Maschinen, bevor der Mob abzog und die Türen geöffnet werden konnten. 

    Ausgelöst durch den Krieg in Israel hatte es bereits in den Tagen zuvor antisemitische Kundgebungen und Ausschreitungen im Nordkaukasus gegeben, wo mehrheitlich Muslime leben. Das war auch deshalb bemerkenswert, weil Demonstrationen in Russland derzeit in der Regel umgehend unterbunden werden. Die Beteiligten kamen bislang mit geringen Strafen davon. Offizielle Stellen betonten, Juden und Muslime hätten im Kaukasus immer friedlich zusammengelebt. 

    Wahr daran ist, dass im Kaukasus schon lange Juden leben, erklärt ein Experte Petersburg Judaica Center, der viele Jahre Feldforschung in der Region betrieben hat. Die meisten dieser Bergjuden überlebten den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, da der Kaukasus nur verhältnismäßig kurz unter deutscher Besatzung war und die Wehrmacht die Zentren ihrer Siedlungen in Aserbaidschan, Dagestan und Tschetschenien nicht erreichte. Heute leben insgesamt noch etwa 10.000 Bergjuden an unterschiedlichen Orten im Kaukasus.

    Wer sind die Bergjuden?

    Die Bergjuden sind eine der jüdischen ethnischen Gruppen, deren Eigenbezeichnung „Juhuri“ lautet, was „Juden“ bedeutet. Ihre historische Heimat ist der Ostkaukasus, eine Region, in der sich das Gebirge des Kaukasus gen Kaspisches Meer senkt. In den politischen Grenzen von heute ausgedrückt, handelt es sich um den Süden von Dagestan und den Norden Aserbaidschans. Im 19. Jahrhundert siedelten die Bergjuden aus Dagestan im gesamten Nordkaukasus. Später verteilten sie sich über die ganze Welt. Die größte bergjüdische Gemeinschaft befindet sich heute in Israel. Viele Bergjuden leben auch in Moskau, den USA und in Europa.

    Die Bergjuden sprechen einen der Dialekte des Tatischen, das zu den westiranischen Sprachen gehört. Die muslimischen Taten sprechen einen anderen Dialekt derselben Sprache. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als der staatliche Antisemitismus in der UdSSR unter Stalin zunahm, versuchte die bergjüdische Intelligenzija in Dagestan und den anderen Republiken des Nordkaukasus, die Vorstellung zu verfechten, dass es auf die sprachliche Gemeinschaft ankomme, und nicht auf die Religion (diese sei etwas Überkommenes, das in einem atheistischen Staat ausgemerzt werden müsse!). Sie erreichten, dass die Bergjuden eine andere Bezeichnung erhielten und die Einträge in den Pässen entsprechend geändert wurden.

    Dadurch entstand eines der „indigenen Völker Dagestans“ – die Taten. In Dagestan leben fast keine muslimischen Taten. Die meisten muslimischen Taten leben in Aserbaidschan, wo sie in den Meldelisten als Aserbaidschaner geführt werden. Da das Wort „Tate“ bei den aserbaidschanischen Volkszählungen nicht vorkam, blieben die Bergjuden, die in Aserbaidschan lebten, dem Pass nach Juden. Der Eintrag „Tate“ im Pass bedeutete in sowjetischer Zeit, dass der Inhaber ein Bergjude aus einer der nordkaukasischen Republiken der Russischen Föderation ist. Diese Geschichte aus der sowjetischen Vergangenheit hat dazu geführt, dass die Bergjuden bis heute mitunter als Taten bezeichnet werden, was ihnen nicht immer gefällt. Auch Präsident Putin wiederholte, als er über die Ereignisse in Machatschkala sprach, die Formel von den „Taten, einem indigenen Volk Dagestans“.

    Antisemitismus im Kaukasus

    Oft ist der unsinnige Touristen-Mythos zu hören, es habe im Kaukasus niemals Antisemitismus gegeben. In jedem Land, in dem es historisch eine jüdische Gemeinschaft gibt oder gab, gibt oder gab es auch Antisemitismus. Im Nordkaukasus hat es immer Antisemitismus gegeben. Die Verfolgung der Bergjuden zwang diese Ende des 18. Jahrhunderts, in den Schutz aserbaidschanischer Festungen wie etwa Derbent und Kuba umzusiedeln. Mitte des 19. Jahrhunderts mussten die Bergjuden während des Kaukasuskrieges erneut fliehen. Dieses Mal suchten sie hinter den Mauern der russischen Befestigungen Schutz (etwa in Naltschik, Kisljar oder Grosny). Die Bergjuden hatten sehr stark unter den Pogromen während des Bürgerkrieges zu leiden, der nach der bolschewistischen Revolution ausbrach.

    Im August 1960 führte im dagestanischen Bujnaksk ein Artikel in einer Lokalzeitung fast zu einem Pogrom: Darin wurde behauptet, Juden würden fünf bis zehn Gramm muslimischen Bluts kaufen, es in einem Eimer Wasser verdünnen und dann an andere Juden weiterverkaufen. Der Inhalt des Artikels wurde am selben Tag im örtlichen Radiosender verbreitet. Die Juden in Bujnaksk wandten sich zum Schutz vor diesen Verleumdungen an das Politbüro des ZK der UdSSR. Um die Lage zu entschärfen, brauchte es die Intervention Moskaus.

    Während des Sechstagekrieges 1967 gab es in der Moschee von Derbent eine Versammlung, auf der Israel verurteilt werden sollte. Dort hielten Kolchosenvorsitzende und Fabrikdirektoren Reden, in denen sie die Regierung aufriefen, „einen Schlag gegen den Aggressor zu führen“. Das Volk auf den Straßen verstand diese Worte als Genehmigung für Angriffe auf Juden. In der Stadt lag ein Pogrom in der Luft. Die Juden baten die Behörden um Schutz. Zudem organisierten sie Brigaden zur Selbstverteidigung, falls es zu Übergriffen kommen sollte. Dieses Mal ging alles glimpflich aus.

    Nach dem Zerfall der Sowjetunion war der Staat in Dagestan in der ersten Hälfte der 1990er Jahre sehr schwach. Kriminelle Gruppen kämpften um Macht, Einfluss, Land und Eigentum, und es kam zu politischen Morden. In den muslimisch dominierten Regionen hatte die vergleichsweise kleine Gruppe der Bergjuden mehr als andere unter diesen Umständen zu leiden. 1993 und 1994 waren die Juden in Dagestan oft Ziel von Gewalt (Drohungen, Entführungen, Morde). Sie sahen sich dadurch gezwungen, ihre Häuser und Wohnungen zurückzulassen und oft auch ihr Hab und Gut. Die humane Variante sah so aus: Man bekam 24 Stunden Zeit, um seine Sachen zu packen; dann sollte man den Wohnungsschlüssel unter die Fußmatte legen. Die inhumane Variante war Mord.

    Die Juden flohen nach Israel, Moskau und Pjatigorsk. In dieser Phase verschwanden in Dagestan die blühenden jüdischen Gemeinden in Bujnaksk, Kisljar und Chassawjurt. Die jüdische Bevölkerung von Derbent sank von 17.000 auf 2000. Hinter all dieser Gewalt steckten natürlich Kriminelle, die um Posten, Einfluss und Besitz konkurrierten. Sie wurde jedoch mit Hilfe nationalistischer und antisemitischer Parolen begründet. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ließ die kriminelle Gewalt nach, und das Leben kehrte in ruhigere Bahnen zurück.

    Am 29. Oktober stürmten mehrere hundert Männer den Flughafen von Machatschkala in Dagestan, um ihre Unterstützung für die Bevölkerung im Gaza-Streifen zu demonstrieren. Aufschrift auf dem Schild: „Wir sind gegen jüdische Flüchtlinge!“ / Foto © Ramazan Rashidov/TASS/imago-images

    Wie Vorurteile sich zu einem Pogrom entwickeln

    Antisemitismus ist (wie vergleichbare Phobien) keine Ideologie, sondern ein Element, das im Unterbewussten schlummert. Er ist eine Art normale Mikroflora, die pathogen werden kann, so dass der Organismus beziehungsweise der Wirt geschwächt wird. Andersgläubige und Fremde werden nicht gemocht, über ethnische Nachbarn werden üble Mythen erzählt. Doch vorläufig leben alle friedlich zusammen, besuchen einander und gehen auf Hochzeiten. Setzt aber eine Krise ein, dann brechen die überkommenen Vorurteile durch.

    Das Schlimmste ist, wenn eine solche Zuspitzung in einer noch nicht vollständig modernisierten Gesellschaft auftritt. Wie eben im Nordkaukasus, wo die Masse der Landbevölkerung immer noch in die Städte strebt. Die Menschen bewahren dabei ihre traditionellen Vorurteile, verlieren aber die traditionelle Kontrolle und entgleiten der Aufsicht der althergebrachten Autoritäten. Sie sind desorientiert, verlangen ein Stück vom urbanen Kuchen, wissen aber nicht, wie sie es richtig abbeißen sollen. Sie sind schlichtweg arm, oft ohne Arbeit, von radikalen Predigern geleitet, jung und leicht zu mobilisieren.

    Für die alteingesessene städtische Bevölkerung ist ein andersgläubiger Nachbar Konkurrenz und Ressource zugleich. Schließlich betrachten sich alle als Teil der Polis, sie empfinden einen Polis-Patriotismus. Dagegen ist ein Städter für die Migranten ein Ziel, und ein andersgläubiger Städter erst recht.

    Das Problem von Gesellschaften mit unvollendeter Modernisierung ist das schnelle Wachstum der Metropolen, denn nur dort sind zusätzliche Ressourcen verfügbar, die nicht in die Peripherie gelangen. Machatschkala ist eine solche Stadt. In den letzten zehn Jahren hat die Einwohnerzahl dort stark zugenommen auf mehr als 600.000. Einschließlich der Vororte leben dort jetzt fast eine Million Menschen, also nahezu ein Drittel der Bevölkerung der Republik Dagestan. Das schnelle Wachstum der Stadt wird durch eine für Russland überdurchschnittliche Geburtenrate getragen. Viele der jungen Einwohner sind erst vor kurzem in die Stadt gezogen. In einer solchen Stadt ist es leichter als irgendwo sonst, 2000 aggressive Randalierer zu finden.

    Was wollten die Menschen, die sich am Flughafen versammelten?

    Ethnische oder religiöse Identität ist häufig ein Grund für starke emotionale Reaktionen. Ich bin von dem Überfall der Hamas auf Israel stark mitgenommen, weil ich Jude bin, und weil ich dort Freunde und Verwandte habe. Muslime nehmen das, was mit der Bevölkerung des Gaza-Streifens geschieht, ebenfalls sehr schmerzlich wahr. Das Mitgefühl mit Glaubensgenossen ist eine verständliche Emotion, doch mit Pogromen hat sie nichts zu tun. Friedlicher Protest ist eine legitime Form kollektiven politischen Handelns, was in Dagestan ganz normal wäre, wo die muslimische Mehrheit auf der Seite der Palästinenser steht. Doch die Situation hat eine andere Wendung genommen.

    Die Bevölkerung in Dagestan neigt zu spontanen Aktionen. Im vergangenen Herbst, als in Russland die Mobilmachung begann, war Dagestan die einzige Region in Russland, in der die Aktionen dagegen recht heftig und sogar gewaltsam ausfielen. Das war kein Einzelfall. Jedes Mal, wenn in Dagestan irgendwo der Strom ausfällt oder die Gasversorgung zusammenbricht, was aufgrund der infrastrukturellen Probleme nicht selten der Fall ist, veranstalten die Menschen massenhafte und recht aggressive Aktionen. Ich will nicht sagen, dass am Flughafen von Machatschkala die gleichen Leute aktiv waren, die im Herbst gegen die Mobilmachung protestierten. Aber die Reaktion ist Teil der lokalen politischen Kultur.

    Aktionen zur Unterstützung der Bevölkerung im Gaza-Streifen finden weltweit statt, auch in Europa und in Amerika. In muslimischen Ländern, beispielsweise in der Türkei, versammeln sich besonders große Menschenmengen. Die Versammlung in Istanbul mit einer Million Teilnehmern fand übrigens auch am Flughafen statt. Das Vorgehen der Teilnehmer ist legitim, solange es gewaltlos bleibt. Die Bewohner von Machatschkala hatten ebenfalls das Recht, ihre propalästinensische und antiisraelische Demonstration mit heftigen Parolen zu veranstalten. Schließlich gehen ja auch Studenten angesehener US-Universitäten auf Demonstrationen, die zur Unterstützung des Gaza-Streifens aufrufen, und sie tragen dabei Plakate, die – vorsichtig ausgedrückt – politisch nicht korrekt sind.

    Die jungen Menschen in Machatschkala, die durch Informationen über den Krieg in Gaza und Berichte von Massendemonstrationen in aller Welt für die Muslime in Palästina aufgeheizt wurden, entschlossen sich zu demonstrieren. Demonstrationen sind in Russland derzeit äußerst gefährlich, in Dagestan werden sie aber, wie gesagt, weiterhin praktiziert. Die Menge zog zum Flughafen, weil dort regelmäßig Flugzeuge aus Tel Aviv landen. Die Logik war klar: Die Unzufriedenheit mit Israel sollte eben gegenüber Menschen aus Israel demonstriert werden, die wohl mit diesem Flug ankommen würden. Anfangs ergab sich alles zwar heftig und spontan, aber recht friedlich. Die sozialen Medien sorgten für eine schnelle Mobilisierung.

    Wir lassen keine israelischen Flüchtlinge nach Dagestan

    Im Weiteren kamen spezifische dagestanische und russische Faktoren zum Tragen. Auf dem Platz vor dem Flughafen versammelten sich nicht gar so viele Menschen. Nach Medienangaben waren es weniger als 2000, aber es waren nur junge Männer. Frauen – das ist die Spezifik der Region – nehmen an solchen Aktionen nicht teil. Auch nicht ältere Männer, die eine Balance zwischen Islam und den lokalen Bräuchen wahren. Das Publikum radikaler islamischer Predigten besteht überwiegend aus jungen Männern. Die Menge wiegelte sich auf. Einfach da zu stehen und Parolen zu rufen, erwies sich als wenig interessant und ziemlich langweilig. Die Menge ging dazu über, aktiv ihre Kraft und Wut zu demonstrieren, und sie machte sich auf zum Flugfeld.

    Gott sei Dank wurden keine Passagiere gelyncht; alle konnten in Sicherheit gebracht werden. Aber es fehlte nicht mehr viel zum Schlimmsten. Freuen kann man sich nicht nur für die, die sich in Lebensgefahr befanden, und am Leben blieben, sondern für alle. Schließlich macht Blutvergießen eine Lage unumkehrbar.

    Die Parole „Wir lassen keine israelischen Flüchtlinge nach Dagestan“ ist nicht aus dem Nichts entstanden. Sie entstammt der Annahme, dass die in Israel lebenden Bergjuden ihre Frauen, Kinder und Alten schicken würden. Also alle, die sich nicht an den Kampfhandlungen beteiligen können und unter dem Beschuss leiden. Und sie würden dort hingehen, wo sie bis zur Repatriierung gelebt hatten, zu Familienangehörigen oder zu Freunden. Ich weiß nicht, ob es solche Fälle tatsächlich gab, doch erscheint diese Annahme nicht absurd. An Israelis war man in Dagestan gewöhnt: Sie kamen regelmäßig zu Hochzeiten, Beerdigungen, Totengedenken oder einfach zu Besuch. Jetzt, während der Konfrontation, war es der Menge wichtig, Feinde des Islam – Juden und Israelis – nicht in ihr muslimisches Land zu lassen.

    Im Juni 2024 kam es zu einem terroristischen Anschlag auf eine Synagoge in Machatschkala / Foto © Nizami Gadzhibalayev/Tass Publication/imago-images

    Fremde Mächte hinter den Unruhen?

    „Das Pogrom am Flughafen wurde von jemandem provoziert …“ Meiner Ansicht nach ist das eine der dümmsten Thesen, die in den sozialen Netzwerken und in den Medien wiederholt werden. Die Regierung redet der Bevölkerung ständig ein, dass das Volk kein Subjekt ist, niemals ohne Strippenzieher hinter den Kulissen auskommt, und dass jeder Protest von Feinden organisiert wird. Der russische Präsident Wladimir Putin und der dagestanische Gouverneur Sergej Melikow haben behauptet, dass die Unruhen auf dem Flughafen von Machatschkala von amerikanischen Geheimdiensten inspiriert wurden. In den oppositionellen Medien und den sozialen Netzwerken kursierte als Antwort auf Putin eine genau gegensätzliche Erzählung: Nein, es war die Regierung, die das alles angezettelt hat, das war eine Provokation der Regierung!

    Man muss schon sehr wenig Respekt vor Menschen haben, seien sie nun gut oder schlecht, um zu denken, dass sie ohne einen Wink der Obrigkeit keinen Schritt tun. Das ist eine Art koloniale Optik: Der edle Wilde ist in seinem Urzustand so lange entgegenkommend und freundlich, bis ihn jemand zu etwas Schlechtem verführt. Man kann der Meinung sein, dass sich jemand übel verhält, man kann diesen Menschen dafür hassen, und man kann sogar zur Selbstverteidigung töten. Aber man darf nicht aufhören, in ihm einen Menschen zu erkennen, der selbst Entscheidungen trifft, seien sie nun gut oder schlecht, und der selbst dafür die Verantwortung übernimmt.

    Natürlich trägt die Regierung eine Verantwortung für alles, was im Land und in der Region passiert. Trotzdem trifft sie keine unmittelbare Schuld an dem Geschehen. Sie ist am wenigsten an Exzessen dieser Art interessiert, weil sie a) ständig von einer interreligiösen Harmonie in Russland spricht; b) „gegen den Nazismus kämpft“, was angesichts von Pogromen im eigenen Land wenig überzeugend wäre; c) versucht, den Tourismus in Dagestan zu entwickeln und viel Geld dafür investiert und schließlich d) ihr Gewaltmonopol bewahren will. Meiner Ansicht nach steckt hinter den Ereignissen Fahrlässigkeit und keine üble Absicht.

    Das Regime hat besonnen und sehr ernst reagiert, bis hin zur Erklärung von Präsident Putin, die bereits am Tag nach dem Pogrom erfolgte, wobei er das längst nicht aus jedem Anlass tut. Die Worte waren äußerst streng, das Ergebnis jedoch fiel bescheiden aus. Lediglich 15 Beteiligte an den Unruhen wurden zu acht Tagen Arrest verurteilt. Und das, obwohl der Flughafen für zwei Tage lahmgelegt war und einige Polizisten verletzt wurden. Für einen friedlichen Protest ungleich geringerer Dimension in Moskau oder anderen russischen Städten werden Aktivisten zu langen Haftstrafen verurteilt. Das Regime verfolgt offensichtlich zwei Ziele: Es will deutlich machen, dass ein solches Verhalten nicht hingenommen wird, und es will gleichzeitig keinen Anlass für neue Proteste liefern. Es bleibt zu hoffen, dass die Maßnahmen wirken und die Geschehnisse eine lokale Episode bleiben. Andernfalls könnte die jahrhundertelange Geschichte der Juden im Kaukasus bald beendet sein.

    Der Text geht auf einen Post von Valery Dymshits auf Facebook zurück, den das Portal Takie Dela übernahm. Der Autor hat ihn für dekoder überarbeitet und ergänzt.

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    Melitopol im Süden der Ukraine fiel schon im Februar 2022 unter russische Kontrolle. Seitdem wurde die Stadt zur Hochburg des ukrainischen Widerstandes gegen die Besatzer. Und gleichzeitig, wie iStories berichtet, zum „größten Gefängnis Europas“, wo Russland hunderte Zivilisten entführt und foltert. Polina Ushwak hat mit Menschen gesprochen, die Opfer dieses Terrors wurden.

     
    „Mama, ich war in der Hölle“ – die Videoreportage zum Material von iStories mit englischen Untertiteln 

    Bereits am 25. Februar 2022 kam die russische Armee nach Melitopol. In den ersten Tagen beschimpften die Stadtbewohner die Besatzer, forderten sie auf, ihr Staatsgebiet zu verlassen. „In der ersten Woche reagierten sie [die russischen Soldaten] zurückhaltend, vermieden den Kontakt. Wenn die Leute sie fragten: ‚Was wollt ihr hier? Haut ab!‘ senkten sie den Blick und schauten weg. Erst später, als sie sich ein bisschen eingelebt hatten, zeigten sie Zähne – sie errichteten Kommandanturen und Foltergefängnisse. Immer mehr Menschen verschwanden …“, erinnert sich der 29-jährige Maxim Iwanow, ein Landschaftsdesigner aus Melitopol. 

    „Umerziehung“ mit dem Gummiknüppel

    Zum ersten Mal wurden Maxim und seine Freundin Tatjana Bech Anfang April entführt. „Ich hatte eine kleine [ukrainische] Flagge bei mir. Als ein Panzer an uns vorbeifuhr, habe ich sie aus der Tasche gezogen und gerufen: ‚Verpisst euch aus unserem Land.‘ Der Panzer hielt an, und mich umzingelten an die zehn Männer, sie schmissen die Flagge auf den Boden und trampelten darauf herum. Dann sagten sie: ‚Ihr kommt jetzt mit zur Umerziehung.‘“ 

    Maxim und Tatjana mussten die Nacht in der Kommandantur verbringen. Da waren auch andere, die wegen einer proukrainischen Haltung oder Verstoß gegen die Ausgangssperre festgehalten wurden. „Sie [die russischen Soldaten] haben gesagt: ‚Du hast doch Ruhm der Ukraine gerufen? Ruf jetzt Ruhm für Russland!‘ Ich habe geantwortet, dass ich so einen Scheiß nicht rufen werde. Da haben sie mit Gummiknüppeln auf mich eingeschlagen. Damals kamen mir diese Schläge heftig vor.“ Am nächsten Tag mussten Maxim und Tatjana unterschreiben, dass sie keinerlei Beschwerden hätten, und durften gehen. 

    Erst wurden vor allem Leute aus den einheimischen Behörden entführt. Später dann Lehrkräfte, die weiter nach ukrainischen Standards unterrichteten

    Im März häuften sich solche Entführungen. Ein Notfalltelefon wurde eingerichtet (Entführt in Melitopol). Dort konnte man anrufen, wenn ein Angehöriger entführt wurde. Man wurde beraten, was man tun und welche Behörden man informieren soll. Außerdem erhielt man psychologischen Beistand. 

    Natalja, eine Mitarbeiterin des Call-Centers, erzählt, kurz nach der Besatzung seien vor allem Leute aus den einheimischen Verwaltungsbehörden entführt worden. Zum Herbst hin, als die Besatzungsmacht einen russischen Lehrplan vorschreiben wollte, begannen die Entführungen von Schulleitungen und Lehrkräften, die weiter nach ukrainischen Standards unterrichteten. „Dann kamen die Bauern dran. Es gab auch eine Phase, in der sehr viele Veteranen der ATO [Antiterroristische Operation, wie der Krieg im Donbass von 2014 bis 2018 genannt wurde, ab 2018 hieß er ,Operation der vereinten Kräfte‘ – iStories] entführt wurden“, erzählt Natalja. „Und viele Geschäftsleute, um Lösegeld zu erpressen.“

    Seit Ausbruch des vollumfänglichen Angriffskriegs verzeichnen Mitarbeitende des Notfalltelefons 311 Entführungen, 107 Menschen sind nach wie vor in Geiselhaft, zu 56 Personen liegen keine Informationen vor. Nach Einschätzung der Mitarbeitenden des Notfalltelefons Entführt in Melitopol ist die Dunkelziffer der Entführungen dreimal so hoch. 

    500.000 Rubel für Denunzianten

    Am Morgen des 22. August verließen Maxim Iwanow, der wegen der ukrainischen Flagge „zur Umerziehung“ festgenommen worden war, und seine Freundin Tatjana ihre Wohnung. Sie wollten zum Tag der Unabhängigkeit der Ukraine (24. August) Flyer kleben, doch sie schafften nur ein paar wenige. „Dann kam die sogenannte Polizei. Sie durchsuchten uns und fanden die Flyer, und außerdem noch Nachrichten auf meinem Handy an einen Menschen, dem ich Koordinaten [von russischem Militärgerät] übermittelt hatte.“ Sie warfen Maxim zu Boden, fesselten ihn und steckten ihn in den Kofferraum. So wurden Tatjana und er zum zweiten Mal festgenommen und auf das Polizeirevier in der Tschernyschewski-Straße gebracht. 

    Tatjana ist sich sicher, dass ein Einheimischer sie denunziert hat. „Die Leute bekommen Geld dafür, dass sie es gleich per Anruf melden, wenn sie etwas sehen. Diesmal haben wir mit der Klebeaktion im Stadtzentrum angefangen. Sobald wir bei den Wohnhäusern waren, war fünf Minuten später die Polizei da – jemand hatte uns verpetzt.“

    In manchen Bezirken hat die Besatzungsmacht eigene Telegram-Bots eingerichtet, wo jeder Informationen über „Saboteure“ hochladen kann. Bei einer Festnahme der beschuldigten Person soll der Denunziant angeblich 500.000 Rubel [etwa 5200 Euro – dek] bekommen. 

    Tatjana Bech und Maxim Iwanow wurden von russischen Besatzern entführt, als sie Flyer zum ukrainischen Unabhängigkeitstag klebten / Foto © privat/iStories
    Tatjana Bech und Maxim Iwanow wurden von russischen Besatzern entführt, als sie Flyer zum ukrainischen Unabhängigkeitstag klebten / Foto © privat/iStories

    „Ich habe die Koordinaten von Truppenbewegungen und Militärgerät in Melitopol und Umgebung bei einem Chat-Bot hochgeladen. Das war sehr riskant, aber ich wollte diese Dämonen aus unserer Stadt verbannen und weiß, dass das richtig war …“, erzählt Maxim.

    Schon beim ersten Verhör wurde er auf dem Polizeirevier geschlagen, ihm wurden mehrere Rippen gebrochen. Sie sind auch ein Jahr später noch nicht verheilt. Am nächsten Tag wurde er zu den Garagen unter der Brücke nach Nowy Melitopol gebracht und abermals brutal zusammengeschlagen.

    Du krepierst hier und keiner kriegt es mit

    „Sack über den Kopf und raus. Sie schubsen mich, ich falle. Sie schlagen mit einer Eisenstange und irgendwelchen Stöcken auf mich ein. Auf die Brust, auf den Rücken. Dann stülpen sie mir einen Eimer über den Kopf und hämmern darauf ein. Ich fiel immer wieder hin, verlor mehrmals das Bewusstsein. Ich habe nichts mehr gespürt. Später sah ich, dass meine großen Zehen gebrochen waren, das musste beim Hinfallen passiert sein. Sie konnten mich jeden Moment umbringen. Ich habe gefragt, ob ich meine Eltern anrufen kann, um mich zu verabschieden. Vergiss es, hieß es, du krepierst hier und keiner kriegt es mit. Dann brachten sie mich in eine Garage und ließen mich dort zurück. Ich öffnete die Augen: Das Blut rann nur so an mir herunter, es war überall“, erinnert sich Maxim Iwanow.

    Illustration © iStories
    Illustration © iStories

    Am nächsten Tag gingen die Misshandlungen weiter. „Es war immer das Gleiche. Ich stand da mit dem Gesicht zur Wand, sie kamen rein und schlugen mir von hinten auf die Rippen, richtig heftig, und auf den Nacken.“ Am fünften Tag wurden Maxim und andere Gefangene zum Duschen nach draußen gebracht. „Da war nur ein Wasserschlauch. Aber wir haben uns gefreut, wir hatten uns so lange nicht gewaschen. Ich zog mich aus, da fingen die Aufseher an zu tuscheln, dann sagte einer: ‚Der ist fertig, nehmt ihn mit.‘ Wahrscheinlich haben sie gesehen, dass mein Rücken und meine Rippen komplett schwarzblau waren, und entschieden, dass es reicht.“

    Alles „ganz zivilisiert“?

    Vor dem Krieg lebte der 23-jährige Leonid Popow bei seiner Mutter in der Oblast Poltawa. Ende 2021 kam er nach Melitopol, um mit seinem Vater Neujahr zu feiern, bei Kriegsbeginn war er immer noch dort. Von den ersten Tagen der Besatzung an führte er Tagebuch, er notierte alles, was er sah: dass ständig Schüsse zu hören waren; dass die Leute durchdrehten und Lebensmittelläden plünderten, dass er einen erschossenen Mann auf der Straße liegen sah. Seine Mutter Anna flehte Leonid immerzu an, sich evakuieren zu lassen, solange es noch gehe, aber er wollte nicht. „Nein, Mama, gerade jetzt, wenn in der Stadt so etwas passiert, gehe ich nicht weg. Ich werde hier gebraucht“, antwortete er. Anna erzählt, sie habe ihrem Sohn Geld für den Lebensunterhalt geschickt, mit dem er Bedürftige in Melitopol und Geflüchtete aus Mariupol unterstützte.

    Im Mai 2022 wurde Leonid zum ersten Mal entführt. Er verließ das Haus, um ein Schawarma zu kaufen, da wurde er in ein Auto gezerrt und in eine Kommandantur gebracht. Dort kam er erst nach drei Tagen wieder raus. Seiner Mutter erzählte er nicht, was in diesen drei Tagen geschah. Dass ihr Sohn gefoltert wurde, erfuhr sie erst von ihrem Ex-Mann. „Betrunkene Kadyrowzy haben ihn an der Wand fixiert, sie haben gelacht und mit Messern nach ihm geworfen, ihn mit Stromschlägen gequält. Er weiß bis heute nicht, warum sie ihn entführt haben. Vor der Freilassung haben sie ihm seinen Pass weggenommen und gesagt, er soll sich einen russischen besorgen – das hat er alles seinem Vater erzählt“, sagt Anna.

    Auch Leonids jüngerer Bruder Jaroslaw blieb nicht von den massenhaften Entführungen verschont. Als im Mai 2022 alle Handynetze der Stadt darniederlagen, ging er – wie viele andere – nach der Sperrstunde noch raus, um ein Signal zu suchen. Alle wurden festgenommen und auf eine Kommandantur gebracht. Anna erzählt, ihr Sohn sei mit etwa 30 Personen in einer sehr engen Zelle gewesen.

    Wenn ihr ihm nicht das Maul stopft, knallen wir euch alle ab

    Laut Jaroslaw sei darunter ein psychisch kranker oder betrunkener Mann gewesen. Er habe die ganze Zeit geschrien und Radau gemacht. „Die Soldaten sagten: ,Wenn ihr ihm nicht das Maul stopft, knallen wir euch alle ab wie junge Katzen.‘ Da haben die Leute Angst bekommen, haben zu mehreren auf den Mann eingeprügelt. Als er trotzdem weiter schrie, haben sie angefangen ihn zu würgen, damit er aufhört. Bis er tot war. Ich habe meinen Sohn gefragt: Und was hast du gemacht? Er sagte, er habe sich weggedreht, mit dem Finger in der Mauer gepult und zum ersten Mal in seinem Leben gebetet“, erzählt Anna die Erinnerungen ihres Sohnes nach.

    Jaroslaw wurde im Mai 2022 von russischen Besatzern entführt und erlebte, wie ein Mithäftling in der Zelle getötet wurde / Foto © privat/iStories
    Jaroslaw wurde im Mai 2022 von russischen Besatzern entführt und erlebte, wie ein Mithäftling in der Zelle getötet wurde / Foto © privat/iStories

    Auch nach seiner ersten Entführung und der Folter mit Stromschlägen weigerte sich Leonid Popow, Melitopol zu verlassen. Er verbrachte ein Jahr in der besetzten Stadt und war erst im April 2023 bereit, sich von freiwilligen Helfern rausbringen zu lassen. Doch zwei Tage vor der geplanten Abreise verschwand er. 

    Bei der Polizei, an die Leonids Vater sich wandte, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben, sagte man ihm, dass sein Sohn höchstwahrscheinlich von Soldaten mitgenommen worden sei. „Machen Sie sich keine Sorgen. Das ist nur so ein Kontrollverfahren, sie halten ihn zwei Wochen fest und lassen ihn wieder laufen. Alles ist gut, machen Sie sich keine Sorge, alles läuft ganz zivilisiert“, erzählt Anna die Worte ihres Ex-Mannes nach. „Das ist ja deren Lieblingssatz: Alles ganz zivilisiert“, kommentiert sie. 

    Drei Monate nach der Entführung brachten Soldaten Leonid mit akuter Unterernährung ins Krankenhaus

    Leonid kam nicht frei – nicht nach zwei Wochen und auch nicht nach zwei Monaten. Vertreter der zivilen und der Militärpolizei setzten sich mit seinen Eltern in Verbindung und versprachen, ihn zu finden. Aber Anna erfuhr erst von einem anderen Entführten, der mit Leonid in einer Zelle gewesen war, was mit ihrem Sohn passiert ist. 

    „Im Juni hat ein Mann Leonids Vater angerufen und gesagt, er sei mit unserem Sohn im Keller einer Kommandantur festgehalten worden. Er sagte, dass es Leonid sehr schlecht geht. Er liege da und bewege sich nicht, sei völlig abgemagert und flüstere ständig: ‚Ich hab Hunger.‘ Er erzählte, dass sie dort nur alle zwei, drei Tage ein bisschen Wasser kriegen. Essen bekommen sie auch nicht jeden Tag und immer nur sehr wenig. Außerdem sei das Zeug ungenießbar, schlimmer als Hundefutter. Und sie würden geschlagen.“

    Anna befürchtete, dass sich die psychische Erkrankung ihres Sohnes in Geiselhaft verschlimmern könnte. Mit 17 wurde bei Leonid Schizophrenie festgestellt. Dank einer Therapie konnte eine Remission erreicht werden, doch die Ärzte warnten Anna, dass sich Leonids Zustand bei starkem Stress verschlechtern und er auf die intellektuellen Fähigkeiten eines Zehnjährigen zurückfallen könnte.

    In Geiselhaft wurde Leonids Gesundheitszustand kritisch. Drei Monate nach der Entführung brachten ihn Soldaten mit akuter Unterernährung ins Krankenhaus: Bei einer Größe von 1,95 m wog er nur noch 40 Kilo. 

    Leonid Popow mit seiner Mutter Anna vor der russischen Invasion (links) und nach drei Monaten in russischer Gefangenschaft (rechts) / Foto © privat/iStories
    Leonid Popow mit seiner Mutter Anna vor der russischen Invasion (links) und nach drei Monaten in russischer Gefangenschaft (rechts) / Foto © privat/iStories

    Während des Krankenhausaufenthaltes gelang es Leonid, vom Handy seines Zimmernachbarn ein paar Nachrichten an seine Mutter zu schicken. „Ich hatte in der Zelle solche Angst vor dem Einschlafen. Angst, dass sie wiederkommen und mich würgen, zu Tode quälen. Durst hatte ich auch so sehr, sie gaben uns nichts zu trinken. Und Hunger. Außerdem haben sie mich heftig geschlagen. So fest, dass ich vier Tage lang nicht auf die Toilette konnte. Weswegen, Mama? Vielleicht weißt du, was ich getan habe?“, schrieb er an seine Mutter.

    Gegen Leonid wurde nie eine offizielle Anklage erhoben. Seinem Vater wurde nur mündlich mitgeteilt, Leonid sei festgenommen worden, weil er Militärtechnik fotografiert und Kontakt zur ukrainischen Armee gehabt habe. Beweise wurden dafür keine geliefert.

    Mit einer Tüte über dem Kopf und Elektroden am Arm

    Anhand von Gesprächen mit Menschen, die Entführungen und Folter überlebt haben, und mit Angehörigen von Menschen, die immer noch in Gefangenschaft sind, konnten wir fünf Adressen ausmachen, wo man die Entführten festhält.

    Meistens kommen sie in die Kommandanturen. Eine befindet sich in einem ehemaligen Gebäude der Verkehrspolizei auf der Alexejewa-Straße 26, eine andere auf der Tschernischewski-Straße 37, in einer ehemaligen Polizeidienststelle für den Kampf gegen organisierte Kriminalität.

    Leonid Popow wurde auf der Alexejewa-Straße festgehalten, bis er akut unterernährt war. Das Gebäude der Verkehrspolizei ist überhaupt nicht als Haftanstalt geeignet. 

    Die Räume, in denen verhört und gefoltert wird, befinden sich direkt neben den Zellen. Deswegen können die Gefangenen hören, wie andere gefoltert werden. Die schlimmste Folter kommt zum Einsatz, wenn jemand in der ukrainischen Armee gekämpft hat oder der Weitergabe von Koordinaten verdächtigt wird. 

    Das Wasser hat so gestunken, dass ich es nicht trinken konnte

    Bei seiner ersten, dreitägigen Entführung hielt man Leonid in der Tschenyschewski-Straße fest. Dorthin kamen auch Maxim und Tatjana. Maxim wurde am Folgetag in die Garagen unter der Brücke nach Nowy Melitopol verschleppt, wo er weiter misshandelt wurde. Tatjana wurde durchsucht, sechs Stunden lang verhört und dann in einen Container im Innenhof der Kommandantur gesperrt. „Da war ein Parkplatz, auf dem ein Container stand, wie für Frachtschiffe. Ohne Fenster, eine Tür war hineingesägt, die abgeschlossen werden konnte. Es war August – tagsüber unerträglich heiß und nachts sehr kalt. Da drin gab es zwei Bänke und einen Hocker. Auch Wasser stand da, aber es hat so gestunken, dass ich es nicht trinken konnte. In den ersten Tagen bekam ich nichts zu essen. Später brachte mir irgendein Koch was. Auf die Toilette durfte ich nur zwei Mal am Tag, aber das war unmöglich. Ich fand einen kleinen Eimer und machte da rein, das kippte ich ihnen später am Eingang vor die Füße.“

    Nach dem Container und den Misshandlungen wurden Maxim und Tatjana auf das Polizeirevier in der Getmanskaja-Straße gebracht. Dort saßen sie in verschiedenen Zellen. Tatjana wurde in Ruhe gelassen, aber Maxim wurde auch hier schwer misshandelt. 

    Sie machen den Strom erst aus, wenn ich nicht mehr schreie, sondern wegkippe

    „Zwei Männer kommen rein. Tüte übern Kopf, die sie mit Klebeband so umwickeln, dass ich kaum Luft bekomme. Ich soll mich auf den Boden setzen, sagen sie. Dann spüre ich, wie sie mir Zangen an die Zehen machen, wie so Klemmen …“, erzählt Maxim. „Mittlerweile kann ich ruhig darüber reden. Aber sobald ich es mir wieder bildlich vorstelle … Sie verpassen mir Stromschläge, ich schreie. Sie fragen mich nach dem ukrainischen Sicherheitsdienst, nach Soldaten, nach der Polizei. Ich sage ihnen, ich kenne niemanden, ich habe ja nicht einmal Kontakt zur Polizei, mit dem SBU hatte ich überhaupt noch nie zu tun. Aber die meinen: ‚Du lügst!‘ Sie verpassen mir Stromschläge, zwanzig Minuten lang. Lassen den Strom sieben Sekunden laufen und machen erst aus, wenn ich nicht mehr schreie, sondern wegkippe. Ein paar Sekunden später wieder.“

    Um den Lärm zu übertönen, schalteten die Folterer von 8 bis 22 Uhr laute Musik ein, wie uns alle erzählten, die die Folter erlebt haben. Maxim erinnert sich, dass die russische Nationalhymne dabei war, und viel „suizidales Zeug“, Songs über den Tod, aber auch russische Pop- und Rockmusik: Gasmanow, Morgenshtern, Instasamka, Korol i Schut, Aria. Es war auch der Song Das geht vorbei von Pornofilmy dabei, darin heißt es:

    „Mit einer Tüte überm Kopf
    und Elektroden am Arm
    sitzt mein Russland im Knast
    aber glaub mir: Das geht vorbei!“

     
    Inoffizieller Clip zum Song Das geht vorbei der seit 2022 im Exil lebenden Punkband Pornofilmy

    „Seltsam, dass sie das dort gespielt haben“, wundert sich Maxim. „Aber uns tat es gut, es gab Hoffnung, dass der, der die Playlist zusammenstellte, noch nicht völlig hinüber war.“

    Ganz konnte die Musik die Schreie der gefolterten Häftlinge dennoch nicht übertönen. „Es gab Tage, an denen es still war, aber die meiste Zeit wurde irgendwo gefoltert. Man hörte, wie jemand geprügelt wurde. Hörte Schreie. Manchmal schrie jemand ‚Hilfe, Gnade, es reicht, bitte‘, manchmal war es einfach nur ein langes: ‚A-a-a-a‘“, beschreibt Maxim die Zustände in den Zellen. 

    Manche Häftlinge hielten es nicht aus und begingen Suizid. „Der Wärter schaute in die Zelle, griff zum Handy und meldete nur, es habe sich einer die Pulsadern aufgeschlitzt. Danach hörte man, wie sie den Leichnam verpacken und in irgendetwas einwickeln“, erinnert sich Maxim an einen solchen Fall. Von Suiziden erzählten uns auch andere Entführte.

    Die Militärs haben das Sagen

    In der besetzten Stadt existieren weiterhin eine Staatsanwaltschaft, ein Ermittlungskomitee und die Polizei. Aber in Wirklichkeit haben allein die Militärs das Sagen. 

    Als Leonid im Krankenhaus lag, rief jemand vom Ermittlungskomitee seinen Vater an und sagte, gegen Leonid gebe es kein laufendes Verfahren, er könne seinen Sohn abholen. „Ich habe mich so gefreut! Er ist frei! Ich habe schon einen Fahrer gesucht, um zu ihm nach Melitopol zu kommen“, erinnert sich Leonids Mutter an ihre damaligen Gefühle. Die Freude währte nicht lange.

    Leonids Vater brachte ihn nach Hause. Aber kaum waren sie aus dem Wagen gestiegen, hielt ein schwarzer Niva mit getönten Scheiben neben ihnen. Ein Soldat stieg aus – es war derjenige, der Leonid in der Kommandantur das Essen gebracht hatte – und sagte, niemand habe ihn freigelassen. „Er hielt ihm die Tüte hin und sagte, so laufe das nun mal. Leonid hat sie sich selbst über den Kopf gezogen“, erzählt Leonids Vater von der dritten Entführung. 

    Beim Ermittlungskomitee sagte man Leonids Eltern, man habe keinen Einfluss auf das Militär. „Bei uns laufen Untersuchungen, um seinen Aufenthaltsort festzustellen. Bei uns ist er nicht. Wenden Sie sich an die Militär-Kommandantur. Wir haben das auch schon getan, aber wir können Ihnen die Antwort nicht mitteilen – Ermittlungsgeheimnis“, sagte die Ermittlerin, die für Leonid Popows Fall zuständig ist. 

    Nicht nur russische Soldaten

    Doch an dem System der Entführungen sind nicht nur russische Soldaten beteiligt. Nach ihrer Freilassung konnte Tatjana Bech den Ermittler Alexander Kowalenko identifizieren. Er hatte ihr erstes Verhör geführt. Vor dem Krieg war er in Melitopol bei der ukrainischen Polizei gewesen. 

    Nach Leonids Entführung nahmen drei Männer Kontakt zu seinen Eltern auf. Der erste sagte, er sei ein Ermittler von der zivilen Polizei. Er stellte sich nicht vor, sondern sagte: „Schreiben Sie einfach Fox.“

    Später rief Leonids Vater jemand an, der stellte sich als Militärpolizist vor und schlug ein Treffen vor. Er sagte, Leonid gehe es gut, er bekomme zu essen und werde nicht misshandelt, festgenommen habe man ihn, weil er Militärgerät fotografiert habe. Wir fanden heraus, dass es sich bei dem Anrufer um Igor Kara handelte, einen ehemaligen Ermittler aus Mariupol. Als wir ihn anriefen, stritt er zunächst ab, Leonid Popow zu kennen, später gab er zu, mit dessen Vater gesprochen zu haben. Dann verwies er auf das Ermittlungskomitee: „Dort ist er vermisst gemeldet. Das Ermittlungskomitee kümmert sich um die Suche.“

    Der dritte Mann, zu dem Leonids Eltern nach seiner Entführung Kontakt hatten, war ebenfalls von der Militärpolizei und hieß Lew. Anfangs gab er vor, nach Leonid zu suchen. Aber als Leonids Eltern von einem anderen ehemaligen Häftling erfuhren, dass sich ihr Sohn in der Kommandantur befindet, erklärte Lew sich bereit, Lebensmittel zu überbringen. Er war es auch, der Leonid abholte, als er zum dritten und letzten Mal entführt wurde. Mittlerweile haben alle drei Männer Annas Nummer blockiert und den Kontakt abgebrochen. 

    Ich kroch auf allen vieren und pinkelte Blut

    Maxim und Tanja wurden nach der Folter gezwungen, bei einem Propagandavideo über ein Attentat auf Jewgeni Balizki mitzumachen, den Vorsitzenden der Besatzungsverwaltung der Oblast Saporishshja. Kurz danach wurde Tatjana freigelassen. Maxim wurde noch einen weiteren Monat misshandelt. Nach zwei Monaten Gefangenschaft und Misshandlung war Maxims Zustand kritisch. „Ich konnte nicht mehr richtig gehen, ich kroch auf allen vieren und pinkelte Blut“, erinnert er sich. Ende Oktober 2022 wurde er auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet deportiert – unter der Bedingung, dass er den Russen von dort per Telegram Koordinaten der ukrainischen Armee durchgibt. Der Ermittler hatte den Namen eines Telegram-Kanals auf einen Zettel geschrieben und ihn Maxim in die Hosentasche gesteckt.

    Zu Fuß bis zum ukrainischen Kontrollposten

    Man brachte Maxim bis Wassiljewka, zum letzten Kontrollposten auf besetztem Gebiet. Damals konnte man von dort noch zum ukrainisch kontrollierten Teil der Oblast Saporishshja gelangen – mittlerweile haben die Russen diesen Weg blockiert.

     „Sie haben vor der Kamera ein Urteil gesprochen, dass ich in Melitopol eine Persona non grata sei“, erinnert sich Maxim. „Danach lief ich 40 Kilometer zu Fuß von Wassiljewka bis [zum ukrainischen Kontrollposten in] Kamenskoje. Es war die Hölle. Kamenskoje ist eine Grauzone, da sind auf einem Hügel unsere Jungs, und auf dem nächsten diese Wichser. Und ständig wird geschossen. Ich konnte einfach nicht mehr. Ich wollte irgendwo klopfen und fragen, ob ich übernachten könnte, aber das Dorf war tot, die Häuser zerstört. Ich fand eine verlassene Tankstelle und verbrachte die Nacht dort. Es war kalt – Ende Oktober. Raureif überall, meine Füße waren Eiszapfen. Ich fand ein Stück Glaswolle und deckte sie damit zu. Und ständig Schüsse. Es schlägt irgendwo neben mir ein, und ich höre die Erde herunterprasseln. Ich dachte schon, diese Tankstelle würde mein Grab.“

    Ich habe die ukrainische Flagge gesehen und bin auf die Knie gefallen

    Bei Sonnenaufgang erreichte Maxim einen Kontrollposten. „Ich habe die ukrainische Flagge gesehen und bin auf die Knie gefallen – ich hätte weinen können. Ich dachte, sie bringen mich gleich um, weil ich keine Papiere bei mir habe. Aber unsere Jungs haben mir etwas zu essen gegeben, mir Kaffee eingeschenkt und mich beruhigt. Es kamen ein paar Polizisten, sie brachten mich nach Saporishshja. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, fühlte ich gar nichts mehr. Ich konnte nicht glauben, dass das alles wahr war: dass ich die Sonne sehe, frische Luft atme und nicht beim kleinsten Geräusch zusammenzucken muss.“

    Tatjana war schon einen Monat vorher ausgewiesen worden. Heute lebt sie mit Maxim in Saporishshja. Sie arbeitet in einer Fabrik, Maxim kann noch nicht arbeiten, weil er von der Folter zu viele Verletzungen davongetragen hat, und nicht nur körperliche. „Es ist fast ein Jahr her, aber für mich fühlt es sich an wie eine Woche“, sagt Maxim. „Bei der kleinsten Beugung nach vorn habe ich furchtbare Schmerzen, denn mit den Rippen ist es leider nicht so wie mit einem Bein, man kann sie nicht eingipsen, deswegen weiß ich gar nicht, wie sie zusammengewachsen sind. Meine Zehen sind falsch zusammengewachsen. Ich habe oft Albträume. Früher kannte ich so etwas nicht. Je länger die Ereignisse zurückliegen, desto häufiger erinnert mich mein Unterbewusstsein daran … Viele glauben mir bis heute nicht, sie sagen: Was für eine Folter denn im 21. Jahrhundert? Aber ich habe es erlebt, genau wie tausend andere Männer und Frauen, und es passiert auch heute noch.“

    Den Erlass zur „Ausweisung von Bürgern, die an Terrorakten beteiligt waren“ hat der Verwaltungsvorsitzende der besetzten Oblast Saporishshja im Juli 2022 unterschrieben. Die Verwaltung stufte die Deportation als „die humanste Strafmaßnahme“ ein. Die Vorgangsweise wurde gefilmt: Den Folteropfern mit Säcken über dem Kopf wurden ihre „Urteile“ verlesen und anschließend befohlen, zum ukrainischen Kontrollposten zu laufen, der sich mehrere Dutzend Kilometer entfernt befand. Vielen bekamen ihre Ausweispapiere nicht zurück. Die letzte uns bekannte Ausweisung war im Januar 2023, seitdem wurden keine entführten Menschen mehr aus der Stadt gelassen. 

    Anna Machno weiß nicht, wo ihr Sohn ist und was mit ihm passiert ist. Seit seiner letzten Entführung sind fünf Monate vergangen. Beim russischen Verteidigungsministerium behauptet man, Leonid sei nie von russischen Soldaten festgenommen worden. Das Ermittlungskomitee in Melitopol führt Scheinermittlungen durch, obwohl eindeutige Beweise vorliegen, dass Leonid entführt und gefoltert wurde. Die russische Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa lässt Leonids Mutter bereits seit zwei Monaten auf Antwort warten. 

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  • Bilder vom Krieg #15

    Bilder vom Krieg #15

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Norman Behrendt

    Luftschutzbunker im „Institut für Automation“ in Kyjiw, 25.10.2023 / Foto © Norman Behrendt
    Luftschutzbunker im „Institut für Automation“ in Kyjiw, 25.10.2023 / Foto © Norman Behrendt

    dekoder: Sie haben gerade einen Monat lang als „Artist in residence“ in Kyjiw gearbeitet. Warum geht man als Künstler in ein Land, das sich im Krieg befindet?

    Norman Behrendt: Der Düsseldorfer Maler Paul Maciejowski hatte die Idee, Künstlern aus Deutschland einen Aufenthalt in Kyjiw zu ermöglichen. Der Titel Ich komme und sehe trifft es sehr gut: Nach bald zwei Jahren sind wir alle ein bisschen abgestumpft und viele wollen nichts mehr vom Krieg hören. Dort hinzufahren, den Alltag zu erleben und den Menschen zu begegnen, war unser Ziel. Als Künstler teilen wir unsere Erfahrungen aus dieser Zeit und können so weiter für das Thema sensibilisieren. In meiner Arbeit beschäftige ich mich schon länger mit der Architektur von Metro-Systemen; da war ich neugierig zu sehen, wie sich die Metro in Kyjiw von einem Transportsystem zu einem Schutzraum verwandelt.

    Dieses Foto ist auch in einem Luftschutzbunker entstanden. Wie kam es dazu?

    Bevor ich nach Kyjiw kam, habe ich mich gefragt, ob ich dort überhaupt konzentriert arbeiten kann, oder ob ich ständig von Fliegeralarm unterbrochen werde. Tatsächlich hat es fast zwei Wochen gedauert, bis wir zum ersten Mal einen Alarm hatten. Unser Atelier war in einem großen Gebäude, in dem zu Sowjetzeiten das Institut für Automation untergebracht war. Seit einigen Jahren arbeiten dort verschiedene Künstlergruppen. Da gibt es im Keller einen richtigen Bunker mit dicken Betonwänden und schweren Stahltüren. In Kyjiw haben alle auf ihren Handys eine App, die bei Angriffen anzeigt, wo der nächste Schutzraum ist. Aber es kamen gar nicht so viele Menschen in diesen Schutzraum. Die ukrainischen Künstler haben einfach weiter gearbeitet. Die Flugabwehr fängt ja glücklicherweise das Meiste ab.

    Das war in den ersten Tagen des russischen Überfalls anders. Auf der Tafel, die dort an der Wand hängt, hat jemand bei jedem Alarm das Datum notiert …

    In dem Bunker suchen auch viele Leute Zuflucht, die in der Nähe wohnen oder arbeiten, auch Familien mit Kindern. Diese Daten vermitteln etwas von dem bedrückenden Gefühl, jeden Tag in diesen Bunker zu müssen. Und niemand weiß, wie lange das dauern wird. Ende März hören die Aufzeichnungen auf, aber wir wissen ja, dass der Krieg immer noch andauert. Die Zeichnungen lassen vermuten, dass Kinder sich die Zeit mit Malen vertrieben haben. Das zeigt, dass selbst an so einem Ort die Fantasie lebendig ist.

    Haben Sie auch in der Metro fotografiert?

    Dafür hätte ich eine Erlaubnis gebraucht, die hatte ich nicht. Aber mich hat sehr beeindruckt, wie routiniert die Kyjiwer mit der Situation umgehen. Viele Schulklassen bringen sich bei einem Luftalarm in der Metro in Sicherheit, deshalb sind dort sehr viele junge Leute. Die Metro in Kyjiw ist sehr tief, teilweise bis zu hundert Meter unter der Erde. Da fühlt man sich sehr sicher. Das Bahnpersonal hat dann faltbare Hocker ausgeteilt, man konnte sich setzen, man konnte auf die Toilette gehen. Und die ganze Zeit fuhren auch die Züge weiter. Menschen kamen und gingen. Überhaupt hatte ich den Eindruck, die Stadt hat eine beeindruckende Resilienz, sie lebt einfach ihr Leben weiter. Wüsste man nicht, dass sich das Land im Krieg befindet, würde man sich vielleicht über die Kontrollposten in der Stadt und die Militärfahrzeuge auf den Straßen wundern. Die Leute gehen zur Arbeit, die Restaurants haben geöffnet, auf den Straßen ist viel Verkehr. Trotzdem merkt man natürlich in Gesprächen, wie der Krieg die Menschen belastet.

    Was kann Kunst an so einem Ort schaffen?

    Zusammen mit dem Berliner Fotografen Eric Pawlitzky haben wir eine Skulptur gebaut, die aus einem Notausgang und zwei Lüftungsschächten besteht. Aus den Lüftungsschächten waren Geräusche und Ansagen aus der Berliner U-Bahn und der Kyjiwer Metro zu hören. Die Idee war, eine symbolische Verbindung zwischen der deutschen und der ukrainischen Hauptstadt zu schaffen, die seit September 2023 auch Partnerstädte sind. Wir können als Künstler keine U-Bahn-Linie zwischen Berlin und Kyjiw bauen, aber wir können die Idee einer echten Verbindung der beiden Städte in die Köpfe pflanzen. 

    Ihr Aufenthalt in der Ukraine war ja an sich auch eine solche Verbindung. Wie ist das bei den Künstlern in Kyjiw angekommen?

    Die Künstler, aber auch die Menschen generell, die wir getroffen haben, waren alle sehr dankbar. Es bedeutet ihnen viel, wenn andere ganz konkret ihre Verbundenheit mit ihrem Land zeigen. Im Moment kommen außer NGO-Vertretern und Journalisten nur wenige Ausländer. Wir wurden unglaublich warmherzig aufgenommen. Ab 21. November werden unsere Arbeiten im Zentrum für Moderne Kunst M17 gezeigt. Das ist eine unglaubliche Ehre.

    Foto: Norman Behrendt
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am 16.11.2023

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