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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „In Belarus sind zwei unversöhnliche Lager entstanden”

    „In Belarus sind zwei unversöhnliche Lager entstanden”

    Zehntausende Belarussen wurden nach den Ereignissen im Jahr 2020 Opfer von Repressionen und Verfolgungen, Hunderttausende haben aus Angst und Perspektivlosigkeit das Land verlassen. Auch der russische Krieg gegen die Ukraine beeinflusst die Stimmung in der belarussischen Gesellschaft. Eine Studie hat genau die untersucht. Sie zeigt, dass die Konfrontation zweier nationaler Ideen kritische Formen annimmt und einen Dialog zwischen Vertretern dieser polarisierten Gruppen praktisch unmöglich macht. Das Online-Medium Reform.by hat sich die Studie angeschaut. Hier die wichtigsten Ergebnisse.

    Die Studie Belarussische nationale Identität im Jahr 2023 wurde im November von unabhängigen Soziologen mithilfe der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellt. Die Daten wurden mittels einer Online-Umfrage erhoben, bei der die Fragebögen von den Befragten selbst ausgefüllt wurden (Computer Assisted Web Interviewing – CAWI). An der Umfrage nahmen 1205 Personen aus belarussischen Städten mit über 20.000 Einwohnern teil. Die Stichprobe ist hinsichtlich von Geschlecht, Alter und Bildungsstand repräsentativ.

    Die Soziologen stellen fest, dass die politische Krise, die 2020 in Belarus einsetzte, weiterhin die Lage im Land beeinflusst. Hinzu kommen der russisch-ukrainische Krieg und weltpolitische Veränderungen. Die Menschen in Belarus sind durch eine ganze Reihe von Ansichten polarisiert, eine zentrale ist dabei die nationale Identität. Diese wurde für viele zu einem Prisma, durch das die Bewertung des aktuellen Geschehens und der Zukunft des Landes erfolgt.

    Zwei nationale Projekte

    In Belarus existieren heute zwei konkurrierende nationale Projekte, die von Wissenschaftlern als russisch-sowjetisch bzw. als nationalromantisch beschrieben werden. Das erste greift auf das sowjetische Erbe zurück, ist auf Russland ausgerichtet und stellt den Staat als nationsbildende Institution in den Vordergrund. Das zweite ist eher proeuropäisch, bezieht sich auf die vorsowjetische Geschichte und betrachtet die belarussische Kultur als wesentliches Element der Nation. Der Kampf und die Wechselbeziehungen dieser Projekte wie auch der Einfluss der gegenwärtigen Identität Russlands, des Kosmopolitismus und national indifferenter Haltungen bestimmen die Besonderheiten der nationalen Identität der Belarussen.

    An den äußeren Identitätspolen sind zwei Gruppen angesiedelt, die „[National]bewussten“ (13 Prozent) und die „Sowjetischen“ (37 Prozent). Erstere engagieren sich für einen nationalromantischen Entwurf und orientieren sich an der belarussischen Kultur und Sprache sowie an der vorsowjetischen Geschichte des Landes. Für sie sind nationale Symbole und bedeutsame Gedenkdaten wichtig, etwa das Pahonja-Wappen, die weiß-rot-weiße Flagge, volkstümliche und geschichtsbezogene Feiertage wie der Jahrestag der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik.

    Die Gruppe der „Sowjetischen“ hängt – wie der Name schon sagt – einer Vorstellung an, die sich auf das russisch-sowjetische Imperium, das Erbe der belarussischen Sowjetrepublik und die Nähe zu Russland bezieht. Angehörige dieser Gruppe vertreten die Vorstellung von der Dreieinigkeit einer [ost]slawischen Nation. Zu ihren Symbolen und Gedenktagen gehören die rot-grüne Flagge, Staatsunternehmen, die Paraden [zum offiziellen Unabhängigkeitstag – dek] am 3. Juni und [zum sowjetischen Tag des Sieges – dek] am 9. Mai.

     

     

    Zwischen diesen beiden Polen liegen die Gruppen der „sich Entwickelnden“ (19 Prozent), der „Gleichgültigen“ (27 Prozent) und der „Russifizierten“ (4 Prozent). Für die „sich Entwickelnden“ sind die Merkmale beider Nationalideen kennzeichnend, sowie ein beträchtliches Interesse an globaler Identität und Multikulturalität. In diesem Segment gibt es viele junge Leute, oft mit einem guten Bildungsniveau. Die „Gleichgültigen“ hingegen sind praktisch kaum in den nationalen Projekten involviert und ihr Bildungsgrad ist beträchtlich geringer. Die „Russifizierten“ schließlich halten sich schlichtweg für Russen, und nicht für Belarussen.

    Linien der Spaltung

    Abhängig vom Grad des Vertrauens in staatliche und nichtstaatliche Strukturen und Gruppen in der belarussischen Gesellschaft haben die Soziologen hier vier Bereiche eines sozialen Konflikts identifiziert. Zwei von ihnen befinden sich an den Polen der politischen Konfrontation: Es sind die „überzeugten Gegner“ der derzeitigen Regierung und deren „überzeugte Anhänger“.

    Die „überzeugten Regierungsgegner“ machen 10 Prozent aus. Für sie ist einerseits ein hohes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen und Gruppierungen kennzeichnend, und andererseits ein Vertrauen zu nichtstaatlichen Strukturen. Die „überzeugten Regierungsanhänger“ belaufen sich auf 23 Prozent. Und hier ist es genau umgekehrt: Sie vertrauen staatlichen Strukturen und misstrauen nichtstaatlichen Akteuren.

    Gleichzeitig habe sich – so die Soziologen – im Laufe des letzten Jahres die Anzahl der „überzeugten Regierungsgegner“ beträchtlich verringert, während die der „überzeugten Regierungsanhänger“ gestiegen ist. Zwischen diesen beiden Gruppen liegen zwei gemäßigtere. Das sind einerseits die „gemäßigten Regierungsgegner“ (28 Prozent). Diese ist die am stärksten zentristische Gruppe, die weder den staatlichen noch den nichtstaatlichen Strukturen groß vertraut. Wenngleich sie dazu neigt, eher den letzteren Vertrauen entgegenzubringen. Die Soziologen stellen fest, dass diese Gruppe in wesentlich geringerem Maß mit der Agenda der demokratischen Bewegung in Berührung kommt. Es wird für die Bewegung ein harter Kampf werden, Vertreter dieser Gruppe auf ihre Seite zu ziehen.

    Wie sind also die Wechselbeziehungen zwischen den politischen und wertebezogenen Gruppen und die Haltung der Anhänger und Gegner der Regierung zu den beiden Ideen, der nationalromantischen und der russisch-sowjetischen? Wir sehen deutlich, dass die „überzeugten Regierungsanhänger“ hauptsächlich aus „Sowjetischen“ bestehen (69 Prozent), während die „überzeugten Regierungsgegner“ über die Hälfte „[National]bewusste” sind.

     

     

    Dabei verweisen die Soziologen darauf, dass der Anteil [in Bezug auf die nationale Idee] von „Gleichgültigen“ angestiegen sei, und zwar unter den „gemäßigten Regierungsanhängern“ wie auch bei den „gemäßigten Gegnern“ [der Regierung]. Bei denen, die der aktuellen Regierung vertrauen, betrug der Anstieg 12 Prozentpunkte. Bei jenen, die nichtstaatlichen und oppositionellen Strukturen vertrauen, waren es 14 Prozentpunkte. Was bedeutet, dass die politischen Gruppen und die Identitätsgruppen eng zusammenhängen. Dies ist auch am Grad des Vertrauens in staatliche und nichtstaatliche Strukturen erkennbar.

    Doch insgesamt halten die Soziologen fest: 2023 ist das Vertrauen in staatliche Strukturen und Gruppierungen im Vergleich zum Vorjahr weiter gestiegen. Das Vertrauen in sämtliche nichtstaatliche Strukturen hingegen ist deutlich zurückgegangen: Weniger als ein Drittel der Befragten ist geneigt, ihnen zu vertrauen. Gleichzeitig hat sich im Laufe des Jahres der Anteil „der überzeugten Regierungsgegner“ beträchtlich verringert und der „überzeugten Regierungsanhänger“ erhöht.

    Hervorzuheben sind auch erhebliche Unterschiede zwischen „überzeugten Regierungsanhängern“ und „gemäßigten Regierungsanhängern“ hinsichtlich des Vertrauens in staatliche Organisationen und Institutionen. Das betrifft das Vertrauen in die staatlichen Medien und in die Beamtenschaft: Die „Gemäßigten“  bringen ihnen in erheblich geringerem Maße Vertrauen entgegen. Zudem äußert über die Hälfte der „gemäßigten Regierungsanhänger“ ein Misstrauen gegenüber nichtstaatlichen Strukturen. Am häufigsten werden dabei nichtstaatliche Medien genannt sowie Menschen, die aus Angst vor Repressionen das Land verlassen haben, und jene, die die Wahlergebnisse von 2020 nicht anerkennen.

    Naturgemäß unterscheiden sich die Gruppen der „[National]bewussten” und der „Sowjetischen“ am stärksten voneinander. Im Grunde wiederholt sich hier das gleiche Muster wie bei den „überzeugten Regierungsgegnern“ und „überzeugten Regierungsanhängern“. Die „[National]bewussten” vertrauen in höherem Maße allen nichtstaatlichen Strukturen und vertrauen staatlichen Institutionen seltener. Die „Sowjetischen“ hingegen vertrauen staatlichen Strukturen in sehr hohem Maße und wesentlich seltener nichtstaatlichen oder oppositionellen Stellen. Für die „gemäßigten Regierungsgegner“ wiederum ist ein gleich großes Vertrauen gegenüber beiden Strukturen typisch.

    Die Lage könnte wegen des Krieges und der Sanktionen nämlich beträchtlich schlechter sein. Das wird auch den Leistungen der Regierung zugeschrieben

    Was ist der Grund für das gewachsene Vertrauen gegenüber staatlichen Institutionen? Einer der Autoren der Studie, der Soziologe Filipp Bikanow, ist der Ansicht, dass hier ein ganzes Bündel von Faktoren bestimmend sei. Zum einen wäre da der Konsens gegen den Krieg: Die Mehrheit ist überzeugt, dass sich die belarussische Armee so weit wie möglich aus dem russisch-ukrainischen Krieg heraushalten sollte. Und die Regierung unterstützt diese Haltung zumindest verbal. Zweitens steigt der Lebensstandard der Belarussen zwar nicht rapide, er sinkt aber auch nicht katastrophal. Und die Menschen spielen gedanklich verschiedene Szenarien durch – denn die Lage könnte wegen des Krieges und der Sanktionen beträchtlich schlechter sein. Das wird auch den Leistungen der Regierung zugeschrieben.

    Bikanow nimmt an, dass das Jahr 2020 für viele schon der Vergangenheit angehört. Und alle, die nicht zur Gruppe der „überzeugten Regierungsgegner“ zählen, leben ihr eigenes, gewohntes Leben weiter. Aber auch die erzwungene Emigration sollte nicht außer Acht gelassen werden: Viele, die der Regierung  nicht trauten und nicht trauen, haben das Land verlassen, was die Ergebnisse der Studie beeinträchtigt. 

    Informationskokon

    Ein weiterer Faktor, den Bikanow anführt: Die meisten Belarussen befinden sich heute im Informationsraum der staatlichen belarussischen und der russischen Medien. Die Konfliktparteien leben in unterschiedlichen medialen Blasen: Die „überzeugten Regierungsanhänger“ sind hauptsächlich Konsumenten der staatlichen Medien, während die „überzeugten Regierungsgegner“ vorwiegend nichtstaatliche Medien nutzen.

     

     

    Das ergibt sich aus der Säuberung des Mediensektors: In den vergangenen drei Jahren hat die Regierung der Bevölkerung den Zugang zu unabhängigen Medien aktiv versperrt, besonders zu jenen, die über Politik berichten. Gleichzeitig werden verstärkt die eigenen und die russischen Narrative verbreitet, die – das sehen wir jetzt – höchst destruktive Auswirkungen auf die Gesellschaft haben.

    Mangel an Empathie

    Ein Aspekt der Studie verdient besondere Aufmerksamkeit. Hier gibt es Grund zur Sorge.Die Studien vergangener Jahre haben gezeigt, dass die „überzeugten Regierungsanhänger“ und die „überzeugten Regierungsgegner“, die höchst unterschiedliche Ansichten zur Weiterentwicklung des belarussischen Staates haben, eine starke gegenseitige Abneigung hegen. Diese geht so weit, dass Kontakt vermieden wird. Dabei blieb diese Frage jedoch unbeantwortet: Wie tief geht diese Abneigung, und betrifft sie nur die politischen Meinungsunterschiede?

    Die Forscher wollten überprüfen, wie schwer es Anhängern und Gegnern der Regierung fällt, Empathie und Mitgefühl für politische Opponenten zu bekunden. Empathie wurde in dieser Studie als Verständnis für das Unglück eines anderen Menschen definiert, und als Einfühlungsvermögen aus dem Bedürfnis heraus, die Leiden des Anderen vermindern zu wollen.

    Es scheint, dass die Vertreter der beiden politischen Pole in geringerem Maße bereit sind, mit jemandem mitzufühlen, der in eine schwierige Lage geraten ist, wenn dieser der jeweils anderen Gruppe angehört. Das gilt übrigens unabhängig von der Art der schwierigen Situation, sei es eine politisch motivierte Entlassung oder eine Alltagssituation wie eine Erkrankung.

    Mit der Zeit wird es immer schwieriger werden, auf einen konstruktiven Dialog zwischen den beiden Polen zu hoffen

    Die Soziologen konstatieren, dass die gesellschaftspolitische und  identitätsbezogene Spaltung auch von einer psychologischen unterfüttert wird. In dieser Hinsicht bilden die Vertreter der „überzeugten Regierungsgegner“ und der „überzeugten Regierungsanhänger“ die Protagonisten dieses heftigen gesellschaftlichen Konflikts. Sie zeigen die geringste Empathie füreinander. Auch wenn sie den eigenen Leuten gegenüber sehr empathisch sind. Wobei die „überzeugten Regierungsgegner“ sowohl gegenüber den Eigenen wie auch gegenüber einer außenstehenden Gruppe etwas empathischer sind als die „überzeugten Regierungsanhänger“.

    Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass ein Dialog zwischen den beiden Gruppen praktisch unmöglich ist. Die „überzeugten Regierungsanhänger“, die ihre Gegner nicht verstehen, werden wohl dazu neigen, den „Fremdlingen“ sofort mit Aggression zu begegnen. Und die „überzeugten Regierungsgegner“, bei denen die Unterstützung für die eigenen Leute am größten ist, und die zusammenhalten, wenn sie angegangen werden, sehen sich genötigt, bei ihrem Kurs zu bleiben und sich zu verteidigen.

    Die gemäßigten Gruppen sind erheblich empathischer gegenüber Menschen mit gegenteiligen Standpunkten. Somit ist ein aktiver gesellschaftlicher Dialog anscheinend nur zwischen den Gemäßigten möglich, weil sie ungefähr in gleichem Maße mit der eigenen und der anderen Gruppe mitfühlen. Gleichzeitig äußern auch die „Sowjetischen“ und “die „[National]bewussten” – ganz wie die „überzeugten Regierungsgegner“ und die „überzeugten Regierungsanhänger“ – gegenüber einer fremden Gruppe weniger Mitgefühl, Verständnis und empathische Regungen.

    Die Polarisierung der belarussischen Gesellschaft beunruhigt die Soziologen. Das Vorgehen der Regierung und ihrer Propagandisten, das die Belarussen auseinanderbringen soll, bleibt nicht ohne Wirkung. Dadurch wird die identitätsbezogene Konfrontation der beiden nationalen Ideen zu einem Faktor, der sogar auf der Empathie-Ebene wirkt.

    In Belarus sind zwei unversöhnliche Lager entstanden. Für die „sowjetischen“ Anhänger der Regierung würden politische Veränderungen ebenso ein Trauma bedeuten, wie die aktuelle Stagnation und die Repressionen für die „[National]bewussten” und die Verfechter der nationalromantischen Idee ein Trauma darstellen. Diese Eisschollen werden wohl weiter auseinanderdriften. Mit der Zeit wird es immer schwieriger werden, auf einen konstruktiven Dialog zwischen den beiden Polen zu hoffen. Die Lösung dieses Problems wird wohl eine der wichtigsten Aufgaben sein, die die derzeitige Situation im Land für die gesamte Gesellschaft ergibt. Die Frage ist äußerst weitreichend: Schließlich könnte die ideologische Konfrontation der beiden nationalen Ideen sehr wohl blutig enden.

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  • „Das Imperium muss sterben“

    „Das Imperium muss sterben“

    Belarus ist nahezu vollständig aus der Diskussion um den russischen Krieg gegen die Ukraine verschwunden. Dabei ist das Schicksal des Landes eng mit dem Ausgang des Krieges verbunden. Die demokratische belarussische Opposition hat im Dezember 2023 ein lang angekündigtes Strategiepapier vorgelegt, in dem sie verschiedene Szenarien für einen Regimewechsel formuliert. Ausgehend von der Annahme, dass Russland den Krieg verliert oder in seinen Handlungsmögichkeiten stark eingeschränkt wird. 

    Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski hat sich das Papier für das Online-Medium Pozirk genau angeschaut – und er fragt sich, ob ein Machtwechsel in seiner Heimat tatsächlich unausweichlich ist, wenn Russland im Zuge des Krieges entscheidend geschwächt wird.

    Im Dezember, kurz vor Jahresende, haben die demokratischen Kräfte um Swetlana Tichanowskaja endlich einen Strategieentwurf für den Übergang zu einem neuen Belarus vorgelegt. In dem Dokument wird umrissen, wie der Staat neu geordnet werden soll, wenn die demokratischen Kräfte an die Macht kommen. Für jene, die sich Veränderungen herbeisehnen, ist aber vielmehr die Frage wichtig, wie die derzeitige Tyrannei zu beenden wäre, damit der Weg in diese lichte Zukunft beschritten werden kann. Diese Frage wird jedoch nur sehr spärlich in Anhang 1 des umfangreichen Dokuments behandelt. Vier denkbare Szenarien werden skizziert.

    Ist ein Dialog zwischen Opposition und Regime überhaupt denkbar?

    1. Gehen wir die Szenarien einmal durch. Das erste geht davon aus, dass „Russland durch den Krieg geschwächt wird und dann nicht mehr in der Lage ist, Belarus im gleichen Maße wirtschaftlich, militärisch und politisch zu unterstützen“. Dadurch würde sich in Belarus die soziale und wirtschaftliche Lage verschlechtern. Die Nomenklatura würde versuchen, „Verhandlungen mit den Ländern des Westens und den demokratischen Kräften aufzunehmen, um ein Ende der Sanktionen und eine Wiederaufnahme der Beziehungen zu erreichen“. Es würde ein nationaler runder Tisch eingerichtet und eine Übergangsregierung gebildet, zu der laut dem Szenario Vertreter der Nomenklatura wie auch der demokratischen Kräfte gehören würden.

    Hier stellt sich umgehend die Frage, ob es die Nomenklatura eilig haben wird, diejenigen zum runden Tisch einzuladen, die jetzt verächtlich als „Abtrünnige“ bezeichnet werden, und sie zudem noch an der Macht zu beteiligen. Die Einführung wie auch die Aufhebung der Sanktionen hängt in erster Linie von den Staaten des Westens ab. Die belarussische Opposition hat hierauf nur einen sehr mittelbaren Einfluss. Somit wäre wohl eher ein Deal mit den Führungen westlicher Staaten wahrscheinlich. Die Vertreter des Regimes dürften dabei eher auf Realpolitik setzen und versuchen, eine Demokratisierung zu vermeiden.

    Es hat zwar auch 1989 in Polen einen runden Tisch zwischen der kommunistischen Regierung und der Gewerkschaft Solidarność gegeben. Doch stellte die Solidarność da eine einflussreiche Kraft dar. Das damalige Regime dort wurde durch wirkungsmächtige Streiks erschüttert.

    In Belarus sind die Schrauben heute derart fest „angezogen“, dass nicht einmal eine individuelle Mahnwache möglich ist. Ganz zu schweigen von einem Massenstreik. Der ist undenkbar. Die oppositionellen Kräfte sind – anders als die Solidarność – ins Ausland verdrängt worden. Sie können kaum auf die Situation im Land einwirken, wo die Bevölkerung zunehmend entpolitisiert wird.

    Wie wahrscheinlich ist ein Volksaufstand?

    2. Das zweite Szenario geht davon aus, dass in Russland nach einer Niederlage im Krieg gegen die Ukraine ein Regimewechsel erfolgt: „Russland ist durch den Krieg und die Sanktionen erschöpft, und es kann sich nicht mit Belarus befassen“. Auch hier würde sich in Belarus die soziale und wirtschaftliche Lage drastisch verschlechtern, Streiks würden aufflammen und sich ausbreiten, was zu Zusammenstößen mit Truppen des Innenministeriums führen würde. Das Militär würde jedoch „seine Neutralität wahren“, „in den Sicherheitsstrukturen“ würde „eine Spaltung erfolgen“, Protestierende würden die Präsidialadministration und andere Objekte der kritischen Infrastruktur stürmen. Alexander Lukaschenko würde „entweder verhaftet oder ins Exil fliehen“.

    Auch dieses Szenario wirft viele Fragen auf. Die Angst vor Repressionen ist jetzt in Belarus derart groß, dass es selbst bei einem beträchtlichen Absacken des Lebensstandards nicht viele sein werden, die sich den Schlagstöcken der OMON entgegenstellen. In Nordkorea ist das Leben mehr als aussichtslos, und dennoch probt die Bevölkerung nicht den Aufstand. Und Lukaschenkos Regime bewegt sich jetzt in Richtung Nordkorea.

    Darüber hinaus sind die Sicherheitskräfte gut ausgebildet und ausgerüstet. Viele, besonders die mit Blut an den Händen, sind überzeugt, dass sie nach einem Machtwechsel vor Gericht landen (oder gar das Ziel von Selbstjustiz) würden. Sie würden erbittert um ihr Schicksal und das ihrer Familien kämpfen.

    Und wenn die Armee, die schon 2020 an den Repressionen beteiligt war, nicht neutral bleibt? Lukaschenko hatte ja seinerzeit Schützenpanzer vor seinem Palast auffahren lassen und gezeigt, dass er bereit ist, auf Menschenmassen zu schießen. Und dass er nicht das Land verlassen werde, wie einst Janukowitsch die Ukraine. Der Ausgang eines solchen hypothetischen Maidan in Belarus ist also keineswegs ausgemacht.

    Und wer sagt schließlich, dass nach einem Machtwechsel in Russland ein Liberaler oder Friedenswilliger in den Kreml einzieht? Was wäre, wenn dann ein völlig archaischer Imperialist an die Macht kommt, der beschließt, den Misserfolg in der Ukraine durch einen Anschluss von Belarus wettzumachen?

    Was, wenn Belarus die Unabhängigkeit tatsächlich an Moskau verliert?

    3. Das dritte Szenario geht davon aus, dass Lukaschenko – aus welchem Grund auch immer – nicht mehr das Präsidentenamt ausüben kann (wegen schwerer Krankheit oder durch sein Ableben) und sein aus der Nomenklatura stammender Nachfolger angesichts der Last der ererbten Probleme eine Deeskalation im Verhältnis zum Westen und einen Systemwandel unternimmt. Hierbei wird vorausgesetzt, dass „Russland durch den Krieg geschwächt ist und nicht mehr das volle Repertoire seiner Instrumente einsetzen kann, um auf Belarus einzuwirken“.

    Aber halt! Wenn nun aber Lukaschenko stirbt und Russland noch stark genug ist? Und was, wenn der Nachfolger prorussisch gesinnt ist und beschließt, sich der ererbten Probleme dadurch zu entledigen, dass die Reste der belarussischen Souveränität einfach dem Kreml übertragen werden?

    4. Das vierte Szenario postuliert, dass „die belarussische Armee sich unmittelbar und auf Seiten Russlands an dem Krieg in der Ukraine beteiligt und auf ukrainisches Territorium vorrückt“. Dann werde es Lukaschenko voll erwischen: „Ukrainische Truppen würden, mit belarussischen Freiwilligenverbänden an der Spitze, nach Belarus einmarschieren“, und die Zerschlagung des Regimes wäre dann nur noch eine Frage der Technik.

    Mag sein, doch bislang hat es der belarussische Herrscher erfolgreich verstanden, eine direkte Beteiligung seiner Streitkräfte am Krieg zu vermeiden. Und es ist ja nicht so, dass Putin ihm deswegen an die Kehle geht. Im Gegenteil: Moskau ist so großzügig wie noch nie. Das heißt, es ist zufrieden mit den anderen Diensten seines Verbündeten.

    Wie gefällt Ihnen diese Variante: Lukaschenko schließt sich der „militärischen Spezialoperation“ Russlands symbolisch in einer Phase an, in der Kyjiw am Rande einer Niederlage steht, nicht die Kraft zu einer Gegenoffensive hat und die beiden Verbündeten dann gemeinsam ihre Ziele erreichen?

    Die Opposition hat kaum Einfluss auf das Geschehen 

    Ich kritisiere natürlich bewusst an diesen Szenarien herum, um aufzuzeigen, dass sie alle viel zu glatt sind und auf einer Menge Annahmen beruhen, die für die Regimegegner günstig sind. Es mag ja tatsächlich zu dieser Verkettung von Umständen kommen. Allerdings wäre es besser, von Anfang an auch höchst wahrscheinliche negative Hindernisse zu berücksichtigen.

    Es fällt auf, dass sämtliche Szenarien mehr oder weniger auf der Annahme beruhen, dass Russland durch den Krieg geschwächt sein wird oder überhaupt eine Niederlage erleidet, also kurz gesagt, dass es sich überhaupt nicht mit Belarus befassen kann. Der Krieg ist jetzt aber in einer Phase, in der sich – seien wir ehrlich! – viele bereits fragen, ob die Ukraine standhalten wird. Also verdüstert sich die Aussicht auf ein Fenster der Möglichkeiten für einen Wandel in Belarus noch stärker.

    Es stimmt zwar, dass sich die Lage in einer für die demokratischen Kräfte günstigeren Richtung verändern kann. Doch rechnen all diese Szenarien vor allem mit externen Faktoren wie etwa großen Erfolgen der Streitkräfte der Ukraine, einer durchschlagenden Wirkung der westlichen Sanktionen usw. Die demokratischen Kräfte können diese Faktoren aber nur unwesentlich beeinflussen. Es liegt auf der Hand, dass das Büro von Tichanowskaja die ukrainischen Streitkräfte nicht mit Storm Shadow-Raketen, Patriot-Systemen oder mit F-16 versorgen kann. Der Westen verhängt seine Sanktionen nach eigenem Gutdünken, flammende Aufrufe des Leiters des Nationalen Anti-Krisen-Management, Pawel Latuschka, spielen da keine große Rolle. Und es ist heute erkennbar, dass der Westen nicht in der Lage ist, Sanktionen gegen die [russische – dek]  Atomwirtschaft durchzusetzen.

    Hier ist zu erwähnen, dass auch Vertreter des Kalinouski-Regiments versuchen, eine Strategie zur Befreiung von Belarus zu entwickeln. Die Konferenz, die Ende November in Kyjiw stattfand, hat diese Aufgabe nicht bewältigt. Es wurde lediglich beschlossen, eine Arbeitsgruppe zur Entwicklung einer Strategie einzurichten. Auch das Kalinouski-Regiment macht keine großen Sprünge. Es gibt zwar die belarussischen Freiwilligen dort, doch ist es ein Teil der ukrainischen Streitkräfte. Kyjiw hat derzeit nicht Absicht, gegen Lukaschenko zu kämpfen, solange dieser nicht selbst vorrückt.

    Wenn der Rückhalt durch den Kreml tatsächlich bröckelt

    Mit der Präsentation der Strategie für den Übergang zu einem neuen Belarus hat sich Tichanowskajas Team deutlich Zeit gelassen. Logischer wäre es gewesen, dieses Werk auf der Konferenz Neues Belarus 2023 im August vorzustellen. Dort wurden aber lediglich einige Deklarationen verabschiedet. Gleichzeitig muss man verstehen, dass es grundsätzlich nicht möglich ist, sich eine Wunder wirkende Strategie einfach aus den Fingern zu saugen.

    Putin und Lukaschenko sitzen derzeit fest im Sattel und feiern (wenn auch eindeutig zu früh). Die russische Wirtschaft hat den Schlag der Sanktionen überstanden und ist eine Stütze für die belarussische Volkswirtschaft. Die russischen Streitkräfte gehen in der Ukraine zum Gegenangriff über, während der Westen Zeichen der Ermüdung offenbart, was die Unterstützung der Ukraine angeht. Mehr noch: Ein Teil der westlichen Politiker möchte nicht, dass der Kreml eine ernste Niederlage erfährt, weil sie einen Zerfall Russlands und eine Verbreitung von Atomwaffen befürchten.

    Auch dem Westen geht es letztendlich nicht um Belarus

    Die Welt befindet sich heute in der dramatischen Phase einer Konfrontation der Autokratien mit den Demokratien. Die genannten Szenarien der demokratischen Kräfte gehen davon aus, dass es Russland nicht mehr um Belarus geht. Wir können es aber offen aussprechen: Auch dem Westen geht es letztendlich nicht um Belarus.

    Die demokratischen Kräfte sollten einerseits – geb’s Gott – dafür sorgen, dass die belarussische Frage auf der Agenda des Westens bleibt. Andererseits sollten sie wenigstens irgendein Interesse der protestbereiten Bevölkerung für sich wecken. Es wäre gut, wenn sich die politisch motivierten Emigranten nicht untereinander überwerfen und sich endgültig marginalisieren würden, wenn die demokratischen Kräfte sich die nötigen Ressourcen zum Selbsterhalt sichern sollten, damit ihre Mission zur Stunde X denn erfüllt werde. Zudem ist es wichtig, nicht in ein klischeehaftes Pathos zu verfallen, dessen bereits viele Anhänger eines Wandels müde sind.

    Wenn denn die Zeit eines Wandels anbricht, so werden sich zweifellos Führer finden, und das können ganz neue Leute sein. Aber sonst: Es wühlt sich der Maulwurf durch die Geschichte. Lukaschenko hat zwar die Kontrolle über die Gesellschaft verloren und das Land eingefroren. Bislang steht der Kreml hinter ihm. Das Regime zu zerstören ist kaum denkbar. Es ist ein Fest der Finsternis; das Böse könnte länger dauern.

    Russland wird wohl früher oder später den Weg anderer Imperien gehen. Die Herausforderung, die Putin dem Westen entgegenschleudert, ist abenteuerlich. Sie verdammt Russland zum Niedergang und ist für den Kreml letztlich tödlich. Das Imperium muss sterben. Wichtig ist, dass für Tichanowskaja und ihr Team ein antiimperiales Narrativ zum Axiom wird.

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  • Bilder vom Krieg #17

    Bilder vom Krieg #17

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Dominik Butzmann

    Die Treppenaufgänge im Präsidentenpalast sind mit Sandsäcken gesichert. Wolodymyr Selensky betritt den Raum. / Fotos © Dominik Butzmann
    Die Treppenaufgänge im Präsidentenpalast sind mit Sandsäcken gesichert. Wolodymyr Selensky betritt den Raum. / Fotos © Dominik Butzmann

    dekoder: Diese Fotos sind während des Besuchs von Außenministerin Annalena Baerbock beim ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky im September entstanden. Aber der Moment, der Ihnen von dieser Reise am stärksten in Erinnerung geblieben ist, den haben Sie nicht fotografiert. Was war das?

    Dominik Butzmann: Wenn man mit einer ausländischen Delegation den Präsidentenpalast in Kyjiw besuchen will, durchläuft man mehrere Sicherheitskontrollen. Alle Aufgänge sind mit Sandsäcken gesichert, es ist dunkel, nur im Innersten des Palastes brennt Licht. Bei einer der Kontrollen hatte ich meine Kamera gerade in eine dieser Plastikwannen gelegt, in denen sie durch den Scanner fährt. Da fiel mir ein Sicherheitsmann auf, der neben dem Gerät stand: vielleicht 50 Jahre alt, grüne Uniform, helle, sehr klare Augen. Er musterte die Besucher und ich musterte ihn. Ich gucke ja die ganze Zeit, auch wenn ich gerade nicht fotografiere. Ich stelle meine Antennen auf, um zu merken, wenn irgendwo etwas passiert oder die Atmosphäre sich verändert. Wenn ich im Blick habe, welche Gefühle im Raum sind, kann ich reagieren und gegebenenfalls eine andere Perspektive wählen oder eben ganz schnell ein Bild machen. Also scannte ich die Leute und er scannte die Leute. Und dann guckte er so beiläufig auf sein Telefon und zuckte plötzlich zusammen wie unter einem Krampf. Offenbar hatte er die Vorschau einer SMS gelesen. Sein Gesicht wurde bleich, er schüttelte den Kopf und kämpfte sichtlich mit den Tränen. Er muss irgendetwas Schreckliches gelesen haben.

    Wie haben die Umstehenden reagiert?

    Die anderen Uniformierten haben ihn angeguckt und in ihren Gesichtern konnte man sehen: Die wissen, was ihm gerade passiert. Die haben tief eingeatmet und dann weiter ihre Arbeit gemacht. Aber es war deutlich, dass die alle solche Momente kennen. Weil im Krieg jeder jederzeit mit schlimmen Nachrichten rechnet. Solche Momente passieren wahrscheinlich täglich hundertfach in ukrainischen Familien, aber hier war ich auf einmal ganz unerwartet Zeuge.

    Hätten Sie diesen Moment gern fotografiert?

    Nein, auf keinen Fall. 

    Aus Pietät? 

    Ja, natürlich. Aus Pietät. Ich bin kein Kriegsfotograf. Ich habe wenig Erfahrung damit, welche Rolle Pietät spielen sollte in Situationen, in denen Menschen sterben oder in denen Angst vor dem Tod auftritt. Ich mache Politikfotografie, da erlebt man auch viele Dramen und viel Stress und Menschen, die unter Druck stehen. Aber das ist nicht vergleichbar. Außerdem lag meine Kamera ja in dieser Schale vor diesem Menschen. Wenn ich die rausgenommen und fotografiert hätte, hätte ich mehrere Regeln gleichzeitig gebrochen: Erstens fotografiert man Sicherheitsstrecken grundsätzlich nicht. Und wenn ich dann die Kamera hochnehme und fotografiere, könnte das als aggressiver Akt empfunden werden. Erst recht, wenn die Person in einer emotional offensichtlich belastenden Situation ist. Das wäre eine Grenze, die ich auf keinen Fall überschritten hätte. 

    Ist Ihnen auch an den Personen, die sie fotografieren, aufgefallen, wie der Krieg sie verändert hat?

    Im April war ich dabei, als Robert Habeck zusammen mit Wolodymyr Selensky den Keller einer Schule besichtigt hat, in dem sich in der ersten Phase des Krieges Kinder über lange Wochen versteckt hatten. Während Habeck und Selensky sich die Zeichnungen ansahen, die die Kinder in dieser Zeit an die Kellerwände gemalt hatten, habe ich Selenskys Gesicht fotografiert. Da sieht man, wie unfassbar müde er ist und dass er schon gar nicht mehr weiß, was er fühlen soll. Er wirkt wie versteinert. Robert Habeck sah auch verändert aus, als er aus diesem Keller kam. Mich beschäftigen diese stillen Zeugnisse der Gewalt bis heute.

    Lassen sich solche Emotionen überhaupt in Bilder fassen?

    Ja. Ich glaube, es sind tausende solcher Geschichten wie die von dem Mann, der eine schlimme Nachricht erhält, die so einen Krieg ausmachen. Tausende kleiner Situationen, die als innere Bewegung stattfinden und erst später äußerlich sichtbar werden. Bei meinen Portraits, also in konzentrierten, bilateralen Situationen, sehe ich es als größte Herausforderung, diese inneren Bewegungen abzubilden. Um so einen Krieg in Bilder zu fassen, muss man, denke ich, immer mit den Menschen sprechen. Deshalb finde ich es so wichtig, dass schreibende Journalisten und Fotografen als Team losgehen.

    Fotos: Dominik Butzmann / Photothek Media Lab
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht: 05.01.2024

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  • Gaunersprache im Kreml

    Gaunersprache im Kreml

    Mit den immer gravierenderen Verstößen gegen Menschen- und Völkerrecht in Russland ging in den vergangenen Jahren auch eine Verrohung der Sprache und der Umgangsformen der politischen Elite einher. Selbst Diplomaten verwenden heute Formulierungen, die ursprünglich aus der kriminellen Unterwelt stammen. Wladimir Putin brüstet sich damit, in seiner Jugend selbst ein Rowdy gewesen zu sein. Nicht zuletzt in Verbindung mit einer populären Streaming-Serie wurde zuletzt wieder viel über die Kultur gewalttätiger Jugendgangs diskutiert, deren Mitglieder sich selbst als Pazany bezeichnen. Sie handeln nicht nach dem Gesetz, sondern nach einem eigenen Kodex, po ponjatijam. Dort zählen allein Stärke und Skrupellosigkeit, Nachgeben ist ein Zeichen von Schwäche, wer sich entschuldigt, hat verloren. Die Soziologin und Kriminologin Svetlana Stephenson von der London Metropolitan University hat die Entstehung solcher krimineller Jugendgangs in den 1980er Jahren der Sowjetunion erforscht und in ihrem Buch Gangs of Russia beschrieben. In einem Beitrag für das Online-Magazin Holod erklärt sie, wie Sprache und Umgangsformen dieser kriminellen Subkultur Eingang in die russische Politik fanden.

    Ein Anführer darf keine Schwäche zeigen. Er muss bereit sein, mit allen Mitteln um die Macht zu kämpfen. Szene aus der Serie Slowo pazana / © Rostelecom
    Ein Anführer darf keine Schwäche zeigen. Er muss bereit sein, mit allen Mitteln um die Macht zu kämpfen. Szene aus der Serie Slowo pazana / © Rostelecom

    Ein Paradox im öffentlichen Auftritt der russischen Staatsmacht ist der Graben zwischen den Beteuerungen über Russlands Größe, seine Geschichte, Kultur und Moral einerseits, und dem Straßenbanden- und Knastsprache, die eben jene Staatsmacht oft und gern verwendet. Wobei ausgerechnet Personen diesen Kreml-Fenja verwenden, die selbst nicht in der Gosse aufgewachsen sind, sondern ganz im Gegenteil in gebildeten, ja geradezu elitären Kreisen ihre Erziehung genossen.

    Die Hinwendung dieser „Elite“ zur Sprache der Hinterhöfe und Gefängnisse begann allerdings nicht in den 1990ern, in denen der Einfluss der Kriminalkultur auf die Gesellschaft seinen Höhepunkt erreichte. Damals wurden Film und Literatur von der düsteren Tschernucha überschwemmt, und aus jedem Radio dudelten Lieder aus der Lagerfolklore. Doch Jelzin (wie auch seine Vorgänger) und sein Umfeld benutzten keinen Gefängnisjargon, wenn sie sich an die Bevölkerung oder ausländische Amtskollegen wandten. Zur Staatssprache wurde Kreml-Fenja erst unter Putin. Die Gewalt der Straße, die in den 1990ern blühte, wurde von staatlicher Gewalt abgelöst, die sich der Sprache der Hinterhöfe und der Unterwelt bedient.

    Die Elite spricht eine Sprache der Drohungen und Erniedrigungen

    Begonnen hat diesen Trend Putin, der mit stolzer Brust seine Kindheit im Sankt Petersburger Hinterhof heraufbeschwört. Im Gespräch mit den Verfassern seiner ersten Biografie Aus erster Hand erzählte er: „Ich war ja ein Rowdy, kein Pionier […] Ich war eigentlich ein Rabauke.“ Die Sprache der Straße, der Drohungen und Erniedrigungen („im Klo abmurksen“, „wer uns beleidigt, überlebt keine drei Tage“), die Vorstellung von Gewalt als Beziehungsgrundlage („wir haben Schwäche gezeigt, und Schwache kriegen Prügel“, „wenn eine Schlägerei unvermeidbar ist, schlag als erster zu“) – all das gehört mittlerweile zu dem Stil, den die Entourage des Präsidenten an den Tag legt. 

    Seit Jahren bedienen sich die russische Führung und die Kreml-Propaganda des Gaunerjargons. Erinnern wir uns etwa daran, wie Viktor Solotow, der Befehlshaber der Nationalgarde, Alexej Nawalny eine otwetka (dt. wörtl. „eine kleine Antwort“) in Aussicht stellte, als dieser ihn der Korruption bezichtigte. Kürzlich lieferte sich der bekannte Moderator Wladimir Solowjow einen Schlagabtausch mit dem Gouverneur der Oblast Swerdlowsk, Jewgeni Kujaschew, in einem Jargon, der wörtlich ins Deutsche übertragen etwa so klingen würde: „Schlägst du mir etwa einen Uhrzeiger ein, Gouverneur?“ (was so viel heißt wie: Willst du mir etwa vorschreiben, wann wir uns treffen?). Worauf dieser den Moderator ermahnte: „Passen Sie auf, was Sie da sagen.” Was ähnlich klang wie der Jargon-Ausdruck: „Passen Sie auf, was Sie da zum Basar tragen.” Was so viel heißt wie: Seien Sie bloß vorsichtig.

    Als der Schanson-Sänger Alexander Nowikow daraufhin Solowjow in noch ausgefeilterem Fenja den Marsch blies, bewies das einmal mehr, dass mittlerweile Gouverneur und Staatspropagandist und Schanson-Sänger denselben Kriminaljargon sprechen.

    Wenn der Außenminister, an die internationalen Regierungschefs gewandt, sagt: „Der Pazan hat’s gesagt, der Pazan hat’s getan“, wenn der Fernsehmoderator mit einem Eimer Kot ins Studio kommt und droht, ihn über seinen Opponenten zu kippen, und der UNO-Botschafter des Landes sein Gegenüber harsch auffordert: „schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!“, dann fühlen wir uns wie in einem schlechten Gangsterfilm.

    Ein Befreiungsschlag gegen den Anstand 

    Der Einsatz von Redewendungen aus dem Knast und aus der Gosse und generell die saloppen Verhaltensweisen haben etwas Karnevaleskes, einen Show-Effekt, sie wirken wie ein erleichternder Befreiungsschlag gegen den Anstand. Allerdings ist die Karnevalskultur, wie der Philologe Michail Bachtin schrieb, traditionell eine niedere, eine Volkskultur. Hier jedoch haben wir es ganz deutlich mit karnevaleskem Verhalten von Angehörigen des Establishments zu tun, die öffentlich und genüsslich gesellschaftliche Normen übertreten. Und wenn die Lachkultur des Volkes auf Tollerei beruht, die die Ketten der Kontrolle und Unterdrückung durch die Machthaber sprengt, so ist der Karneval der Machthaber ein Fest des Todes, der Gewalt und Unterwerfung. Dem Eros des Volkes, der Leben hervorbringt, stellt sich der Thanatos der Macht entgegen.           

    Ein auf brutaler, überbordender Gewalt basierendes Verhalten hat tatsächlich viel mit dem Verhalten gemein, das in dem Milieu üblich ist, in dem „echte Pazany“ am Werk sind, Mitglieder von Straßenbanden. Da der Pazan der Souverän seines Territoriums ist, ist er dem ungeschriebenen Gesetz der Straße folgend – po ponjatijam – immer im Recht. Was auch immer er getan hat, selbst wenn es keine Absicht war, irrtümlich, aus Dummheit oder so genannter Willkür (wenn also die Gewalt durch nichts zu rechtfertigen ist) – er muss darauf bestehen, im Recht zu sein. Unter keinen Umständen darf er sich entschuldigen.   

    Dieser Regel folgt ganz offensichtlich auch die russische Regierung (erinnern wir uns an die abgeschossene Boeing der Malaysia Airlines und an all die Versionen von „wir sind dort nicht“, [mit dieser Formulierung wurde nach 2014 der Einsatz russischer Soldaten im Donbass geleugnet – dek]). Das Eingeständnis einer Schuld bedeutet Gesichtsverlust, daher werden alle Vorwürfe sofort zurückgewiesen. Sogar da, wo es im eigenen Interesse gelegen hätte, die Situation zu entschärfen – wie zum Beispiel nach Lawrows ungeheuerlichen Äußerungen über Hitlers jüdische Wurzeln und antisemitische Juden –, blieb das Außenministerium noch eine Weile bei dieser These und beschuldigte Israel, in der Ukraine Neonazis zu unterstützen. Dass Putin sich beim israelischen Premierminister entschuldigte, ist eine große Ausnahme und auf existenzielle Interessen eines Regimes zurückzuführen, das einen Verbündeten braucht. Zudem erfolgte die Entschuldigung heimlich: Dass der russische Präsident mit Naftali Bennett telefoniert hatte, wurde nicht aus dem Kreml berichtet, sondern aus Israel. 

    Angegriffen werden nur Schwächere

    Das Wort des Pazans hat sofortige und unmittelbare Gültigkeit. Er darf keine leeren Drohungen aussprechen. Wenn Putin der Welt mit Atomwaffen droht, dann behauptet er durchaus po ponjatijam: „Wir spucken keine großen Töne, wir tun das, und fertig.“ Wem die Banditenlogik fremd ist, dem erscheint eine solch bedingungslose Entschlossenheit, wenn es um Leben und Tod von Millionen Menschen geht, moralisch unmöglich. Aber po ponjatijam ist alles ganz einfach: Ein Pazan darf nicht nur mit der Waffe herumprahlen, sonst riskiert er einen Gesichtsverlust. Sobald er sie zeigt oder auch nur erwähnt, muss er auch bereit sein, sie einzusetzen. 

    Steht ein Pazan jedoch ganz unerwartet auf der Straße einer überlegenen Gruppierung gegenüber oder gerät in eine Schießerei, so verhält er sich ganz anders. Er fängt an zu bluffen: Er tut, als erwarte er jeden Moment Verstärkung, beult seine Taschen aus, um gar nicht wirklich vorhandene Waffen vorzutäuschen. Auf solche Bluffs ist man hinterher unheimlich stolz, sie finden genauso wie Geschichten über Straßenkämpfe und Massenschlägereien Eingang in die Bandenfolklore. Einer stärkeren Bande erklärt niemand absichtlich den Krieg – man greift immer nur scheinbar Unterlegene an. Zusammenstößen mit überlegenen Gegnern versucht man lieber auszuweichen.   

    Eine Konfrontation auf der Straße beginnt oft mit der Forderung: „Schau mich gefälligst an!“ (Oder auch umgekehrt: „Was glotzt du mich so an?“) Auf diese Weise ergreift ein Pazan die Initiative und demonstriert, dass er es ist, der die Regeln der Interaktion bestimmt. Nur wer ein Pazan ist, hat einen Namen und ist den anderen ebenbürtig. Wer zu keiner Bande gehört, zu keinem Clan, keine Macht hinter sich hat, der ist ein namenloser Niemand. Deswegen nimmt Putin auch Nawalnys Namen nicht in den Mund, weil er ihn damit als ebenbürtig anerkennen würde. 

    Ein Anführer in diesem Milieu muss ständig seine Macht und Stärke demonstrieren 

    Bei unseren Recherchen zur organisierten Kriminalität in Kasan fasste ein Bandenmitglied die Ordnung innerhalb der Bande im Interview so zusammen: „Der Anführer muss ein harter, selbstsicherer Mann sein, der die Macht liebt und bereit ist, mit allen Mitteln darum zu kämpfen.“ Schwäche zu zeigen oder die Gruppe durch Kämpfe mit Gegnern zu schwächen, kann für den Anführer den Verlust seiner Macht oder sogar seines Lebens bedeuten. 

    Anführer und Autoritäten, die sich von Straßenbanditen zu Bossen krimineller Vereinigungen hochgekämpft haben, müssen auf jede erdenkliche Art ihre Macht demonstrieren: mit Brutalität, Unberechenbarkeit und Grobheit, um nicht nur Gegnern Angst einzujagen, sondern auch den Respekt seiner eigenen Mitstreiter zu verdienen. Während der allseits bekannten Versammlung des russischen Sicherheitsrats am Tag vor der Invasion in die Ukraine spielte Putin den skrupellosen Mafiaboss, der in seinem Umfeld keine Zweifel duldet und über Leichen geht. 

    Auch gemäßigtere Autoritäten machen demonstrativ harte Ansagen, um weiterhin zur herrschenden Elite zu gehören. Zum Beispiel Ex-Präsident Dimitri Medwedew, der einst als liberal galt, jetzt aber den ukrainischen Gegnern rät, „sich nach allen Seiten gründlich umzusehen“, und überlegt, wie man „den [nach Westen orientierten] Sapadniki die Nasen in den Dreck stoßen“ könnte.

    Aus einer Bande kommt man nur sehr schwer ohne Verluste heraus. Wenn einer geht, wird er kollektiv „abgefertigt“, verprügelt, noch dazu wird ihm alles Geld abgeknöpft, das er angeblich der Gruppe schuldet. Manchmal enden solche „Abfertigungen“ mit schweren Verletzungen oder sogar dem Tod ehemaliger Mitglieder der Pazan-Bruderschaft. Dieses „Abschiedsritual“ veranschaulicht, dass die Einigkeit der Gruppe über der früheren Freundschaft und über geleisteten Verdiensten steht. Hier kann man Parallelen zu Vergeltungsaktionen sehen, die Mitgliedern der herrschenden Elite drohen, wenn sie beschließen „zu gehen“, auszuwandern oder es wagen, die Staatsmacht zu kritisieren. 

    Die Staatsspitze ist selbst zu einer quasi kriminellen Bande geworden

    Natürlich ist die Struktur des russischen Staates komplexer als die einer kriminellen Bande. Der Stil der Pazany und die entsprechende Verhaltenslogik der Regierung lässt jedoch auf ihre tiefgreifende Primitivisierung schließen. Insofern ist die Staatsspitze rund um Putin, die den Rechtsstaat und die gesellschaftlichen Institutionen zerschlagen hat, universelle moralische Normen großkotzig mit Füßen tritt und das soziale Gefüge zerstört, selbst zu einer quasi kriminellen Bande geworden.     

    Primitiv ist auch die russische Gesellschaft geworden. Die Sprache und die Praxis der Gewalt können ethische Inhalte nicht ersetzen, sie können keinerlei positives Programm liefern. Hinter dem barbarischen Karneval verbirgt sich Leere. Diese Leere beginnt allzu leicht der Faschismus auszufüllen, der einerseits das Böse und die Zerstörung verkündet, andererseits die Primitivität und Leere „mit intensivierter Vergeistigung und Moralismus“ stopft, wie Merab Mamardaschwili schrieb.

    Diesen Kult der nackten Gewalt hat die Staatsmacht mit einem Kult der Ahnen umgeben, mit der heiligen Geschichte, der ethnischen Exklusivität und in letzter Konsequenz dem Krieg. Aus primitiven, kriminellen, mafiösen Formen werden vor unseren Augen ultrarechte, faschistische Phänomene. 

    Derzeit ist schwer vorstellbar, wie und wann die Primitivisierung ein Ende findet und das Wachstum von sozialen Bindungen und institutionellen Beziehungen wieder einsetzt, die nicht auf ponjatija gründen und nicht allein aus Herrschaft und Unterdrückung bestehen. Aber eins ist klar – solange Krieg ist, müssen wir in den Abgrund der Verrohung blicken, der sich hinter dem jahrelangen Karneval der Gewalt aufgetan hat.

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    Die achtteilige Serie Slowo pazana war das Kulturereignis des Jahres in Russland, und auch ein enormer Erfolg in vielen Nachbarländern, in denen Russisch verstanden wird. Selbst in der Ukraine stand der Titelsong der Gruppe Aigel an der Spitze der Charts. Der Regisseur Shora Kryshownikow erzählt die Geschichte krimineller Jugendgangs in der Sowjetunion der 1980er Jahre. Unter Jugendlichen entstand in kürzester Zeit ein enormer Kult um die Serie, die auf der Plattform wink.ru gestreamt werden kann. Auf der Straße, in Cafés, in den Sozialen Medien, in der Staatsduma und in Propaganda-Talkshows wird über sie gesprochen. Allein im November wurde auf dem russischen Google-Pendant Yandex häufiger nach Slowo pazana gesucht als im gesamten Jahr nach Informationen zum Krieg in der Ukraine – das zeigt ein Vergleich der Suchanfragen, den das Onlinemedium Verstka durchgeführt hat.

    Nachdem Anfang Dezember im Gebiet Irkutsk ein 15-Jähriger von Gleichaltrigen getötet wurde, die dabei ein Zitat aus Slowo pazana verwendeten, wurden Forderungen laut, die weitere Ausstrahlung zu verbieten. In russischen Medien und im Internet wurde heftig debattiert, ob die Serie unterschwellige Kritik an den Verhältnissen in Russland übt, die von dieser kriminellen Bandenwelt geprägt sind, oder ob sie im Gegenteil im Sinne des Regimes ein Bild von der guten Staatsmacht zeichnet, die die Kriminalität bekämpft und sich rührend um Jugendliche kümmert, die vom rechten Pfad abkommen. Für die eine Lesart spricht zum Beispiel, dass die Sängerin des Titelsongs den Krieg in der Ukraine öffentlich mit deutlichen Worten verurteilt hat. Den Liebhaber einer Polizistin spielt ausgerechnet Iwan Makarewitsch, der Sohn des Musikers Andrej Makarewitsch, der wegen seiner kritischen Haltung zum Kreml und seiner Ablehnung des Krieges im Exil leben muss. Für die andere Lesart gibt es aber auch gewichtige Argumente. Nicht zuletzt wurde die Serie vom Institut zur Entwicklung des Internet gefördert, eine Organisation, die in staatlichem Auftrag eine patriotische Agenda vorantreibt und unter anderem auch den Z-Pop-Sänger Shaman und Militärblogger unterstützt hat. Die Redaktion von Holod hat Svetlana Stephenson gefragt, was an der Serie authentisch ist und was fehlt. Die Professorin für Soziologie und Kriminologie an der London Metropolitan University hat in ihrem Buch Gangs of Russia. From the Streets to the Corridors of Power die Geschichte der Straßengangs untersucht. Es war auch eine Inspiration für die Autoren der Serie.

     
    Wowa Adidas ist aus dem Krieg in Afghanistan heimgekehrt und führt jetzt eine Straßengang in Kasan an / Plakat: Rostelecom
    Wowa Adidas ist aus dem Krieg in Afghanistan heimgekehrt und führt jetzt eine Straßengang in Kasan an / Plakat: Rostelecom

    Der Erfolg der Serie Slowo pazana liegt in hohem Maße am Thema. Die kriminelle Kultur ist für Außenstehende eine verborgene Welt und macht allein deshalb schon sehr neugierig. Einerseits ist die Welt von Banden, Gangs und Mafia beängstigend; ein Verbrechermilieu, das unsere friedliche Existenz bedroht. Andererseits stellen sich viele diese Welt als eine Welt vor, in der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit herrschen und das Individuum sich in einer Gemeinschaft auflöst (selbst wenn das mit Kriminalität und Gewalt einhergeht).     

    Die Serie entführt die Zuschauer in ein von manchen schon fast vergessenes, von den meisten nie gekanntes Leben in einer sowjetischen Stadt in den 1980er Jahren. Gelungen ist die Vermittlung des schäbigen sowjetischen Alltags mit seiner ewigen Mangelwirtschaft und der stolzen Brühwurst auf dem Tisch, wo der Verlust der Pelzmütze zu einer echten Tragödie werden kann (weil sie Unsummen kostet und auch nirgendwo zu kriegen ist). Gut getroffen ist auch die unwirtliche urbane Landschaft, in der die jungen Protagonisten leben und um deren Straßenpflaster sie so verbissen kämpfen. Der Zuschauer spürt die feuchtkalten Straßen und Treppenhäuser regelrecht auf der Haut, er taucht ein in die Atmosphäre einer Zeit, in der es überall grob zugeht – vom harschen Ton der Verkäuferinnen bis zum erniedrigenden Umgang der Lehrerinnen und sogar der Putzfrauen mit den Schülern. Nur kleine Inseln der Kultur – Musikschulen – heben sich irgendwie von der allgegenwärtigen Gewalt ab, doch auch sie sind nicht in der Lage, ihre Schützlinge vor der magnetischen Anziehung der Straße zu bewahren. Dort gründen die Jungs ihre kriminellen Bruderschaften.        

    Diese Welt ist sehr glaubwürdig dargestellt. Als Expertin für Straßenbanden in Russland kann ich sagen, dass die Serie die Lebensweise und soziale Organisation der Kasaner Jugendgangs jener Zeit äußerst genau abbildet. Auch der Jargon ist gut getroffen, genau so die Rituale: Die Versammlungen der Straßengangs, von denen Außenstehende ausgeschlossen sind, Schießereien und Racheakte, Initiation und  Ausschluss-Rituale für jene, die sich nicht nach den Regeln (po ponjatijam) verhalten.

    Ein ganz normaler Teenager beginnt nach den Regeln der Straße zu leben

    Die Serie vermittelt wahrheitsgetreu, wie sich die Bandenmitglieder als  Herren über ihr Territorium verstanden und sich berechtigt fühlten, von allen, die es betraten, Schutzgeld zu erheben – vor allem von Jugendlichen, die keiner Bande angehörten und von Leuten, die dort ihre Firmen gründen wollten.

    Den Machern von Slowo pazana gelingt es, ohne belehrend oder moralisierend zu wirken die Geschichte eines ganz normalen Teenagers zu erzählen, der sich einer Bande anschließt, nur weil er sich sonst nicht sicher fühlen kann. Dann beginnt er, wie es damals hieß, „mit den Pazany zu leben“: Er gerät in eine Gesellschaft, in der die Illusion einer männlichen Gerechtigkeit geschaffen wird, in der einer für alle einsteht und alle für einen, und in der das Gaunerehrenwort als unanfechtbares Gesetz gilt.

    Je tiefer der Held jedoch in diese Welt eintaucht, desto mehr Gefahren ist er ausgesetzt. Das Risiko, im Gefängnis zu landen, die Gesundheit oder gar das Leben zu verlieren, ganz zu schweigen vom Leid der Angehörigen – das ist es, was die Jungs in ihrem neuen Leben erwartet. Und Gerechtigkeit suchen sie in den Banden vergeblich.

    Obwohl das nicht alles in der Serie vorkommt, gehörten interne Konflikte bis hin zur Ermordung der einen Bandenführer durch die anderen, der Raub der Gemeinschaftskasse jüngerer Gruppen und deren gnadenlose Ausbeutung durch ältere Banden zur Norm. Die männlichen Bruderschaften erwiesen sich in einer Gesellschaft, in der auch Beziehungen innerhalb der Gruppen mit Gewalt reguliert wurden, als äußerst unzuverlässig. Ein junger Mann, der sich von seiner Bande bereits losgesagt hat, und den ich zu Forschungszwecken interviewt habe, beschrieb es so:

    „Was ich damals bemerkenswert fand: Da ist zum Beispiel ein Typ von der Straße, den man kennt, man ist richtig befreundet mit ihm, verbringt viel Zeit zusammen, er gilt als Kumpel. Doch dann baut er irgendwie Scheiße, und auf einmal wird er geschasst, alle verprügeln ihn, pressen ihm Kohle ab. Gerade noch war man gut Freund, lag sich in den Armen, und auf einmal spuckt man ihn an und schlägt ihn. Das ist doch eine Schweinerei, das geht doch nicht. Ich brachte so etwas nie zustande, mir war das irgendwie zu arg. Mehreren von uns ging es ähnlich, die konnten das auch nicht. Aber zum Teil waren da Leute, für die war man heute ein Freund und morgen einfach nur ein Niemand.“

    Auf das berüchtigte Gaunerehrenwort – in der Serie hört man den Begriff Slowo pazana ständig – war in jenen Jahren auch nicht wirklich Verlass. Es funktionierte nur in Bezug auf ebensolche Pazany, alle anderen konnte man ohne jegliche Konsequenzen damit verarschen – auf Betrug und Diebstahl an Außenstehenden war man besonders stolz.

    Die Verflechtung krimineller Gangs mit der Polizei fehlt in der Serie

    Die Serie wird von liberal gesinnten Kritikern sehr gelobt. Von den künstlerischen Vorzügen abgesehen, lesen sie eine politische Botschaft heraus, die sich ihnen klar erschließt: Die jungen Serienhelden sind als Opfer des morschen sowjetischen Systems dargestellt, mit seiner Korruption und Verlogenheit, mit seinen wachsenden wirtschaftlichen Problemen. Diese Jungs der 1980er werden als Vorboten der weiteren Entwicklung von Putins Russland gesehen, in dem Putins hinfälliges System, das noch dazu einen unnötigen Krieg angezettelt hat, das Land fast unweigerlich in ein Chaos von Straßenbanden, Gewalt und krimineller Umverteilung des Eigentums stürzen wird.

    Ich sehe aber auch, wie die Serie bei all ihrem Wahrheitsgehalt mal wichtige Realien der damaligen Zeit außen vor lässt, mal dem sowjetischen Alltag etwas hinzufügt, das es gar nicht gab. Die Gopniki und ihre Eltern und Lehrer sind äußerst überzeugend dargestellt, doch gleichzeitig stechen bei der Darstellung der damaligen Silowiki ziemliche Unstimmigkeiten ins Auge.

    Die Miliz ist durch zwei unglaubwürdige Typen vertreten: ein wunderschönes Turgenjewsches Mädchen, das Andrej, den Pionier und Gopnik, mit beinah liebevoller Fürsorge bedenkt, und ein infernalischer Ermittler, der Anzüge einer damals nicht vorhandenen Preisklasse trägt (er scheint eher einem heutigen, ebenfalls der Kinoleinwand entsprungenen und allmächtigen FSB-Agenten nachempfunden als einem sowjetischen Milizionär). 

    Die Autoren der Serie zeigen zwar die Sitten und Gebräuche der Straße, versäumen dabei aber, zu beschreiben, wie sich dieses Milieu in das große Ganze einfügt, wo es komplexe Wechselbeziehungen zwischen kriminellen und legalen Machtstrukturen gab. Solche Verbindungen zwischen Polizei und kriminellen Autoritäten sind in Kasan dokumentarisch belegt. Der Kriminalfall Tjap-Ljap zum Beispiel (eine berühmte Bande, die in den 1970ern in Kasan Massenprügeleien und Morde zu verantworten hatte und als Ausgangspunkt des so genannten Kasan-Phänomens gilt – Anm. Cholod) enthält Beweise, dass die Miliz die Bande gedeckt hat. Nach der Verurteilung ihrer Anführer wurden fünfzig Beamte gekündigt. Davon ist in Slowo pazana an keiner Stelle die Rede. Dafür wartet die Serie mit einem primitiven Antiamerikanismus auf, den es in jenen Jahren nicht gab. Im Gegenteil, Ende der 1980er war alles Ausländische heiß begehrt, Amerika wurde – wie überhaupt der ganze Westen – von Ferne geliebt. Und in der Diskothek tanzten die Gopniki nicht zu Laskowy maj, sondern zu Pop aus dem Westen.

    Schön wäre es, eine Fortsetzung der Serie zu sehen, mitzuverfolgen, wie die Banditen und ihre Bosse im neuen kapitalistischen Russland aufsteigen, wie sie die Gewinne der privatisierten sowjetischen Betriebe und privater Firmen kassieren, wie sie Chefsessel von Unternehmen, hohe Funktionen in der Staatsverwaltung und Rektorenposten an Universitäten besetzen. Aber eine solche Fortsetzung werden wir wohl kaum zu sehen bekommen, zumindest nicht in nächster Zeit.

     

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  • „Als würde sich alles in einer anderen Realität abspielen – wie im Traum”

    „Als würde sich alles in einer anderen Realität abspielen – wie im Traum”

    Hunderttausende Belarussen haben nach den historischen Protesten von 2020 ihre Heimat verlassen müssen, um Verfolgung und Festnahme zu entgehen. Was macht das Leben in der Emigration mit der eigenen Sprache, mit der eigenen Kultur? Wie die Hoffnung auf einen politischen Wandel hochhalten, der die Rückkehr ermöglichen würde? 

    Mit welchen Herausforderungen das Leben im Exil verbunden ist, wenn man nicht weiß, ob man jemals in seine Heimat zurückkehren kann, darüber spricht die Sängerin Ketevan, die im Alter von fünf Jahren aus Georgien nach Belarus kam und aktuell in Polen lebt, mit dem belarussischen Online-Portal Budzma.

    Die belarussische Sängerin Ketevan / Foto © privat/Instagram

    Budzma: Wie verlief deine Emigration? Abgesehen davon, dass du schon als Kind aus Georgien nach Belarus gezogen bist.

    Ketevan: Das ist eine komplizierte Geschichte. Seit 2020 habe ich mehrfach das Land gewechselt. Zuerst bin ich nach Kyjiw gegangen, ohne auch nur irgendwie zu begreifen, was da vor sich geht. Ich nahm nicht einmal Sommersachen mit, suchte mir kein Zimmer – ich dachte überhaupt nicht in diese Richtung. Aber in der Ukraine lief es gut, wir probten sogar für ein Theaterstück. Mit einem Regisseur vom SChT (dt. Modernes Künstlertheater) in Minsk, zu einer Hälfte mit Belarussen, zur anderen mit Ukrainern besetzt. Ich war von Anfang an in dieses Projekt involviert, trat sogar mit auf. Ab und zu stellte sich das Gefühl ein, endlich aufzuwachen. Aber dann kehrte wieder dieses seltsame Unverständnis zurück. 

    Nach einiger Zeit zog ich nach Gdańsk, weil dort mein Freund war. Ich unterhielt mich gern mit dem Meer, aber ich hatte absolut nichts zu tun. Zum Glück konnte ich dann eine Künstlerresidenz am Theater in Warschau beginnen, da war ich unter Gleichgesinnten. Um mich herum waren Schauspieler, sensible Menschen, mit feiner Seelenstruktur. Wenn sie nicht zu Hause sind, noch dazu gegen ihren Willen, nehmen sie das doppelt schwer. Mir wurde klar, dass ich kein dummes kleines Mädchen bin, sondern einfach verloren, wie alle um mich herum. 

    Wie ich mich in der Emigration fühle? Es ist ein großes Durcheinander, als würde sich alles in einer anderen Realität abspielen – wie im Traum

    Einen Monat später war Krieg. Ich begann, am Bahnhof in Przemyśl, nahe der Grenze, als Freiwillige zu helfen. Tausende Menschen, verlorene Gesichter – das war eine furchtbare, aber auch gute Erfahrung. Ich hatte dort wenigstens ein bisschen das Gefühl, die Realität zu begreifen. Das Gefühl, zu tun, was getan werden muss. Ich war sehr müde, in den ersten Monaten des Krieges leisteten wir 15 bis 16 Stunden Hilfe am Tag. 

    Einige Zeit später packte ich meine Sachen und fuhr nach Vilnius – um wieder im Unbekannten zu landen und von Null zu beginnen (lacht). In Litauen wohnte ich drei Monate lang bei Freunden, dann fuhr ich als Freiwillige an die Grenze, weil ich mich wieder nutzlos fühlte. Dann folgte noch ein Umzug nach Warschau – in Polen ist es einfacher mit der Bürokratie. 

    Wie ich mich in der Emigration fühle? Es ist ein großes Durcheinander, als würde sich alles in einer anderen Realität abspielen – wie im Traum. Alles ist in Bewegung, und du weißt nie, was dich morgen erwartet. Ich liebe mein Leben, ich jammere nicht, ich finde, mir geht es super. Aber dieses Leben ist surreal. 

    Fühlst du dich „zu Hause“? Verspürst du den Wunsch, nach Belarus zurückzukehren?

    Der Surrealismus meines Lebens im Exil besteht wohl am ehesten darin, dass ich nicht das Gefühl habe, nicht mehr nach Hause zurückzukehren. Mein Leben im Ausland ist sehr seltsam – ich treffe mich mit Belarussen, mache belarussische Musik, lese belarussische Bücher. Dass ich nicht zu Hause bin, wird mir bewusst, wenn es um Bürokratie geht. Wital Karaban, ein belarussischer Dramaturg und Regisseur, hat mit uns das Stück Masaika (dt. Mosaik) inszeniert. Der Text basiert auf unseren Gesprächen, ich spiele darin letztlich mich selbst. 

    In dem Stück erzählen wir von den unangenehmen Seiten der Emigration, es richtet sich in erster Linie an das polnische Publikum, damit dieses die andere Seite unseres Lebens hier sieht. Manchmal sieht es aus, als würden wir hier durchdrehen, tanzen, trinken, und man könnte meinen: „Euch geht’s ja gut hier!“ Uns allen im Exil ist nicht immer klar, wie man solche verrückten Partys überhaupt noch feiern kann. Mit unserem Stück beleuchten wir viele solcher Fragen. Wir erhalten viel Dank für diese Möglichkeit, die Belarussen besser zu verstehen. 

    Durch künstlerisches Schaffen können wir die Verbindung zwischen den Belarussen im Ausland und den im Land Gebliebenen aufrechterhalten. Wir wollen wissen, was zu Hause passiert, und umgekehrt. Wir glauben immer, wir haben uns verändert, aber eigentlich sind wir absolut dieselben geblieben und werden auch so bleiben, wie wir immer waren. 

    Da wir über das künstlerische Schaffen sprechen: Kommen wir zu deiner Zusammenarbeit mit Lavon Volski und seinem Projekt Emihranty. Wie kam es zu dieser Kooperation?

    Lavon habe ich zufällig kennengelernt. Er suchte für sein neues Album eine Frauenstimme. Beim ersten Treffen sang ich die betreffenden Songs und obwohl ich sie noch gar nicht richtig kannte, wusste ich: Ich verstehe das alles. Volski gefiel es, und wir nahmen sehr schnell alles auf. 

    Emihranty, das ist nicht nur Musik, das sind Szenen, die ich auch schon erlebt habe. Ich erhalte oft Nachrichten wie „Meine Mama klingt am Telefon genauso!“, „Meine Freundin sagt, dass ihr genauso alles zuwider ist wie der Frau in dem Lied“. Ich freue mich, wenn Kunst eine Reaktion auslöst. 

     
    In dem Lied Jak tam sprawy (dt. Wie läuft’s bei euch?) imitieren Ketevan und ihr Gegenpart Lavon Volski ein Telefongespräch zweier Belarussen, von denen sich die eine im Exil und der andere noch in Belarus befindet. Der erklärt zur Verwunderung der Gesprächspartnerin immer wieder, dass bei ihnen „alles normal” sei. 

    Es gab auch die folgende Situation. Im Song Jak tam sprawy (dt. Wie läuft’s bei euch?) fragt eine Person die andere: „Wie läuft’s bei euch, wieder jemand verhaftet?“ und die Antwort lautet: „Nein, alles gut, wir nehmen gerade einen neuen Kredit auf.“ Hörer schrieben mir: „Sind bei uns etwa nur mehr solche Leute übrig? Warum singt ihr so was?“ Ich antwortete, solche Leute gebe es überall zur Genüge. Und solche Gespräche auch – unangenehme, schwierige, die davon zeugen, dass die Menschen sich mit ihrer Situation abgefunden haben. Ich habe auch Freunde, die so kaputt sind, dass sie diese ganze Realität ausblenden. 

    Volskis Album handelt von dem, was ist, nichts darin ist erfunden. Die Zusammenarbeit mit Lavon fand ich sehr schön, vor allem, wie respektvoll alle im Team miteinander umgehen, das sind diese echten belarussischen Intellektuellen! Ich bin immer gern hingegangen, habe ihren Gesprächen zugehört, bei ihnen sind sogar die einfachsten Gespräche interessant. 

    In einem der Songs geht es um eine Frau, die emigriert ist und der an ihrem neuen Wohnort buchstäblich nichts gefällt. Gibt es in der Emigration etwas, das dich stört? Wie nah ist dir dieser Text?

    Es gibt da ein Thema bei mir, nämlich Ärzte. Ich weiß nicht, wie ich an medizinische Versorgung komme, ehrlich gesagt wusste ich auch in Belarus nicht genau, wo ich hinsoll, wenn ich krank bin. Aber zu Hause gab es eine Poliklinik und ich wusste, wenn etwas passiert, kann ich den Rettungswagen rufen. Alles, was Essen angeht oder dass die Geschäfte sonntags geschlossen sind, stört mich nicht, weil mir in Belarus andere Dinge wichtig waren. Ich mag Nutella, in dieser Hinsicht ist jetzt alles paletti, weil es hier viel davon gibt (lacht). Bei einem Konzert in Wrocław haben Frauen im Publikum dieses Lied mitgesungen, vom Anfang bis zur letzten Zeile, und sehr professionell. Das war so krass!

    Gab es zu diesem Songtext auch Fragen von Belarussen, die in Belarus geblieben sind, nach dem Motto: Wenn alles so schlimm ist, warum seid ihr dann noch dort?

    Ja, die gab es wirklich. Mit Menschen, die solche Fragen stellen, gehe ich genauso um, wie mit denen, die überhaupt nicht verstehen, was abgeht. Ich antworte gar nicht. Wenn jemand sich für einen Freund hält und dann sagt: „Komm doch wieder zurück!“, was ist das dann für ein Freund? Er versteht offenbar gar nichts oder will, dass ich in den Knast komme.

    Im Gegensatz dazu gibt es Belarussen, die sich im Ausland einleben, sich dort ein Leben aufbauen und gar nicht mehr vorhaben zurückzukehren. Was hältst du von denen?

    Ich habe viele Freunde, die mit Kindern emigriert sind. Ich verstehe sie in dieser Hinsicht gut, weil sie für das Leben und die Zukunft ihrer Kinder Sorge tragen. Ich glaube weiterhin daran, dass der Wandel kommen wird – ich weiß, dass das einfach ein sehr langes Spiel ist. Was gerade auf der Welt passiert, ist ein Wahnsinn, und unsere Geschichte ist Teil dieses Wahnsinns, sie wird sich so schnell nicht ändern. Wenn alles gutgeht und wir nach Hause können, wird es auch noch einige Zeit dauern, bis alles bewältigt ist. Für kleine Kinder ist das alles nicht leicht. Ich freue mich sehr, wenn Leute sagen, dass sie zurückkehren wollen, darüber sprechen viele. Ich träume von langen Schlangen an den Grenzen, mit Gesängen und Flaggen. 

    An der Sprache erkennst du deine Leute, wenn du in einem anderen Land lebst

    Eines ist mir aufgefallen: Kinder zieht es, egal wo sie aufwachsen, immer in die Heimat. Ich bin eine Georgierin, die in Belarus aufgewachsen ist, und habe mich immer für meine Sprache und Kultur interessiert, wollte immer nach Georgien reisen. Aus gewissen Gründen möchte ich im Moment nicht dort leben. Aber ich habe immer den Wunsch, hinzufahren und die Energie meines Landes zu spüren, es ist für mich ein Kraftort. So wird es auch den belarussischen Kindern gehen, von denen viele jetzt in Polen leben. Sie werden ganz bestimmt den Wunsch verspüren, nach Belarus zu fahren, und so Gott will, werden sie dort ihre neuen Erfahrungen aus dem Leben in einem freien, demokratischen Land einbringen können.

    Was kann man im Ausland tun, um seine Kultur zu bewahren, um das Belarussische nicht zu verlieren?

    Tatsächlich ist das gerade leicht: Ich weiß, dass es Leute gibt, die die künstliche Intelligenz mit belarussischer Geschichte und Sprache füttern. Die Sprache ist sehr wichtig. Wenn ich in Warschau Belarussisch höre, denke ich sofort: „Alles in Ordnung!“ Zu unseren Konzerten kommen tolle Leute, die Atmosphäre ist immer heimelig, alle singen zusammen, umarmen sich. Man muss regelmäßig Landsleute treffen, das Eigene unterstützen, mehr auf Belarussisch lesen, neue Projekte initiieren. Wenn ich Songs schreibe, dann weiß ich, dass dadurch die politischen Häftlinge nicht freikommen, aber die Geschichte unseres Landes weitergeht. Das sind kleine Schritte, aber sie sind wichtig. Man muss auch die Kinder unterrichten, damit sie ihre Sprache lernen und weitertragen. 

    An der Sprache erkennst du deine Leute, wenn du in einem anderen Land lebst. Wenn ich Georgier treffe, begrüße ich sie immer auf Georgisch. Dann drehen sich mir sofort glückliche Gesichter zu! Wenn wir einen Belarussen treffen und rufen „Oh, ein Belarusse!“ und ihn umarmen möchten, dann schreiben wir unsere Geschichte fort. 

     
    Ketevan bei einer Veranstaltung zum Dsen Woli im Jahr 2023 in Warschau

    Woran arbeitest du gerade und welche Pläne hast du für die Zukunft?

    Kürzlich habe ich den Song Datschka sonza (dt. Sonnentochter) veröffentlicht, das war super. Wir bereiten ein Album vor, an dem wir schon sehr lange arbeiten. Darauf geht es um soziale Themen – um die Freiheit des Lebens und ihre Einschränkungen. Auch um Liebe wird es gehen. Bei Musik und Kunst geht es für mich immer um Liebe. Es gibt einfache, aber großartige Songs über Verliebtheit, in guter, moderner belarussischer Sprache, manche basieren auf Gedichten von Dascha Bjalkewitsch. Wenn Teenager diese Songs hören, wundern sie sich, dass es im Belarussischen solche Wörter gibt. Ich habe auch einige Einpersonenstücke, die ich ins Belarussische übersetzen werde. Wir arbeiten, sind kreativ, tun was.

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  • Editorial: Weihnachten der Wirklichkeit

    Editorial: Weihnachten der Wirklichkeit
    Die Ziege ist im Brauchtum der belarussischen Weihnacht das Symbol der Fruchtbarkeit und Hoffnung / Illustration © Anna I.

    Werte Leserinnen und Leser!

    Die frohe Botschaft – sprachlich schön verpackt, an der man sich wärmen und aufrichten kann – wird es auch am Ende dieses Textes möglicherweise nicht geben. Für frohe Botschaften, wie sie den Kern des Weihnachtsfestes bilden, sind wir als journalistisches Medium nicht zuständig. Ebenso wenig für Wunder, wie sie zu Weihnachten ja durchaus vorkommen sollen. Wir bilden die Realität ab, so gut es eben geht. Bei dekoder tun wir dies aus Überzeugung, mit Hingabe und Leidenschaft. Unsere Hoffnung besteht darin, dass unsere Arbeit dazu beiträgt, Sachverhalte besser einordnen und damit die Realität besser verstehen zu können. 

    Die Realität sieht seit geraumer Zeit über die Maßen bedrückend und verstörend aus. Nicht nur in Osteuropa natürlich. Aber es sind eben Russland und Belarus, über die wir als Medium schwerpunktmäßig berichten. Der grausame russische Krieg gegen die Ukraine, die nicht enden wollenden Repressionen in Belarus und auch in Russland, Flucht, Vertreibung, Tod, Terror, Exil – es ist düster und finster und ein Licht der Hoffnung, nach dem sich viele sehnen, scheint nicht in Sicht. Unsere Koordinaten – das, was man wohl gemeinhin Normalität nennt – auch unsere Sprache sind erschüttert, Orientierung und Halt: dringend gesucht. 

    Wir sind Profis im Umgang mit schlechten Nachrichten, aber wir sind eben auch Menschen, die das, über das wir berichten, mitnimmt. Wir alle im Team sind auf die unterschiedlichste Art und Weise mit der Ukraine, mit Belarus und Russland verbunden. In solch einem Editorial darf man so etwas sagen, etwas Persönliches, Emotionales – etwas, das die fachliche und sachliche Distanz, die wir uns normalerweise zu wahren bemühen, aufhebt. 

    Wir halten auch in diesen Zeiten Kontakt mit unseren Kollegen und Kolleginnen aus der Ukraine, aus Belarus und aus Russland, mit unseren Partnermedien, die fliehen mussten, die sich im Exil in Georgien, in Litauen, Polen oder in Deutschland ein neues Zuhause aufbauen mussten, die trotz aller Schwierigkeiten dafür kämpfen, dass ihre Medien weiterexistieren können. Es ist ein existentieller Kampf, der allen alles abfordert, der übermenschliche Kräfte braucht, um einerseits das eigene Leben neu zu organisieren, andererseits wertvolle Informationen und Beiträge zu liefern.

    Weil unsere Kolleginnen und Kollegen derart reinhauen, können wir bei dekoder Beiträge übersetzen und veröffentlichen. So können wir verstehen, was sich nicht nur in den neuen Exilgemeinden tut, sondern auch innerhalb von Belarus, Russland, auch in der Ukraine oder in den von Russland besetzten Gebieten. In Belarus arbeiten längst keine internationalen Medien mehr. Die belarussischen und russischen Exilmedien arbeiten weiterhin mit Journalisten zusammen, die sich noch im Land befinden und die tagtäglich Gefahr laufen, festgenommen zu werden und drakonische Haftstrafen zu kassieren. Wir bemühen uns, diesen Medien und Kollegen eine Plattform zu geben, damit ihre Beiträge gelesen werden und eine Realität gesehen wird, die ansonsten in den dichten Nebel der Ahnungslosigkeit entrückt. Wenn das geschieht, wenn die Realität nicht mehr gesehen werden kann, dann ist es wohl ganz vorbei mit der Hoffnung. 

    Bleibt wach und stark! 
    Euch allen ein Fest, das Kräfte schafft und Hoffnung stärkt.

    Euer Ingo
    Belarus-Redakteur bei dekoder

    PS: Wir danken euch, unseren Leserinnen und Lesern, für die immerwährende Unterstützung. Wenn ihr noch ein Weihnachtsgeschenk sucht: dekoder kann man auch verschenken.

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    S Kaljadami!

    Weihnachten ohne Grenzen

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  • Bilder vom Krieg #16

    Bilder vom Krieg #16

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Yana Kononova

    Kraftwerk in Ochtyrka | Treibstofftank am Flughafen Hostomel / Fotos @ Yana Kononova
    Kraftwerk in Ochtyrka | Treibstofftank am Flughafen Hostomel / Fotos @ Yana Kononova

    dekoder: Guten Morgen, Yana, wie geht es Ihnen? Die russische Armee hat In der Nacht wieder Raketen auf Kyjiw geschossen. In den Nachrichten hieß es, dass 50 Menschen verletzt wurden.

    Yana Kononova: Gegen drei Uhr hat mich der Alarm geweckt, aber da waren die Raketen bereits abgefangen. Die Vorwarnzeiten wurden in letzter Zeit immer kürzer. Ich lebe in einer Kleinstadt etwas außerhalb von Kyjiw. Hier steht ein großes Wärmekraftwerk, das wurde 2022 beschossen, aber nicht getroffen. Das Kraftwerk produziert etwa 60 Prozent der Energie für die Region, deshalb rechnen wir jederzeit mit einem neuen Angriff. 

    Zerstörte Industrieanlagen sind auch ein häufiges Motiv in Ihren Arbeiten als Fotografin. Was interessiert Sie daran?

    Ich bin keine Kriegsreporterin. Mein Ansatz ist dokumentarisch-nüchtern. Gleichzeitig möchte ich zeigen, was der Krieg mit den Menschen macht. Als ich im Frühjahr 2022 zum ersten Mal Schauplätze des Krieges besuchte, sah ich am Flughafen Hostomel zerstörte Treibstofftanks, die unter der Einwirkungen von Bomben und Hitze zerquetscht und verdreht wurden. Dieser Anblick hat mich erschüttert, und mir schien, dass diese physischen Überreste einen Eindruck geben von den psychischen Traumata, die der Krieg hinterlässt, die aber für das Auge unsichtbar bleiben. 

    Was ist die Geschichte der Bilder, die Sie für unsere Rubrik ausgewählt haben?

    Diese Bilder sind in der Nähe Ochtyrka entstanden, einer Kleinstadt in der Region Sumy im Nordosten der Ukraine. Um Ochtyrka wurde nach dem 24. Februar 2022 etwa einen Monat lang heftig gekämpft. In der Nähe wird Erdöl gefördert und es gibt ein großes Elektrizitätswerk, das mit Masut betrieben wird. Am 3. März wurde das Elektrizitätswerk von zwei Bomben getroffen. Fünf Arbeiter wurden getötet. Ich hatte mich einer Gruppe internationaler Journalisten angeschlossen, weil ich damals noch keine Akkreditierung vom Verteidigungsministerium hatte, um in die Kriegsgebiete zu reisen. Als ich von dem zerstörten Kraftwerk hörte, wollte ich unbedingt dort hin. Die Journalisten protestierten, sie hatten ihre Reportagen schon fertig und wollten zurück nach Kyjiw. Aber ich überredete den Bürgermeister, dass er uns auf das Gelände lässt. Aber als er dann kam, wollte niemand außer mir sich das zerstörte Kraftwerk ansehen. Immerhin reichte die Zeit, um ein paar Bilder zu machen. Ich fand das sehr beeindruckend. Es müssen einmal sehr moderne Gebäude gewesen sein. 

    Sind die Spuren, die der Krieg an Gebäuden und Industrieanlagen hinterlässt einfach besser zu sehen als die Spuren, die er bei den Menschen hinterlässt?

    Ja, das war meine ursprüngliche Intention. Ich wollte nicht direkt menschliches Leid abbilden. Ich werde oft gefragt, warum ich keine Menschen zeige. Ich habe auch Menschen fotografiert, aber ich mag diese Bilder nicht besonders. Für mich wird die Unmenschlichkeit des Krieges in diesen zerstörten Landschaften besonders sichtbar, dieser Gewaltexzess, der mit menschlichem Leben nicht vereinbar ist.

    Sie haben sich schon in früheren Arbeiten mit Landschaften beschäftigt. Hat der Krieg ihren Blick verändert?

    Das ist eine schwierige Frage. Ich würde eher sagen, dass mir noch einmal klar geworden ist, wie die Natur Landschaften prägt und wie der Mensch Landschaften prägt, das sind zwei völlig unterschiedliche Prozesse.

    Dieser Krieg ist nicht der erste, den Sie erleben. Als Sie ein Kind waren, musste Ihre Familie vor dem Armenisch-Aserbaidschanischen Krieg fliehen. Haben Sie Erinnerungen an die Heimat ihrer Kindheit?

    Mein Vater war Ingenieur der sowjetischen U-Boot-Flotte. Er war auf einer Insel im Kaspischen Meer stationiert. Als nach der Auflösung der Sowjetunion der Krieg um Bergkarabach ausbrach, wurde er nach Odessa verlegt. Ich erinnere mich noch gut an die Insel. Dort hatten ursprünglich Anhänger des Zoroastrismus gelebt. Diese von Zarathustra begründeten Religion verehrt das Feuer. Später wurde dort Öl gefunden und der Ort war stark geprägt von der Erdölindustrie. Die Landschaft, in der wir als Kinder aufwachsen, prägt uns fürs Leben. Gut möglich, dass meine Faszination für große Industrieanlagen daher kommt.

    Fotos: Yana Kononova
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht: 19.12.2023

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  • Belarus und die Geister der „wilden Jagd“

    Belarus und die Geister der „wilden Jagd“

    Andrej Chadanowitsch, 1973 geboren, ist einer der bekanntesten Vertreter zeitgenössischer belarussischer Lyrik. Seine Dichtkunst zeichnet sich durch Wortspiele, Humor, ihre stilistische Experimentierfreude und sensorische Tiefenschärfe aus. Auch hat er Gedichte und Werke von englischen, französischen oder polnischen sowie ukrainischen Lyrikern wie Serhij Zhadan oder Juri Andruchowytsch ins Belarussische übersetzt. Er betreibt zudem einen populären YouTube-Kanal, in dem er Klassiker der belarussischen Literatur und Kultur vorstellt, aber auch gesellschaftspolitische Themen diskutiert. Dieser Kanal wurde von den Machthabern in Belarus im Oktober 2023 als „extremistisch“ klassifiziert, also quasi verboten.

    Chadanowitsch hat wie viele belarussische Kulturschaffende seine Heimat infolge der Repressionen verlassen müssen und lebt nun im Ausland. In seinem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft beschäftigt er sich mit Literatur und Schriftstellern, die in Belarus verboten wurden. Dabei stößt er auf geradezu unheimliche Hinweise darauf, wie nahe sich Literatur und Realität kommen können.

    беларуская версія

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Warum werden heutzutage in Belarus Bücher und Autorenlesungen, Kunstausstellungen und Musikkonzerte verboten? Warum landen Dichter und Denker wieder und wieder hinter Gittern? Warum besteht ein Großteil unseres heutigen Schrifttums – genau wie der der hundertjährigen Klassiker – aus Gefängnisliteratur? Warum wird die belarussische Sprache diskriminiert, marginalisiert und letztlich noch konsequenter vernichtet, als zu Sowjetzeiten – und das in einem Land, das immerhin Belarus heißt?

    Manche sagen: Weil bei uns ein ewiger und gnadenloser Kulturkampf herrscht, in dem sich eine der beiden Kulturen für überlegen hält und die andere zu unterwerfen und zu zerstören versucht. Andere sagen, man müsse eher von einem Krieg sprechen, den etwas gegen unsere Kultur führt, das der Kultur völlig entledigt ist. Ich möchte hier keine endgültigen Schlüsse ziehen, sondern beschränke mich darauf, zwei Leitgedanken zu entfalten. Zum einen, wohin die Angst vor Kultur und der Hass auf Bücher führen können. Zum anderen, wozu diese Kultur und diese Bücher manchmal fähig sind. 

    1) Calibanismus

    Nein, diese Zwischenüberschrift ist kein Tippfehler. 
    Oscar Wildes Aphorismus, die Kunst würde nicht das Leben, sondern den Betrachter spiegeln, fand ich immer hübsch, aber auf paradoxe Weise überspitzt. So spricht der Schriftsteller in diesem Zusammenhang von der Wut des shakespeare’schen Caliban, der im Spiegel sein Abbild erkennt (oder eben nicht). 

    Heute weiß ich, dass der Meister des Paradoxen keineswegs übertrieben hat. Denn jetzt haben die Belarussen diesen Caliban mit eigenen Augen gesehen, mehr noch – wir haben es mit dem Phänomen eines Staats-Calibanismus zu tun: Eine aus lauter Calibans bestehende Minsker Staatsanwaltschaft hat im August eine Reihe von literarischen Werken als „extremistisch“ verurteilt.

    Auf der Liste landeten sowohl zeitgenössische Werke als auch Klassiker des 20. und sogar des 19. Jahrhunderts. Es kommt selten vor, dass längst verstorbene Autoren verurteilt werden; darunter beispielsweise der bekannte Dramaturg Winzent Dunin-Marzinkewitsch (1808-1884), nach dem zahlreiche Straßen in Belarus benannt sind und dessen Denkmäler die Stadtzentren zieren. Bislang musste das nicht einmal geändert werden – man fand eine elegantere Lösung für das Problem: Nicht das ganze Buch wurde als verbrecherisch eingestuft, sondern nur ein Fragment daraus, nämlich zwei Gedichte und das Vorwort zum Buch, das von einem zeitgenössischen Literaturwissenschaftler verfasst wurde. Fast wie im Club der toten Dichter: Und jetzt, liebe Studenten, reißen Sie alle zusammen die Seiten dieses Vorwortes aus Ihren Büchern, los, nicht so schüchtern, und vergessen Sie auch diese zwei Gedichte nicht, schön sauber entfernen!

    Manchmal ist das Motiv, nämlich der Hass des Regimes auf den Autor, offensichtlich. Wie bei unserem Zeitgenossen Uladsimir Njakljajeu, der nicht nur als Dichter bekannt ist, sondern auch als politische Person, die 2010 für das Präsidentenamt kandidierte. Just am Wahltag wurde er von vermummten Geheimdienstmitarbeitern überfallen und musste in der Notaufnahme versorgt werden, von wo er dann entführt wurde; seine Angehörigen wussten tagelang nicht, ob er am Leben war. Njakljajeu saß derweil im Gefängnis des KGB; nach 40 Tagen Haft stand er noch mehrere Monate unter Hausarrest. Obwohl der Dichter an der Wahlkampagne 2020 nicht direkt beteiligt war, wurde er mehrfach zu Verhören abgeholt und faktisch aus dem Land getrieben. Jetzt lebt er bereits seit zwei Jahren in der Emigration (und das nicht zum ersten Mal in seiner Biografie). Ganz klar, ein Extremist!

    Ebenfalls für „extremistisch“ erklärt wurde ein Buch von Laryssa Henijusch, einer Schriftstellerin und Emigrantin, die nach dem Zweiten Weltkrieg gewaltsam aus der Tschechoslowakei in die UdSSR zurückgeholt und zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, von denen sie achteinhalb tatsächlich verbüßte. Doch sie ließ sich nicht brechen, schrieb Gedichte zur Unterstützung anderer Häftlinge, die diese als „Glukose“ bezeichneten, so sehr halfen sie. Nach ihrer Freilassung weigerte sie sich, die sowjetische Staatsbürgerschaft anzunehmen und verbrachte ihr gesamtes Leben unter geheimdienstlicher Aufsicht. Bis heute wurde sie nicht rehabilitiert, das Urteil wurde lediglich auf die Haftstrafe reduziert, die sie tatsächlich abgesessen hat. Kein Zweifel, eine Extremistin!

    Oder das Buch der Exil-Poetin Natallja Arsennewa, deren patriotisches Gedichtgebet Mahutny Bosha (dt. O mächtiger Gott) zur inoffiziellen Hymne mehrerer Generationen der belarussischen Opposition wurde, seinen größten Ruhm aber während der belarussischen Straßenmärsche 2020 erlangte. Es war dieses Gedicht, das bei Protestauftritten von maskierten Musikern und Sängern an belebten Plätzen vorgetragen wurde, dem Vorläufer des berühmten Wolny chor (dt. „Freier Chor“). Selbstverständlich muss die Autorin dieses durch und durch extremistischen Werks auch selbst eine Extremistin sein!

    Der weiße Spitz Umka begann seine Medienkarriere im Frühjahr 2020

    Als man mit denen fertig war, begann der interessanteste Teil: Der Staatsanwalts-Caliban trat selbst vor den Spiegel. Denn an fünfter Stelle in der Liste der extremistischen Literatur erscheint eine Sammlung von Werken der, so möchte man meinen, für das Regime absolut harmlosen Schriftstellerin Lidsija Arabei. Als ich das las, fiel ich fast vom Stuhl, denn ich war seinerzeit mit ihren Kinderbüchern aufgewachsen und konnte darin beim besten Willen nichts Anstößiges erkennen. Ein paar Tage später fiel mir das „verurteilte“ Buch in die Hände, ich blätterte es aufmerksam durch – und wäre wieder fast vom Stuhl gekippt, denn ich entdeckte eine Erzählung namens Der weiße Spitz

    Hier sei mir ein kleiner Exkurs in die Hundewissenschaft erlaubt. Es ist nämlich so, dass das drittbeliebteste Motiv für Witze und Memes in Belarus ein weißer Spitz ist, gleich nach dem illegitimen Präsidenten und seinem unehelichen Sohn. Der weiße Spitz Umka begann seine Medienkarriere im Frühjahr 2020 als Haustier und – wie es schien – einziger treuer Freund Lukaschenkas. Wenige Monate vor der jüngsten Wahlfälschung und dem Ausbruch der Proteste und Repressionen und auf dem Höhepunkt der Pandemie. 

    Der Diktator, der als einer von wenigen Politikern weltweit offen die Existenz des Coronavirus leugnete, pflanzte im April 2020 vor laufenden Fernsehkameras friedlich Kiefernbäumchen und hielt dabei ein Körbchen mit einem kleinen weißen Hund. Sofort fanden sich Verschwörungstheoretiker, die behaupteten, diese beiden – Hündchen und Diktator – wollten die Aufmerksamkeit der Bevölkerung vom Problem der Epidemie ablenken. 

    In einem anderen Fernsehbeitrag hackte Lukaschenka Holz, und neben ihm lief wieder fröhlich bellend der weiße Spitz herum. Später saß er (der Spitz, nicht Lukaschenka) herrschaftlich auf dem Tisch und naschte von Tellerchen, während sein Freund ausländischen Journalisten ein Interview gab. Am Dreikönigstag bot der Politiker dem Hündchen gar an, gemeinsam mit ihm vom geweihten Wasser zu trinken. Doch der weiße Spitz lehnte zu seinem großen Bedauern ab. Kurzum, Belarus hatte nun neben „Koljas Papa“ und „Kolja“ selbst einen dritten gehypten Medienstar.

    Und hier kommt Lidsija Arabeis Erzählung ins Spiel. Stellen wir uns einmal die Reaktion der Calibans aus der Staatsanwaltschaft vor, als sie im Inhaltsverzeichnis des Buches diesen furchtbaren Titel entdecken. Sie schlagen den Band an der entsprechenden Seite auf und überzeugen sich davon, dass es keine Halluzination war, sondern der Text tatsächlich mit den Worten „Der weiße Spitz“ beginnt und zudem noch viel schrecklicher endet, nämlich mit den Worten: „Verrecken soll er“. Dass dieser Fluch nicht dem Spitz und auch nicht seinem Herrchen gilt, interessiert da niemanden mehr …

    Was soll man sagen, eine schreckliche Zukunft zeichnete sich da ab. Umgehend verbieten!

    Der Text stammt von 1975 und versetzt uns nach Minsk im Winter 1943, unter Nazibesatzung und Hungersnot, wo der Schwarzmarkt die einzige Überlebenschance ist. Eine Frau bringt eine große Kasserolle mit heißen, dampfenden Kartoffelpuffern … Das belarussische Zensorenherz beginnt freudig zu schlagen, beruhigt sich fast, doch dann taucht leider der vermaledeite weiße Spitz auf, und dann heißt es auch noch, er habe sein Herrchen verloren. 

    Wie kann das sein – das Herrchen verlieren? Das hieße ja, auch sie, die Staatsbeamten, die als Einzige das Unerlaubte suchen und ihn beschützen können, blieben ohne Arbeitgeber? Was sollten sie dann tun? Ihre Empathie mit dem Protagonisten der Erzählung wächst ins Unermessliche, doch was geschieht dann mit dem Spitz? Ich zitiere besser die „Extremistin“ Lidsija Arabei: 

    „Da wandte sich der Hund der Frau zu, der Herrscherin über die Kartoffelpuffer, und als würde er sich an etwas erinnern, stellte er sich auf die Hinterpfoten und machte Männchen.

    Er tat es lange und ausdauernd, gleichsam stolz, es so lange in einer so unbequemen Haltung auszuhalten. Seine Augen blickten unterwürfig und ehrlich, voller Freude und Hoffnung …
    Seine Pfoten hingen schlaff herunter und zitterten, genau wie seine rosige Zunge; aus dem Maul tropfte Speichel, der Hund hielt sich tapfer, sein ganzer Anblick sagte: Schaut her, wie ich mich anstrenge, wie ich es euch recht machen will, habe ich dafür etwa keine Belohnung verdient?
    ‚Verschwinde!‘, rief die Frau schließlich und drohte mit der Gabel.“

    Was soll man sagen, eine schreckliche Zukunft zeichnete sich da ab. Umgehend verbieten! Aber dann lesen die Staatsbeamten das Finale: Das Hündchen kennt offenbar ein Gefühl, das stärker ist als Hunger. Als plötzlich ein Besatzer vorbeiläuft, beginnt das Hündchen ihn aus voller Kehle anzukläffen. Schließlich bekommt der Soldat in der Feindesuniform Angst und zieht von dannen. Das gefällt den Belarussen auf dem Markt so sehr, dass das Hündchen eine unerwartete (und doch so lang ersehnte!) Belohnung erhält:

    „Das Hündchen stand noch lange da und kläffte ihm nach, bellte mit all seinem Hundezorn, bis zur Heiserkeit, bis zur Verzweiflung. Als es sich ein wenig beruhigt hatte, hörte es hinter sich eine unbekannte Stimme:
    ‚Hier hast du, Hündchen …‘
    Da landete neben ihm im Schnee ein Stückchen warmer, duftender Puffer.
    Und die Stimme fügte hinzu:
    ‚Was für ein kluges Hündchen! Verrecken sollst du …‘“

    Die echten Kenner von Lidsija Arabeis Werk mögen vielleicht eine andere Erklärung für ihren „Extremismus“ vorschlagen. Sie mögen darauf hinweisen, dass es im Buch Erzählungen über die Epoche des Stalinismus und die Repressionen gibt, über die Verurteilungen der „Volksfeinde“ und die Trennung von Familien, als Kindern entweder befohlen wurde, sich von den „Verbrechereltern“ loszusagen oder sie neue Namen und Familiengeschichten bekamen, damit die Eltern sie nach ihrer Rehabilitierung nicht wiederfinden konnten. Es gibt die Erzählung Der kalte Mai, in dem die Arbeit der Geheimdienste beschrieben wird, die die Menschen zwingen, ihre eigenen Verwandten auszuspionieren und sie zu verraten. Ich stimme ihnen zu und ergänze, dass sich die heutigen Diener des diktatorischen Regimes als Nachfolger und Stammhalter der stalinschen Henker verstehen, weshalb Repressionen wieder zum Tabuthema geworden sind. 

    Und doch stelle ich mir lieber vor, wie unsere Calibans gerade an der Erzählung vom weißen Spitz hängenbleiben, an dem Gedanken, dass jedes Herrchen unausweichlich stirbt und seine Diener dann brotlos zurückbleiben, dass ihr Männchenmachen mit dem Ausruf „Verschwinde!“ enden kann. Und dass es schon lange an der Zeit ist zu entscheiden, ob man weiter Männchen machen soll oder doch den Besatzer anbellen. Vermutlich kam ihnen genau bei diesem Gedanken der Zorn auf die Autorin. Und er wird sie nie mehr verlassen. 

    2) Briefe der Hoffnung

    Die Werke des großen belarussischen Schriftstellers Uladsimir Karatkewitsch (1930-1984) brennen noch nicht auf dem Scheiterhaufen, werden noch nicht in Speziallager der Bibliotheken verbannt und sind auch noch nicht als „extremistisch“ eingestuft. Doch sein wichtigster Roman, Kalassy pad sjarpom twaim (dt. Die Ähren unter deiner Sichel) verschwand dieses Jahr plötzlich vom Schullehrplan. Vielleicht, weil sich die belarussischen Staatscalibans in seinem Spiegel zweifelsfrei erkannten und die Gefahr sahen. Denn das Werk ist der geistigen und intellektuellen Abhärtung der belarussischen Elite gewidmet, jener jungen Generation, die am antirussischen Aufstand von 1863 beteiligt war. Ein Aufstand, der von den imperialen Truppen brutal niedergeschlagen und dessen Anführer – darunter auch Kastus Kalinouski, den der Schriftsteller in seinem Roman auftreten lässt – vernichtet wurden. Vielleicht hat Karatkewitsch keinen dritten Band verfasst, um den Mord an seinen geliebten Helden nicht beschreiben zu müssen. 
     
    Der Roman erlangte Kultstatus, genau wie die anderen Werke des Schriftstellers – zu Sowjetzeiten standen die Menschen in langen Schlangen nach jedem neuen Werk Karatkewitschs an. (Er selbst sagte einmal: „Man muss so schreiben, dass die Leute deine Bücher aus den Bibliotheken klauen. Das habe ich geschafft.“) Die Leserinnen und Leser, besonders Jugendliche, waren so stark beeindruckt, dass sie sich für die belarussische Geschichte und Kultur zu interessieren begannen und oft – auch wenn sie in russischsprachigen Familien aufwuchsen – ins Belarussische wechselten. 

    Im Jahr 2020, im Vorfeld der Wahlfälschungen, Massenproteste und brutalen Repressionen, zitierten die belarussischen Internetnutzer besonders gerne eine Stelle aus dem Roman, in der die reaktionäre Epoche des russischen Imperiums in der Mitte des 19. Jahrhunderts folgendermaßen charakterisiert wird: 

    „Es war eine furchtbare und schwere Zeit. Das ganze unermessliche Imperium erstarrte und verknöcherte unter dem schrecklichen politischen Frost, der es schon im sechsundzwanzigsten Jahr fest im Griff hatte. Jedem, der versuchte, aus voller Brust zu atmen, fror die Lunge ein. […] Glücklich war niemand. Alles wurde dem Abgott der Staatsmacht geopfert.“

    Der Schlüsselbegriff hier ist „im sechsundzwanzigsten Jahr“, denn genau so lange herrschte zu diesem Zeitpunkt der illegitime Präsident über Belarus. Nach der erneuten Wahlfälschung und der Niederschlagung des Aufstands 2020 durch das Regime nahmen die Repressionen in ungesehenem Ausmaß zu, die letzten Reste der Rechtsstaatlichkeit hörten auf zu funktionieren, und die Präsenz des russischen Imperiums in Belarus wurde immer offensichtlicher. 

    Weder die Einen noch die Anderen können die Raketen aufhalten, die auf die Ukraine abgeschossen werden.

    Der Beginn von Putins Krieg in der Ukraine zeigte, dass es kein politisch unabhängiges Belarus mehr gab, und die Diktatorenmarionette, fast gänzlich dem russischen Aggressor unterstehend, nur noch eine einzige Freiheit besaß: das eigene Volk uneingeschränkt zu terrorisieren. Tausende politische Gefangene, von denen einige unter ungeklärten Umständen in Haft starben; Hunderttausende Belarussen, die ihr Land verlassen mussten, während der Rest zu innerer Emigration verdammt wurde. Weder die Einen noch die Anderen können die Raketen aufhalten, die auf die Ukraine abgeschossen werden. Und immer öfter ist zu hören, in Belarus herrsche „die wilde Jagd“. 

    Dieses Bild führt uns wieder zu Karatkewisch und seinem historischen Thriller König Stachs wilde Jagd (Dsikaje palawannje Karalja Stacha). Warum sich Literatur und Realität immer wieder so nah kommen, könnte man ewig diskutieren. Liegt es an der Hellsichtigkeit des Schriftstellers oder seiner Fähigkeit, universell zu formulieren und dadurch nie an Dringlichkeit zu verlieren? Oder an der Geschichte selbst, die sich im Kreis dreht und keinen Ausweg aus dem ewigen Albtraum bietet? So oder so, jeder Belarusse, der bei klarem Verstand ist, spürt, dass Karatkewitschs Geschichte wieder aktuell geworden ist. Der koloniale Druck; der Verfall der „Elite“, die das eigene Volk unterjocht und dabei einem fremden Herren dient; die Mechanismen der Angst, die lähmt und unfrei macht; aber auch die kulturelle Rolle der Intellektuellen, die uns die von den Aggressoren und Besatzern schon fast ausgelöschte Erinnerung zurückgeben. Die Macht der Machtlosen, der gewaltfreie Widerstand, der eines Tages vielleicht nicht mehr genügen und keinen anderen Ausweg zulassen wird, als Gewalt mit Gegengewalt zu beantworten. Die „sanfte Macht“ von Liebe und Freundschaft, die im tiefsten Dunkel vor dem Wahnsinn bewahren. Die Solidarität und gegenseitige Unterstützung aller, die unter demselben Feind leiden. In Karatkewitschs Geschichte geht es, genau wie heute, um die Belarussen und die Ukrainer. 

    Als junger Mann kam Karatkewitsch aus Belarus an die Kyjiwer Taras-Schewtschenko-Universität, wo er sich unter dem Einfluss befreundeter Kyjiwer Intellektueller, die sich für die ukrainische Kultur begeisterten, für die belarussische Kultur zu interessieren begann. In dieser Zeit reifte sein Roman heran, durch den sich das Motiv der belarussisch-ukrainischen Einheit zieht, und dessen Schlüsselfigur, der junge Intellektuelle Andrej Swezilowitsch, ein ehemaliger Student der Kyjiwer Universität, autobiografische Züge trägt. Hier ein Dialog zwischen Swezilowitsch und dem Protagonisten des Romans, Andrej Belarezki:

    „Weswegen hat man Sie exmatrikuliert, Pan Swezilowitsch?“
    „[…] Es begann damit, dass wir beschlossen, das Andenken Schewtschenkos zu ehren. Wir Studenten waren, wie bekannt, unter den ersten. Man drohte uns, dass die Polizei in die Universität einziehen würde.“ Ihm stieg die Röte ins Gesicht. „Wir meuterten. Ich rief, wenn sie das in unseren heiligen Mauern wagen, würden wir diese Schande mit Blut abwaschen, und die erste Kugel werde dem gelten, der den Befehl dazu erteilte. Dann strömten wir aus dem Gebäude, es gab einen Aufruhr, ich wurde festgenommen. Als die Polizei nach meiner Nationalität fragte, antwortete ich: ‚Schreib auf: Ukrainer‘.“
    „Sehr gut gesagt.“
    „Ich weiß, das war sehr unvorsichtig gegenüber denjenigen, die sich zum Kampf erhoben hatten.“
    „Nein, das ist auch gut für sie. Eine solche Antwort ist ein Dutzend Kugeln wert. Und es bedeutet, dass wir alle einen gemeinsamen Feind haben.“
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    In Minsk gibt es übrigens keine Karatkewitsch-Straße. Bedarf das überhaupt einer Erklärung?

    Die jungen Belarussinnen und Belarussen, die 2006, inspiriert vom ukrainischen Maidan, ihre Zelte auf dem Minsker Oktoberplatz aufstellten und ihn in Kalinouski-Platz umbenannten, hatten zweifellos Karatkewitsch gelesen. Und auch jene haben ihn gelesen, die heute für die Ukraine im Kalinouski-Regiment kämpfen.

    Als man in der Ukraine vor dem Hintergrund des Krieges nachvollziehbarerweise begann, Straßen umzubenennen, startete Wjatscheslaw Lewyzki, ein ukrainischer Lyriker, Übersetzer und Karatkewitsch-Experte, eine Initiative, mit der er schließlich erreichte, dass die Dobroljubow-Straße in Kyjiw in Karatkewitsch-Straße umbenannt wurde.

    „Ich hoffe“, so schrieb der Dichter, „dass dieses Toponym wenigstens etwas dazu beiträgt, die Missverständnisse zwischen Ukrainern und Belarussen, die sich den Diktaturen in ihrem Land widersetzen, zu nivellieren. Ich möchte, dass diese Umbenennung ein Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber dem Kalinouski-Korps und dessen Mut ist, gegenüber den belarussischen Partisanen und allen freiheitlich denkenden Belarussen, die die Möglichkeit finden, den Ukrainern zu helfen.“ 

    In Minsk gibt es übrigens keine Karatkewitsch-Straße. Bedarf das überhaupt einer Erklärung? Dafür gibt es jetzt gleich zwei Opern auf der Grundlage von Karatkewitschs Erzählung König Stachs wilde Jagd. Die erste stammt aus der Feder des Komponisten Uladsimir Soltan und feierte bereits 1989 im Minsker Opernhaus Premiere. 2021 kehrte sie nach einer Pause auf die Bühne zurück, erweitert um Archivmaterial des Komponisten, mit neuem Bühnenbild und Spezialeffekten im klassischen Horror-Stil. Den wichtigsten Gruseleffekt trug allerdings das Leben selbst bei, als die Operninszenierung von der calibanistischen Zensur getroffen wurde. 
    Aus dem Libretto verschwand ein zentraler Satz, der Ruf, mit dem die Reiter der wilden Jagd die Palastherrin erschrecken: „Raman im zwanzigsten Glied, komm heraus!“ Vielleicht, weil am 11. November 2020, auf dem Höhepunkt der Protestbewegung, „Unbekannte“ Raman Bandarenka getötet hatten, der in den Innenhof seines Hauses gekommen war, nachdem er im Telegram-Chat geschrieben hatte: „Ich gehe raus!“ Seine maskierten Mörder erinnerten auffällig an die Antihelden aus Karatkewitschs Buch. 

    Die zweite Version der Oper entstand 2023, und ich hatte das Glück, an der Entstehung des Libretto mitzuwirken. Die Musik komponierte Volha Padhajskaja, Regie führten Mikalaj Chalesin und Natallja Kaljada, es dirigierte Wital Aleksjajonak. Die Uraufführung fand im Londoner Barbican Centre statt, und man hätte sich nur schwer ein besseres Ensemble für die heutige Zeit ausdenken können: belarussische Schauspielerinnen und Schauspieler des Belarus Free Theatre, das in der erzwungenen Emigration weitermacht, standen gemeinsam mit Opernsängern und -sängerinnen aus der Ukraine auf der Bühne. 
     
    Die belarussischen Theaterschauspieler sprachen den Text, die Ukrainer sangen – in belarussischer Sprache. In einer Zeit der Herausforderungen, Traumata, Verletzungen und künstlichen Spaltungen war es für die Belarussen sehr wichtig, das zu hören. Und ich denke, auch für die Ukrainer war es gut zu sehen, dass die Ukraine dem beliebten belarussischen Schriftsteller so viel bedeutete. 
     
    Der Autor des Librettos hatte die Freude und Ehre, mit den Ukrainern an der belarussischen Aussprache zu arbeiten. Unsere Sprachen ähneln sich in der Lexik stark, phonetisch sind sie aber völlig unterschiedlich, so dass man leicht ausmachen kann, wenn ein Ausländer spricht. Doch das musische Gespür der ukrainischen Künstler wirkte Wunder – und um ihre Aussprache auf der Bühne hätten sie selbst viele Belarussen beneidet. 

    Ich weiß nicht, welchen Anteil die hervorragende Komponistin und welchen die brillanten Sängerinnen Tamara Kalinkina und Alena Arbusawa daran hatten, aber die Figur der Nadseja Janouskaja wirkte auf der Opernbühne stärker, emanzipierter und strahlender als es die eher blasse Figur der Heldin in der Buchvorlage tut. Ihre Partien waren für meinen bescheidenen Geschmack die unvergesslichsten des Abends. Vielleicht war es nach den Protesten von 2020 und der Rolle, die die Frauen dabei spielten, auch gar nicht anders möglich. 

    Zur Premiere reisten Belarussen aus verschiedenen Städten, Ländern und gar Kontinenten an, es kamen Belarussen und Ukrainer aus London. Den Großteil des Publikums machten aber dennoch die Briten aus. Alle vier Spieltermine waren ausverkauft. Am Ende jedes Mal die Rufe: „Slawa Ukraini!“ und „Shywe Belarus!“ Und natürlich die Antworten: „Ruhm den Helden!“ und „Ewig lebe es!“ Ein paar Mal fand auch ein gewisses Kriegsschiff eines anderen Landes Erwähnung. 

    Jeden Zuschauer erwartete auf seinem Sitz ein Brief der Hoffnung – eine Postkarte, gestaltet und beschrieben von ukrainischen Kindern, die der Krieg getroffen hatte. Das eine hatte sein Haus verloren, das andere seinen Vater an der Front, das dritte beide Eltern bei einem Raketenangriff. Doch die Briefe beklagten nicht den Schmerz, sondern wurden vielmehr von dem Wunsch getragen, dem Lesenden Hoffnung zu geben – vielleicht hatte auch er es nicht leicht. Es waren Briefe voller Herzlichkeit, hier und da sogar mit einer Prise Humor. 

    „Manchmal muss man etwas verlieren, um etwas Neues zu finden.“ – Lew, 14 Jahre. 
    „Mach dir keine Sorgen, ich bin immer für dich da!“ – Sascha. 
    „Tu Gutes, und es kehrt zu dir zurück.“ – Walik, 9. 
    Und Artjom aus dem Gebiet Cherson schrieb: „Gib niemals auf. Respektiere deine Familie. Wenn du sie nicht respektierst, komme ich und reiße dir ein Ohr ab.“

    Der Saal des Barbican hat 1.500 Plätze, das macht bei vier Vorstellungen also insgesamt 6.000 Briefe. 
    Ich habe vier davon und bewahre sie gut auf. 


    ANMERKUNG DER REDAKTION:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


    1.Übersetzung in Anlehnung an die deutsche Ausgabe, übersetzt aus dem Russischen von Ingeborg und Oleg Kolinko, Verlag Neues Leben, Berlin 1985 

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    „Meine Heimat hat mich gefressen und ausgespuckt“

    Seit 2022 gibt es in Russland Menschenrechtsorganisationen, die Soldaten und von der Mobilmachung betroffene Männer bei der Fahnenflucht unterstützen. Eine davon ist Idite lessom (dt. Geht durch den Wald bzw. Haut ab!). Auf iStories sprechen ein Funker aus dem Ural und ein Militärarzt aus Burjatien anonym darüber, wie sie mit Hilfe der Organisation dem Fronteinsatz in der Ukraine entkommen konnten.

    „Ich denke, dass man immer eine Wahl hat“, sagt ein Militärarzt aus Burjatien, der einem Fronteinstatz entkommen konnte / Foto © IMAGO / SNA

    „Ich bekam Angst und unterschrieb den Vertrag”

    Funkmelder aus dem Ural. Desertierte nach sechs Monaten an der Front

    Ich bin in einer ganz normalen Familie im Ural aufgewachsen. Wenn mir Zeichentrickfilme vorgesetzt wurden, schaltete ich um auf Kriminelles Russland. Ich träumte vom Himmel, wollte auf die Fliegerschule und Pilot werden, weil mich Flugzeuge und Kampfjets faszinierten. 

    2018 ging ich zum Wehrdienst, dachte, es sei nichts dabei, ein Jahr meines Lebens der Armee zu schenken. Ich war MG-Schütze in den Truppen der Nationalgarde, habe dort die Fußball-WM miterlebt – meine einzige positive Erinnerung an diese Zeit. 

    An meinen Händen klebt Blut bis zu den Ellenbogen

    Nach der Entlassung suchte ich mir eine normale Arbeit, während meine Kameraden zum FSB, ins Ermittlungskomitee und zur Staatsanwaltschaft gingen. Als die Mobilmachung begann, haben sie mir gesagt, dass ich das Land nicht mehr verlassen könne. Sie rieten mir, den Vertrag freiwillig zu unterschreiben und versprachen mir Tipps, wie ich die Front meide und am Leben bleibe. Ich hatte Angst, dass meine Familie Probleme kriegen würde, wenn ich mich weigerte (sie hatten dem FBK Geld überwiesen, das könnte ihnen womöglich zum Verhängnis werden) und unterschrieb den Vertrag. Ich wollte bei nächster Gelegenheit sofort aussteigen. Dann erfuhr ich, dass der Vertrag automatisch bis zum Ende der „Spezialoperation“ verlängert wurde. Ich konnte weder kündigen noch Urlaub nehmen – es gab keine Rotation. Oder wie man uns später sagte: Im Verteidigungsministerium herrscht Leibeigenschaft.

    Ich kam [mit Hilfe meiner ehemaligen Kameraden] in eine Sonderabteilung der Aufklärungsgruppe, offiziell hieß meine Funktion „Funkmelder der Gruppe für Korrespondenz und Kommunikation für kleinere Funkstationen der Sondereinsatzgruppen“. Ich stand auf der Sendestation und funkte der Artillerie die Richtung durch. Ja, an meinen Händen klebt Blut bis zu den Ellbogen von diesem Artilleriefeuer. Aber ich habe nie selbst auf jemanden geschossen.  

    Wie landen die Leute an der Front? Mein Kamerad verdiente zum Beispiel im Bergbau 150.000 Rubel [rund 1500 Euro – dek]. Das war ihm zu wenig, also wurde er Vertragssoldat. Ich hab auch andere gefragt, warum sie hier sind. Manche der Mobilisierten sagten, Hauptsache weg von zu Hause, von der Ehefrau. Manche sind einfach nur Gesocks. Einer sagte: „Ich hab eine große Familie und wusste nicht, wie ich sie ernähren soll, und dann wurde ich einberufen.“ Er hat sich also einfach damit abgefunden, das bricht mir das Herz.

    Ein anderer Vertragssoldat hat geantwortet, zu Hause sei ihm langweilig gewesen. Ich sagte zu ihm, er sei ein kompletter Vollidiot. Später, nach einem Beschuss, sah ich die Angst in seinen Augen und dass er erkannt hatte, wo er da gelandet war und dass sein Leben keinen müden Heller wert ist.

    Und dann gibt es die sogenannten Patrioten. Ich kann mich an einen Jungspund erinnern, der zu unserer Brigade kam und sagte, er wolle was erleben, „die Chochly aufschlitzen, von einem Ohr zum anderen“. Ein paar Tage später konnte ich zusehen, wie es ihm den Kopf abriss – er wurde von einem Granatsplitter getroffen, „von einem Ohr zum anderen“.

    Ich war nicht der Einzige, der sich entschloss, zu fliehen: Bei uns waren es vier, in anderen Einheiten einer oder zwei. 

    Anfang April 2023 gerieten unsere Stützpunkte unter Beschuss: Ein Kamerad, der erst seit einem Monat dabei war und nicht wusste, wie man unbemerkt zum Stützpunkt zurückkehrt, hatte eine ukrainische Drohne angelockt. Sechs Personen, mich eingeschlossen, wurden verletzt – ich hatte eine leichte Gehirnerschütterung und Splitter im Arm. Wir liefen zu Fuß bis zum Evakuierungspunkt, dann brachte man uns ins Spital. Dort traf ich unseren Kommandanten (er war schon früher verletzt worden) und sagte zu ihm: „Ich gehe nicht mehr dahin zurück, du weißt selber, warum.“ Ich wusste, dass er ebenfalls keine Illusionen mehr hatte. Er antwortete: „Ja, ich verstehe dich“, und drückte mir die Hand. 

    Mein verletzter Kamerad bekam zu hören: ,Laufen kannst du ja‘ – und wurde wieder in die Schlacht geschickt

    Von anderen Soldaten erfuhr ich, dass ein Entlassungsschein drei Millionen Rubel [ca. 30.000 Euro – dek] kostet. Das heißt, man wird verletzt und steckt dann die ganze Entschädigung in die Vertragsauflösung. Aber das geht nur über Angehörige im Kaukasus, und ich bin vom Ural. 

    Sie zogen mir die Splitter raus, operierten mich. Mein Arm funktionierte nicht mehr richtig, Sehnen und Muskeln waren beschädigt. Im Fall einer Verletzung bekommt man 30 Tage frei, in dieser Zeit engagierte ich Juristen, die mir helfen sollten, da rauszukommen. Mein Kamerad, der eine Verletzung am Bein hatte, bekam zu hören: „Egal, laufen kannst du ja“ – und wurde wieder in die Schlacht geschickt. 

    Einmal kamen vier „Kontrabässe“ aus meiner Einheit zu meinem Haus – das sind Kontraktniki [Vertragssoldaten – dek], die versucht haben, den Dienst zu verweigern, aber aufgrund der folgenden Drohungen dann doch geblieben sind. Sie dienten sozusagen als auswärtige Wachhunde und passten auf, dass ich nicht abhaue. Zwei Tage hingen sie vor meiner Tür herum, einer saß die ganze Zeit auf einem Pappkarton und lauerte.  

    Neben meinem Haus stand ein Baum. Ich beschloss, mir Jägermeister und ein paar Schmerzmittel einzuwerfen und vom dritten Stock auf diesen Baum zu springen. Ich hatte sogar mit einem Freund abgemacht, dass er mich unten aufsammeln würde, falls ich mir die Beine breche. Aber ich musste zum Glück nicht springen: Die Nachbarn gaben Bescheid, dass die beiden Wachhunde weg waren, und ich verließ die Stadt.

    Einer von meinen Verwandten erzählte mir dann von der Organisation Idite lessom und schickte mir eine Videoreportage von iStories über fahnenflüchtige Offiziere. Was eine solche Flucht betraf, war ich skeptisch, zudem dachte ich ja, meine Juristen würden mir helfen. 

    Ich tauchte ein paar Monate unter. Es wurde sogar ein Fahndungsfoto von mir überall in der Stadt aufgehängt. Ein Kamerad, mit dem ich im Krieg gewesen war und der nach einem Urlaub mit Hilfe von Bekannten in den Ural versetzt wurde, erzählte mir, dass man ihm Geld und einen Posten versprochen hätte, wenn er mich verrät. Als wir zusammen gedient haben, lieh ich ihm immer wieder Geld, damit er es seinen Eltern nach Hause schicken konnte, wenn er mal wieder kein Gehalt bekam. Und er erzählte mir, dass die Spionageabwehr nach mir fahnden würde – weil ich ja ein Staatsgeheimnis unterzeichnet habe. Aber er sagte auch, diese Suche würde eine gewisse Zeit dauern, und die sollte ich nutzen, um mir „einen Fluchtplan auszudenken“. Da schrieb ich an Idite lessom. Gleich am nächsten Tag schickten sie mir einen Plan mit einer Fluchtroute, und ich verließ das Land. 

    Inzwischen bin ich in Russland wegen Artikel 337 angeklagt: Unerlaubtes Entfernen von der Truppe. Meinen Verwandten, die noch immer in Russland sind, hat man jedoch gesagt: „Er kriegt Artikel 275, Landesverrat. Wenn ihr uns nicht sagt, wo er ist, dann obendrein noch Artikel 338, Fahnenflucht.“ Bislang lebe ich von dem Geld, das ich als Soldat verdient und in Cryptowährung angelegt habe. Für die Verletzung habe ich drei Millionen bekommen. Damit habe ich meiner Familie geholfen, ihre Kredite abzuzahlen, der Rest ging bei dem Versuch drauf, eine Kündigung aus medizinischen Gründen zu erwirken – als Honorar für die Anwälte, die mir nicht helfen konnten.

    Ich kenne Leute, die über Soldaten sagen: Das sind Trottel, Arschlöcher. Kann man das auch über mich sagen? Ja, von mir aus, nur zu. Ja, es war mein Fehler, dass ich da hingegangen bin und nicht sofort versucht habe, abzuhauen.

    Wir müssen alles tun, damit ihr nicht kämpft

    Jetzt muss ich erst mal weiter, einen Ort finden, an dem ich sicher bin. Ich fühle mich sehr allein. Ich kann mich schwer mit meiner Vergangenheit abfinden, schwer damit leben. Ich würde am liebsten alles vergessen und niemandem davon erzählen. Euch erzähle ich das, weil es vielleicht jemandem bei der Entscheidung hilft, jemandem zeigt, dass es Möglichkeiten gibt. Oder wie sie bei Idite lessom gesagt haben: „Wir müssen alles tun, damit ihr nicht kämpft.“
    Wahrscheinlich klingt das, als wollte ich auf zwei Stühlen gleichzeitig sitzen. Aber verdammt. Ich habe mir von Anfang an geschworen, jede Möglichkeit zu nutzen, um nicht an diesem Krieg teilzunehmen. Aber das System hat mich gebrochen. Ich habe meine geliebte Heimat verloren, meine Verwandten, Eltern, Freunde, obwohl sie mich unterstützen. Meine Leute wissen, dass ich kein kompletter Vollidiot bin. Aber ich habe das Gefühl, dass ein Teil von mir dort geblieben ist. Meine Heimat hat mich gefressen und ausgespuckt.  

    „Ich wollte nicht Handlanger für diese Kriegsverbrechen sein”

    Militärarzt aus Burjatien. Flüchtete vor seinem Einsatz an der Front aus Russland

    Ich bin in Ulan-Ude geboren und aufgewachsen. Meine Familie gehört statistisch gesehen zur Mittelschicht: Die Mutter Lehrerin, der Vater Fabrikarbeiter. Ich war noch ganz klein, als sie sich scheiden ließen. Als Schüler war ich in einem militär-patriotischen Klub, das war mein Einstieg. Ich nahm mir vor, zum Militär zu gehen, ich fand, das war ein gefragter Männerberuf.

    Nach der Schule studierte ich an der militärmedizinischen Akademie. Im dritten Studienjahr fing ich an, mich näher mit der Kultur meines Volkes zu befassen, die burjatische Sprache zu lernen und das alles ernster zu nehmen. Der Wunsch, Offizier der russischen Armee zu werden, ließ gleichzeitig nach, weil mir bewusst wurde, dass Russland der direkte Rechtsnachfolger der Sowjetunion und des zaristischen Imperiums ist. Es kam mir plötzlich sehr dumm vor, unbedingt in die Armee zu wollen. Ich wollte mein Studium abbrechen und stellte einen Antrag auf Exmatrikulation. Erfolglos: Die Akademie schrieb meinen Eltern einen Brief mit der Aufforderung, „Maßnahmen zu ergreifen“. Meine Eltern sagten, es sei doch mein Plan gewesen, Offizier zu werden, also solle ich erst mal meinen Abschluss machen: Was man anfängt, das muss man auch durchziehen. Ich schloss also mein Studium ab und arbeitete dann meiner Ausbildung entsprechend als Arzt.    

    Als der Krieg begann, war ich gerade im Außendienst: als Bereitschaftsarzt für Soldaten, die in Russland ein Infrastrukturobjekt sanierten. Ehrlich gesagt, hat mich das kalt erwischt, und das gab den Ausschlag dafür, dass ich beschloss zu kündigen.

    Der Außendienst dauerte bis zum Sommer, nach meiner Rückkehr reichte ich die Kündigung ein. Die Entlassung eines Militärangehörigen – und erst recht eines Offiziers – ist nicht gerade ein einfacher und schneller Vorgang. Es hilft, sich bei den Vorgesetzten unbeliebt zu machen, damit sie selbst daran interessiert sind, einen loszuwerden. Ich hatte gerade damit angefangen, aber dann kam die Mobilmachung und alle Kündigungen wurden aufgehoben. Wieder musste ich in den Außendienst, in den Fernen Osten, als Chefarzt einer Division.

    Ich versuchte, eine Entlassung aus gesundheitlichen Gründen zu erwirken. Verbrachte fast drei Monate im Spital, wo sie ein paar Erkrankungen feststellten. Aber für eine Entlassung reichte es nicht. Ich wurde in Kategorie B eingestuft – tauglich mit leichten Einschränkungen.  

    Im Februar 2023 kehrte ich an meine permanente Dienststelle zurück. Im Frühjahr wurde mir mitgeteilt, dass wir nach Zentralrussland versetzt werden, eine neue Einheit bilden und in der Ukraine kämpfen sollen. Mir blieben gerade mal zwei Wochen, in denen ich mich noch relativ frei im Land bewegen konnte.

    Ich schrieb auf Instagram der Mitbegründerin der Stiftung Swobodnaja Burjatija (dt. Freies Burjatien) Viktoria Maladajewa, fragte sie um Rat. Sie gab mir ein paar Tipps und empfahl mir das Team von Idite lessom. Ich erklärte ihnen meine Situation und dass ich keinen Reisepass habe. Sie schlugen mir eine Route vor. 

    Ich hatte Angst vor den Konsequenzen, falls ich erwischt würde, aber ich bemühte mich, diese Gedanken wegzuschieben und einem exakten Plan zu folgen. Von meiner Familie wurde ich sehr unterstützt. Meine Schwester kam extra zu mir nach Moskau, buchte meine Tickets, mietete Unterkünfte an – sie machte alles. 

    Es hat geklappt. Jetzt bin ich weder in Russland noch in der Ukraine. Laut Gesetz der Russischen Föderation bin ich ein Deserteur, und das ist ein strafrechtlich relevantes Verbrechen. Das Land, in dem ich jetzt bin, kann mich nach Russland ausliefern. Deswegen habe ich Angst, einen Reisepass zu beantragen. Ständig rechne ich mit einem Anruf von zu Hause, dass sie sagen: Das war’s, du wirst gesucht. Aber noch ist meine Familie von Hausdurchsuchungen und Verhören verschont geblieben. 

    Ich wollte nicht als einer der vielen Kriegsversehrten zurückkehren, die danach weiter Gräueltaten verüben

    Warum ich mich zur Flucht entschieden habe? Ich wollte einfach nicht Handlanger sein für diese Kriegsverbrechen, die dort begangen werden. Ich wollte nicht als einer der vielen Kriegsversehrten zurückkehren, die in weiterer Folge auch immer wieder Gräueltaten verüben. Auch das ist eine Art Beihilfe.

    Ja, ich bin Offizier, ich stehe unter Vertrag und ich dachte bis zu einem bestimmten Moment, dass ich meine Pflicht erfüllen muss. Doch sobald sich eine Möglichkeit geboten hat, habe ich sie genutzt. Ich habe viele Studienkollegen, die gleich nach der Ankündigung der Mobilmachung das Land verlassen haben. Das heißt, zumindest von jenen, zu denen ich noch Kontakt habe, ist der Großteil nach Möglichkeit abgehauen. Bisher ist keiner meiner Freunde und guten Bekannten in den Krieg gezogen und hat es auch nicht vor. Was sie da über die Burjaten schreiben, ist mir egal. Ich glaube, die meisten Burjaten wollten von Anfang an nicht kämpfen und wollen es auch jetzt nicht. 

    Ich denke, dass man immer eine Wahl hat. Ich will keine Namen nennen, aber ich kenne Leute, die sich einen Finger abgehackt haben, um ins Krankenhaus zu kommen und nicht an die Front. Auch eine Entscheidung.

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