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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Besetzte Gefängnisse

    Besetzte Gefängnisse

    Als Russland am 24. Februar 2022 vollumfänglich die Ukraine überfiel, befanden sich rund 3300 ukrainische Staatsbürger im Strafvollzug oder in Untersuchungshaft in jenen Gebieten, die Russland in den folgenden Wochen besetzt hat. Die russischen Besatzungsbehörden verlegen diese Gefangenen dann oft innerhalb der okkupierten Regionen oder verschleppen sie in Gefängnisse nach Russland. 

    Menschenrechtsaktivisten berichten, dass auch diese Gefangenen häufig Folter und unwürdigen Haftbedingungen ausgesetzt sind. Außerdem versuche man immer wieder, sie für die russische Armee zu rekrutieren. Ähnliches erleben ukrainische Zivilisten, die unter russischer Besatzung oder in Russland aus politischen Gründen inhaftiert sind. 

    Wenn die Gefängnisinsassen ihre Haftstrafe verbüßt haben, kommen sie nicht einfach frei, können nicht in die Ukraine zurückkehren. Denn schnell werden sie wieder von russischen Sicherheitskräften festgenommen: Wegen angeblicher Verstöße gegen Aufenthaltsgesetze oder fehlender Dokumente landen sie in temporären Abschiebeeinrichtungen, von wo aus sie theoretisch in die Ukraine abgeschoben werden müssten. Doch wegen des Kriegs ist eine direkte Abschiebung unmöglich. So müssen die Betroffenen oft Monate lang mit ungeklärtem Status in erneuter Haft warten, bis sie über Drittländer ausreisen können. In für lange Aufenthalte nicht ausgelegten Transitzonen sitzen sie fest und können nur auf die Hilfe von Freiwilligen hoffen. 

    Im großen Gefangenenaustausch „1000 für 1000“, dem einzigen sichtbaren Erfolg der ukrainisch-russischen Verhandlungen in Istanbul, hat Russland Ende Mai auch 120 ukrainische Zivilisten freigelassen. Unter ihnen sollen neben verschleppten politischen Gefangenen auch ehemalige Insassen von russisch besetzten ukrainischen Gefängnissen sein. 

    Das ukrainische Online-Portal Graty hat für seine Reportage mit Betroffenen und Menschenrechtlern gesprochen.  

    In manchen ukrainischen Haftanstalten, wie diesem Untersuchungsgefängnis in Cherson, richteten die russischen Besatzer ab 2022 eigene Folterzellen ein. Die ukrainischen Gefangenen verlegten sie innerhalb der besetzten Gebiete oder gar nach Russland.  / Foto © Lafargue Raphael/Abacapress/ Imago 

    „Seht mal, Jungs, da rollen Panzer“ 

    Die Insassen der Nördlichen Vollzugsanstalt Nummer 90 in Cherson behalten den russischen Einmarsch im Februar 2022 in lebhafter Erinnerung. „Es gibt da einen Garten vor dem Gefängnis. Einige Jungs gingen raus, und als sie zurückkamen, sagten sie: Seht mal, Jungs, da rollen Panzer“, erinnert sich Olexii (Nachname auf Wunsch des Gesprächspartners nicht genannt). „Dann rauschten Hubschrauber über uns hinweg. Wir gingen raus, kletterten aufs Dach und sahen, wie die Panzer vorbeifuhren. Sie kamen aus Richtung Beryslaw und fuhren über den Staudamm des Kachowka-Wasserwerks. Wir hatten keine Angst, haben erstmal nichts gemacht und einfach nur zugesehen.“  

    Olexii berichtet weiter: Einige Tage später kamen dann russische Soldaten in das Gefängnis, ließen alle Insassen in einer Reihe antreten und teilten ihnen mit, dass sie, die Russen, von nun an das Sagen hätten und „kurzen Prozess“ mit jedem machen würden, der etwas dagegen habe.  

    Eine Zeit lang schien sich sonst nichts zu ändern, doch im Frühsommer brachten die Besatzer dann Gefangene aus anderen Gefängnissen der Region zu ihnen. „Erst waren wir 600-700, vielleicht 800 Männer im Lager, doch dann wurden wir mehr als 2000. Wir schliefen auf Dreier-Etagenbetten“, berichtet Olexii. „Am 23. Oktober wurden wir nach Hola Prystan gebracht, wo es einen Tuberkulosetrakt gab. Die Brücke [über den Dnipro – dek] war bereits zerstört, also brachten sie uns per Fähre zur ‚Sieben‘ [Nummer des Gefängnisses]. Es war ein Alptraum: Da waren nur noch Ruinen, aber sie hielten uns dort für etwa zwei Wochen fest.“ 

    Das Tuberkulose-Gefängnis von Hola Prystan in der Region Cherson, seit 2022 unter russischer Besatzung 

    Dann kam das russische Militär mit gepanzerten „Tigr“-Fahrzeugen, mit Maschinengewehren auf dem Dach, zum Gefängnis und teilte die Gefangenen in Gruppen zum Abtransport ein.  

    „Es fuhren sieben oder acht ‚Schwarze Raben‘ vor. In jedes Fahrzeug steckten sie 30-40 Personen. Wir waren 35 Personen im Laderaum“, erinnert sich Olexii. „Unsere erste Ladung mit etwa 250 Personen wurde nach Armjansk gebracht, wo wir zwei Stunden lang ausharrten, bis man uns nach Simferopol brachte. Dort befindet sich die U-Haftanstalt Nr. 2 des FSB.“  

    Das FSB-Untersuchungsgefängnis Nr. 2 in Simferopol auf der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krym / Foto von der Webseite von Sergej Axjonow, dem Oberhaupt der russischen Verwaltungsbehörde für die Krym  

    „Wenn du nicht arbeitest, stecken sie dich in die Grube“ 

    In Simferopol bereitete man den Gefangenen einen „gebührlichen Empfang“, wie Olexii es beschreibt: Jeder, der aus dem Fahrzeug stieg, wurde von den Wärtern geschlagen. Olexii habe Schläge auf die Beine und den unteren Rücken bekommen. Witalii, ein weiterer ehemaliger Gefangener und ebenfalls Gesprächspartner für diesen Artikel, berichtet, dass einige Mithäftlinge durch die Schläge das Bewusstsein verloren.  

    „Wir wurden ganz schön verprügelt und ordentlich zugerichtet. Mir schlugen sie einen Zahn aus. Andere schlugen sie so heftig, dass sie ‚ausgeknipst‘ wurden und erst später wieder zu sich kamen. Ich weiß nicht, warum sie das taten. Vielleicht nur, um uns klarzumachen, mit wem wir es zu tun haben“, meint Witalii.  

    Später wiederholte sich dieses Ritual in Russland, wohin die Gefangenen von der Krym verlegt wurden. Erst bei der Ankunft dort erfuhr Witalii, dass er nun im Gefängnis Nr. 14 in der Region Krasnodar sei.  

    Olexii indes kam ins Gefängnis Nr. 2 in Dwubratskoje, ebenfalls in der Region Krasnodar. Dort nähten die Häftlinge Arbeitskleidung für Tankwarte, Bauarbeiter oder auch Tarnuniformen – angeblich für Jäger. Bezahlt wurden sie für ihre Arbeit nicht.  

    „Wenn du nicht arbeiten gehst, stecken sie dich in die Grube und behandeln dich wie einen Hund“, berichtet Olexii.  

     

    „Wir sind der Abschaum unseres Landes, aber keine Verräter“ 

    Beide Gesprächspartner in beiden Gefängnissen wurden, so berichten sie, unter Drohungen gedrängt, russische Pässe anzunehmen. Manche lockte man auch zur russischen Armee, um da gegen die Ukraine zu kämpfen.  

    „Viele Männer nahmen die Pässe an und blieben. Viele aber weigerten sich auch. Mein Land ist mein Land. Ja, wir sind der Abschaum unseres Landes und haben schlimme Dinge gemacht, aber wir sind keine Verräter“, betont Olexii. „Sie [die Russen – dek] wollten, dass wir für sie Stellungen [des ukrainischen Militärs – Graty] auskundschaften. Dabei haben die mir mein Haus zerschossen, meine Kinder mussten im Keller Schutz suchen und ich soll jetzt für sie arbeiten? Das sind doch elende Hunde!“ 

      

    „Sie unterstellten mir, dass ich die Grenze zur Russischen Föderation illegal überschritten hätte“ 

    Auch Witalii lehnte solche Angebote der russischen Gefängnisverwaltung ab und hoffte, bald nach Hause zurückkehren zu können. Ihm blieben noch dreieinhalb Monate seiner Haftstrafe. Und als es so weit war, wurde er tatsächlich aus dem Gefängnis entlassen. 

    Doch noch am selben Tag nahm die russische Polizei Witalii wieder fest und mit auf die Wache: „Sie unterstellten mir, dass ich die Grenze zur Russischen Föderation illegal überschritten hätte. Dann brachten sie mich zum Gericht. Das Gericht verurteilte mich zu einer Geldstrafe von zweitausend Rubel und ordnete meine Abschiebung an. Ich kam in ein Abschiebehaftzentrum. Acht Monate lang musste ich dort bleiben. Diese acht Monate waren wie eine neue Haftstrafe für mich“, sagt Witalii.  

    Einen Monat später wurde Witalii in einer Gruppe von Inhaftierten aus dem Abschiebezentrum nach Werchny Lars an die russisch-georgische Grenze gebracht. Doch es kam nicht zur Abschiebung: Weil Witalii zwar seinen ukrainischen Inlandspass dabeihatte, der jedoch kein aktuelles Foto enthielt, entschieden die russischen Grenzbeamten, dass das Dokument ungültig sei.  

     

    „Russland ließ mich ausreisen, aber Lettland ließ mich nicht rein“ 

    Sechs Monate später wurde Witalii nach Pskow gebracht, um über die Grenze zu Lettland abgeschoben zu werden. „Vier Tage lang waren wir unterwegs, hin und zurück. Währenddessen mussten wir Handschellen tragen, als wären wir Schwerverbrecher. Wir hatten Hunger und konnten nicht auf die Toilette gehen. Letztlich ließ mich nun zwar Russland ausreisen, doch Lettland ließ mich nicht rein. Ich sollte zurück, wo ich hergekommen war. Also haben sie mich zurückgebracht.“ 

    Und dabei blieb es, bis Russland die Prozedur zur Bestätigung der Identität von Ausländern änderte. Seit Beginn der Vollinvasion erließ Putin mehrere Dekrete, die angeblich den Status ukrainischer Bürger regeln sollten. So sieht ein Erlass vom 29. September 2023 vor, dass ukrainische Staatsbürger, deren Dokumente abgelaufen waren, sowie Menschen ohne Papiere, Russland mit einer Kopie der Identitätsfeststellung des russischen Innenministeriums in einen Nachbarstaat verlassen könnten, wenn dieser zustimmte.

    Erlass des russischen Präsidenten vom 29. September 2023, Absatz 4: „Bürger der Ukraine, die nicht im Besitz der in Absatz 1 dieses Erlasses genannten gültigen Dokumente sind, können ausnahmsweise die Russische Föderation über die Landgrenze in an die Russische Föderation angrenzende Staaten verlassen (vorausgesetzt, dass diese Staaten die betreffenden Personen akzeptieren), wenn sie eine Kopie des Beschlusses über die Feststellung der Identität des ausländischen Bürgers vorlegen, der von einem lokalen Organ des Innenministeriums der Russischen Föderation gemäß Artikel 101 Absatz 12 des Föderalen Gesetzes Nr. 115-FZ vom 25. Juli 2002 ‚Über die Rechte ausländischer Bürger in der Russischen Föderation‘ ausgestellt wurde.“ 

    Damit kam auch Bewegung in Witaliis Fall, sodass er und seine Gruppe schließlich abgeschoben wurden. Zurück in Werchny Lars brauchten sie zwei Tage, um die Grenze zu überqueren. In Georgien empfingen sie freiwillige Helfer, die sie aufnahmen und ihnen halfen, Dokumente zu besorgen. Schließlich kehrte Witalii über Moldau in die Ukraine zurück. 

    Doch auch hier ist Witaliis Status unklar: „Ich habe hier mit der Polizei gesprochen. Meine Mutter hatte bereits Anzeige erstattet, als ich noch in Russland war. Zwar bin ich jetzt hier, doch weiß ich nicht, wie mein Status ist, ob ich als Opfer anerkannt werde. Deswegen weiß ich gar nicht, woran ich bin, aber ich will, dass das nicht ungestraft bleibt.“  

    Nach Angaben der ukrainischen NGO Sachist wjasniw Ukrajiny (deutsch: Gefangenenhilfe Ukraine) werden solche Fälle tatsächlich untersucht: Bis Ende 2024 bekamen 244 ehemalige Gefangenen und 143 ihrer Angehörigen den Status eines Betroffenen in Verfahren wegen „Verstößen gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges“ (Artikel 438 des ukrainischen Strafgesetzbuches) zuerkannt.  

     

    „Am Abend ins Transitgefängnis, am Morgen nach Kertsch“ 

    Olexii musste indes noch zwei Jahre und drei Monate Haftstrafe im Gefängnis in der Region Krasnodar absitzen. Er berichtet, dass noch mehr Ukrainer aus Gefängnissen in den besetzten Gebieten dorthin gebracht wurden. In seiner Gruppe waren demnach etwa 150 Personen. Einige Tage später kam eine weitere Gruppe mit rund 100 Personen an. Im November 2024 wurde Olexii aus der Haft entlassen.  

    „Am 11. November wurden wir nach Krasnodar gebracht, dort steckten sie uns am Abend in ein Transitgefängnis und brachten uns am Morgen weiter nach Kertsch. Ich verbrachte 45 Tage in Kertsch“, berichtet Olexii. „Als wir dort entlassen wurden, begleiteten uns sechs FSB-Agenten in einem Auto zur Polizeiwache, machten Fotos von uns und nahmen unsere Fingerabdrücke. Sie ließen uns ein Formular unterschreiben, dass wir nichts filmen, niemandem etwas erzählen und nichts in die Luft jagen würden. Warum sollte ich auch? Dann brachten sie uns zu einer Unterkunft.“ 

    Die Übernachtung dort zahlten ihnen freiwillige Helfer. Von der besetzten Krym mussten die ehemaligen Häftlinge dann wieder aufs russische Festland und auf eigene Faust zur Grenze nach Georgien fahren. In Georgien gingen sie sofort zur ukrainischen Botschaft und beantragten Dokumente für ihre Rückkehr in die Ukraine. 

    „So kam ich zurück. Meine Frau wartete auf mich und nun bin ich wieder zu Hause“, sagt Olexii froh.  

     

    „Alle werden illegal in Abschiebezentrum festgehalten“ 

    Neben den unter russischer Besatzung entführten Gefangenen haben auch die aus politischen Gründen in Russland verfolgten und verurteilten Gefangenen [mit ukrainischer Staatsbürgerschaft – dek] Probleme nach der Freilassung.  

    Einer von ihnen ist Andrii Kolomijez, ein Euromaidan-Aktivist, der 2015 in Russland festgenommen wurde, als er seine zukünftige Frau Halyna treffen wollte. Wegen eines angeblichen Angriffs auf Berkut-Offiziere damals in Kyjiw wurde er verurteilt. Im Januar 2025 kam Kolomijez nach zehn Jahren Haft frei, wurde aber sofort in Abschiebehaft gebracht.  

    Sein Fall hatte damals viel Aufmerksamkeit erregt. Die Anklage gegen ihn leitete die berüchtigte Staatsanwältin der Krym-Besatzer, Natalja Poklonskaja, erinnert sich Olha Skrypnyk, Leiterin der Krym-Menschenrechtsgruppe.  

    Skrypnyk zufolge befindet sich Kolomijez noch immer im Abschiebezentrum in der russischen Region Krasnodar, wo er von einem Gericht wegen Verletzung der Aufenthaltsgesetze schuldig gesprochen wurde. Gleichzeitig gilt Kolomijez bereits seit einigen Jahren für Russland (wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer in Russland als extremistisch eingestuften Organisation – dek) als unerwünschte Person, sodass er auch deswegen abgeschoben werden müsste, so die Leiterin der Krym-Menschenrechtsgruppe. 

    „Es gibt mehrere Dutzende ukrainische Staatsbürger, die ihre Strafe aufgrund verschiedener Urteile verbüßt haben. Nicht alle von ihnen wurden aus politischen Gründen verurteilt, aber alle werden illegal in sogenannten Abschiebezentrum festgehalten“, betont Skrypnyk. „Formal müsste Andrii Kolomijez abgeschoben werden, aber Russland weigert sich und beruft sich darauf, dass wegen der sogenannten ‚militärischen Spezialoperation‘ keine diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern bestehen.“  

    Die Inhaftierung in Abschiebezentren könne, so die Menschenrechtlerin, in Russland praktisch zeitlich unbegrenzt dauern – so lange, wie die Gerichte die Haft dort verlängern. Skrypnyk verweist darauf, dass dies nicht nur ein Rechtskonflikt sei, sondern eine gezielte Maßnahme, die von den russischen Strafverfolgungsbehörden eingesetzt werde, um Ukrainer unter Druck zu setzen. 

    Grenzübergang Werchny Lars Russland-Georgien

    „Das Völkerrecht verbietet die Zwangsverbringung von Zivilisten“ 

    Vor dem 24. Februar 2022 befanden sich auf dem Gebiet, das die russische Armee in den folgenden Wochen besetzte, insgesamt 2422 Verurteilte im Strafvollzug und 900 Personen in U-Haft. Diese Zahlen teilte das ukrainische Justizministerium Graty auf Anfrage mit.  

    Im November 2022 registrierten die Gefangenenhilfe Ukraine, das Menschenrechtszentrum Zmina sowie das European Prison Litigation Network (EPLN) gemeinsam mit der Staatlichen Universität für innere Angelegenheiten in Lwiw eine groß angelegte Verlegung von Gefangenen aus Strafvollzugsanstalten in den besetzten Gebieten der Regionen Cherson und Mykolajiw nach Russland. Die Gesamtzahl dieser Deportierten wird nach vorläufigen Schätzungen auf etwa 1800 bis 2000 Personen beziffert. 

    Die Menschenrechtler betonen die Rechtswidrigkeit dieses Vorgehens: Das humanitäre Völkerrecht verbietet die Zwangsverbringung von Zivilisten – Ausnahmen erlaubt es nur, wenn sie zu ihrer eigenen Sicherheit evakuiert würden. In diesem Fall verpflichte sich der evakuierende Staat, den Betroffenen ausreichend sanitäre Einrichtungen, Gesundheitsversorgung, Sicherheit und Ernährung zu bieten. Dies geschah nicht.  

    Außerdem bestätigen die Menschenrechtsexperten die wiederholten Inhaftierungen von entlassenen Gefangenen unter dem Vorwurf, sie hätten gegen russische Aufenthaltsgesetze verstoßen. Die Unterbringung in Abschiebezentren entspreche einer erneuten Haft.  

    Dem Bericht zufolge konnten ukrainische Staatsbürger Russland bis August 2024 über den Grenzübergang Kolotyliwka-Pokrowka [in der Region Sumy – dek] direkt in die Ukraine oder über Drittländer wie Lettland oder Georgien verlassen. Allerdings gab es häufig Probleme beim Grenzübertritt. Die meisten Ausreisen erfolgten heute über Georgien.  

     

    „Diese Menschen landen im Keller einer Baustelle“ 

    Ehemalige Gefangene, die über Georgien ausreisen konnten, erwähnen oft die dortige Initiative Volunteers Tbilisi, die seit März 2022 in der georgischen Hauptstadt aktiv ist und sich ursprünglich dafür engagierte, humanitäre Hilfe in die Ukraine zu schicken. Später kam die Unterstützung von Geflüchteten hinzu, sagt Maria Belkina, die Gründerin der Initiative. Sie ist russische Staatsbürgerin und vor etwa sieben Jahren mit ihrer Familie nach Georgien gezogen.  

    Im Sommer 2023 erfuhr Belkina durch eine Kollegin von der Situation ukrainischer Staatsbürger, die illegal in russische Haftanstalten gebracht wurden und mit Problemen nach ihrer Entlassung konfrontiert waren. Als die Freiwilligen zur Grenze fuhren, trafen sie dort eine Gruppe ehemaliger Gefangener, die ihnen von der Verlegung aus Gefängnissen aus den russisch besetzten Gebieten und den Schwierigkeiten bei der Rückkehr in die Heimat berichteten. Schnell stellte sich heraus, dass es um Tausende Betroffene ging, die potenziell Hilfe brauchten.  

    Sie bekommen dort nicht einmal zu essen. Das Essen bringen wir.

    Belkina und ihr Team haben seitdem etwa dreihundert Menschen an der Grenze empfangen. Auf ukrainischer Seite arbeitet Volunteers Tbilisi auch mit der Gefangenenhilfe Ukraine zusammen, die in Rechtsfragen berät, Aussagen dokumentiert und sie bei der Logistik der Heimreise unterstützt.  

    Am schwierigsten sei die Situation für Menschen, die außer ihren Entlassungsurkunden keine weiteren Dokumente hätten, so Belkina. Das seien mehr als die Hälfte der Fälle. Die georgische Seite stellt dann ein Ersuchen an ukrainische Diplomaten, die die Identität der Person bestätigen müssen.  

    „Diese Menschen landen dann im Keller einer Baustelle an der Grenze. Wir sprechen hier von absolut unwürdigen Bedingungen. Es ist buchstäblich ein Keller voller Baumaterialien, doch irgendwie müssen sie dort ausharren. Das kann einen Monat bis anderthalb Monate dauern. Das ist die gängige Praxis. Sie bekommen dort nicht einmal zu essen. Das Essen bringen wir“, erzählt die Freiwillige. 

      

    „Kyjiw und Tbilisi einigten sich auf ein gesondertes Verfahren“ 

    Das ukrainische Außenministerium erklärte auf Graty-Anfrage, dass wegen des Krieges und des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen keine ukrainischen Konsulate auf russischem Hoheitsgebiet tätig seien und die Diplomaten ukrainische Staatsbürger nur von Nachbarländern Russlands aus unterstützen können.  

    Da die russischen Behörden häufig versuchten, Ukrainer nach Georgien abzuschieben, hätten sich Kyjiw und Tbilisi aber bereits auf ein gesondertes Verfahren zur Identitätsfeststellung und Rückkehr ukrainischer Staatsbürger geeinigt, die aus Haftanstalten in den besetzten Gebieten der Ukraine stammen und nach Russland verbracht wurden, so Sprecher Heorhii Tychy.  

    „Nach Einleitung eines entsprechenden Verfahrens wird ukrainischen Staatsbürgern in der Regel ein Ausweis für die Rückkehr in die Ukraine ausgestellt. Die Registrierung und Ausstellung dieses Dokuments zur Rückkehr in die Ukraine erfolgt innerhalb eines Arbeitstages, sofern alle Nachweise zur Identitätsfeststellung und der Staatsangehörigkeit vorliegen“, heißt es außerdem in einer Erklärung des Außenministeriums. 

    Demnach hat die ukrainische Botschaft in Georgien im Jahr 2024 95 Dokumente zur Rückkehr in die Ukraine an ehemalige Gefangene ausgestellt, in den ersten drei Monaten des Jahres 2025 bereits 37. Wie die ukrainische Botschaft in Georgien auf Anfrage der Gefangenenhilfe Ukraine mitteilte, wurden 2024 216 Anträge von ehemaligen Gefangenen sowie 44 Anträge bislang im Jahr 2025 gestellt. 

    Nach Angaben einer Anwältin der Organisation, Anna Skrypka, dauert dieses Verfahren zur Identitätsfeststellung und Bestätigung der ukrainischen Staatsbürgerschaft, um die zur Rückkehr benötigten Dokumente zu erhalten, tatsächlich im Durchschnitt noch immer zwischen einem und drei Monaten. Schlimm sei es für die Menschen, die trotz allem einen Negativbescheid bekämen. 2024 betraf das nach Botschaftsangaben neun Personen, in diesem Jahr noch keine. 

    Insgesamt sind seit 2022 etwa 400 ehemalige Gefangene aus den aktuell von Russland besetzten Gebieten der Ukraine aus russischer Haft über Georgien in die Ukraine zurückgekehrt. Etwa einhundert sind in Georgien geblieben. 

    Zuletzt berichtete der georgische Ableger von Radio Svoboda, dass Ende Juni 2025 etwas mehr als 50 ukrainische Staatsbürger im provisorischen Abschiebetrakt des russisch-georgischen Grenzübergangs Werchny Lars auf ihre reguläre Abschiebung warten.

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  • Wir waren Wölfe und Fisch

    Maryja Martysievič, geboren 1982 in Minsk, gehört zu den bekanntesten Stimmen der zeitgenössischen belarussischen Poesie. Sie hat mehrere Bücher vorgelegt und wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, auch für ihre journalistische Arbeit und ihre Übersetzungen aus dem Polnischen, Tschechischen, Englischen oder Ukrainischen. In ihren lyrischen Arbeiten macht sie sich immer wieder auf die Suche nach den Ursprüngen ihrer Landsleute, wie in ihrem Langgedicht Sarmatia.

    Auch in ihrem Essay für unser Projekt mit der S. Fischer Stiftung Spurensuche in der Zukunft begibt sie sich in die Tiefen belarussischer Rätselhaftigkeit und dekodiert sie mit den Mitteln der poetisch-literarischen Wahrheitserkundung.  

    беларуская версія

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Antanina Slabodchykava

    Die Zukunft des Menschen muss man in seiner Vergangenheit suchen. Ich pflichte allen bei, die das sagen. Und vor allem teile ich Benedict Andersons Ironie, wenn er sagt, wann immer eine Gemeinschaft sich für eine Nation hält, beginnt sie – die Neugeborene – sofort Beweise für ihre archaische Abstammung auszugraben. Je archaischer diese Abstammung, desto selbstbewusster und glücklicher fühlt sich die Nation. 

    Die Vergangenheit der Menschheit ist eine Projektion ihrer Gegenwart. Das habe ich mir selbst ausgedacht, und viele stimmen mir darin zu. In Anlehnung an Yuval Noah Harari, der sagt, dass die Menschheit vernünftiger und geistreicher war, als alle noch Nomaden waren und sich gesund nomadisch ernährten, kommt nun schon meine eigene Ironie ins Spiel. Ein durch Jagd erbeutetes Steak würzten die Menschen mit selbst gesammelten Wurzeln. Die Menschheit hat also nur verloren, seit sie sich am Rande der Weizenfelder auf ihre vier Buchstaben gesetzt hat.  

    Mein Lieblingsinstrument aus dieser Oper ist die Neandertalerflöte. Ein Bärenknochen mit runden Löchern, gefunden in Divje Babe in Slowenien. Man sagt, sie wurde im Paläolithikum gefertigt. Andere primitive, vorhistorische Flöten sind neuer, sie wurden schon vom Homo Sapiens hergestellt. Die Flöte von Divje Babe beweist: Zu Unrecht brachten die Wissenschaftler früher die Neandertaler in Verruf – sie verfügten bereits über höhere Fähigkeiten und hatten ihre eigene, schöne Musik.  

    Heute sind Wissenschaftsblogger den Neandertalern gegenüber vorsichtig und wohlwollend eingestellt – wie vielen einstigen Minderheiten gegenüber, die von der Sapienshorde ausgelöscht wurden. Was heißt es, Europäer zu sein? Die Antwort auf diese bei den Denkern des 20. Jahrhunderts populäre Frage lautet im 21. Jahrhundert: 2 % Neandertaler-Genom in der DNA. Wie stellt man fest, welchen Anteil man hat? Im 21. Jahrhundert ist das gar keine Frage mehr. 

    Vor Kurzem hat die Genealogie-Plattform MyHeritage ihre DNA–Datenbanken aktualisiert, was die Kunden aus Belarus stark verwunderte. Bei jedem von ihnen verringerte sich der Anteil osteuropäischer Gene und der Prozentsatz in der Spalte baltisch wuchs. Bei vielen erschien ein neuer, schockierender Vermerk: balkanisch. Im Familiengedächtnis ist in der Regel nichts über Vorfahren vom Balkan gespeichert. Die Plattform gibt folgende verallgemeinerte Zahlen für die DNA von Menschen aus Belarus an: 90,6 Prozent – baltisch; 88,7 Prozent – osteuropäisch; 64,6 Prozent – balkanisch; 7,2 Prozent – aschkenasisch–jüdisch; 5,3 Prozent – finnisch.  

    Die jüdischen Gene – das ist noch ganz frische Geschichte, das Mittelalter in Belarus. Die anderen Zahlen hauten mich aber vom Hocker. Das war „alles schon bei den Simpsons“: Ich hatte davon in den Texten des Historikers Mikola Jermalowitsch gelesen. 

    Jermalowitsch war ein belarusischer sowjetischer Dissident, der für die Schublade historische Abhandlungen über die Herkunft der Nation und der Staatlichkeit verfasste. Neben Uladsimir Karatkewitsch war er genau der Gräber nach Beweisen für unser belarusisches Altertum, über die Anderson gewitzelt hatte. Jermalowitsch Buchreihe Starashytnaja Belarus (dt: Belarus im Altertum) wurde erst herausgegeben, als es möglich geworden war – zu Beginn der 1990er. Bis dahin hatten Zeitschriften Angst, seine Hypothesen zu drucken, die den in der UdSSR üblichen Postulaten von der osteuropäischen Dreifaltigkeit Belarus, Ukraine und Russland diametral entgegenstanden. Dieses Postulat entstand zu Zeiten des Russischen Imperiums, um dessen Dimensionen mit Ideologie zu untermauern, und wird aus irgendeinem Grund bis heute in der Welt als Wahrheit hingenommen. 

    Jermalowitsch ignorierte diese konstruierte These und beschloss, in seinen Arbeiten die Herkunft der Belarusen detailliert zu erforschen. In seine Abhandlungen muss man sich genauso einlesen, wie man sich in eine lateinamerikanische Telenovela einsehen muss, um zu verstehen, wer wessen Bruder, Schwiegervater oder uneheliche Enkelin ist. Denn bis zum 9. Jahrhundert zogen auf dem Gebiet des heutigen Belarus die Stämme mehr oder weniger ständig hin und her. Sie kamen, ließen sich nieder, dann standen sie wieder auf und zogen weiter, verdrängten und verschoben andere Stämme. Hauptsächlich waren es Balten: Litauische und Lettländische, – und Slawen: Kriwitschen, Dregowitschen, Radimitschen. Es gab noch viele andere Stämme, aber sie blieben Nebenschauplätze in der Serienhandlung. In die Lehrbücher des unabhängigen Belarus schafften es nur die genannten. 

    Jermalowitsch analysierte zwei zentrale Quellen: archäologische Daten und Orts– und Gewässernamen. 

    Mit den Slawen, so schrieb Jermalowitsch, passierte laut diesen Daten etwas Seltsames. Sie „saßen“ in aller Ruhe im zukünftigen Belarus, aber als sie im 5. Jahrhundert von den Balten vertrieben wurden, zogen sie in den Süden: jenseits der Donau, auf den Balkan. Ein Jahrhundert später überlegten sie es sich wieder anders und kehrten zurück. Auch die Finno-Ugren zogen in einem breiten Streifen durch Belarus. 

    Für einen Moment schien mir, die künstliche Intelligenz, die die DNA der Belarusen analysiert, habe ebenfalls Mikola Jermalowitsch gelesen.  

    Wegen Jermalowitsch wäre ich fast Historikerin geworden. Ich gewann die Silbermedaille bei der Kreisolympiade im Fach Geschichte. Ich wusste nicht, dass Jermalowitsch noch kurz zuvor ein Dissident gewesen war. Und erst recht konnte ich mir nicht vorstellen, dass Jermalowitsch keine historische Ausbildung hatte. Er war Philologe und unterrichtete belarusische Literatur.  

    Bei der Kreisolympiade sollten wir zum einen Konzepte der Abstammung der Belarusen beschreiben, zum anderen die Ursachen der Kubakrise. Über die Abstammung der Belarusen hatte ich nur Jermalowitsch gelesen (damals lasen ihn alle), über die Kubakrise hatte ich einen Dokumentarfilm gesehen. Heute ist mir klar, dass ich die Medaille wegen meiner literarischen Fähigkeiten bekam. In meinem Essay hing die Existenz der Belarusen als Nation nämlich am seidenen Faden – aber dann wendete sich das Blatt: Die einen slawischen Völker waren rechtzeitig von jenseits der Donau zurückgekehrt und hatten sich in der richtigen Proportion mit dem Balten gemischt, den anderen (den Kriwitschen) hatte man in Nowgorod eine Klatsche verpasst, sodass sie zurückkamen und Polazk gründeten – wodurch für die Belarussen doch noch alles gut ausging. Dieselbe Dramaturgie hatte in meiner Nacherzählung auch die Kubakrise. Als Antwort auf die in der Türkei aufgetauchten amerikanischen Raketen steuerten sowjetische Flugzeugträger schnurstracks auf Kuba zu: „Jeden Moment konnte der rote Knopf gedrückt werden …“ 

    Bei der nächsten Etappe der Olympiade, dem Stadtausscheid, lasen offensichtlich weniger romantische Historiker meine Essays, denn die Nacherzählung der Jermalowitsch-Bücher brachte keine Punkte.  

    Als ich die DNA-Auswertungen belarusischer Blogger und meiner Facebook–Freunde sah, traute ich meinen Augen nicht. Nehmt das, Skeptiker! Mikola Jermalowitsch hatte recht. Die Genetiker bestätigen es. 

    Meine Euphorie währte bis zu dem Tag, an dem ein anderes Gentechniklabor – Colossal Biosciences – von der Wiedererweckung des archaischen Schattenwolfes (Aenocyon dirus) berichtete. Die Forscher hatten das Genom der längst ausgestorbenen Art genommen und auf der Grundlage des heutigen Wolfes restauriert.  

    Wissenschaftsblogger erläuterten sofort, dem Labor sei es dabei nicht um historische Genauigkeit gegangen. Sie sorgten sich weniger um die Wissenschaft als um das Äußere. Die Gentechniker hatten sich zum Ziel gesetzt, die neuerschaffenen Tiere möglichst genau den Wesen anzugleichen, die in Game of Thrones gezeigt worden waren. 

    Das bestärkte mich also wieder in der Vermutung, dass MyHeritage Belarus im Altertum von Mikola Jermalowitsch verarbeitet hatte. Ich las noch einmal die Seiten über die Ethnogenese und stellte mit Schrecken fest, dass Jermalowitsch auch von Wölfen geschrieben hatte! Einige Stämme unserer Vorfahren hießen Wilzen (Wölfe) oder Lutizen (Grausame). Natürlich kam im Buch auch das bekannte Herodot-Zitat vor, dass in unseren Gefilden einst die Neuri lebten, die sich „jedes Jahr für eine paar Tage in Wölfe verwandelten“. 

    Es kostet nicht wenig, aber man kann heutzutage seine DNA auf das Genom der Neandertaler testen lassen. Den Prozentsatz balkanisch-baltischer Gene in der eigenen Spirale zu bestimmen, ist hingegen einfacher. Seit der Aktualisierung der Datenbasis bei MyHeritage gibt es sogar Ermäßigungen. In wie vielen Jahren wird es wohl möglich sein und wie viel wird es kosten, bei sich den Anteil wölfischer Gene bestimmen zu lassen? Wie lange wird die Wissenschaft brauchen, um unsere Abstammung von den Fischen nachzuvollziehen? 

    Ende der 1980er Jahre wollten junge Belarusen durch die Bank weg Historiker werden. Zu Beginn der 2020er studieren alle jungen Belarusen Biochemie.  

    Ich habe kein Profil bei MyHeritage oder ähnlichen Anbietern. Selbst jetzt nicht, wo es Ermäßigungen gibt. Die Genlabore schicken ihre Testkits nicht nach Belarus. Mit einer belarusischen Geldkarte kann man ihre Dienstleistung nicht bezahlen. Ich weiß nicht, ob Patrycja aus Białystok und ich wirklich einen gemeinsamen Urgroßvater haben und in welchem Verhältnis Pawel aus Wien zu mir steht, dessen Großvater nur einen Wald von meinem entfernt geboren wurde. Wir haben uns im Internet über unseren Familiennamen gefunden. Mir ist noch immer ein Rätsel, warum die eine Linie meiner Vorfahren im Dorf Turki (Türken) genannt wurde und ob ich vielleicht daher meine dunklen Augen und Haare habe. Ich habe Angst, dass ich es nicht mehr schaffen werde, in das Dorf an der russischen Grenze zu fahren und dem Verwandten ein Wattestäbchen in den Mund zu stecken, dessen Biomaterial uns erzählen kann, ob wirklich einer unserer Vorfahren aus Preußen stammte. Und wenn dem so ist, woher genau? In welcher Hafenstadt an der Ostsee findet sich der entfernte Onkel, der mir seinen Stammbaum in der genetischen Datenbank nicht freigibt, weil ich „Kommunistin“ oder „Russin“ bin? Oder werden mir andere Stereotype der Gegenwart den Zugang zur Vergangenheit verschließen, und damit auch zur Zukunft? Belarusen, die ihre DNA testen ließen, berichten auch von solchen Fällen.  

    Einmal erzählte ich in der traditionellen Unterrichtsstunde Woher wir stammen die Familienlegende über die Turki. Die Lehrerin musste lachen und sagte, ich hätte diese Geschichte abgekupfert. Kurz darauf fand ich heraus, dass Michails Scholochows Stiller Don mit dieser Legende beginnt. 

    Deshalb werde ich irgendwann diesen Test machen. Ich will alle Familiengeschichten in Zahlen verkörpert sehen. 

    Ich denke, die massenhafte DNA-Testung wird bald die globalen Identitäten verändern. Schon heute beeinflusst sie die Lebensgestaltung der Menschen. Facebook-Freunde beschließen, Finnisch zu lernen oder fahren in den Urlaub nach Ljubljana, nachdem sie auf MyHeritage ihre Wurzeln entdeckt haben. 

    Unsere Vergangenheit ist die gegenwärtige Projektion auf Netflix oder Youtube. Bei Jermalowitsch stolpere ich über das Verb „gingen“. Er verwendet es, weil es schon der Verfasser der Nestorchronik tat. Die Slowenen „gingen her und ließen sich nieder“. Die Kriwitschen „gingen her und ließen sich nieder“. Inwiefern ist „gingen her“ eine Metapher? Gingen sie, wie bei den Matrosen die Ladung geht und nicht schwimmt, oder bei den Lokführern die Züge pünktlich gehen, statt zu fahren? Ich habe vor Augen, wie das Volk Israel durch die Wüste geht, denn die Bibel wurde mehrfach verfilmt. Aber wie gingen die Slawen? Das Rad war schon längst erfunden. Fuhren sie also auf Wagen? Oder fuhr auf den Wagen ihr Hab und Gut, während sie nebenherliefen? Erwiesen ist, dass sie sich auf Flüssen fortbewegten. Fuhren sie auf Flößen? Mit Booten? Oder zogen sie, wie die Treidler an der Wolga auf Ilja Repins Gemälde, die Boote an Seilen? Jermalowitsch schreibt nichts darüber, und andere Autoren habe ich nicht gelesen.  

    Gingen sie in großen Gruppen, oder zu zweit, oder als Familie? Wenn zum Beispiel eine junge Frau und ein junger Mann heirateten, zogen sie dann zu zweit den Fluss hinauf, bauten ein Haus, bekamen Kinder und kehrten später zurück, um die Eltern zu sich zu holen? Oder hatten die Stämme Kundschafter und Gesandte? Wie genau verdrängte ein Stamm den anderen? Gingen die Stämme in Marschkleidung oder trugen sie Paradefibeln, Gürtel, Ringe und Anhänger in Entenform, wie Archäologen sie in Grabhügeln fanden? Damit die Fremden, denen sie begegneten, an diesen Zeichen ihre Herkunft erkennen konnten? 

    Nein, DNA-Tests können nicht alle meine Fragen beantworten. Mit der Radiokarbonmethode könnte es vielleicht klappen. 

    Alle, die wissen wollten, wie ich die Zukunft von Belarus sehe, haben vielleicht eine andere Perspektive von mir erwartet – mehr aktuelle Prognosen, frische News, ein Gemälde der Stimmungen im Land. Vielleicht sollte ich erklären, dass Rus und Russland nicht dasselbe ist. Sagen, was ich über Belarus‘ Aussichten auf der Weltkarte denke. Wird es Krieg oder Frieden geben? Freiheit oder Diktatur? Soll eine Frau oder ein Mann an der Spitze des Landes stehen? Wie viele Menschen sprechen heute Belarusisch? Aber dafür bin ich wohl nicht die passende Autorin. Ich denke, Jermalowitsch gefällt mir, weil ich auch ich so eine versessene Vergangenheitsgräberin bin, über die Anderson sich lustig macht.  

    Eine wichtige Nachricht in Belarus war im letzten Jahr, dass Archäologen bei Ausgrabungen in der alten Wallburg Stary Mensk Hüttenkonstruktionen aus Eichenstämmen aus dem 9. Jahrhundert entdeckt hatten. Sowohl die Machthaber, die die Repressionen absichern, als auch die Repressierten teilten dieselben Emotionen: Wir haben uralte Wurzeln, noch im Altertum, wir hatten hier einst eine Hauptstadt, die handelte, kämpfte und mit Knochenfiguren Schach spielte. Eine Schachfigur aus der Ausgrabung wird in einer Vitrine gezeigt, eine Kopie kann man im Museumsshop kaufen. Ebenso können Belarusen, die nach Slowenien fahren, um ihren balkanischen Wurzeln nachzuspüren, im Nationalmuseum in Ljubljana die Neandertalerflöte betrachten und sich im Souvenirgeschäft eine Kopie kaufen. 

    MyHeritage ist eine israelische Seite, deshalb gibt es in der aktualisierten Datenbank 15 ethnische Gruppen von Juden. Genetische Plattformen sind häufig auf Kunden spezialisiert, die aus Europa nach Israel oder in die USA emigriert sind und dafür bezahlen, die Wege ihrer Vorfahren über die Kontinente nachzuvollziehen. Die Belarusen sind eine eher unerwartete Nutzergruppe, an der man sich kaum ausrichtet. Die Belarusen sind an eine konkrete Fläche auf der Landkarte gebunden. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass ein Machtwechsel oder gar der Verlust der Unabhängigkeit daran etwas ändern würde. Denn diese Umrisse wurden von Wissenschaftlern definiert: Linguisten, Ethnografen, Publizisten. Und nun auch von Biochemikern.  

    Wie schon ein Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, Jauchim Karski, in seiner Abhandlung Belorusy (dt. Die Belarusen), beginnt Mikola Jermalowitsch das Gespräch über den Ethnos mit einem Topos. Belarus – das ist ein historisches Charakteristikum, das auf ein geografisches Charakteristikum zurückgeht. Die Belarusen heute, das sind jene, deren Vorfahren „hergingen und sich niederließen“ in Wäldern und an Flussquellen. Belarus ist dort, wo die Wälder sind, und seine Grenzen sind von allen Seiten durch Sümpfe markiert. Karski schreibt sogar, dass die großen Umsiedlungen der Völker im Russischen Imperium nichts an dieser Gewohnheit änderten. Die Belarusen erkannte man ihm zufolge daran, dass sie selbst in Steppenregionen Bäume fanden und sich zwischen ihnen niederließen. Daher erhielten sie auch diese Bezeichnung von ihren Nachbarn: Paleschuki [zu Palesje, Wald- und Sumpflandschaft]. Das sind Menschen, für die offene Landschaften Gefahr bedeuten. Eine Skyline aus Wald hingegen gibt ihnen das Gefühl von Geborgenheit.  

    Jede Gegenwart hat ihre eigene Version der Vergangenheit. Im 20. Jahrhundert erklärten Historiker und Ideologen den Namen Belaja Rus damit, dass unsere Gebiete nicht von Tataren erobert wurden, und die Haare der Menschen deshalb weiß wie Leinen und die Religion christlich blieben. Meiner Ansicht nach ist das eine sehr eugenische Deutung. Heute sind die Historiker zu Karskis geografischem Ansatz zurückgekehrt. „Weiß“ hieß auf der indoeuropäischen Weltkarte „oben“. Die Weiße Rus ist der Teil des Territoriums der Rus, der an den Oberläufen der Flüsse liegt. Dwina, Dnepr, Njoman und Wolga – die Ursprünge dieser Flüsse bezeichnet Karski als die Urheimat der Kriwitschen, die man im Russischen Reich später dann als Belarusen bezeichnete. 

    Jetzt habe ich mich also zu diesem Gedanken durchgegraben. Je mehr Bäume entlang der Flüsse und Seen stehen – desto mehr Belarus. 

    Ich habe kein Profil bei MyHeritage, aber ich bin Teil des belarusischen genetischen Strangs. Einmal brachte ich DNA–Tests nach Vilnius, die Verwandte einer Freundin in Polazk gemacht hatten. Die Freundin darf nicht nach Belarus reisen, da ihr Gefängnis droht. Den Test schickten sie mir aus Polazk per Post. Die Schachtel mit dem biologischen Material war sicher an einer Packung Dörrfisch befestigt. Solche Geschenke halten die Familie über Grenzen zusammen. „Ich habe den Test auf der Post abgeholt“, schreibe ich der Freundin, „er wird aber vielleicht ergeben, dass deine Polazker Vorfahren Amphibienmenschen waren.“ 

    Und vielleicht wird das ein sehr exaktes Ergebnis sein. 

    Minsk, April 2025 

     


     

    Maryja Martysievič (geboren 1982 in Minsk), Lyrikerin, Übersetzerin, Publizistin, Organisatorin literarischer Projekte. Erste Schritte als Herausgeberin mit den Buchreihen Amerykanka und Hradus. Autorin von sechs Lyrikbänden: Цмокі лятуць на нераст: эсэ ў вершах і прозе [Drachen fliegen zur Brut: Essays in Lyrik und Prosa] (2008), Амбасада: вершы свае і чужыя [Die Botschaft: Eigene und fremde Gedichte] (2011), Сарматыя [Sarmatia] (2018), Як пазбыцца Маматута [Wie werde ich das Mamatut los] (2020), Водападзел [Wasserscheide] (2022) und Хагі Вагі [Huggy Wuggy] (2025). Sie erhielt zwei Preise für Сарматыя [Sarmatia] und 2019 den Publikumspreis des Václav-Burian-Preises in Olomouc (CZ). Maryja Martysievič lebt in Minsk und Bronnaja Hara. 

     

    ANMERKUNG DER REDAKTION  

    Weißrussland oder Belarus? Belarusisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet. 

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  • Was kommt nach Lukaschenko?

    Was kommt nach Lukaschenko?

    Alexander Lukaschenko hat in den vergangenen 30 Jahren ein hochzentralisiertes und -personalisiertes Machtgefüge geschaffen, in dem praktisch keine wichtigen Entscheidungen ohne ihn getroffen werden können. Dabei ist der belarussische Machthaber schon 70 Jahre alt. Die Frage, wie eine Nachfolge aussehen könnte, ist also zentral für das Überleben des von Lukaschenko geschaffenen autoritären Systems.  

    In einem Projekt der Initiative Center for New Ideas analysieren Ryhor Astapenia und Pavel Matsukevich mögliche Szenarien eines Machttransits. Welche Gruppierungen und Organe könnten im Falle von Lukaschenkos Aus die Macht übernehmen? Welche Rolle spielen Lukaschenkos Söhne dabei? Im Interview mit dem Online-Portal GazetaBy gibt Astapenia Antworten.  

    Alexander Lukaschenko mit seinen Söhnen Viktor, Nikolai und Dmitri (v.l.n.r.) bei einer Parade zum Tag des Sieges in Minsk im Jahr 2019. / Foto © Itar-Tass/ Imago 

    Gibt es überhaupt einen Anlass, über Machtwechsel zu sprechen, abgesehen von der Tatsache, dass Alexander Lukaschenko schon über siebzig ist? Das Alter muss ja nicht nichts bedeuten, Robert Mugabe hat in Simbabwe noch mit 93 regiert …  

    Es liegt auf der Hand, dass Lukaschenko so lange wie möglich regieren will. Andererseits zeugen seine Taten – die Gründung der Allbelarussischen Volksversammlung und die sich mehrenden Gespräche darüber, dass „es Zeit für mich ist, abzutreten“ – davon, dass das Thema auf der Agenda steht. 

    Natürlich sollte man dem fahrenden Zug nicht vorauseilen und behaupten, dass es schon morgen einen neuen Präsidenten geben könnte. Aber die Frage wird zunehmend aktuell. Deshalb sprechen wir im Titel unserer Studie vom „Beginn des Machttransits“. 

    Hat der Prozess aus Ihrer Sicht wirklich begonnen oder wurden die Mechanismen wie die Volksversammlung nur für alle Fälle geschaffen? Vielleicht kommen sie nie zum Einsatz, wenn sich Lukaschenkos Gesundheit nicht gerade rapide verschlechtert? 

    Ich denke, Lukaschenko will nicht zu viele Signale aussenden, dass er abtreten will. Das würde bei verschiedensten Akteuren viele Emotionen, Hoffnungen und Erwartungen auslösen. In Russland, in der belarussischen politischen Emigration und auch innerhalb des Landes würden unnötige Gärungsprozesse beginnen. 

    Betrachtet man aber alle Veränderungen in Kombination – die Verankerung von Sicherheitsgarantien für Expräsidenten in der Verfassung, die Erwähnung einer neuen politischen Klasse in der Neujahrsansprache und den Beschluss, dass die Macht nach dem Tod des Staatsoberhauptes auf die Volksversammlung übergeht – dann kann man vom Beginn des Machttransits sprechen. 

    Lukaschenko verändert sich sichtlich, man sieht das gut, wenn man ihn mit Fotos aus früheren Jahren vergleicht. Es ist praktisch unausweichlich, dass es innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre einen neuen belarussischen Staatschef geben wird.  

    Lukaschenko hat in 30 Jahren Herrschaft gezeigt, dass er niemandem die Macht übergeben will 

    Gemeinsam mit ihrem Co-Autor Pavel Matsukevich, Senior Researcher am Center for New Ideas, unterscheiden Sie zwei Szenarien für den Machtwechsel: den geplanten und den unkontrollierten. Wie realistisch ist es denn, dass Lukaschenko, wenn er nicht gerade im Sterben liegt, jemand anderem die Macht übergibt?  

    Lukaschenko hat in 30 Jahren Herrschaft gezeigt, dass er niemandem die Macht übergeben will. Es wäre aber naiv zu denken, dass wir alles über ihn wissen. Es gibt viele Faktoren, die seine Entscheidungsfindung beeinflussen können. Deshalb würde ich hier sagen: fifty-fifty. 

    Lassen Sie uns noch ein wenig spekulieren. Soziologen stellen gern Fragen wie „Wen würden Sie wählen, wenn morgen Präsidentschaftswahlen wären?“. Wenn der Machtwechsel morgen in seine aktive Phase überginge, auf wen würde Lukaschenko setzen? 

    Wenn wir uns den Aufbau des Systems anschauen, sehen wir, dass es einen bestimmten Kreis von Menschen gibt, die schon vergleichsweise lange an der Macht sind und sich eine bedeutende Rolle erarbeitet haben: Nikolaj Snopkow (erster Vizepremier – GazetaBy), Alexander Turtschin (Premierminister), Dmitri Krutoj (Chef der Präsidialverwaltung und andere. Das ist die Gruppe, die das Funktionieren der Wirtschaft und im Prinzip auch des Staates verantwortet.  

    Natürlich gibt es die Familie (darunter fasst die Studie Alexander Lukaschenkos Verwandte und Vertraute zusammen, auch seine Kinder, die ebenfalls über große Ressourcen verfügt. Berücksichtigt man Lukaschenkos monarchische Befugnisse, wäre es naiv, eine Erbfolge beim Machtwechsel auszuschließen, also eine Übergabe vom Vater an den Sohn (höchstwahrscheinlich an den ältesten). Das könnte vom politischen System als ausreichend logische Entscheidung akzeptiert werden und auch für den Kreml legitim klingen. Sobald man aus einem weiteren Personenkreis auswählen muss, wächst Russlands Einfluss auf den Prozess. 

    Häufig wird auch über die Silowiki als potenzielle Anwärter auf die Macht gesprochen. Ihre Chancen würden im Fall einer Krisensituation wachsen – bei einem scharfen Konflikt mit einem anderen Staat oder Massenprotesten innerhalb von Belarus. Andererseits haben diese Menschen nie die Verantwortung für das Funktionieren des Staates getragen. Die Silowiki sind in diesem System Bonusempfänger, keine Gestalter. 

    Genau das halte ich für die kontroverseste Schlussfolgerung in Ihrer Studie: „Im Falle eines Machtwechsels werden sie [die Silowiki] sich wahrscheinlich mit der neuen Macht verbünden, sofern der Wechsel aus dem System entsteht, und nicht selbst die Macht beanspruchen.“  

    Die Silowiki haben tatsächlich nie selbst gestaltet, aber was hindert sie daran, dieselben Technokraten anzuheuern (oder sie zu zwingen ihnen zu dienen), die jetzt für Lukaschenko arbeiten? Zudem gibt es das russische Modell, wo eine Elwira Nabiullina vorgeblich die Probleme für Wladimir Putin löst.  

    Mit hoher Wahrscheinlichkeit würden die Silowiki zudem Unterstützung aus Russland erhalten, insbesondere im Fall eines unkontrollierten Machtwechsels.   

    Hier ist es wichtig, die aktuell bestehende Hierarchie zu betrachten, in der die Silowiki etwas niedriger stehen als die Leiter der Regierung und der Präsidialverwaltung. Der Logik nach kommen die Silowiki also nicht an erster Stelle, wenn die Macht von oben nach unten weitergegeben wird. Natürlich kann man die Situation, wenn Alexander Lukaschenko abtritt, nur schwerlich nicht als Krise bezeichnen [lacht], aber dennoch haben die Vertreter in der Verwaltungsvertikale mehr Möglichkeiten. Zudem spielt es eine Rolle, dass diese Leute schon länger im System sind. Bei den Silowiki gibt es häufiger Rotation. 

    Ryhor Astapenia leitet beim Think Tank Chatham House die Belarus-Initiative im Russland Eurasien-Programm. / Foto © privat
    Ryhor Astapenia leitet beim Think Tank Chatham House die Belarus-Initiative im Russland Eurasien-Programm. / Foto © privat

    Ich stelle eine naive Frage: Wenn Viktor Lukaschenko der wahrscheinlichste Nachfolger ist, warum hat sein Vater dann schon mehr oder weniger eine Million Mal gesagt: „Meine Söhne werden keine Präsidenten“? 

    Es ist eine gewisse Koketterie zu sagen „ich werde das nicht tun“. Warum sollte man das Thema des Machttransits an die Kinder eher als nötig aufbringen? Wenn die Entscheidung getroffen wird, wird sie umgesetzt. Im aktuellen Rechtssystem findet sich für alles ein Weg, wenn nötig über Nacht. Jetzt darüber zu sprechen, würde mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen. Es würde nur Leute verprellen. 

    Tatsächlich ist es schwer vorstellbar, dass Lukaschenko für einen geplanten Machttransit einen Präsidenten mit einem anderen Familiennamen im Blick hat. Als er das Amt des Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees abgeben musste, ging der Titel an seinen Sohn: vermutlich der Logik des aktuellen Machthabers folgend, dass es in Belarus keine Präsidenten mit einem anderen Familiennamen geben darf. 

    In Ihrer Studie heißt es: „Es ist ungewiss, welche Institutionen für den Machttransit genutzt werden. Es gibt zu viele Optionen dafür.“ Welche Varianten gibt es denn, außer die formal existierenden „Präsidentschaftswahlen“

    In Anbetracht der Tatsache, dass die Machthabenden die Gesetzgebung beliebig ändern und sie im Prinzip sogar ignorieren können, gibt es sehr viele Varianten. Zum Beispiel könnte ein neuer Präsident von der Allbelarussischen Volksversammlung gewählt werden.  

    Ein Machttransit könnte auch einfach nach dem Recht des Stärkeren entschieden werden 

    Es gibt das Szenario, dass das Land im Fall des Todes von Alexander Lukaschenko vom Sicherheitsrat regiert wird. In diesem Fall würde aber der Vorsitzende des Rates der Republik der Nationalversammlung zum formalen Staatsoberhaupt. Das ist aktuell kein Silowik. Und auch das ist ein Argument für die These, dass die Silowiki im Moment des Machtwechsels keine dominante Position innehaben werden. Man kann sich noch viele weitere Varianten ausdenken. Alles in allem hängt es aber nicht von den Institutionen ab. Der politische Wille entscheidet. Wenn es ihn gibt, wird es Veränderungen geben. Wenn nicht, dann nicht. 

    Selbst wenn man einmal annimmt, dass Alexander Lukaschenko plötzlich stirbt, dann müsste die Macht eigentlich auf den Sicherheitsrat übergehen. Das heißt aber nicht, dass es so kommt. Es kann auch einfach alles nach dem Recht des Stärkeren entschieden werden. 

    Inwiefern können personelle Veränderungen auf der politischen Führungsebene Ihre Studienergebnisse beeinflussen – aktuell und zukünftig? 

    Wir beobachten natürlich die Personalwechsel und die Änderungen in den Strukturen, wer geht, wer dazukommt. Einen Tag nach Erscheinen unserer aktuellen Studie wurde Wladimir Karanik [bis 22.05.25 Vizepremier] in die Akademie der Wissenschaften versetzt und Natallja Petkewitsch aus der Präsidialverwaltung [als neue Vizepremier] in die Regierung geholt. Das System modernisiert sich zusehends. Eine Person ist gegangen, die selbst nach den Maßstäben der herrschenden Klasse eine verknöcherte Weltsicht vertritt. 

    Wir verfolgen also diese Personalwechsel, beforschen aber eher das Gesamtsystem als einzelne Personen. Nicht immer gibt es genügend Informationen, um eine konkrete Ernennung oder Entlassung erklären zu können. Aber wenn man die Situation langfristig beobachtet, kann man bestimmte Tendenzen erkennen, vor allem eine Verjüngung des Personals. Es kommen kompetentere Leute an die Macht.  

    In Ihrer Studie wird die Opposition nur ganz am Rande erwähnt. Dennoch, was können die demokratischen Kräfte tun, um eine relevante Rolle zu spielen, sobald die aktive Phase des Machttransits beginnt? 

    Der zentrale (man könnte auch sagen: der einzige) Hebel der Demokraten wird der Westen sein. Vorausgesetzt, der Westen will, dass die Opposition in irgendeiner Form am politischen Leben in Belarus teilnimmt, kann er vermutlich Einfluss auf die herrschende Klasse ausüben. Deshalb muss man darauf hinarbeiten, dass der Westen sich für Veränderungen in Belarus starkmacht. 

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  • „Die guten Russen“

    „Die guten Russen“

    „Die Russen sind die neuen Deutschen“ – dieser Vergleich kam in russischen Exil-Kreisen schon wenige Wochen nach Beginn der russischen Vollinvasion auf. Hintergrund war die Annahme, dass alles Russische wegen der Aggression gegen die Ukraine nun pauschal gecancelt würde, genauso wie alles Deutsche während des Zweiten Weltkriegs.  

    Um zu verdeutlichen, dass man nicht alle über einen Kamm scheren könne, haben einige russische Oppositionspolitiker alsbald das Konzept der „guten Russen“ entwickelt: Russen, die gegen den Krieg und gegen Putin sind und deshalb etwa auch einen entsprechenden Pass verdienen sollten, mit dem sie im Exil nicht Opfer von Diskriminierung würden. Die Idee wurde von allen Seiten verrissen, einer der zentralen Vorwürfe: Eine Selbstviktimisierung sei angesichts des ukrainischen Leids zynisch, alle Russländer trügen kollektiv Verantwortung. 

    Das Konzept „gute Russen“ wurde in Folgezeit zu einem beliebten Meme, mancherorts mit ironischen Anklängen an den „guten Deutschen“ während der Hitlerzeit. Und obwohl die Idee damit völlig diskreditiert schien, wird das Label immer noch mit jenen Russländern verknüpft, die Hoffnung auf eine liberal-demokratische Zukunft Russlands hegen. 

    Wenige Tage nach der „Operation Spinnennetz“ gegen mehrere russische Militärflugplätze schreibt der ukrainische, russischsprachige Schriftsteller Boris Chersonski einen Facebook-Beitrag, in dem er dieser Hoffnung widerspricht und dafür plädiert, weniger die „guten Russen“ zur Zielscheibe zu machen und sich stattdessen auf das Wesentliche zu konzentrieren.

    Ein brennender russischer Pass, Symbolbild. © Pavlo Bagmut/ Ukrinform/ Imago

    Ein paar Worte über „die guten Russen“. Wir sind in vielem derselben Meinung. Zumindest hätten sie, wäre es nach ihnen gegangen, nie und nimmer einen Krieg gegen die Ukraine begonnen. Deswegen möchte ich nicht, dass diese Menschen, von denen ich viele schon sehr lange persönlich kenne, zur Zielscheibe scharfer und in weiten Teilen unfairer Kritik werden. Antiputinismus, eine Orientierung an europäischen Werten und liberales Denken – ist das, was uns vereint.  

    Ihre wichtigsten Schwachpunkte sind offensichtlich, und vielleicht spricht man deswegen nicht gern über sie, weil irgendwie ja ohnehin alles klar ist.  

    Und das war’s dann wohl auch schon mit den Gemeinsamkeiten zwischen uns und den guten Russen.  

    Sie lieben ihre Heimat. Sie sorgen sich um sie, wollen dahin zurück und wollen weiter eine Rolle in Kultur und Politik spielen.  

    Auch wir lieben unsere Heimat, sorgen uns um sie, wollen dahin zurück und nach Kräften an ihrem kulturellen und (nicht alle!) politischen Leben teilhaben.  

    Ist das eine Gemeinsamkeit? Nein, denn ihre Heimat ist für uns etwas anderes. Ihr Land verstümmelt seit vielen Jahren unser Land, tötet unsere Leute.  

    Unser Land hat gerade erst gezeigt, dass dieses Spiel in beide Richtungen geht. Wir greifen ihr „unantastbares Territorium“ an, zerstören Militär- und Energie-Infrastruktur und ja, bringen Tausende ihrer Soldaten um (genauso wie sie unsere).  

    Und das ist der Punkt: Um unsere Soldaten tut es mir leid. Um ihre – nicht wirklich. Bei ihren Worten naschi maltschiki (dt. unsere Jungs) schüttelt es mich.  

    Gleichzeitig verstehe ich, dass es ihnen um ihre Jungs leidtut, aber um unsere … na ja, anstandshalber. Ich verstehe das. Ja, sie identifizieren sich mit denen, die auf den ukrainischen Schlachtfeldern fallen.  

    Sie machen sich Gedanken, wie es mit ihrer Kultur auf unserem Territorium weitergeht. Dieses Thema beunruhigt mich als vorwiegend russischsprachigen Schriftsteller ebenfalls. Aber natürlich anders als sie: Aus ihrer Sicht müsste ich mich irgendwie mehr dafür einsetzen. Ich finde aber, sie sollten sich fragen, wie sie ihre Kultur auf ihrem Territorium schützen können.  

    Sie sehen die Zukunft ihres Landes als liberale, demokratische Gesellschaft. Was ich NICHT SEHE. Auch nicht, wenn ich näher hinschaue, mir die Augen reibe, eine Brille aufsetze. ICH SEHE DAS NICHT: Sehe ich meine Freunde in eine demokratische Föderation zurückkehren? Nein. Höchstwahrscheinlich werden sie ihr Leben im Exil verbringen. Und Hoffnungen auf Reformen … sind Wunschträume.  

    Und bei alldem – sie sind nicht unsere Feinde. Eher sind sie temporäre Bündnispartner, Wegbegleiter, die trotz aller Gemeinsamkeiten bestimmt irgendwann eine andere Abzweigung nehmen. Lasst uns aufhören, sie zur Zielscheibe zu machen. Wir haben genug andere, die unsere Pfeile verdient haben, wo wir schon den Bogen gespannt haben. 

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  • „Er lebt und wir sind wieder vereint und entschlossen”

    „Er lebt und wir sind wieder vereint und entschlossen”

    Sergej Tichanowski sitzt vor zahlreichen Mikrofonen. Immer wieder redet er sich in Rage, zeigt sich kämpferisch, dann bricht er wieder in Tränen aus. Fünf Jahre Haft haben den bekannten Oppositionspolitiker, der Ende Mai 2020 im Vorfeld der damaligen Präsidentschaftswahlen verhaftet und später zu 18 Jahren Haft verurteilt worden war, deutlich gezeichnet. Der hochgewachsene Mann ist auf 79 Kilogramm abgemagert. Seine Tochter habe ihn nicht erkannt, schluchzt er. Seine Frau sitzt neben ihm und ergreift das Wort: „Das ist dein Papa, mussten wir ihr erklären.“  

    Seit vergangenem Samstag, dem 21. Juni 2025, ist Tichanowski frei. Nach einem Besuch des US-Sonderbeauftragten für die Ukraine und Russland, Keith Kellogg, bei Alexander Lukaschenko in Minsk werden er und 13 weitere politische Gefangene aus der Haft entlassen, darunter auch der Journalist Ihar Karnei und die bekannte Italianistin Natalja Dulina. Die Freude ist überwältigend. In Vilnius, wohin die Freigelassenen gebracht werden, versammeln sich spontan exilierte Belarussen, in den sozialen Medien schreiben viele Freudenbekundungen.  

    Am gestrigen Sonntag geben Tichanowski und seine Frau Swetlana Tichanowskaja, die Anführerin der Demokratiebewegung, eine gemeinsame Pressekonferenz. Auf die Frage eines Journalisten, ob er jetzt die Oppositionsbewegung übernehmen würde, sagt er: „Swetlana ist die Anführerin. Ich werde keinesfalls irgendwelche Ansprüche erheben.“  

    Warum setzte Lukaschenko einen der bekanntesten Oppositionspolitiker nun auf freien Fuß? Welche Interessen haben die USA an einer Normalisierung der Beziehungen zu dem Regime in Belarus, die bereits seit Monaten im Raum steht?  

    Seit Juli 2024 hat Lukaschenko rund 350 politische Gefangene entlassen, es befinden sich aktuell aber noch 1150 in Gefängnissen und Lagern.  

    dekoder hat zwei Auszüge aus aktuellen Analysen von Alexander Klaskowski und Artyom Shraibman aus Pozirk und Carnegie übersetzt, die auf diese Fragen eingehen. 

    Sergej Tichanowski und seine Frau Swetlana bei der Pressekonferenz nach seiner Freilassung am 22. Juni 2025 in Vilnius. / Foto © Andrei Shauliuha (RFE/RL)

    Pozirk: „Warum hat Lukaschenko ausgerechnet Tichanowski freigelassen?” 

    2020 schlug Tichanowski wie ein Meteorit in die belarussische Politik ein, rüttelte die Wählerschaft auf, die durch das Regime und die Covid-19-Pandemie am Boden lag. Mit selbstbewusstem Populismus und Durchsetzungsvermögen erinnerte der Blogger an den frühen Lukaschenko. Und wurde in dessen Augen schnell zu einer gefährlichen Figur. Zudem nutzte Tichanowski den bissig satirischen Slogan „Stoppt die Kakerlake!“ als Anspielung auf den schnurrbärtigen Regenten. Dazu das kaum weniger beleidigende Symbol eines Pantoffels zur Bekämpfung des bösartigen Insekts.  

    Also hatte das Regierungsoberhaupt mit der Inhaftierung des Bloggers nicht nur einen gefährlichen politischen Rivalen ausgeschaltet, sondern sich außerdem für diese Erniedrigung gerächt. Überhaupt gab es in dem Verhältnis des Regierenden zu Tichanowski viel Persönliches. Doch jetzt handelt Lukaschenko nach dem Motto „Persönlich ist da nichts, alles reines Geschäft“. 

    Warum hat Lukaschenko von den wichtigen Personen ausgerechnet Tichanowski freigelassen? Außer dem Wunsch, den Amerikanern zu gefallen, erkennen hier einige einen schlauen Plan: 

    Schließlich ist Tichanowskis Ehefrau Swetlana Tichanowskaja die derzeitige Anführerin der demokratischen Kräfte. Sie hat immer wieder bekräftigt, dass sie nur an Stelle ihres inhaftierten Mannes in die Politik gegangen sei. Doch nun ist der wieder in Freiheit – in Litauen, genau wie sie. Kommt es da nicht vielleicht zu Verstimmungen, lauten Streitigkeiten über „Wer ist denn nun der Herr im Haus“ und zu einem Machtkampf in der Opposition? Und wenn die Frau dem Mann gegenüber nachgibt, werden die Mitstreiter der Frau ihn, den Mann, dann einfach akzeptieren? 

    Zudem ist damit zu rechnen, dass ein Flügel der Opposition an Selbstvertrauen gewinnt und aktiver werden wird, und zwar der, der flexiblere Positionen gegenüber den Machthabern in Belarus vertritt. Das Argument dieses Flügels besteht darin, dass die Sanktionen kein Selbstzweck und kein Fetisch seien, sondern schlicht ein Instrument. Und wenn die Aussetzung oder Unterbrechung solcher Maßnahmen einen Effekt zeige, wie jetzt die Freilassung von politischen Häftlingen, dann müsse man dieses Instrument genau so nutzen. 

    Außerdem verficht dieser Flügel die moralische Maxime, dass das Leben und die Freiheit der Menschen höchste Priorität haben und nicht zugunsten von Parolen eines vollständigen Siegs über das Regime beiseitegeschoben werden sollten. Ein Sieg zeichne sich derzeit nicht ab, die Menschen aber werden gefoltert und sterben hinter den Gefängnismauern. Es reicht zu sehen, wie Tichanowski, der ehemalige Mitarbeiter von Radio Svaboda Ihar Karnei und andere Freigelassene heute aussehen, um zu erkennen, was die Gefangenschaft ihnen angetan hat. 

    Original vom 21. Juni 2025 

     
    Pressekonferenz von Sergej Tichanowski und Swetlana Tichanowskaja (belarussisch/russisch und englisch) am 22. Juni 2025

    Carnegie: „Hat die EU Interesse an einem Dialog mit Lukaschenko?” 

    Der Besuch von Trumps Sondergesandtem Keith Kellogg in Belarus war nur möglich, weil er gleich zwei entgegengesetzte Interessen bediente: Einerseits will die Trump-Administration angesichts der festgefahrenen Friedensverhandlungen um die Ukraine die regionale Diplomatie wiederbeleben. Andererseits versteckt Lukaschenko schon lange nicht mehr, dass er sich aus der Isolation der vergangenen Jahre befreien und eine wichtigere Rolle in der Region spielen will. Dafür ist er zu Zugeständnissen bereit, erst recht, wenn nur die allerleichtesten von ihm gefordert werden – die Befreiung politischer Gefangener. 

    Trotz des offensichtlichen Erfolgs bleibt der Ausgang der Gespräche auch nach Kelloggs Abreise im Dunkeln. Klar, Minsk hat noch genügend Gefangene zum Verhandeln und die USA können weitere Delegationen schicken oder gar ihre Botschaft in Belarus wiedereröffnen. Aber letztlich kann der Prozess nicht nur auf diplomatischen Gesten beruhen. Früher oder später wird Minsk einen Abbau der Sanktionen erwarten. Doch da gibt es eine Hürde – die strengere Haltung der Europäischen Union. Ohne die Aufhebung der europäischen Sanktionen reicht das Abschwächen der amerikanischen nicht, um die wichtigsten Handelswege für Belarus freizugeben. 

    Bisher gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass die EU oder ihre führenden Länder, den USA folgend, wieder einen Dialog mit Lukaschenko suchen wollen. Die dienstlichen Kontakte der Europäer mit Minsk sind nicht abgebrochen, beschränken sich aber auf die Ebene von Diplomaten- und Expertentreffen. Das ist eindeutig zu wenig für die EU-Führungsriege, um sich in der Sanktionsfrage plötzlich auf Washingtons Seite zu schlagen. 

    Die Position der EU ist hier, wie auch im Fall Russland, härter und unflexibler. Und die Beziehungen zu Belarus sind keine so bedeutende Frage, dass, falls beispielsweise Ungarn oder die Slowakei eine Lockerung vorschlügen, aber Polen und Litauen sich dem verweigerten, irgendwer ernsthaft versuchen würde, Letztere umzustimmen. 

    Original vom 22. Juni 2025 

    Sergej Tichanowski zeigt auf der Pressekonferenz in Vilnius (Litauen) am 22. Juni 2025 ein Foto von sich vor der fünfjährigen Gefangenschaft. / Foto: Stanislaw Schablowski/Zerkalo 

    Es sei auch daran erinnert, dass sich die Beziehungen zwischen Minsk und dem Westen gerade zu verbessern schienen, als der Sommer 2020 kam. Seitdem hat sich das Regime verhärtet, eine Rückkehr zu 2019 ist unmöglich. Und es ist unklar, ob und was Washington jetzt auf dem belarussischen Weg erreichen kann.  

    Aber etwas ist in Bewegung geraten. So Gott will, werden weitere Menschen aus dem Gefängnis kommen, die dafür leiden, dass sie jene Rechte einforderten, die das Regime allen Belarussen genommen hat. 

                                                     Alexander Klaskowski, Pozirk 

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    Werden die Repressionen in Belarus nun nachlassen?

    „Ich fühlte Freude, Schock, Euphorie, Angst – alles auf einmal.“

  • Helden einer anderen Zeit

    Helden einer anderen Zeit

    Vor 30 Jahren, am 7. Juni 1995, kam es zu einer Sensation: Belarus, das in den postsowjetischen Umbruchsjahren auch mit der neu erlangten fußballerischen Unabhängigkeit zu kämpfen hatte, schlug die Niederlande mit 1:0. Der überraschende Sieg fiel in eine Zeit der massiven politischen Krise in Belarus, deren Auswirkungen bis heute spürbar sind: Der junge Lukaschenko machte sich daran, das politische und letztlich auch das fußballerische System an sich zu reißen.  

    Für das Online-Portal Pozirk gelingt es dem Journalisten Wjatscheslaw Korosten, die Geschichte des Fußballwunders mit der des belarussischen Fußballs und den politischen Umwälzungen in einem packenden Text zu verbinden. 

    Ein für Belarus bis heute unerreichtes Fußballwunder: 1995 gelang ein Sieg über die Nationalmannschaft der Niederlande. / YouTube-Screenshot 

    Mitte der 1990er Jahre war eine Zeit globaler struktureller Umwälzungen für den europäischen Fußball. Die UdSSR und das sozialistische Jugoslawien zerfielen, die kommunistische Tschechoslowakei wurde zweigeteilt. Eine ganze Reihe neuer Staaten stand bei der UEFA Schlange. Sie wollten so schnell wie möglich ihre Mitgliedschaft in trockene Tücher bringen und ihre Nationalmannschaften und Vereine auf internationaler Ebene legalisieren – um dann uneingeschränkt an offiziellen Turnieren teilzunehmen und damit ihre nationale Souveränität zu untermauern. 

    Dies gelang dem belarussischen Fußballverband (ABFF) genau Mitte der 1990er Jahre, und so ging die Nationalmannschaft erstmals unter der Schirmherrschaft der UEFA bei der Qualifikation zur Europameisterschaft 1996 an den Start. Wie erwartet waren die Debütanten aus Belarus nicht herausragend erfolgreich und belegten in ihrer Gruppe nur den vierten Platz. Die ersten Plätze in der Tabelle belegten die Tschechen, die Niederländer und die Norweger, während die Kleinstaaten Luxemburg und Malta auf den untersten Rängen landeten. Dennoch gelang es der belarussischen Mannschaft, in ganz Europa für Aufsehen zu sorgen – mit ihrem Sieg über die Niederlande. 

    In dem Spiel fiel nur ein einziges Tor. Eingefleischte Fans erinnern sich noch deutlich: Pjotr Katschuro passt den Ball zu Sergej Gerasimets, der schiebt ihn am geistesabwesenden Edwin van der Sar vorbei und schießt ihn im spitzen Winkel ins leere Tor. Es war die 27. Minute, die Gastmannschaft hatte über eine Stunde Zeit, um mit den Gastgebern gleichzuziehen. Doch dank der effektiven Taktik von Trainer Sergej Borowski konnten die Belarussen den Vorsprung halten – zur Freude der 37.000 Zuschauer, die sich an diesem Abend im Dynamo-Stadion in Minsk versammelt hatten. 

     
    Die 1:0-Führung für Belarus in der 27. Minute durch Gerasimets (der Moderator flippt auf Belarussisch völlig aus). 

    Sieg am Tag, an dem die weiß-rot-weiße Staatsflagge abgeschafft wurde 

    Als Gerasimets’ Tor fiel, war Belarus noch ein Staat mit Überresten von Demokratie. Ein Jahr zuvor hatte Alexander Lukaschenko die Präsidentschaftswahlen gewonnen, aber er hatte noch nicht die gesamte Macht in seinen Händen konzentriert. Im Grunde wurden damals zwei Schritte in Richtung Absolutismus unternommen: eine Prügelattacke auf die hungerstreikenden oppositionellen Abgeordneten des Obersten Sowjets, die sich gegen das Referendum zur Staatssymbolik, gegen die Einführung der Zweisprachigkeit und die Ausweitung der Befugnisse des Präsidenten ausgesprochen hatten, und natürlich gegen das Referendum selbst. Bis zur Ein-Mann-Herrschaft war es noch ein weiter Weg. 

     

    Die Abgeordneten der BNF traten 1995 aus Protest gegen das von Lukaschenko geplante Referendum in einen Hungerstreik. / Foto © Archiv Tut.by 

    In dieser Volksabstimmung vor 30 Jahren wurden unter anderem die neuen alten Staatssymbole gebilligt – Flagge und Wappen in sowjetischer Tradition. Das Pahonja sowie die weiß-rot-weiße Fahne verloren ihren offiziellen Status – und das just vor dem Spiel gegen die Niederländer. Das Referendum wurde am 14. Mai 1995 abgehalten. Zwei Tage später vollzog Iwan Titenkow, Lukaschenkos Wirtschaftschef, seinen berühmten Loyalitätsakt: Er kletterte persönlich auf das Dach des Regierungsgebäudes, riss die weiß-rot-weiße Flagge herunter, die dort gehisst war, und schnitt sie in Stücke. 

    Am 7. Juni – genau am Tag des Spiels zwischen Belarus und den Niederlanden – unterzeichnete Lukaschenko schließlich ein Dekret über die neue Staatssymbolik. Doch von der Theorie zur Praxis ist es ein weiter Weg, und das Weiß-Rot-Weiß verschwand nicht sofort aus dem offiziellen Gebrauch. So war auch die TV-Übertragung des Fußballspiels an diesem Tag von den weiß-rot-weißen Nationalfarben geprägt. Das ABFF-Emblem auf den Trikots der Spieler war ebenfalls in diesen Farben gehalten, und natürlich fanden sich auf den Tribünen genügend Fans mit der Flagge, die von den Behörden de jure bereits abgeschafft war. 

    Damals war das noch möglich. Zu Repressionen gegen die historischen Symbole ging Lukaschenko erst später über, und ein Vierteljahrhundert später wandert man dafür ins Gefängnis. Heute gilt die rot-weiß-rote Flagge tatsächlich als „extremistisches“ Symbol, was einer der Gründe dafür ist, warum das Staatsfernsehen im Voraus dafür sorgen wird, dass die dem Regime verhassten Farben dem Zuschauer nicht ins Auge fallen. 

    Verfall des belarussischen Fußballs 

    Der Weg, den der belarussische Fußball seither zurückgelegt hat, ist erstaunlich. Die Nationalmannschaft hat es zwar noch nie in die Endrunde einer Welt- oder Europameisterschaft geschafft. Im postsowjetischen Raum ist das aber bisher nicht nur Russland und der Ukraine gelungen, sondern auch Lettland, Georgien und Usbekistan, das sich gerade erst ein Ticket zur Weltmeisterschaft 2026 erspielt hat. 

    Erfolge feierte dafür die Jugendmannschaft. Drei Generationen (2004, 2009 und 2011) stürmten die EM, die Jüngsten gewannen sogar die europäische Bronzemedaille. Das ermöglichte ihnen etwas noch nie Dagewesenes: die Teilnahme an den Olympischen Spielen, die 2012 in London ausgetragen wurden. Auch belarussische Vereine hatten ihre Glanzmomente, allen voran der BATE Baryssau. Zwischen 2008 und 2016 nahm die Mannschaft regelmäßig an den Gruppenrunden in der Champions und Europa League teil. In dieser Zeit wurde in Baryssau ein modernes Stadion gebaut; Real Madrid und FC Barcelona, Chelsea und Arsenal, Juventus und AC Milan, Paris Saint-Germain und LOSC Lille reisten nach Belarus. Bayern München und AS Rom konnte BATE Baryssau auf dem heimischen Platz sogar schlagen. 

    Manche Spieler machten im europäischen Fußball von sich reden. Witali Kutusow wurde mit viel Pomp von BATE Baryssau verabschiedet zum bereits erwähnten AC Mailand eskortiert, Sergej Gurenko ging zu AS Rom, Alexander Gleb spielte für Arsenal und Barcelona. 

    Doch all das ist vorbei. Ganz langsam wurde der belarussische Fußball schlechter und schlechter, es kam zum Verfall. Und heute muss man feststellen: Die Nationalmannschaft ist in der Weltrangliste auf das Ende der ersten Hundert abgerutscht und hegt längst keine Ansprüche mehr weder auf EM noch auf WM; die Vereine träumen nicht mehr von der Champions und Europa League und freuen sich höchstens über einen seltenen Einzug in die Gruppenphase der drittklassigen Conference League; die Spieler werden nicht mehr von den besten westlichen Teams umworben, ein Vertrag irgendwo in Griechenland, Ungarn oder in der zweiten russischen Liga gilt als Erfolg. 

    Auch der Fußball zahlt die politischen Rechnungen 

    Auch der Fußballverband hat in dieser Zeit eine Negativentwicklung durchlaufen, die – wenig überraschend – parallel zur staatlichen verlief. 

    Bis 1999 wurde die Belaruskaja Federazija Futbola (ABFF) von dem demokratisch gewählten Fußballfunktionär Jewgeni Schuntow geleitet. Doch je mehr Lukaschenko seine persönliche Macht ausweitete, desto größer wurde sein Einfluss auf verschiedene Lebensbereiche der Belarussen, und es ist wenig überraschend, dass es eines Tages auch den Fußball traf. Seit über 25 Jahren werden die Chefs des Verbandes de facto auf Geheiß des Herrschers ernannt. Auf den Vorsitzenden des Staatlichen Komitees für Luftfahrt Grigori Fedorow folgte der Staatssekretär des Sicherheitsrates, General Gennadi Newyglas, dann der stellvertretende Ministerpräsident und künftige Leiter der Entwicklungsbank Sergej Rumas, daraufhin der Parlamentsabgeordnete und Artillerieoberst Wladimir Basanow und schließlich der ehemalige Leiter des regionalen Exekutivkomitees von Witebsk Nikolai Scherstnew. 

    Weil die UEFA-Statuten es einem Staat untersagen, sich in die Angelegenheiten der jeweiligen nationalen Verbände einzumischen, stand der belarussische Fußball Ende der 1990er Jahre am Rande der internationalen Isolation. Lukaschenkos Druck auf Schuntow mit dem Ziel seines Rücktritts war so offensichtlich, dass man ein unzweideutiges Signal aus dem Westen sandte: So kann man seine Mitgliedschaft in der UEFA verlieren. Die Situation wurde irgendwie gelöst, man zog die entsprechenden Schlüsse, und nun erfolgt die Entlassung der ABFF-Chefs stets nach demselben unfehlbaren Schema: „auf eigenen Wunsch“. In der Regel beschließen die Wahlgremien des ABFF eine solche von oben verordnete Rotation einstimmig. 

    Genau so wurde just Scherstnew nach nur zwei Jahren im Amt von seinem Posten entfernt – das ist grade mal die Hälfte der offiziell vierjährigen Amtszeit. Unabhängigen Medien zufolge hatte ein verlorener Machtkampf im Apparat gegen den Sportminister Sergej Kowaltschuk zu dem „eigenen Wunsch“ geführt, der am 1. Juni „in Erfüllung“ ging. Gleichzeitig wollte man den regimetreuen Scherstnew nicht vor den Kopf stoßen und versetzte ihn auf den gut bezahlten Posten des stellvertretenden Leiters der Präsidialverwaltung. Medienberichten zufolge soll der Schützling des Ministers Jewgeni Bulaitschik, der Leiter der Abteilung für Sport und Tourismus des Minsker Regionalexekutivkomitees, nun den Vorsitz des ABFF übernehmen. 

    Staatsbeamte, Banker, Luftfahrtexperten, Generäle und Oberstleutnants – das sind die Leute, die seit vielen Jahren für den Fußball zuständig sind. Aus diesem Grund wurde das Haus des Fußballs, in dem der Verband seinen Sitz hat, eine Zeitlang ironisch als „Haus der Offiziere“ bezeichnet. Man kommt kaum umhin, diese Personalpolitik mit den miserablen Ergebnissen der belarussischen Mannschaften in Verbindung zu bringen. 

    Ein vergessener Held 

    Der Sieg der Belarussen über Holland ist so lange her, dass sich vieles radikal verändert hat. So darf Holland beispielsweise offiziell nur noch Niederlande genannt werden. Das Dynamo-Stadion wurde mehrfach umgebaut. Die jüngsten Baumaßnahmen 2018 kosteten umgerechnet fast 200 Millionen Dollar. Doch selbst das reichte offenbar nicht aus, um das Bedürfnis des Landes nach einem angemessenen Stadion für die Nationalmannschaft zu befriedigen, und so bat Lukaschenko niemand geringeres als Xi Jinping um weitere Millionen – für den Bau einer entsprechenden Arena. 

    Der Vorsitzende der Volksrepublik China rückte das Geld heraus. Das Nationalstadion in der Nähe des Wanejew-Platzes in Minsk wurde sechs Jahre lang gebaut und erst kürzlich fertiggestellt. Lukaschenko bezeichnete den Bau als ein „Geschenk aus China“. Am 10. Juni [2025] spielte die belarussische Nationalmannschaft dort zum ersten Mal, und zwar gegen die russische Mannschaft, die für alle Wettbewerbe gesperrt ist [das Spiel ging 4:1 an Russland – dek]. Auch das ist sehr symbolträchtig. 

    In 30 Jahren hat der Dauerherrscher den belarussischen Sport in den Status eines internationalen Parias geführt. Der Fußball bleibt zwar die seltene Ausnahme, die nicht von der Isolation betroffen ist, aber auch er muss die politischen Rechnungen bezahlen. Nach der skandalösen Zwangslandung eines Ryanair-Flugzeugs mit dem Blogger Roman Protassewitsch in Minsk sprach die UEFA ein Verbot aus, offizielle Spiele unter ihrer Schirmherrschaft in Belarus durchzuführen. Und so sind die belarussischen Mannschaften seit nunmehr vier Jahren gezwungen, für ihre Heimspiele Stadien im Ausland anzumieten, beispielsweise in Ungarn, Serbien oder Aserbaidschan. Wie lange das Nationalstadion deshalb faktisch leerstehen wird, kann heute niemand sagen. 

    In den vergangenen Jahren haben die Teilnehmer des Spiels gegen die Niederlande ihre aktive Karriere beendet und sind merklich gealtert. Einige von ihnen ereilte ein tragisches Schicksal, so auch den Helden des legendären Spiels Sergej Gerasimets. Nach dem Ende seiner Spielerkarriere lebte der Ex-Fußballer in St. Petersburg, wo er als Trainer arbeitete. Der gebürtige Kyjiwer mit belarussischem Pass unterstützte während der Ereignisse 2020 offen die Proteste in seiner zweiten Heimat. Er nannte die Ergebnisse bei den Präsidentschaftswahlen eine „Farce“ und empörte sich über die Polizeigewalt auf den Straßen. Am 26. September 2021 starb er überraschend im Alter von 56 Jahren. Die Gründe wurden nie offiziell bekannt gegeben, aber es gab Vermutungen, dass sein Tod mit dem Fußball in Verbindung stehen könnte. An jenem Abend stand Gerasimets’ Mannschaft in St. Petersburg vor einem entscheidenden Spiel, was für den Trainer eine große nervliche Belastung darstellte. 

    Das runde Jubiläum des Sieges über die Niederländer in Belarus könnte aus noch einem anderen Grund von offizieller Seite übergangen werden: aufgrund der unliebsamen staatsbürgerlichen Haltung des Schützen des einzigen, siegreichen Treffers. Wenn dem so wäre, würde es wohl niemanden wundern. 

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    Die russische Rüstungsindustrie reißt sich um Mitarbeiter und ködert neues Personal mit üppigen Löhnen: 45.000 Rubel für einen Verladearbeiter in Kowrow, 50.000 für einen Schneiderlehrling in der russischen Stadt Iwanowo, wo Uniformen genäht werden – was nach wenig klingt (ein Euro entspricht derzeit etwa 90 Rubel), übersteigt deutlich das jeweilige regionale Medianeinkommen von 2021, und das für Jobs, die früher im Niedriglohnsektor angesiedelt waren. Vor allem Menschen in der russischen Provinz profitieren von dieser Entwicklung: Hier befinden sich traditionell viele Rüstungshersteller, außerdem waren die Jobchancen bislang schlechter als in den Großstädten. 

    Letzteres ist auch ein Grund, weshalb Rekruten aus den ärmeren Landesteilen stark überproportional in den Invasionstruppen an der Front vertreten sind. Den Sold überweisen sie an ihre Familien, zusammen mit den Kompensationszahlungen für die Gefallenen eröffnet der Kriegseinsatz eines Angehörigen ungeahnte Einkommensperspektiven. Nimmt man also die Lohnsteigerungen, Transferleistungen und die Kompensationszahlungen zusammen, dann ergibt sich für weite Teile der russischen Provinz ein zynisches Bild: Der Krieg wirkt sich wie ein massives Konjunkturprogramm für strukturschwache Regionen aus.    

    Im Hinblick auf die boomende Kriegswirtschaft kommt der Journalist Maxim Katz zu dem Schluss, dass sich Millionen Menschen in Russland derzeit in Goldenen Zeiten wähnen. Auf YouTube argumentiert er, dass sie als Kriegsgewinnler naturgemäß nicht an einem Ende der Aggression interessiert sind und dass sie auch nach dem Krieg in Nostalgie über diese beste Zeit ihres Lebens schwelgen werden. 

    Hier der YouTube-Beitrag in voller Länge mit englischen Untertiteln 

    Das Lenindenkmal in Ulan-Ude, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Burjatien August 2024 © Itar-Tass/ Imago

    Es ist Zeit, dass wir uns einer paradoxen und unangenehmen Realität stellen: Millionen Menschen in Russland leben jetzt in diesem Moment ihr bestes Leben. Und dieses beste Leben steht im Zusammenhang mit dem Krieg. Wir hatten uns alle an eine Realität gewöhnt, in der Krieg eindeutig als Unglück und Problem wahrgenommen wird. Für die vorigen Generationen war das Afghanistan und Tschetschenien. Krieg ist ein Wort, das die finstersten Erinnerungen wachruft, wo ein Student nach vermasselter Abschlussprüfung ans Ende der Welt geschickt wird und im Zinksarg zurückkehrt. 

    Jetzt sehen wir etwas völlig anderes. Millionen Menschen werden sich in zehn oder fünfzehn Jahren, wenn es keinen Putin samt seinem Regime mehr gibt, an die Kriegszeit als etwas Gutes erinnern, denn in dieser Zeit begann plötzlich das gute Leben. 

    Bislang sieht alles so aus, dass für die russische Provinz, für Regionen, die von der Rüstungsproduktion abhängig sind, der Krieg die gleiche Bedeutung hat wie die 2000er Jahre für Moskau und andere Großstädte. Es war eine Zeit, in der das Leben nicht nur besser wurde, sondern um ein Vielfaches besser. Wenn wir uns über die Zukunft des Landes Gedanken machen, kommen wir an dieser Tatsache nicht vorbei.  

    Die Bewertung der Zeit hängt jeweils davon ab, mit wem Sie sprechen. Wenn Sie über die 1990er Jahre mit einem Unternehmer, einem Journalisten oder einem Vertreter der kreativen Branchen reden, dann werden Sie von einem tollen Russland der Vergangenheit hören, in dem aus Nichts Geld wurde, in dem man schreiben, filmen und zeichnen konnte, was man wollte, und das Wort Zensur als verstaubter Anachronismus anmutete. Doch wenn Sie mit einem Arbeiter des Waggonherstellers Uralwagonsawod sprechen, erzählt der Ihnen von Armut, Zerfall und den um ein halbes Jahr verzögert ausgezahlten Löhnen. Genauso unterschiedlich werden die Assoziationen mit der heutigen Zeit ausfallen. 

    Für einen beträchtlichen Teil der Gesellschaft werden der späte Putinismus und der Krieg im Nachhinein eine Zeit der Angst sein, der Instabilität und eines galoppierenden Staatsidiotismus. Eine Zeit, in der man bei jeder offiziellen Stellungnahme des Präsidenten eine Flugticket-App aufhaben muss.  

    Aber für Millionen Menschen werden der späte Putin und der Krieg eine Zeit sein, in der sie nun endlich, endlich ein gutes Leben hatten, in der die Menschen nicht mehr Sonderangeboten hinterherjagten und penibel prüften, ob sie noch Geld auf der Karte hatten, sondern ins Restaurant gehen, ja ein Auto oder gar eine Wohnung kaufen konnten. Für Millionen Menschen wird der Krieg nicht nur als guter, sondern als höchst wünschenswertester Zustand des russischen Staates in Erinnerung bleiben. Und je länger der Krieg andauert, umso mehr Menschen auf die eine oder andere Art in dessen Fortführung involviert werden, umso größere Verbreitung wird diese Wahrnehmung in der Gesellschaft finden. 

    Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre bestand ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft aus Menschen, die sich aus ganz objektiven Gründen in Sowjetnostalgie ergingen. Alles Gute, was in ihrem Leben geschehen war, alles, was sie hatten, eine eigene Wohnung, einen Sechser-Shiguli, eine 600 Quadratmeter große Parzelle mit Datscha vor der Stadt, das hatten sie zu Sowjetzeiten erhalten, als die Fabriken noch in Betrieb waren und sie dort als Ingenieur arbeiteten und nicht auf ihre karge Rente warteten und sich als Parkplatzwächter etwas dazuverdienen mussten.  

    Wenn dieser Krieg vorbei ist, wenn Putin vorbei ist und etwas Zeit vergangen ist, werden wir Menschen begegnen, für die alles Gute in ihrem Leben – eine Wohnung mit günstigem Kredit, ein chinesischer SUV, Erinnerungen an einen Dubai- oder Türkeiurlaub – all das wird sämtlich aus den 2020er Jahren stammen, als das Land Krieg geführt hat. 

    Das Land wird aufgehört haben zu kämpfen und wieder wird weder die Arbeit einer Näherin in Iwanowo noch die eines Ingenieurs bei Uralwagonsawod gebraucht werden. Offiziell werden die Fabriken zwar existieren, aber dort zu arbeiten, ist ziemlich sinnlos. Die einst blühende Drohnenindustrie wird dann zu einer winzigen Branche geschrumpft sein.  

    Wenn wir über die Zukunft nachdenken, wenn wir diese Zukunft irgendwie gestalten wollen, muss uns eines klar sein: Genau das wird eine der wichtigsten Herausforderungen sein. Das ist Putins wichtigstes Erbe.  

    Wir brauchen keine Angst zu haben, dass der Krieg ewig dauert, dass Putin ihn noch 20 Jahre führen kann. Das kann er aus rein biologischen Gründen nicht. Selbst wenn er Glück hat, werden wir auf jeden Fall sowohl sein eigenes Ende als auch das Ende des von ihm geschaffenen Systems erleben. Doch auch noch zehn Jahre danach, und nochmal 20 oder 30 Jahre später, auf lange Jahrzehnte hinaus, wird es eine bedeutsame und aktive Minderheit geben, die ausreichend ist für eine durchaus beachtliche politische Volksvertretung. Denen wird man überhaupt nichts vorwerfen können. Sie haben den Krieg nicht begonnen. Sie haben niemanden umgebracht, doch für sie wird das politische Programm, das einen ständigen Krieg Russlands gegen den Westen für notwendig erklärt, mit der besten Zeit ihres Lebens assoziiert sein. Für sie ruft das Wort Krieg nicht die Vorstellung von Leichen hervor, sondern davon, dass in einer depressiven Provinzstadt, in der es weder ein normales Leben noch Perspektiven gab, plötzlich das eine wie auch das andere Einzug hielt. Die Menschen werden Krieg und Frieden vergleichen. Und aus ihrer Sicht wird letzterer eindeutig schlechter sein. Das ist nicht zu ändern.  

    Diesen Leuten kann man nichts vorwerfen. Und aus dem politischen Leben kann man sie nicht ausschließen. Es ist schlicht das Erbe, das Putin unweigerlich hinterlassen wird, und damit muss man sich abfinden und irgendwie arbeiten. Es wird unmöglich sein, diesen Bürgern zu erzählen, dass ein friedliches Leben für sie besser ist als Krieg, weil es für sie objektiv nicht stimmt. In gewissem Maße wird das wohl durch jene in der Waage gehalten, die tatsächlich im Krieg waren, für die Krieg bedeutet, dass Kanonenfutter auf Krücken zum Angriff stürmt und nicht darin besteht, in drei Schichten in der örtlichen Fabrik zu ackern.  

    Wenn wir nach Putins Tod mit den Bürgern reden wollen, müssen wir uns im Klaren sein, dass ein Ende seines Regimes und des Krieges für Millionen Menschen nicht eine Erlösung bedeutet, sondern eine Katastrophe, weil das gute Leben, das gerade erst begonnen hatte, wieder im Graben liegt und da nicht mehr herauskommen wird. 

    Wir müssen uns klar machen, dass es im Falle politischer Freiheit eine wahrlich nicht kleine Partei von Neoputinisten geben wird. Deren Programm wird fest auf der Vorstellung gründen, nicht die Sowjetzeit zurückzuholen, sondern eben den späten Putinismus. Diese Realität ist unangenehm, aber sie bedeutet eine wahre Herausforderung. Eine ein Vierteljahrhundert währende Herrschaft verschwindet nicht einfach spurlos. Auch bei uns nicht. 

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  • Flucht de force mit Tscheburaschka

    Flucht de force mit Tscheburaschka

    Fünf Jahre nach Beginn der Massenproteste sind immer noch fast 1200 politische Gefangene in belarussischen Gefängnissen und Lagern interniert. Die Haftbedingungen werden von ehemaligen Häftlingen und NGOs als unmenschlich bezeichnet. Mindestens sieben politische Gefangene sind seit 2020 verstorben. 

    Um diesem Schicksal zu entgehen, hat sich der Regimekritiker Alexander (Sascha) mit Ehefrau und Tochter zur Flucht entschieden. Diese geriet zu einem lebensgefährlichen Abenteuer, das die Familie durch mehrere Länder führte. Jewgeni Kornejewez hat ihre Geschichte für das Online-Portal Mediazona Belarus aufgeschrieben. 

    Tscheburaschka ist auf der ganzen Flucht mit dabei. / Foto © privat
    Tscheburaschka ist auf der ganzen Flucht mit dabei. / Foto © privat

    „Sie können unsere echten Namen benutzen. Von unserer Familie lebt nur noch Saschas Mutter. Meine Mutter haben sie bis zum Infarkt getrieben. Als wir weg sind, kamen ständig die Silowiki: ‚Wir schnappen sie uns [deine Kinder] und sperren sie ein, sie werden eh zurück nach Belarus abgeschoben, sie sind erledigt.‘ Die haben lauter schlimme Sachen über uns gesagt, ihr Angst gemacht, und nochmal Angst. Das hat ihr Herz nicht mitgemacht. Drei Tage Koma und … ich konnte nicht einmal zur Beerdigung fahren. Zwei Jahre ist sie jetzt schon tot. Und wir haben nur noch eine Mutter für uns beide. Und zu ihr kommen sie auch“, erzählt Natalja. 

    Als einziges Erinnerungsstück an ihre Mutter ist Natalja eine Tscheburaschka-Puppe geblieben. Die Belarussin hatte gerne gestrickt, und Nataljas Mann Alexander hatte seit seiner Kindheit von einem Tscheburaschka-Kuscheltier geträumt. „Er hatte diese fixe Idee: Ich will Tscheburaschka“, erinnert sich Natalja. Da strickte ihre Mutter ihm ein Kuscheltier zum Geburtstag. „Er kommt zu ihr, und sie sagt zu ihm: ‚Hier, Sascha, für dich.‘ Er hatte sogar Tränen in den Augen. ‚Meine Schwiegermutter hat mir Tscheburaschka geschenkt, die immer bei mir bleiben wird.‘“ 

    Im November 2022 musste Sascha mitten in der Nacht aus Belarus fliehen, indem er den Njoman überquerte. Er packte seine Sachen in einen Rucksack, Tscheburaschka steckte er in einen Plastikbeutel und befestigte ihn an einer Schnur. Als Alexander am litauischen Ufer ankam, bemerkte er, dass das Stofftier weg war. „Ich zog an der Schnur, und die Plastiktüte schwamm in Richtung Belarus davon. Ich dachte nur: ‚Tscheburaschka. Den hat meine Schwiegermutter doch für mich gestrickt.‘ Ich schwamm zurück. November. Ohne Tscheburaschka geh ich nicht ins Exil!“ 

    Sascha kehrte um, fand das Kuscheltier und schwamm wieder nach Litauen. Danach irrte er zwei Stunden lang nass durch den Wald und suchte die Grenzbeamten. Jetzt begleitet Tscheburaschka das Ehepaar quer durch Europa. 

    Festnahme in Belarus 

    Früher lebte Natalja mit ihrem Mann Sascha in Hrodna. Sie hatten ein großes Grundstück inmitten von Seen gepachtet, bauten eine Ferienanlage auf, züchteten Fische und veranstalteten regelmäßig Angelwettbewerbe. Vor seiner Verhaftung, erinnert sich Sascha, hatten oft Beamte aus Hrodna bei ihnen Urlaub gemacht. „Ich konnte den Verwaltungsleiter der Oblast persönlich anrufen, wenn es ein Problem gab. Wir hatten fangfrischen Fisch, Grillplätze, auf denen die Abgeordneten sich ganz umsonst besaufen konnten. Deshalb war ich praktisch ‚unantastbar‘. So läuft das in diesem Business.“ 

    Im Pandemiejahr 2020 organisierte das Ehepaar eine Spendenaktion und stattete das Stadtkrankenhaus Nr. 2 in Hrodna mit Schutzausrüstungen aus. Als im selben Jahr die Wahlkampagne begann, trat Alexander dem Stab von Viktor Babariko bei und sammelte Unterschriften. Dann unterstützten sie Swetlana Tichanowskaja. Bei Videoaufnahmen von ihren Auftritten in Hrodna kann man Alexandra und Natalja in der ersten Reihe sehen.  

    Zwei Jahre später, 2022, holten Alexander die Silowiki.  

    „Er fuhr auf den Markt, um Fisch zu verkaufen. Da holten sie ihn. Ich habe ihn mehrmals angerufen, er drückte mich immer weg – geht nicht dran, ruft nicht zurück. Das kannte ich nicht von ihm. Ich habe einen Freund angerufen: ‚Juri, kannst du mal auf dem Markt vorbeischauen, mit Sascha stimmt was nicht.‘ Und er: ‚Vielleicht ist sein Telefon nass geworden oder so.‘ Aber ich war mir sicher, dass etwas passiert sein musste.“ 

    Alexanders Auto mit dem Fisch blieb auf dem Markt stehen, später holten es Bekannte ab. Alexander war von sechs bewaffneten Silowiki festgenommen worden, die aus einem Polizeibus gesprungen und über ihn hergefallen waren. Sie brachten ihn ins Revier, wo er die Nacht verbringen musste, und nach drei Tagen Gewahrsam kam er in U-Haft. 

    „Sie bedrohten mich nicht, aber die Demütigungen nahmen kein Ende. In U-Haft saß ich mit einem Straftäter, für den es sein viertes Mal war. Ein ganz normaler, ruhiger Typ um die 40. Er sagt zu mir: ‚Ich war sechs Jahre draußen, jetzt habe ich was geklaut, und es fühlt sich an wie nach Hause kommen.‘ Er schlief, rauchte, aß. Und ich durfte nur am Tisch sitzen und die Pritsche nicht mal angucken. Aufs Klo mit Handschellen. Die Hände auf dem Rücken. Wie soll man das machen? Und die sitzen da, glotzen und lachen: ‚Dir fällt schon was ein! Auf die Demos hast du‘s ja auch irgendwie geschafft!‘“

    Die Flucht nach Georgien über Russland 

    Währenddessen wurde ihre Wohnung durchsucht: Alles auf den Kopf gestellt, die elektronischen Geräte konfisziert. In der U-Haft überreichte die Ermittlerin Alexander eine Anklageschrift wegen Beleidigung Lukaschenkos. „‚Hier‘“, sagte sie. ‚Gegen dich liegen ein Haufen Beweise vor. Entweder du spuckst ein Scheißgeständnis aus, oder ich brumm dir das alles auf und hol deine Alte ab.‘ So reden die mit einem. Eigentlich eine attraktive Frau. Aber die Art zu reden – einfach nur abstoßend.“ 

    Natalja musste mit ihrer Tochter, einer Studentin, mehrfach zu Verhören. Die Ermittler gaben ihnen zu verstehen, dass sie das Land nicht verlassen durften und erreichbar bleiben mussten. Auch die Ferienanlage bekam Besuch von der Staatsanwaltschaft, vom Umweltministerium und der staatlichen Fischereiaufsicht Rybnadsor. „Während ich einsaß, haben sie sich mein Business unter den Nagel gerissen. Jedes Mal wieder: Anzeige – Bußgeld, Anzeige – Bußgeld, Anzeige – mit denen zu reden war sinnlos.“ 

    Zwei Monate nach seiner Verhaftung kam Alexander vors Gericht. Am 19. Mai 2022 wurde er zu zwei Jahren chimija (dt. Chemie) verurteilt – einer Haftstrafe im offenen Vollzug. Er durfte das Gericht auf freiem Fuß verlassen. Am nächsten Tag bekam das Ehepaar einen Anruf von jemandem, der sich als Anwalt vorstellte. Er wollte kein Geld und schlug ein Treffen vor, bei dem er sagte, er würde ihnen dabei helfen, Berufung einzulegen. Während der Bearbeitungszeit hätten sie die Möglichkeit, das Land zu verlassen. 

    Am 1. Juli machte sich die ganze Familie über Russland nach Georgien auf. 

    Der nächste Plan: Richtung Ukraine 

    Ihre Tochter Diana fuhr mit dem Bus, die Eltern mit dem Auto. Diana kam über die Grenze, aber Alexander und Natalja wurden nicht rausgelassen – sie fanden sich in einem russischen Lager für Personen mit Ausreiseverbot wieder. 

    „Zum Glück hatten wir das Geld für den Weg aufgeteilt. Insgesamt hatten wir 2000 US-Dollar. Unsere Tochter hatte 1000 dabei, die andere Hälfte hatten wir. Das Auto war auch noch ein bisschen was wert. „Wir beschlossen spontan, über Abchasien zu fahren. Panik. Wir fuhren über die Berge nach Tuapse am Schwarzen Meer. Dort redete ich mit den Taxi-Fahrern, die sagten: ‚Vergiss es. Wenn die Georgier ein Auto aus Abchasien sehen, schießen die sofort, und fragen erst dann nach dem Namen.“ Also beschloss das Paar, von Russland über die Ukraine nach Europa zu fahren, wo sie ihre Tochter treffen wollten. Sie entschieden sich für den Grenzübergang bei Belgorod. 

    „Ich bin quasi selbst Grenzer. War 16 Jahre in der Armee. An der Frontlinie kommt man nicht durch, da wird geschossen, alles ist vermint und so. In der Oblast Sumy ist es ruhig, kein Krieg – also wird die Grenze bewacht. Aber dazwischen, in der Grauzone, kann man durchschlüpfen. Also versuchten wir es bei Belgorod, 30 Kilometer von Charkiw entfernt. 200 Meter fehlten uns noch bis zur Grenze“, erzählt Alexander. „Und ich hab geweint: ‚Lass uns einfach hierbleiben! Nicht nach Hause fahren und auch nicht dahin‘“, ergänzt Natalja. 

    Diana schaffte es nach Tbilissi. Sie wollte sich ein Zimmer mieten, doch der Vermieter fing an, sie zu belästigen. Also zog sie weiter. Ziellos schlenderte sie durch die Straßen, bis sie mit einer Frau ins Gespräch kam, die ihr eine Unterkunft anbot. Nach dem ersten Monat durfte sie sogar gratis bei ihr wohnen, seitdem nennt Diana sie ihre „georgische Mama“.     

    In „Kriegsgefangenschaft“ 

    Bevor sie die russische Grenze überquerten, inspizierte Alexander drei Tage lang die Umgebung, suchte auf Google Maps, sah sich alles ganz genau an. Der erste Versuch misslang – Natalja blieb im Sumpf stecken, und sie mussten umkehren. In der nächsten Nacht versuchten sie es noch mal, wurden aber von russischen Soldaten aufgegriffen.  

    „Sie blendeten uns, brüllten: ‚Fresse auf den Boden!‘, schossen mit MGs. Natalja wollte wegrennen, ich konnte sie gerade noch aufhalten. Wären wir geflohen, wäre das hundertpro das Ende gewesen.“ Mit einem Sack über dem Kopf wurden die Belarussen zu einem Stützpunkt geführt, jeder in einen anderen Raum. Dort mussten sie sich nackt ausziehen und wurden befragt, wie sie an die Grenze gelangt waren. Natalja erzählt, sie sind von den Soldaten schikaniert worden.   

    „Sie wickelten sich meine Haare um die Faust und zerrten mich daran durchs ganze Zimmer. Dann fixierten sie mich mit Handschellen an ein Bett, brachten eine Flasche, stellten sie auf den Boden und sagten: ‚Weißt du, was wir gleich mit dir machen? Wir binden dir die Beine ans Bett, holen alle unsere Kameraden und lassen sie der Reihe nach ran.‘“ 

    „Als ich sie schreien hörte, sagte ich: ‚Ihr Schweine, ich werde euch alle finden und euch den Hals umdrehen!‘ Zwei Minuten später spuckte ich meine Zähne aus. Die haben richtig zugeschlagen. Natascha haben sie nicht verprügelt, nur an den Haaren durchs Zimmer gezerrt. Mir fehlen seitdem die unteren Zähne.“ Die Soldaten hielten das Paar bis zum nächsten Morgen fest. „Einer kommt rein und sagt: ‚Wieso liebt so ein junges Mädel einen alten Sack wie dich? Willst du zugucken, wie wir sie alle der Reihe nach rannehmen?‘“  

    Ausgeraubt wurden Alexander und Natalja auch. Alles Geld, das Gold – die Russen hatten ihr Auto gefunden und alles mitgenommen, was irgendwie Wert hatte. Am Morgen wurden sie gezwungen zu unterschreiben, dass sie keinerlei Beschwerden gegen die Grenzbeamten hätten. Sie bekamen von ihrem eigenen Geld 2000 Rubel [damals etwa 35 US-Dollar – dek], damit sie gleich ihre Strafe zahlen konnten, und wurden, wieder mit einem Sack über dem Kopf, zu ihrem Auto gebracht und sich selbst überlassen.    

    Zurück nach Moskau und nach Tscheljabinsk  

    Nach der „Kriegsgefangenschaft“ fuhren die beiden zu Nataljas Onkel in die Oblast Moskau. Sie erzählten ihm ihre Geschichte und begriffen, dass er sich über solche Gäste gar nicht freute. „Er war beruflich beim Militär gewesen. Den beiden Rentnern sah man an, dass sie Angst hatten. Wir blieben noch über Nacht, dann sagten wir, wir hätten Arbeit in Moskau gefunden, und reisten wieder ab.“ 

    Alexander fielen seine Verwandten im Ural ein, zu denen er seit 30 Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Er bat Diana, auf Odnoklassniki ihre Telefonnummer herauszufinden, rief an, stellte sich vor, erklärte seine Situation, dass er momentan keine Bleibe habe, und war sehr erstaunt, als sie ihn freudig einluden. Bis Tscheljabinsk waren es zwei Tage Fahrt. Tante Alexandra überließ den Belarussen ihre Wohnung und fuhr selbst auf ihre Datscha. Alexander und Natalja wandten sich an Bysol, wo ihnen empfohlen wurde, nach Wladikawkas zu fahren und von dort aus die Einreise nach Georgien zu versuchen.  

    „Im September rief Russland die Mobilmachung aus. Was da in Werchni Lars los war! Die von Bysol riefen uns an und sagten: ‚Das wird nichts, Leute, vergesst es.‘ Uns ging die Kraft aus, wir hatten kein Geld mehr, nichts.“ Sie verkauften ihr Auto, um in einem Hostel zu wohnen. Mit Flyer-Verteilen verdienten sie sich das Geld für Essen: Jeden Tag 20 Kilometer zu Fuß. 

    „Wir ernährten uns von drei Backkartoffeln aus der Mikrowelle. Geschirr hatten wir keines, nur die Mikrowelle. Brot nur scheibchenweise. Und ein Kilo 100-Rubel-Wurst. Das ist eine Wurst, die kannst du auf den Löffel nehmen, und sie bleibt dran kleben und fällt nicht runter. Zweimal die Woche kauften wir eine Tomate, so als Leckerbissen. Und Äpfel. Wenn ich irgendwo einen Apfel pflücken konnte und wir Zucker zu Hause hatten, schnitten wir das Kerngehäuse aus, füllten Zucker ein und ab in die Mikrowelle. Das war unser Nachtisch.“    

    Trennung und zurück nach Belarus 

    So lebte das Paar bis Oktober. Im Oktober bot ihnen Bysol eine Evakuierung an, für die sie sich allerdings trennen mussten. Sie fuhren nach Moskau. Natalja bekam schnell ein Visum. Dann kam die Anweisung, nach Kaliningrad zu fliegen und dort in den Zug Richtung Minsk zu steigen. Zwei Tage später war Natalja in Kaunas, Litauen. 

    „Ich hatte überhaupt kein Geld mehr. Keine Kopeke, keinen Cent. Ich kam in Kaunas am Bahnhof an und konnte nicht mal auf die Toilette, weil das was kostet. Ich stand da und heulte. Ein junger Ukrainer und seine Mutter wurden auf mich aufmerksam: ‚Wieso weinen Sie denn?‘ Sie halfen mir mit dem Internet, gaben mir ein bisschen Geld und kauften mir eine Fahrkarte nach Danzig, wo meine Tochter auf mich wartete.“ 

    Alexander bekam Instruktionen: „Bestell dir ein BlaBlaCar und fahr nach Orscha“. Die Fahrt bezahlte ihm Bysol. Eine Weile später kam eine Nachricht, er solle nach 15 Kilometern an einer Kreuzung aussteigen und sich im Wald verstecken. Das machte er. Später kam noch ein weiteres Auto. Der Fahrer fragte Alexander nach seinem Namen, ließ ihn einsteigen und fuhr mit ihm durch die Dörfer. Irgendwann erreichten sie den Stadtrand von Wizebsk, und Alexander wurde gebeten auszusteigen.  

    „Ich sagte: ‚Wie geht’s jetzt weiter, Alter?‘ Und er: ‚Keine Ahnung. Tschüss.‘ Und fuhr weg. Russische SIM-Karte, kein Empfang, kein Geld, dafür umso mehr Hunger. Ich traf ein paar Teenager, fragte sie nach einem Hotspot, sagte, ich sei Russe und hätte vergessen, meine SIM-Karte zu aktivieren.“ Gegen Abend meldeten sich die Fluchthelfer: Sie schickten ihm ein Taxi, das ihn zu einer Mietwohnung brachte, ließen ihm ein wenig Geld zukommen. „Ich stellte mein Zeug ab, kaufte zwei Packungen Pelmeni und Schmand und dachte: Scheiße nochmal, endlich mal sattessen!“ 

    Nach Wizebsk erwarteten Alexander noch ein paar Stationen, etliche Wohnungen, Häuser, Datschen, bis er Mitte November eines Nachts an den Njoman gebracht wurde und hörte: „Schwimm“. 

    Alexander (links) und Natalja bei einer Kundgebung in Polen. / Foto © privat
    Alexander (links) und Natalja bei einer Kundgebung in Polen. / Foto © privat

    Hiobsbotschaft in der Freiheit 

    In Litauen wurde Alexander in einem Flüchtlingslager untergebracht, bekam jedoch bald die Genehmigung, in die Stadt zu fahren. Dann wurde er nach Polen überstellt, weil er ein polnisches Visum hatte, und traf dort seine Frau wieder. Während das Ehepaar auf seinen Aufenthaltstitel wartete, machten die beiden hohe Schulden, weil ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt war. Als er seine Dokumente hatte, fing Alexander an, als Fernfahrer zu arbeiten. Er nahm seine Frau mit und seinen Tscheburaschka. „Mein Tscheburaschka hat ganz Europa gesehen“, scherzt er. Jetzt sind alle Schulden abbezahlt.  

    2024 wurde bei Alexander Krebs diagnostiziert.  

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  • „Studiert in Belarus!”

    „Studiert in Belarus!”

    Diese Woche finden in Belarus die Abschlussfeiern der wypuskniki, der Schulabgänger, statt. Dann geht es ins Arbeitsleben oder an die Universität. Der Wunsch, einen Studienplatz in der EU zu ergattern, ist groß. Allein an polnischen Universitäten studieren etwa 12.000 junge Belarussen. Die Behörden in Belarus setzen vieles daran, den Aufbruch der Absolventen in Richtung Westen zu verhindern. Gleichzeitig ist auch die russische Regierung bemüht, die jungen Leute für ein Studium in Russland zu gewinnen.  

    Das belarussische Online-Portal Pozirk hat mit Lehrern und Eltern in Belarus gesprochen und zeigt, wie der belarussische Staat mit Propaganda und Druck versucht, die jungen Leute im Land zu halten.  

    Studierende in Belarus sichten ihre Prüfungsergebnisse. / Foto © Tut.by 

    Alexandra (*alle Namen aus Sicherheitsgründen geändert) arbeitet seit 20 Jahren als Lehrerin. Was sie in ihrer Schule erlebt, beschreibt sie als absurd. Ihr zufolge könne man aus dem Nichts Kritik ernten – seitens der Schulverwaltung, der Bildungsabteilung, der Ideologen. So habe eine Ideologie-Beauftragte auf einer Veranstaltung für die Kinder eine Tasse mit einer englischen Aufschrift entdeckt und nach der Veranstaltung eine Szene gemacht. „Warum wir den Kindern ‚fremdsprachige Aufdrucke‘ präsentieren würden, hat sie gezetert“, erzählt Alexandra. Sie erinnert sich, wie vor zwei Jahren das Anschauungsmaterial aus dem Englischraum entfernt wurde, zum Beispiel Ansichtsplakate von London. 

    Unter besonderer Beobachtung stehen Abschlussfeiern. Die Liste der Lieder musste schon früher mit der Zensurbehörde abgestimmt werden, aber „dieses Jahr sind sie noch weiter gegangen und haben beschlossen, dass es bei der Abschlussfeier keinerlei fremdsprachige Lieder mehr geben und dass nur noch Lieder auf Russisch und Belarussisch gesungen werden dürfen. Ist das nicht absurd?“, empört sich die Pädagogin. 

    Marija, die Mutter eines Absolventen, sagte in einem Gespräch mit Pozirk, die Klassenlehrerin fordere die Eltern seit Februar beharrlich auf, ihr zu schreiben, wo die Kinder studieren wollen. „Das macht mich wütend, ich habe beschlossen, aus Prinzip nichts zu sagen. Ja, mein Sohn geht studieren, und zwar nicht im Ausland, sondern in Belarus, aber wieso sollte ich der Schule Rechenschaft ablegen? Er wird sein Zeugnis abholen, und damit ist seine Beziehung mit der Schule beendet. Warum müssen sie wissen, wo er studieren wird? Außerdem bin ich abergläubisch und erzähle nicht gerne von meinen Plänen, sonst werden sie vielleicht nicht wahr“, erzählt Marija. 

    Die Lehrerin Alexandra bestätigt, dass die Schulen für hiesige Universitäten werben, aber „nicht mit Drohungen oder Zwang, sie versuchen es auf die sanfte Tour, indem sie von den Vorteilen eines Studiums in Belarus erzählen“. Die Gymnasiasten aus der Oberstufe müssen sich ihr zufolge aktuelle belarussische Propaganda-Filme ansehen: Tschushoje nebo (dt. Fremder Himmel) und Trudnosti perewoda (dt. Übersetzungsschwierigkeiten). Der erste Film, den die Propaganda-Beauftragten als „investigative Reportage“ präsentieren, soll das harte Los der belarussischen Emigranten zeigen, unter anderem der Studierenden in Polen und Litauen. Der zweite bietet eine Bühne für junge Belarussen, die angeblich aus Unzufriedenheit mit ihrem Studium in Polen, Tschechien und Litauen nach Belarus zurückgekehrt sind. 

    Dieselben Filme werden auch an Universitäten gezeigt, mit anschließenden Treffen zwischen den Studierenden und den Filmemachern. So geschehen im April an der Janka-Kupala-Universität in Hrodna. Die Ankündigung auf der Internetseite des regionalen Fernsehsenders lautet: „Der Film zeigt das wirkliche Leben der Belarussen, die nach den Ereignissen 2020 emigriert sind. In Monologform erzählen sie, mit welchen Schwierigkeiten sie im Ausland konfrontiert wurden und warum sie nach Hause zurückgekehrt sind bzw. zurückkehren wollen. Der Dokumentarfilm soll Jugendlichen dabei helfen, sich eine dezidierte Meinung über die Situation zu bilden.“ 

    Eine Studentin, die an dem Treffen teilnahm, erklärte, der Film sei „ziemlich komplex“, es sei „hart gewesen, ihn zu sehen“. „Zu sehen, wie Gleichaltrige sich für die komplett andere Seite entschieden haben und weggegangen sind. Es war wirklich hart, den Film zu schauen. Er lässt einen mit vielen Einsichten und Emotionen zurück, mit der Erkenntnis, dass jeder seinen eigenen Weg hat. Der Dokumentarfilm Tschushoje nebo zeigt, welche Folgen eine falsche Entscheidung nach sich ziehen kann“, resümiert diese disziplinierte Zuschauerin ideologisch korrekt. Ein Link zu den Filmen findet sich auf vielen Internetseiten belarussischer Schulen. 

    Wer sich im Ausland einschreibt, ruiniert das Rating seiner Schule 

    Pozirk hat mit Shanna gesprochen, deren Sohn gerade die elfte Klasse am Gymnasium abschließt. Auch hier fragt man die Kinder, wo sie studieren wollen. „Außerdem müssen die Eltern der Schule einen merkwürdigen Bericht vorlegen, in dem sie erklären, wo ihr Kind die Sommermonate bis zum Beginn des Schuljahres im September verbringen wird“, erzählt die Mutter des Elftklässlers. Schüler, die sich im Ausland bewerben wollen, verheimlichen das ihr zufolge vor der Schulleitung, aus Angst, man könnte ihnen die Ausreise verweigern. „Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, behaupten sie also, sie würden an die BGU [Staatliche Universität Belarus in Minsk – dek] gehen. In der Klasse meines Sohnes wollen die Kinder in Russland, Japan und Polen studieren, oder an russischen Hochschulen, die Ableger in Belarus haben“, erklärt unsere Gesprächspartnerin. 

    Die Lehrkräfte und die Leitung der Gymnasien raten nicht direkt davon ab, ausländische Universitäten zu besuchen, sondern werben stattdessen dafür, dass Belarus die beste Hochschulbildung und das Niveau anderer Länder ein- und überholt hätte. „Dazu muss man sagen, dass die Schulleitung Mitglied der Belaja Rus ist“, erzählt Shanna. Das ist eigentlich nicht weiter verwunderlich: Im Bildungswesen, und erst recht in Führungspositionen, gibt es nur noch ausgesiebte Kader. „Ein weiteres Totschlagargument der Lehrer und der Schulleitung: Man soll sich nicht im Ausland bewerben, um der Einrichtung und sich selbst nicht zu schaden. Man würde damit das Ansehen des Gymnasiums ruinieren!“, beschwert sich die Mutter des Gymnasiasten. 

    Wie man in das „Russische Haus“ gelockt wird 

    Lehrerin Natalja beobachtet eine Abwanderung der Jugend weniger nach Europa als vielmehr nach Russland. Sie meint, die Programme der Rossotrudnitschestwo arbeiteten aktiv und mit „sanftem Nachdruck“ daran, talentierte junge Belarussen zum Arbeiten in Russland zu bewegen. So sei Natalja zufolge das Russische Haus Homel aktiv dabei, belarussische Schulabgänger abzuwerben. „Rossotrudnitschestwo führt sehr viele Olympiaden, Wettbewerbe und Exkursionen für belarussische Schüler durch. Die Fahrt nach Russland ist kostenlos, die Belohnung der Gewinner der Olympiaden und Wettbewerbe sind Reisen auf die [im Jahr 2014 annektierte] Krym. Die Kinder fahren auch heute noch dahin, trotz des Kriegs in der Ukraine“, berichtet die Pädagogin. 

    Auf der Seite des Russischen Hauses Homel sind in der Tat lauter Bildungsprojekte und Veranstaltungen zu finden. Zum Beispiel Ein Schritt in die Zukunft mit dem Russischen Haus – eine Reihe offener Kurse mit interaktiven Spielen, Tests und Workshops nach dem Atlas der neuen Berufe, der vom Innovationszentrum Skolkowo entwickelt wurde. Das Projekt richtet sich an Schüler der achten und neunten Klassen. Des Weiteren wenden sich die Programme Hallo Russland! und Neue Generation an junge Belarussen. In deren Rahmen sollen sie „russische Großstädte besuchen, die Kultur und Geschichte des Landes kennenlernen, mit Menschen ins Gespräch kommen, an internationalen Foren, Konferenzen, Festivals und Bildungsprojekten teilnehmen“. 

    „Bevorzugt werden engagierte junge Leute ausgewählt, die sich bereits in Studium oder Beruf, bei verschiedenen bedeutenden Veranstaltungen, Olympiaden oder Wettbewerben hervorgetan haben. Alle Reisen sind all-inclusive“, versprechen die Organisatoren. Als Bonus gibt es Exkursionen, Seminare, Konzerte und Festivals. Die Vorteile für belarussische Absolventen: Für ein Studium in Russland benötigen sie kein Visum (in Belarus ist es im Moment sehr schwierig, an europäische Visa zu kommen, selbst studentische); es gibt keine Sprachbarriere. Dafür gibt es eine Quote, nach der belarussische Staatsbürger Anspruch auf ein staatlich gefördertes Studium haben. 2024 waren es 1300 Studierende (genauso viele wie im Vorjahr), die Anspruch auf ein Stipendium und einen Platz im Wohnheim hatten. Zudem gibt es an den russischen Universitäten keine obligatorische Zurteilung der Absolventen. 

    Einfache Rezepte vom Minister 

    Am 17. April äußerte sich Bildungsminister Andrej Iwanez in einem Kommentar gegenüber dem Staatssender Belarus 1 zur Abwanderung junger Menschen ins Ausland. Seiner Meinung nach ist das Rezept dagegen einfach: „Selbstverständlich sollten wir unseren Kindern, unseren Schulkindern und den Eltern unserer Schulkinder von den Errungenschaften unserer Bildung erzählen, denn oft sind wir bescheiden, wir sprechen nicht darüber, wir scheuen uns, sie zu zeigen.“ 

    Der Minister ist außerdem der Meinung, dass die Belarussen in Europa eine minderwertige Ausbildung erhalten würden. So würden Absolventen polnischer Universitäten bei ihrer Rückkehr nach Belarus auf Probleme bei der Anerkennung ihrer Abschlüsse stoßen: Manchmal wären die Curricula oder die Anzahl der Unterrichtsstunden unzureichend. „Eine Überprüfung endete damit, dass nach dem Abschluss an einer polnischen Universität der prozentuale Anteil des absolvierten Programms nur knapp über 50 Prozent unseres Programms betrug. Das können wir schlecht als Hochschulabschluss anerkennen“, sagte Iwanez. Er fügt hinzu, die jungen Leute und deren Eltern würden das Bildungssystem in Belarus mit anderen Augen sehen, sobald ihnen die Fachleute erklären, dass es sich nicht um Voreingenommenheit handelt, sondern schlicht um einen Vergleich der Datenmengen miteinander. 

    „Ständige Kontrollen durchführen …“ 

    Der Werbeslogan „Studiert in Belarus“ hat jedoch einen wesentlichen Haken, der sich mit dieser Regierung nicht beheben lässt: die totale, unbedingte Ideologisierung des Bildungssystems, die der Hauptgrund dafür ist, dass junge Menschen aus dem Land fliehen. „Wenn Sie immer noch Leute beschäftigen, die unsere Vorgehensweisen und unsere Politik, die Staatsideologie, nicht teilen; wenn Sie die Regimeverweigerer von gestern beschäftigen, was sagt das dann über Sie aus? Eine Frage zum Nachdenken und zur dann Entscheiden“, sagte Alexander Lukaschenko bei einem Treffen mit Mitgliedern der Hochschulrektorenkonferenz im Februar 2024. 

    „Es sind Ihre Studenten, die wir benebelt von westlichen Werten 2020 auf den Plätzen gesehen haben. Und der Grundstein für viele der Inhalte, die sie auf die Straßen getrieben haben, wurde leider in unseren Hörsälen gelegt“, wandte er sich an die Rektoren. Lukaschenko beklagte, dass die Jugendorganisationen und Ideologen an den Universitäten schlecht arbeiten würden: „Was ein überbordender Bürokratismus! Das gehört alles verschlankt: die Jugendorganisationen, die Gewerkschaften, die Studentenräte usw.!“ Er rief die BRSM auf, „normale, informelle“ Veranstaltungen durchzuführen. 

    Ein halbes Jahr später unterzeichnete Bildungsminister Iwanez den 40-seitigen didaktisch-methodologischen Brief Merkmale der Organisation der ideologischen und pädagogischen Arbeit in Einrichtungen der allgemeinen Sekundarbildung für das Schuljahr 2024/2025. Vielleicht wurde Lukaschenkos Kritik ja dort berücksichtigt und der „reinste Bürokratismus“ ausgemerzt? Pozirk hat das Dokument analysiert. 

    Eine der ersten Aufgaben lautet, „die bedingungslose Umsetzung des Beschlusses des Vorstands des Bildungsministeriums über die Zusammenarbeit der Bildungseinrichtungen mit den öffentlichen Organisationen der BRSM und der belarussischen Pionierbewegung BRPO zu gewährleisten“, die Qualität der ideologischen und pädagogischen Arbeit mit Studenten und Arbeitskollektiven zu verbessern und dabei besonderes Augenmerk auf die Stärkung der Staatsideologie zu legen. 

    Die Lehrer werden angehalten, die Schüler besser über die Ressourcen eines „konstruktiven Fokus“ zu sensibilisieren und die Lernenden weiter zu einer „respektvollen Haltung gegenüber staatlichen Symbolen“ zu erziehen. Zu diesem Zweck sollen feierliche Veranstaltungen wie das Hissen der Nationalflagge und das Singen der Hymne durchgeführt werden und „eine ständige Kontrolle über den Zustand der staatlichen Symbole in den Bildungseinrichtungen“ erfolgen. Ferner wird vorgeschrieben, die Arbeit an der „Erforschung der Fragen des Genozids am belarussischen Volk während des Großen Vaterländischen Krieges“ fortzusetzen. 

    In den Schulen werden „Fahnengruppen“ gebildet, in denen Schüler die Nationalflagge herein- und heraustragen sollen. In dem Methodenbrief werden die Lehrkräfte außerdem aufgefordert, sich intensiver mit diesen Gruppen zu befassen. Weil die Fahnengruppe „anständig“ aussehen soll, müssen die Lehrer „die notwendige Ausrüstung zur Verfügung stellen: Militäruniform (Paradeform), wenn sie das Recht haben, sie zu tragen, oder Businesskleidung in Schwarz und Weiß“. Verboten sind „kurze Hosen, Kniestrümpfe, Sneakers und andere Sportschuhe“. Alles ganz „normal und informell“, so wie Lukaschenko verlangt hat. 

    Große und kleine Sticheleien 

    2020 hatten sich Studenten vor allem großstädtischer Universitäten dem Protest gegen Wahlfälschungen zugunsten Lukaschenkos und Gewalt gegen die Zivilbevölkerung angeschlossen. Als die Repressionen Massencharakter annahmen, waren viele junge Menschen gezwungen, ins Ausland zu gehen. Als 2022 Russlands umfassende Aggression gegen die Ukraine begann, lösten Gerüchte über eine mögliche Mobilmachung der belarussischen Bevölkerung eine weitere Auswanderungswelle aus. 

    Lukaschenko behauptete mehrfach, die jungen Protestierenden seien „mit westlichen Werten gehirngewaschen“. „Wir werden Maßnahmen gegen diejenigen ergreifen, die dorthin [ins Ausland – dek] gegangen sind, um sich ausbilden zu lassen und einer Gehirnwäsche unterziehen. Ich habe dem Bildungsminister aufgetragen, mit aller Härte vorzugehen. Wenn wir schon säubern, dann richtig. Hast du deinen Abschluss an der EHU [Europäische Geisteswissenschaftliche Universität in Vilnius – dek] gemacht? Dann arbeite halt in Litauen. Mach ruhig, wir kommen schon ohne dich aus“, drohte er im August 2021. 

    Das Thema griff er später mehrmals auf. Seinen Worten folgten Taten: Im ganzen Land waren Polnischkurse, Fremdsprachenschulen und der private Sektor der Vorschul- und weiterführenden Bildung insgesamt von massiven Kontrollen und Schließungen betroffen. Als Reaktion darauf wurden belarussische Universitäten aus dem Bologna-Prozess ausgeschlossen, europäische Universitäten stellten ihre Austauschprogramme ein. 

    2022 sind die Behörden aus dem bilateralen Abkommen mit Polen über die gegenseitige Anerkennung von Hochschulabschlüssen und -graden in Wissenschaft und Kunst ausgestiegen. Damit nicht genug: 2023 wurde die Zurückstellung von der Armee für Männer, die im Ausland studiert haben, aufgehoben. Man fing an, Schulabgänger zu erfassen, die eine Apostille für die Zulassung an ausländischen Universitäten beantragten, und „Präventivmaßnahmen“ mit ihren Eltern durchzuführen. Doch weder die Schreckensfilme über das ärmliche Dasein im Westen noch die „ideologischen Aktionspläne“ mit dem Herumtragen der rot-grünen Fahne haben sich bisher auf die Statistik der Studienanfänger an ausländischen Hochschulen ausgewirkt. 

    Wie drüben 

    Nicht nur in Belarus versucht man, Abiturienten an sich zu binden. In der Republik Moldau hat das Bildungsministerium in diesem Frühjahr die Kampagne In Moldawien studieren gestartet. Doch die Methoden sind alles andere als autoritär. Man setzt auf positive Anreize: Dort wurden 350 Millionen Lei [ca. 17,6 Millionen Euro – dek] in die Infrastruktur der Universitäten investiert, es wurden 93 Millionen Lei [ca. 4,7 Millionen Euro – dek] für die Renovierung von Studierendenwohnheimen ausgegeben; es wurden Bildungsprogramme entwickelt, die an die Berufe der Zukunft angepasst sind, einschließlich künstlicher Intelligenz, Animation, Game Design, Ökonometrie, Phytobiotechnologie. 

    Ziel der Kampagne ist es, dass sich in der Republik Moldau im Jahr 2025 sechs von zehn Absolventen für eine Universität im Inland entscheiden. Die moldauischen Behörden haben offenbar verstanden, dass die Politik der Peitsche junge Menschen nicht aufhalten wird, aber sie vielleicht auf Zuckerbrot reagieren. Genau so schafft man Voraussetzungen für eine bewusste (anstatt die „richtige“) Wahl, die sich der Staat für seine Absolventen wünschen sollte. 

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  • Warum Russland die Sterbewilligen nicht ausgehen

    Warum Russland die Sterbewilligen nicht ausgehen

    Während die ganze Welt aufmerksam den Personalmangel der ukrainischen Armee und die Schwierigkeiten der Mobilisierung in der Ukraine verfolgt, scheint Russland immer weiter Nachschub für seine Frontstellungen und Angriffe auf die Ukraine rekrutieren zu können. 

    Erklären kann man sich das einerseits durch das repressive Kreml-Regime, das keine Widerworte duldet, andererseits mit verlockend großen Geldsummen für die Kämpfenden und ihre Angehörigen. Der Postpravda-Autor Nikolai Karpizki sucht indes nach einer Erklärung in dem zugrundeliegenden Weltbild und der vorherrschenden Haltung zu Leben und Tod, speziell in entlegeneren und weniger privilegierten Regionen Russlands.  

    Karpizki ist Doktor der Philosophie und Religionswissenschaftler aus Tomsk (Sibirien), lehrte in Kyjiw und Charkiw, war seit 1995 Mitglied der Antikriegsbewegung. 2015 emigrierte er in die Ukraine, aktuell lebt und arbeitet er im ukrainischen Slowjansk (Oblast Donezk), das andauernd Ziel russischer Angriffe ist. Seine Forschungsschwerpunkte und Lebenserfahrungen schlagen sich in dem Meinungsstück zum Thema Krieg als Selbstzweck nieder. 

    Dieser Soldat trägt das Z-Symbol auf seiner Ausrüstung. Foto © SNA/ Imago

    Im Jahr 2022 überwog noch die Erwartung, dass sich die russische Armee zurückziehen würde, wenn sie schweren Schaden erlitte. Das ist nicht passiert.  

    2024 erwartete man dann, dass den Russen wegen riesiger Verluste die kampffähigen Soldaten ausgehen würden. Auch das hat sich nicht erfüllt.  

    Nun heißt es: Russland bräuchte nach Beendigung der aktuellen Kampfhandlungen mehrere Jahre, um seine Armee für einen neuen Krieg zu erneuern. Auch das wird nicht der Fall sein. Russland wird bereit sein, Polen oder das Baltikum zu überfallen, sobald seine Streitkräfte in der Ukraine frei werden. Und die NATO hat dem bislang nichts entgegenzusetzen. 

    Das wirft Fragen auf: 

    Wie kann die russische Führung ohne Rücksicht auf Verluste ihre Soldaten verheizen? 

    Wo findet die russische Armee immer neue Vertragssoldaten, obwohl sie bekanntermaßen oft in selbstmörderische Angriffe geschickt werden? 

    Warum machen Russlands Soldaten keinen Aufstand oder ergeben sich in [ukrainische] Kriegsgefangenschaft? 

    Wieso steht die russische Gesellschaft den enormen militärischen Verlusten scheinbar so gleichgültig gegenüber und unterstützt weiterhin den Krieg?  

    Akzeptanz des sinnlosen Todes 

    Wir haben es hier mit einem einzigartigen historischen Phänomen zu tun: Die russische Gesellschaft unterstützt den Krieg gegen das Nachbarland auf Kosten rücksichtsloser Vernichtung ihrer eigenen Soldaten. Selbst Kranke und Verwundete werden in selbstmörderische Angriffe geschickt. Das ist nur möglich, weil es eine gesellschaftliche Akzeptanz für sinnlosen Tod gibt. So etwas gibt es sonst nirgendwo. Es kommt vor, dass eine Gesellschaft für einen Sieg zu riesigen Opfern bereit ist – doch das setzte die Vorstellung voraus, dass solch ein Tod nicht sinnlos ist.  

    Natürlich kann man das nicht verallgemeinern und alle Russen über einen Kamm scheren. Es gibt in Russland auch Menschen, die gegen den Krieg und für die Ukraine sind. Sie sind jedoch verstreut und bilden keine entscheidende gesellschaftliche Gruppe. Stattdessen bringt ein gesellschaftliches Einverständnis zum sinnlosen Sterben ein Kräfteverhältnis in der Gesellschaft hervor, das eine breite Unterstützung des Kriegs als Selbstzweck möglich macht: Krieg um des Krieges willen.  

    Für diese Akzeptanz gibt es meines Erachtens zwei Ursachen. 

    Der „Todesstaat“ – das soziale Antisystem in Russland 

    Die erste Ursache ist sozial-historischer Natur: Eine sehr treffende Erklärung finden wir bei dem russischen Historiker Dmitri „Sawromat“ Tschernyschewski, der mittlerweile im Exil lebt und in seinem YouTube-Kanal Total War & istorija seine Sicht auf Russland als Militärmacht beziehungsweise als „Imperium des Volksleidens“ darstellt. Um sich als Imperium zu bezeichnen, müsse ein Staat anderen gegenüber überlegen sein, meint Tschernyschewski. Schon das Moskauer Zarenreich sei vor allem in der rücksichtslosen Ausbeutung menschlicher Ressourcen überlegen gewesen. Die Haltung gegenüber der eigenen Bevölkerung als Verbrauchsmaterial zog sich durch die gesamte Geschichte Russlands. So konnten Kiegssiege durch Masse errungen werden, ohne dass man Rücksicht auf Verluste nehmen musste. Armut und Rechtlosigkeit sind notwendig, damit ein solches Staatssystem funktioniert. 

    Im heutigen Russland beobachten wir eine Wiedergeburt dieses brutalen Staatssystems, ja sogar die Mutation zu etwas Schlimmerem: einem „Todesstaat“ – oder „Antisystem“, wie Tschernyschewski den Begriff von Lew Gumiljow übernimmt. Dieses Antisystem fresse sich in Russland selbst hinein und führe letztlich zum Tod. Dies zeige sich unter anderem in der Ökonomie des Todes, wo Einnahmen aus Öl und Gas den pekunären Wohlstand für Familienangehörige der gefallenen Soldaten sichern. Dies schaffe eine starke soziale Basis zur Unterstützung des Regimes und seines Repressionsapparates – den so genannten Silowiki – und des Krieges.  

    Diese Unterstützergruppe ist rund zehnmal größer als die derjenigen, die aktiv gegen die Ukraine kämpfen. Auch die arme Bevölkerung in strukturschwachen Gebieten gehört dazu. Dort fließt durch den Krieg zum ersten Mal Geld. Für sie würde ein Kriegsende ein Ende des Geldflusses bedeuten und außerdem die Rückkehr vieler potenzieller Straftäter von der Front. Gerade diese Schicht garantiert den stetigen Zustrom von freiwilligen Kämpfern, die nicht nur wegen des Geldes einen Vertrag mit der Armee unterschreiben, sondern auch, weil sie darin die einzige Chance sehen, dem sozialen Abgrund zu entkommen. Und so sind keine Proteste in Russland möglich. 

    Laut dem bloggenden Historiker Tschernyschewski galten Soldaten in der Geschichte der russischen Armee stets als ersetzbares Verbrauchsmaterial. Im Antisystem des heutigen Russland kommt jedoch noch etwas hinzu: Die Entsendung von Soldaten in den Tod ist profitabel geworden. Denn Vertragssoldaten kommen mit Geld zum Militär. Man kann sie bestechen und gegen eine gewisse Summe im ungefährlicheren Hinterland einsetzen oder sie stattdessen in den Tod schicken, doch diesen Tod erst später melden und so womöglich selbst Geld kassieren.  

    Je häufiger die Truppen erneuert werden, desto mehr Möglichkeiten gibt es, an ihnen zu verdienen. So entsteht ein System, in dem die Armee zunächst ihre eigenen Soldaten und erst danach die Soldaten des Feindes eliminiert. Außerdem gibt es in der russischen Bevölkerung kaum Mitleid mit den Freiwilligen, das macht die Gesellschaft unempfindlich gegenüber militärischen Verlusten. Und für den Staat bedeutet der Tod von Soldaten an der Front niedrigere soziale Kosten. Denn Tote brauchen keine medizinische Versorgung und keine soziale Unterstützung. 

    Im Antisystem tauschen Gut und Böse die Plätze 

    Die zweite Ursache, warum der Krieg als Selbstzweck funktioniert, ist eine besondere Haltung zum Leben und dem Tod. Diese ist existenziell und gründet auf einem Weltbild, in dem alles, was geschieht, durch die Anwesenheit eines Feindes erklärt wird, der das Ur-Böse verkörpere. Für den Kampf gegen diesen Feind werden alle moralischen Beschränkungen aufgehoben. Jede gute Tat zu seinen Gunsten wird als schlecht betrachtet, und jede schlechte Handlung gegen den Feind als gut. So verkehren sich Wertevorstellungen in ihr Gegenteil – Amoralität wird zur Tugend, Gräuel werden zu Heldentaten.  

    Das daraus resultierende Weltbild hatte sich schon früher in zwei Varianten manifestiert, die in zwei unterschiedlichen emotionalen Zuständen ihren Ausdruck fanden: im Manichäismus und im Gnostizismus. Der Manichäismus ging von der Vorstellung aus, dass unsere helle Welt sich mit der Welt des Ur-Bösen vermischt hat und wir daher zum Kampf verdammt sind. Der Gnostizismus dagegen basierte auf der Vorstellung, dass unsere Welt durch einen Fehler oder den Willen eines bösen Gottes (der Demiurg) geschaffen wurde. Letztlich ist dann alles bedeutungslos, es gibt keinen Unterschied zwischen guten und bösen Taten und so ist es letztlich sinnlos, gegen das Böse zu kämpfen.  

    Es gibt keinen Unterschied zwischen guten und bösen Taten und so ist es letztlich sinnlos, gegen das Böse zu kämpfen 

    Auf Grundlage dieser beiden Weltanschauungen entstanden verschiedene Lehrmeinungen und religiöse Überzeugungen, die jedoch vor allem zu destruktiven Stimmungen führten innerhalb bereits bestehender Religionen – des Christentums und des Islam. 

    Im historischen Russland führte die rücksichtslose Haltung der Machthaber gegenüber der eigenen Bevölkerung zum Entstehen einer manichäischen Stimmung in der Orthodoxie. Ein Symptom dieser Stimmung war die Kirchenspaltung im 17. Jahrhundert aufgrund ritueller Diskrepanzen, die aus Sicht der griechischen Orthodoxie keiner Erwähnung wert waren. Doch in Russland führte die Heftigkeit des Schismas sogar zu kollektiven Selbstverbrennungen. Natürlich ging es dabei nicht nur um rituelle Diskrepanzen, sondern um die Wahrnehmung der Welt ringsum als fremd und feindselig. 

    Als dann die Bolschewiki ihren Kampf gegen die Religion entfachten, integrierten sie in ihre Doktrin des Klassenkampfes eine manichäische Grundhaltung. Sie sahen ihre Mission darin, die Welt von Ausbeutung, also vom Bösen, zu befreien und eine gerechte Gesellschaft zu errichten – das Reich des Guten. Moralische Pflichten galten nur gegenüber den der Arbeiterklasse Nahestehenden. Anderen gegenüber, den Feinden, war alles erlaubt – womit selbst die Stalinschen Massenrepressionen gerechtfertigt wurden.  

    Allerdings hat die kommunistische Ideologie zwei Seiten. Zum einen den rücksichtslosen Klassenkampf gegen Feinde und zum anderen die Utopie einer gerechten Gesellschaft, einer strahlenden Zukunft, der Eroberung des Weltraums, des Fortschritts. Doch mit der Ära des Ölwohlstands verlor der Klassenkampf an Bedeutung. Die Gesellschaft hatte sich in einen utopischen Traum eingelullt, als lebe sie im freiesten und menschenfreundlichsten Land der Welt – bis sie durch den Preissturz auf dem Ölmarkt unsanft aufgeweckt wurde. 

    Auch in Russland denken und fühlen die Menschen natürlich unterschiedlich. An dieser Stelle geht es jedoch um die aktuell vorherrschende Stimmung. Diese bestimmt die Ereignisse des gesellschaftlichen Lebens und sie entspricht einem gnostischen, nicht einem manichäischen Weltbild: Da alles bedeutungslos scheint, spielt es keine Rolle, ob wir Gutes oder Böses tun. Was bleibt, ist, diese Sinnlosigkeit des Lebens anzuerkennen und zu tun, was man will, und letztlich auch sinnlos zu sterben. Anders als in der Sowjetunion, wo die soziale Nekrophilie auf dem manichäischen Weltbild beruhte, ist sie heute in Russland durch das Gnostische ersetzt. 

    Der gnostische Fatalismus russischer Frontsoldaten 

    Aber wenn alles bedeutungslos ist, warum treten dann Menschen in die Armee ein, um gegen die Ukraine zu kämpfen? Stellen wir uns einen gewöhnlichen Menschen aus einer deprimierenden Gegend vor. Keine oder nur mies bezahlte Arbeit, zu Hause ständig Streit und Sorgen, und für die Gesellschaft ein Niemand, eine Leerstelle. Ein Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit. Am schwierigsten ist es, wenn man alle Kräfte aufbringen muss, um zu überleben, wenn doch alles sinnlos erscheint. Dann ist es einfacher, sich mit Alkohol oder Drogen zu betäuben. Ein solcher Zustand erstickt den Selbsterhaltungstrieb, der Tod wird nicht mehr als Übel wahrgenommen, denn der Unterschied zwischen Gute und Böse existiert nicht mehr. Je einfacher die Welt ist, desto weniger muss man sich anstrengen. So machen Krieg und Tod die Welt einfacher. Das ist die nekrophile Stimmung, die auf einem gnostischen Weltbild basiert. 

    Und einem solchen Menschen wird vorgeschlagen, in den Krieg in der Ukraine zu ziehen. Er akzeptiert ohne Widerrede die russische Propaganda als Wahrheit, obwohl ihm in Wirklichkeit egal ist, wer schuld ist am Krieg. Ihm geht es um etwas anderes – um die eigene Bedeutung und Straflosigkeit. Ihm wird versprochen, dass ihn alle, wenn er überlebt, als Veteran ehren würden. Einfacher ausgedrückt: Er kann alles tun, was er will. Und alle würden es wertschätzen. Aber um das zu erreichen, muss man bereit sein, zu töten und zu sterben. In der gnostischen Stimmung mit unterdrücktem Selbsterhaltungstrieb, wo es keinen Unterschied zwischen Gut und Böse gibt, ist es nun leicht, einen solchen Vorschlag anzunehmen. In Russland gibt es Millionen solcher Menschen. Daher wird der Zustrom von Freiwilligen in die russische Armee nicht enden. 

    Auch in der Sowjetunion gab es soziale Nekrophilie, allerdings anderer Art. Damals gingen die Menschen in den Krieg, um für eine Idee [den Sieg über den Faschismus – dek] zu töten und zu sterben. Im heutigen Russland – für die Möglichkeit zu tun, was immer man will. Wenn alles bedeutungslos ist, gibt es schließlich keine moralischen Zwänge mehr, nicht nur gegenüber Fremden, sondern auch den eigenen Leuten.  

    Ein ukrainischer Offizier nannte es „russischen Fatalismus“ 

    Diese gnostische Art der sozialen Nekrophilie ist verknüpft mit einem gnostischen Fatalismus. Ein ukrainischer Offizier, den ich kenne, nannte es „russischen Fatalismus“. Er war zutiefst erschüttert von einem Kriegsvideo, das zwei russische Soldaten zeigte, die sich hinsetzten, um eine Zigarette zu rauchen. In diesem Moment wurde einem von ihnen der Kopf von einem Splitter abgerissen. Der andere zuckte nicht einmal und rauchte ruhig seine Zigarette weiter. 

    Es gibt verschiedene Arten von Fatalismus. Einmal den stoischen Fatalismus, wenn ein Mensch sein Schicksal akzeptiert, aber weiterhin ehrlich gemäß seiner vernünftigen Natur handelt und sich seiner Zugehörigkeit zum Weltgeist oder einem Gott bewusst ist. Nun haben wir es aber mit jenem gnostischen Fatalismus zu tun, bei dem der Mensch keinen Sinn im Leben sieht und sich mit seinem eigenen und dem Tod anderer abfindet. Und so zieht er in ein fremdes Land, um zu töten. Genau dieser Fatalismus führt dazu, dass russische Soldaten in sinnlosen Angriffen in den Tod gehen, anstatt sich gegen ihre Kommandeure aufzulehnen, die von ihrem Tod profitieren. 

    Wie ist die russische Armee aufzuhalten? 

    Die Geschichte wiederholt sich. Wenn Russland in Kriegen gewann, dann durch zahlenmäßige Überlegenheit, und wenn es verlor, dann aufgrund technologischer Rückständigkeit. Weder die Ukraine noch Europa haben und wollen so einen Mobilisierungsmechanismus wie Russland, um Menschen aus ärmeren Gebieten zu rekrutieren. Deswegen wird Russlands Armee zahlenmäßig überlegen bleiben. Natürlich ist die NATO technologisch wie taktisch fortschrittlicher und könnte im Falle eines Krieges enormen Schaden auf der russischen Seite verursachen. Was aber passiert, wenn diese besseren Waffen der NATO aufgebraucht sind und die russische Armee weiter mit neuen Freiwilligen kämpfen kann?  

    Es liegt auf der Hand, dass auf Grundlage der besonderen Art der russischen Kriegsführung neue militärische Strategien entwickelt werden müssen. Ich setze große Hoffnungen in die Entwicklung von Drohnen, Robotern und künstlicher Intelligenz – sodass die Soldaten an der Front zunehmend technisch ersetzt werden können. In diesem Fall könnte Russland seinen einzigen Vorteil gegenüber zivilisierten Ländern verlieren. 

    Und bis dahin muss der Ukraine dabei geholfen werden, diese gefährlichste Zeit zu überstehen und Europa vor einer russischen Invasion zu schützen. 

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