Andere Ufer – so nannte der wohl bekannteste russische Exilschriftsteller Vladimir Nabokov (1899–1977) seinen autobiografischen Roman, der 1954 in New York erstmals erschien. Am Ende des Romans bricht der Autor nach Jahren der Emigration in Berlin und Paris in Richtung USA auf, eben zu jenen anderen Ufern, die in der russischen literarischen Tradition nie nur geografisch gemeint waren, sondern auch metaphysisch: Das Überqueren des Ozeans stand symbolisch für das Überqueren des mythischen Totenflusses Styx.
Die Fotoausstellung Unerforschte Ufer, die 2023 in der armenischen Hauptstadt Jerewan gezeigt wurde, ist ein Blick aus dem Exil auf die nähere Vergangenheit. Sie konzentriert sich jedoch auf die Erkundung der Ufer, die nicht weit weg, sondern ganz nah liegen und die postsowjetischen Kulturen trennen. Eine Erkundung, die lange vernachlässigt wurde und deren Notwendigkeit mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine noch einmal deutlich geworden ist.
Die beiden Kuratoren – der Armenier Wigen Galustjan und die Russin Victoria Muswik – haben Fotos russischer und armenischer Fotografen aus den vergangenen 15 Jahren ausgewählt. Sie analysieren und dokumentieren künstlerisch die Transformationsprozesse und den „postsowjetischen Zustand“. dekoder zeigt einige Bilder, die im Fotojournal von Republic.ruveröffentlicht wurden.
„Wir wollten Fotografie als eine Methode der archäologischen Forschung nutzen. Mit dem Unterschied, dass wir statt physischer Denkmäler Bildwelten ausgraben“ – so formuliert die Kuratorin Victoria Muswik ihre Herangehensweise. Im Fokus dieser Forschung befinden sich Übergangsidentitäten und Räume, die in der postsowjetischen Wirklichkeit entstanden sind. Aber auch die Fragen nach Hierarchie und Macht, „Unausgewogenheit zwischen Zentrum und Peripherie“, „zerstörerischen Kräfte des neokolonialen Despotismus“ und „Gleichgültigkeit der Marktwirtschaft“. Diese Themen werden aus zwei Perspektiven betrachtet – aus der russischen und aus der armenischen.
Dabei stellen die Kuratoren in einem auf Republic.ruveröffentlichten Dialog fest, dass die russische und die armenische Fotografie unterschiedliche Wurzeln haben: Die Entwicklung der russischen Fotografie ist von imperialen und – später – revolutionären Imperativen nicht zu trennen. So spielten etwa die Fotos von Sergej Prokudin-Gorski im 19. Jahrhundert eine entscheidende Rolle in der „Kartografie“ des Russischen Imperiums, in der Bestimmung von dessen Grenzen, dessen Zentrum und Randgebieten. Die armenische Fotografie dagegen war ursprünglich ein Mittel der interkulturellen Beziehungen zwischen Armenien und dem Nahen Osten, Europa und Russland.
Die modernen Fotografen erben diese Besonderheiten, weisen aber gleichzeitig viele weitere Unterschiede auf. Etwa im Hinblick auf die fotografische Analyse von ähnlichen Themen, wie zum Beispiel die (gemeinsame) sowjetische Vergangenheit. Ein wiederkehrendes Motiv vieler Fotografen ist der „postsowjetische Zustand“ – Ruinen und Symbole der vergangenen Epoche. Während russische Fotografen meistens versuchen, die Größe und Mehrschichtigkeit des untergegangenen sowjetischen Projekts an sich zu verstehen, sehen die armenischen Fotografen nicht nur das Sowjetische oder die Splitter des Sowjetischen, sondern auch das Persönliche und Lokale. Während die russischen Fotografen sich analytisch und verfremdet auf die Landschaften konzentrieren, treten in der armenischen Fotografie die Menschen, deren Beziehungen, Gefühle und persönliche Geschichten deutlicher hervor.
Wie es in der Fotografie oft der Fall ist, sagen die Bilder nicht nur etwas über die Objekte aus, die sie zeigen, sondern auch etwas über die Fotografen, die sie aufgenommen haben. Alle Fotos wurden vor dem Beginn des großflächigen Angriffskrieges gegen die Ukraine gemacht.
Arman Harutyunyan, „Einige Minuten vor dem Angriff der Hunde“, 2020
Sergey Novikov und Max Sher, „Theater der Ordnungshüter: Glaube in den herrschenden Umständen“, aus dem Projekt Infrastructures, 2016–2019
Nelly Shishmanian, „Bewohner des Grenzdorfs Tsopi in Georgien feiern den armenischen Feiertag Wardawar“, aus dem Projekt „Vielleicht zusammen“, 2018
Quelle: republic.ru Fotoauswahl: Victoria Muswik und Wigen Galustjan Veröffentlicht am 25. April 2024 Wir danken Max Sher für seine Unterstützung in der Vorbereitung dieser Publikaton.
Sasha Filipenko hat sich seit den Ereignissen im Jahr 2020 in Belarus auch in der internationalen Welt zu einer der wichtigsten belarussischen Stimmen entwickelt. Der Schriftsteller, der in Sankt Petersburg studierte und lange in Russland als Drehbuchautor, Fernsehmoderator und Autor arbeitete und lebte, äußert sich regelmäßig zu den politischen Entwicklungen in seiner Heimat. Seine Literatur schreibt er auf Russisch. Nun sind zwei seiner Romane auf Belarussisch erschienen. Aus diesem Anlass hat sich Kazjaryna Kulakowa für das Online-Medium Salidarnasc/Gazeta.by mit Filipenko unterhalten – über die Sprachenfrage in Belarus, über das Leben im Exil und darüber, warum über Belarus in unseren Breiten so wenig bekannt ist.
Sasha Filipenko: Die Übersetzung meiner Bücher ins Belarussische ist natürlich ein sehr bedeutendes Ereignis für mich. Fast ein Jahr lang haben wir versucht, das möglich zu machen, es war nicht leicht. Die Leute sehen nur: Da ist ein neues Buch erschienen, aber damit es dazu kommen konnte, haben wir viel gearbeitet. Und ich bin sehr froh, dass es gelungen ist.
Salidarnasc: Worin bestanden die Schwierigkeiten?
Einige belarussische Verleger sagten, das Buch sei schon auf Russisch erschienen, es sei sehr bekannt, und alle, die es lesen wollen, hätten es wohl schon gelesen, deshalb würde es sich schwer verkaufen lassen. Es war also schwierig, einen Verlag zu finden, weshalb ich dem Gutenberg Verlag sehr dankbar bin, dass es nun endlich so weit ist.
Für mich ist die Sprache eine Frage des Werkzeugkastens
Die Übersetzung ist, wie ich finde, sehr gut geworden. Ich schreibe nicht auf Belarussisch, mein Gefühl für die Sprache ist nicht so gut. Als die Übersetzerin und die Lektorin mit der Arbeit begannen, merkte ich, dass sie das Belarussische sehr viel besser beherrschen als ich. Für mich ist das einfach eine Frage des Werkzeugkastens.
Empfehlen Sie den Belarussen, die die Bücher bereits auf Russisch gelesen haben, sie noch einmal auf Belarussisch zu lesen?
Natürlich, ich finde das sehr interessant. Man liest diese Geschichte nicht anders, aber wie mit einem anderen Blick. Für mich selbst war es sehr spannend.
Die Sprachenfrage ist unter den Belarussen gerade ein heißes Thema: Viele Belarussen gehen zum Belarussischen über, der zukünftige Status unserer Sprache wird diskutiert. Wie denken Sie darüber?
Ich sehe, dass die Mehrheit der Belarussen, die zum Belarussischen wechseln, im Ausland lebt. In Warschau und in Tbilissi. Ich weiß nicht, wie das der belarussischen Sprache im Inland helfen kann. Ich denke, es wäre gut, wenn die Belarussen in Belarus belarussisch sprechen würden. Zweitens scheint mir, dass viele Belarussen, die vorher nie belarussisch gesprochen haben, damit jetzt beginnen, weil das Russische toxisch geworden ist, die belarussische Sprache aber nicht – mit Belarussisch ist alles in Ordnung, damit ist man sozusagen ein guter Mensch und ein echter Belarusse.
Doch für mich selbst existiert die Sprachenfrage nicht. Mir ist es gleich, wer ihr seid und welche Sprache ihr sprecht. Entsprechend sind für mich Belarussen nicht besser oder schlechter, je nachdem, ob sie belarussisch oder russisch sprechen. Diese Entscheidung trifft jeder für sich.
Wir müssen zuallererst mit unseren Kindern belarussisch sprechen
Die Situation ist jetzt so, dass die belarussische Sprache mit jedem Tag weiter vernichtet wird, das ist uns klar. Wenn wir wollen, dass sie nicht zerstört wird, dann müssen wir zuallererst, das ist das Wichtigste, mit unseren Kindern belarussisch sprechen. Danach kann jede Person schon selbst entscheiden, welche Sprache sie verwenden möchte.
Sprechen Sie belarussisch mit Ihrem Sohn, oder lernt er vielleicht belarussisch?
Er lernt nirgends Belarussisch, aber er schaut sich belarussischsprachige Videos auf YouTube an. Natürlich unterhalten wir uns auf Belarussisch, und er hört auch, wie wir mit Freunden belarussisch sprechen. Ich spreche mit meinem Sohn englisch, französisch und russisch. Später, wenn er entscheidet, wo er leben möchte, wird er schon selbst wählen, welche Sprache er sprechen möchte.
Er weiß, dass er belarussische Wurzeln und auch diese Sprache hat. Aber jetzt ist es schwierig für ihn, sie zu lernen, auch Russisch lernt er nirgends, weil wir in der Schweiz leben.
Die belarussische Übersetzung Ihrer Bücher wird online auf der Verlagswebsite zugänglich sein. Das ist eine gute Neuigkeit für die Menschen in Belarus, denn sie können die Bücher ohne irgendwelche Hindernisse lesen. Halten Sie Kontakt zu Belarussen im Land und können Sie etwas über das Verhältnis der Menschen untereinander sagen?
Ich spreche mit vielen Leuten in Belarus, allein schon für die Arbeit, da ich auch als Journalist tätig bin und für die europäische Presse schreibe. Im Moment sind alle sehr still geworden. Aber das bedeutet keinesfalls, dass sie sich aufgegeben haben. Sicher, es gab eine Niederlage (im Jahr 2020, Anm. d. Red.), es ist uns nicht gelungen, unser Ziel zu erreichen.
Wir haben eine Schlacht verloren, aber der Krieg ist noch im Gange
Aber ich weiß, dass die Belarussen wieder protestieren werden, sobald sich eine Möglichkeit ergibt, in diesem Sinne ist nichts vorbei. Wir haben eine Schlacht verloren, aber der Krieg ist noch im Gange, und deshalb gehen auch täglich die Repressionen weiter. Diejenigen, die weiterhin an der Macht festhalten, spüren: Würden die Repressionen aufhören, wäre den Belarussen klar, dass eine Art Tauwetter beginnt, und dann könnten sie wieder auf die Straßen gehen.
Die größte Auszeichnung für mich war übrigens (darüber habe ich kürzlich in Berlin berichtet, wo ich zum ersten Mal Romanauszüge auf Belarussisch vor Publikum las), dass Menschen, die 2020 in Haft kamen, dort mein Buch Der ehemalige Sohn gelesen und es von Zelle zu Zelle weitergereicht haben. Ich weiß, dass dieses Buch den Menschen etwas bedeutete, dass es für sie wie eine Therapie hinter Gittern war.
In der französischen Zeitschrift Kometa haben Sie ein Art Reiseführer für das heutige Belarus geschrieben. Was überrascht Ausländer in Bezug auf Belarus am meisten, und was verwundert Sie in diesem Kontext wiederum?
Mich wundert, dass niemand irgendetwas über Belarus weiß. Aber mir scheint, daran tragen wir auch selbst Schuld. Es fällt sehr schwer zu beschreiben, was da gerade vor sich geht. Und den Menschen in Europa fällt es ebenso schwer, das zu glauben. In der Schweiz habe ich von Leuten gehört, die drei Tage bei uns waren: in Belarus gäbe es gute Restaurants, saubere Straßen und man könne nicht sagen, dass Lukaschenka ein Diktator sei. Die Menschen begreifen also nicht wirklich, was im Land passiert.
Vor einer Woche, bei einem Auftritt in Basel, begann eine Schweizerin plötzlich zu erzählen, dass sie sich für das belarussische Rentensystem interessiere und es für viel besser als das der Schweiz halte. Bei uns würde es den Rentnern besser gehen, als denen in der Schweiz, sie hätten zudem die Möglichkeit, ins Sanatorium zu fahren. Ich hörte mir das an und überlegte, ob diese Frau wohl einen Monat lang so leben könnte, wie ein belarussischer Rentner.
Eine weitere dringliche Frage ist die nach den politischen Gefangenen. Es gibt keine einheitliche Lösung, wie man die Menschen aus der Haft befreien könnte. Sie sind in dieser Frage nicht mehr nur Beobachter, denn vor Kurzem wurde Ihr Vater verhaftet. Was denken Sie über die Frage der politischen Häftlinge?
Ich sehe, dass Leute jetzt sagen, man müsse Zugeständnisse machen, die Sanktionen beenden, um die politischen Gefangenen freizubekommen. Als würden die Mächtigen nach der Freilassung nicht einfach andere festnehmen. Ich denke, dass noch am selben Tag neue Leute hinter Gitter kämen, denn das Regime hätte die Bestätigung: ja, es funktioniert.
Die Menschen müssen freikommen, ohne dass es Bedingungen gibt
Meine Eltern sind aktuell Geiseln in Minsk. Aber dennoch weiß ich, dass es nur eine einzige Option gibt: Die Menschen müssen freikommen, ohne dass es Bedingungen gibt. Den Machthabern muss klar sein, dass es keinerlei Verhandlungen geben wird: Die Leute müssen einfach nur freigelassen werden. Jemand hat gesagt, dass selbst im Krieg beide Seiten Gefangene austauschen. Aber wir haben keine Kriegsgefangenen hier, in Warschau gibt es keinen Asarjonak oder jemanden von deren Seite. Und die Abänderung der Sanktionen im Austausch gegen Gefangene – das ist auch keine Option.
Wir können uns vorstellen, dass Kalesnikawa und Babaryka freigelassen werden, und jeder Belarusse wünscht sich, dass das geschieht. Aber es gibt dabei einen Preis, den es zu zahlen gilt, wenn am nächsten Tag ein anderer Mensch dafür verhaftet wird. Wie kann man das nicht berücksichtigen? Und warum heißt es, man habe kein Herz und kein Mitgefühl, wenn man die Idee der Zugeständnisse nicht mitträgt? Im Gegenteil, man hat sehr wohl Herz und Mitgefühl, nur muss man eben Realist sein, wenn man gegen eine Diktatur kämpft.
Sie haben viele Male gesagt, dass vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine das belarussische Thema in Vergessenheit gerät. Ändert sich das in letzter Zeit?
Ja, jetzt gerät auch das Thema Ukraine in Vergessenheit. Es gab die Ereignisse in Israel und andere. Ich glaube, dass die Ukrainer sich jetzt allmählich so fühlen, wie wir uns gefühlt haben. Ich arbeite mit Journalisten zusammen, die über die Vorwahlkampagne in den USA berichten, und bei all den Kandidaten und den Kommunalwahlen kommt die Ukraine auf dem zehnten oder elften Platz. Natürlich werden die Nachbarländer die Ukraine weiter stark unterstützen. Aber für die Menschen, die in Portugal, Spanien oder Italien leben … Mein Sohn kommt aus seiner Schweizer Schule und erzählt, dass die Leute in der Schweiz nicht wissen, dass in der Ukraine Krieg ist.
Wir begeistern uns für Konflikte wie für Netflix-Serien
Mir scheint, wir begeistern uns für Konflikte wie für Netflix-Serien: Komm, lass uns die zweite Staffel schauen. Aber dann ist es nicht mehr spannend, und los, wir schauen einfach eine andere Serie. Was wir also tun können, ist, weiterhin darüber zu berichten, dass sich nichts geändert hat.
Sie erzählen viel über Ihre Arbeit als Journalist. Aber schreiben Sie gerade auch Bücher?
Ja, ich habe begonnen, an einem neuen Buch zu arbeiten.
Vor etwas mehr als einem Jahr sagten Sie, dass Sie keine Bücher schreiben können – was hat sich geändert? Und worum geht es in dem neuen Buch, wenn man fragen darf?
Das ist noch geheim. Einige Zeit lang war ich erschöpft und konnte nicht schreiben. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, ein neues Buch zu beginnen. Es ist eine schwierige Frage, ob es gerade überhaupt einen Sinn hat, Bücher zu schreiben, denn du begreifst, dass Bücher überhaupt nichts bewirken. Aber andererseits beeinflussen sie dich selbst und viele Leser, oder sie werden zu Theaterstücken. Wenn ich mir also anschaue, was gerade auf unserer Welt passiert, dann wird mir klar, dass nur darin Sinn steckt – Kultur, Literatur, Theater.
In Berlin gab es eine Inszenierung auf der Grundlage von Kremulator. Das hat sehr stark auf mich gewirkt, nicht in dem Sinne, dass ich stolz bin, weil mein Buch inszeniert wurde, sondern weil der Regisseur Maxim Dsidsenka und alle Mitwirkenden aus eigener Kraft, ohne Unterstützung eines Theaters oder so, ein großartiges Stück auf die Beine gestellt haben.
Kunst zu schaffen ist das, was wir tun können, um Menschen zu bleiben
Für mich ist es sehr wichtig und wesentlich, dass Menschen sich der Kunst widmen – trotz allem. Dann beginne ich auch zu denken, dass ich schreiben muss, und schreibe. Deshalb finde ich, dass es gerade jetzt sehr wichtig ist, Kunst zu schaffen – es ist das, was wir tun können, um Menschen zu bleiben.
In Ihrem Roman Rückkehr nach Ostrog haben Sie den großangelegten Krieg Russlands gegen die Ukraine vorausgesagt. Was denken Sie heute über die Zukunft: Stehen wir an der Schwelle zu einer großen Katastrophe oder kommen doch positive Veränderungen auf uns zu?
Darf ich die Frage nicht beantworten? Alles, was ich sage, wird nachher wahr. Noch vor Ostrog habe ich 2015/16 in einem Interview gesagt, dass ein großer Krieg kommen wird. Was ich jetzt sehe und fühle … Ich habe keine guten Prognosen. Daher lassen Sie mich bitte diese Frage nicht beantworten.
Diejenigen, die sich noch an Michail Borsykin erinnern, nennen ihn eine Legende. Aber es erinnern sich nicht mehr viele an den Musiker, der in der Zeit des großen Umbruchs Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre bekannt wurde. Kein Wunder: Während andere Bands Stadionhits komponierten, wollte er sich keinem Trend anpassen. Das galt auch politisch. Wladimir Putin war ihm von Anfang an suspekt. 2014, als Russland nach der Krim-Annexion im patriotischen Taumel lag, schrieb er das Lied „Vergib uns, Ukraine“. Als Putin acht Jahre später den großen Angriff startete, verließ er das Land. In einer kleinen Stadt an der Küste von Montenegro betreibt er gemeinsam mit einem Schauspielerpaar aus der Ukraine ein Theater. Die Vorstellungen sind ausverkauft.
Neulich rief während der Theater-Aufführung jemand die Polizei. Das Stück Almar von Alexander Gelman wurde in Montenegro gespielt, in einem kleinen Saal zwischen Budva und Bečići. Die Nachbarn hatten die Polizei gerufen. Eine Mitarbeiterin des Theaters bat die Polizisten, die Schauspieler noch zu Ende spielen zu lassen, es würde nur noch eine halbe Stunde dauern. Die Polizisten sagten: Gut, aber der da soll nicht so laut singen. Wer da so laut gesungen hatte, war Michail Borsykin.
Die Sankt Petersburger Band Telewisor ist eine besondere Band. Auch wer kein dezidierter Fan ist, kennt die Songs S wami goworit telewisor (dt. Hier spricht Ihr Fernseher) und Twoi papa – faschist (dt. Dein Papa ist ein Faschist). In den 1990er Jahren, als in Russland Rock vorübergehend zum Showbusiness wurde, blieb Telewisor sich treu. Sie mussten nicht unbedingt Stadien füllen und schrieben keine Songs, zu denen man sich auf den Tribünen in den Armen lag und brennende Feuerzeuge schwenkte.
Seit zwei Jahren lebt Michail Borsykin im montenegrinischen Urlaubsort Budva und vermisst Sankt Petersburg kein bisschen – die Ästhetik einer Megapolis bedrückt ihn, wie er sagt, während ihn die kleinen Städtchen hier irgendwie an seine Kindheit in Pjatigorsk erinnern.
Zusammen mit den ukrainischen Schauspielern Katarina Sintschillo und Wiktor Koschel gründete er in Budva das European Art Community Theater (EuroACT).
Anfang der 1990er Jahre – es war eine Euphorie mit Tränen in den Augen
„Anfang der Neunziger war ich euphorisch, so wie alle damals“, erzählt Boryskin. „Das war eine Zeit der Innenschau: Wir dachten, wir könnten unser soziales Umfeld vergessen und uns endlich mit uns selbst beschäftigen. Doch auch da trat allerhand Schreckliches zutage. Also, es war eine Euphorie mit Tränen in den Augen. Als in der zweiten Hälfte der Neunziger der Tschetschenienkrieg begann, wurde mir klar, dass keineswegs alles so eindeutig ist, wie es heute so schön heißt. Irgendwo war Jelzin falsch abgebogen und kriminelle Energien wurden frei, die vorher geschlummert hatten – all diese Geheimdienstler und Geschäftsmänner.
Unübersehbar verschmolzen Banditenmilieu und Geheimdienste, man erinnere sich nur an Kumarins und Putins gemeinsame Partys in Sankt Petersburg. Und dann trugen die plötzlich alle Schulterklappen, und es wurde ungemütlich.
Im Jahr 2000 war ich noch in einer Art Schockstarre. Putin konnte ich vom ersten Tag an nicht leiden – auf psychophysiologischer Ebene. Aber ich hielt ihn für eine temporäre Erscheinung, eine technische Übergangsfigur, die man als nichts Besonderes ausgesucht hatte. Dabei hat er anscheinend sein ganzes Leben der Aufgabe gewidmet, niemand Besonderer zu sein. 2002 begann schon die Panik, und nach Chodorkowskis Verhaftung war endgültig alles klar. 2017 ging ich mit einem Guest-Writer-Programm für ein paar Jahre nach Schweden. Ich sah bereits, dass die Zeit der friedlichen Proteste vorbei war und wir zum bewaffneten Widerstand übergehen müssten. Dazu war ich aber innerlich nicht bereit, weswegen ich anfing, über Emigration nachzudenken. Zehn Jahre, von 2007 bis 2017, hatte ich aktiv an Demos teilgenommen, die sukzessive zum Schweigen gebracht wurden, obwohl es natürlich auch Highlights gab. Dann kamen die weißen Luftballons und die Gummi-Enten – ich lief nur noch mit, um mein Gewissen zu beruhigen, denn die Zwecklosigkeit dieses Zivilgesellschaft-Spielens war mir sonnenklar. Russland war nicht Indien, ein Gandhi fand sich bei uns nicht. Es gibt die Ansicht, dass gewaltlose Proteste effektiver sind, das bestätigen sogar statistische Daten. Aber das gilt nicht für alle und nicht immer. Auf Russland trifft diese Statistik nicht zu. Während wir mit Taschenlampen und Gummi-Enten marschierten, wurden sie nur noch stärker und sammelten Kräfte, bis sie uns alle schließlich zerschmetterten. Ich schob meine Abreise lange hinaus. Ich hoffte, dieser große Krieg würde doch noch ausbleiben. Obwohl alles darauf hinwies, dass er jeden Moment beginnen würde. Aber so viele politische Analysten ringsum behaupteten netterweise das Gegenteil. Als es losging, besorgte ich mir ein Ticket und flog davon.“
Es gibt keine Rechtfertigung, den Bruder als Feind zu sehen. Das bedeutet jahrelanges Leiden und Jahrhunderte der Schande. Du und ich, wir sind schuld, der Freiheit unwürdige Söhne, mit Watte im Kopf, die Herzen in Gefangenschaft des Kriegs.
Das ist von Borsykin.
An Protesten hat Michail Borsykin immer teilgenommen. Als 1988 in Leningrad ein Rock-Festival abgesagt wurde, war er es, der die Leute, die sich Eintrittskarten kaufen wollten, zum Smolny führte. Auf dem Weg dahin schlossen sich ihnen Passanten an, die fragten, wohin sie gingen. Als sie vom Verbot des Rock-Festivals erfuhren, liefen sie mit. Beim Taurischen Park wurden sie von der Polizei gestoppt, der Vorsitzende des Rock-Clubs wurde zu einem Gespräch zitiert, man wartete ohne große Hoffnungen draußen, doch zu aller Überraschung wurde das Festival genehmigt und nicht einer der Demonstranten wurde festgenommen.
Dann ging Telewisor auf Europa-Tournee, richtete sich ein eigenes Tonstudio ein und nahm ein Album auf. Und wechselte fast alle Bandmitglieder aus.
Wir wollten zur globalen Musikkultur gehören
„Wir fingen an, das Album aufzunehmen“, erinnert sich Borsykin, „und merkten, dass die Musik einiger unserer Kollegen einen kommerziellen, massentauglichen Touch bekommen hatte. Da trafen wir die snobistische Entscheidung, das alles nicht mitzumachen. Wir hatten nichts gegen große Auftritte, spielten manchmal auch in Stadien, wollten uns aber von diesem Trend nicht vereinnahmen lassen.
Sie kennen ja diesen Einheitsbrei – eine simple Melodie und die ewige Verbrüderung mit dem ganzen Volk. Seichte Hits wie Oj-jo sind ein typisches Beispiel. Viele Musiker prägten später den Begriff gownorok (dt. Kackrock) für so etwas – für diese stadionfüllenden Schlager mit gemeinsam gegröltem Refrain zum Mitklatschen. Dieser Weg widerstrebte uns: Wir sahen uns als Absolventen der europäischen Schule und wollten zur globalen Musikkultur gehören. Es ging alles in die falsche Richtung, und das passte uns nicht. Unsere Songs waren zu individualistisch und sogar misanthropisch – damit lässt sich kein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen und auch kein Geld verdienen. Das wirkte sich natürlich auf die Zahl unserer Konzerte aus und führte zu gewissen Problemen untereinander. Deswegen verabschiedeten wir uns von unserer bisherigen Besetzung. Einer ging zu Nautilus, ein anderer zu Grebenschtschikow, und ich suchte mir neue Leute.“
Die Band Telewisor bei einem Live-Auftritt mit ihrem Song „Twoi papa – faschist“
Das Album Metschta samoubizy (dt. Traum eines Selbstmörders), das die Band nach ihrer Rückkehr von der Europa-Tournee 1991 aufnahm, enthält die phänomenale Nummer Twoi papa – faschist (dt. Dein Papa ist ein Faschist), die nie an Aktualität verliert und nicht nach der guten alten Zeit klingt, in der die Mädchen noch jünger waren. Borsykin sagt, dass sie alle zwei, drei Jahre einfach wieder zu schwingen beginnt, zu vibrieren, mit der Umgebung zu interagieren und in neuen Farben zu schillern. Doch in den 1990er Jahren waren solche Lieder wirklich nichts für große Konzerthallen. Und Michail Borsykin wurde so was wie ein weißer Rabe oder ein schwarzes Schaf, er hob sich von der Masse ab, war unkonventionell, zu hart und zu wütend für die damalige Zeit. Und als sich zehn Jahre später die Zeiten änderten, bemerkten das viele erst einmal gar nicht.
Den Song Verzeih uns, Ukraine schrieb Michail Borsykin 2014
Den Song Ty prosti nas, Ukraina (dt. Verzeih uns, Ukraine) schrieb Michail Borsykin 2014. Acht Jahre später nahm er im Sommer 2022 an einem Benefiz-Festival für ukrainische Flüchtlinge teil, das der Fonds Pristanischte (dt. Dock) in Budva in Montenegro veranstaltete. Er übte mit montenegrinischen Musikern zwei Songs ein – die bereits erwähnten Ty prosti nas, Ukraina und S wami goworit telewisor. Sie waren am Schluss an der Reihe, als es schon dunkel war. Die Scheinwerfer gingen aus, nur das Diskolicht flackerte. Der Beleuchter war aber nach Bali geflogen, erzählt Borsykin, und man konnte ihn nicht anrufen und fragen, wie man diese kitschigen Funzeln bedient. Also sang er fast im Dunkeln, griff am Keyboard immer wieder daneben. Im Publikum saßen Katarina Sintschillo und Viktor Koschel, zwei Schauspieler aus der Ukraine. An dieser Stelle würde man gern schreiben: Und damit nahm alles seinen Anfang.
Viktor Koschel ist verdienter Künstler der Ukraine, er spielte viele Jahre lang im Kyjiwer Lessja-Ukrajinka-Theater. Zusammen mit Katarina hatte er 13 Jahre zuvor das KChAT gegründet – das Klassische Alternative Künstlertheater, eines der landesweit größten unabhängigen Ensembletheater mit 13 Stücken im Repertoire. Als der großangelegte Einmarsch begann, wurden alle Theater geschlossen.
Katarina rief im Kulturministerium an und schlug vor, in der Metro Konzerte zu organisieren, weil es in vielen Häusern keine Bunker gab und die Kyjiwer unten in den Stationen Schutz suchten.
Im Ministerium hatten sie aber gerade andere Sorgen, also begannen Katarina und Viktor, jeden Abend kleine Sendungen mit Gedichten, Liedern und Ansprachen aufzunehmen und zur moralischen Unterstützung der Menschen, die sich der Territorialverteidigung anschlossen, ins Netz zu stellen. Die Concierges waren geflüchtet, die jungen Männer waren an der Front oder in der Territorialverteidigung, und die restlichen paar Männer mittleren Alters teilten sich die Wachdienste auf, um das Haus vor Saboteuren und Plünderern zu schützen.
„Ich war vor allem im Nachtdienst“, erinnert sich Viktor Koschel. „Wenn ich nach Hause kam, war Katja wach. Sie schlief nicht mehr. Dann fing sie an, übertrieben heftig zu reagieren, sogar auf ganz kleine Alltagssorgen. Sie war am Durchdrehen, hielt das alles nervlich nicht aus. Wir wollten nicht weg, aber es war an der Zeit, sich um ihre mentale Gesundheit zu kümmern. Vor dem Krieg waren wir acht Jahre hintereinander in den Urlaub nach Montenegro gefahren, immer in dasselbe Ferienhaus in Dobrota bei Kotor. Der Vermieter der Apartments hatte uns gleich am Tag nach Kriegsbeginn geschrieben, dass wir kommen sollen, er nehme uns auf. Kostenlos. Hier wisse man, was Krieg bedeutet. Innerhalb von einer Stunde hatten wir gepackt.“
In Montenegro blieben Katarina und Viktor nicht am Strand sitzen, um ihr Trauma zu bewältigen, sondern begannen sofort, nach Arbeitsmöglichkeiten zu suchen. Sie wandten sich mit der Idee, ein Konzert mit ukrainischen Liedern zu veranstalten, an die Direktorin einer Galerie in der Altstadt von Budva. Die Direktorin sagte dasselbe wie der Vermieter des Ferienhauses: Wir wissen, was Krieg ist. Plakate und Flyer druckte die Galerie auf eigene Kosten, und jeden Monat gab es ein oder sogar mehrere Konzerte. Doch das Theater fehlte trotzdem.
Nach 50 Tagen Krieg in Kyjiw war es schwierig, die posttraumatische Belastungsstörung zu überwinden. Viktor und Katarina konnten kein Russisch mehr hören, sprachen nur noch Ukrainisch miteinander, obwohl ihr Kyjiwer Theater zweisprachig gewesen war: Die Hälfte der Vorstellungen war Ukrainisch, die andere Russisch.
Psychologen meinten, sie müssten sich ausweinen, aber sie konnten nicht. Ihre Augen brannten vor Trockenheit. Und dann besuchten sie jenes Musikfestival in Budva, hörten Michail Borsykins „Verzeih uns, Ukraine“, und endlich flossen die Tränen.
„Eine so kraftvolle Kombination aus Musik und Text habe ich noch nie gehört“, sagt Katarina. „Viktor und ich weinten uns aus und bekamen Lust, mit diesem Mann zusammenzuarbeiten. Und – stellen Sie sich vor: Am selben Abend, es war schon ganz dunkel, bemerkten wir an einer Kreuzung eine Silhouette, in der wir Borsykin erkannten, und riefen: ‚Maestro!‘ Auf der Bühne war es genauso dunkel gewesen wie jetzt auf der Straße, trotzdem hatte Viktor ihn erkannt. Wir gingen zu ihm hin und sagten, dass wir gern mit ihm arbeiten würden. Obwohl das angesichts unseres Repertoires bedeutete, das Unvereinbare zu vereinbaren. Doch Mischa macht nun Mal tolle Rock-Versionen ukrainischer Lieder.“
Die Konzerte bestanden immer aus drei Teilen: zuerst sang Viktor Koschel ukrainische Lieder, dann kamen ukrainische Lieder in Borsykins Bearbeitung und gemeinsamer Interpretation und dann eigene Songs von Borsykin. Viktor war ein guter Ukrainisch-Lehrer: Geduldig brachte er Borsykin die Aussprache bei, der jetzt jedes paljanyzjaso aussprechen kann, dass er nicht von einem Ukrainer zu unterscheiden ist. Im Gegenzug war Borsykin Viktor ein strenger und anspruchsvoller Gesangslehrer.
Sehr schwer war es, erzählt Katarina, einen Gitarristen zu finden. Viele wurden beim Bewerbungsgespräch oder während der ersten Probe ausgesiebt. Eben wegen der hohen Ansprüche, die Borsykin an ihre musikalische Ausbildung stellte. Mit vereinten Kräften fanden sie schließlich Dima aus Dnepro, und endlich kann Borsykin sich auf der Bühne ganz dem „Zappeln und Winken“ widmen, wie er es selbst nennt.
Als das Programm fertig war, begann Katarina, nach Bühnen für mögliche Auftritte zu suchen. Sie ging in große Restaurants und sagte: „Im Winter ist bei euch sowieso nichts los, lasst uns einen Art-Club gründen!“ Fast ein Jahr lang tingelten sie von Bühne zu Bühne, die Katarina fand. Zum Tag des Theaters am 27. März wollten sie dann ein Stück spielen. Indessen hatten in Montenegro Schauspieler Fuß gefasst, die aus verschiedenen Städten und Theatern Russlands gekommen waren: aus Sankt Petersburg, Ischewsk, Krasnodar. Katarina und Wiktor entschieden sich für Tschechows Tschaika (Die Möwe) – zum Tag des Theaters sollte auch das Stück vom Theater handeln. In Kyjiw hatten sie für eine Produktion immer neun Monate eingeplant, hier schafften sie es in einem. Obwohl viele Schauspieler auf Baustellen und in Bäckereien arbeiteten und nur in ihrer Freizeit proben konnten. Aber alle hatten ihren Beruf so sehr vermisst, dass sie innerhalb eines Monats bereit für die Aufführung waren. Den Proberaum hatte Marat Gelman zur Verfügung gestellt, der ihn sich einmal als Lager für seine Bilder gekauft hatte. So befand sich die Bühne in einer Art Lager oder Galerie. Es kamen so viele Leute, dass sie auf Teppichen auf dem Boden sitzen mussten, weil nicht genug Stühle da waren, und in der Loge stehen mussten. Am zweiten Abend schlug Gelman vor: Gründet ein Theater, einen Raum habt ihr ja schon, ihr kriegt alles hin.
„Zur Eröffnung wollten wir etwas aus der ukrainischen Klassik spielen: Johanna von Lessja Ukrajinka. Die Möwe hatten wir schon, und dann kam noch Alexander Gelmans Stück Almar dazu – über die Liebe zwischen Albert Einstein und Margarita Konjonkowa. Plus ein abendfüllendes Konzert mit Michail Borsykin. Marat Gelman fragte: Mögt ihr Borsykin? Wollt ihr ihn zum musikalischen Leiter des Theaters machen? Natürlich wollen wir das, natürlich, wir lieben ihn!“
So entstand innerhalb von nur drei Monaten ein Theater. Der Saal, in dem jetzt gespielt wird und früher Bilder aufbewahrt wurden, funktioniert wie ein Baukasten. Es gibt keine Bühne, die Schauspieler spielen eine Armlänge vom Publikum entfernt, und jedes Mal stehen die Stühle anders. Bei Almar längs, bei der Möwe quer, bei Pridurki (Dummköpfe) im rechten Winkel. Im Saal haben maximal 50 Zuschauer Platz, wenn sie sich quetschen wie die Sardinen. Das Bühnenbild ist minimalistisch – logisch, wenn das Theater lediglich über Tische und Stühle verfügt. Katarinas und Viktors Fantasie kennt allerdings keine Grenzen.
Nur bei Almar steht in der Ecke noch ein Keyboard, an dem Michail Borsykin sitzt. Das Zusammenwirken seiner Lieder mit Gelmans Drama und Sintschillos und Koschels glänzendem Spiel als Konjonkowa und Einstein ist nicht nur ein Theaterstück, sondern eine überraschend harmonische Kombination aus Rock-Konzert und Drama. „Mit unserem Krieg retten wir uns vor einem noch schrecklicheren Krieg“ [Swojeju woinoi my budem spassatsja ot boleje straschnoi woiny] klingt, als wäre es extra für dieses Stück verfasst worden. Doch Borsykin hat nichts extra geschrieben – Katarina hat die Songs für die Inszenierung ausgesucht.
Viktor Koschel sagt, er habe Borsykin schon fast gehasst, weil seine Frau mehrere Wochen lang jeden Morgen Telewisor aufdrehte und bis zum Abend hörte. Die Songs, die sie aussuchte – von Schestwije ryb (dt. Marsch der Fische) aus dem ersten Album bis Krasny sneg (dt. Roter Schnee) aus dem letzten –, klingen tatsächlich ähnlich aktuell und wichtig sowohl für heute als auch für gestern oder jenen Frühherbst 1945, in dem Einstein sich von Margarita verabschiedete.
Auf dem Plakat zu Almar steht: mit der Rock-Legende Michail Borsykin. Doch zu Ehrentiteln wie Rock-Legende oder Grundpfeiler des sowjetischen Rock sagt Michail immer nur: „Schreibt lieber so was wie ‚stand am Ursprung der Neoromantik‘ oder ‚an der Quelle von Dark Wave‘. Telewisor ist stilistisch nicht wirklich Rock, eher New Wave. Reiner, klassischer Rock war nie das, wofür sich meine Band begeisterte.“ Aber was mal auf einem Plakat steht, ist fix.
„Bei Almar wollte ich nur mitspielen. Das war mein Beitrag zur tätigen Reue. Ich bezwang meine Star-Allüren: Ich war immer mein eigener Herr gewesen, hatte selbst Regie geführt, auf meiner eigenen Bühne. Und auf einmal wurden meine Songs zurechtgeschnitten und anders zusammengebaut: Hier zwei Strophen, hier drei, und hier ohne Refrain. Ich fügte mich dem Ton, den Katarina vorgab.“
Jetzt hat das Theater Tschechows Medwed (Der Bär), das Ein-Mann-Stück Tri goda (Drei Jahre), ebenfalls nach Tschechow, Jewreiskije tschassy (Die jüdische Uhr) der ukrainischen Dramenautoren Sergej Kisseljow und Andrej Ruschkowski und Pridurki (Dummköpfe) von Alexander Karabtschijewski im Repertoire. Insgesamt in diesem knappen Jahr sieben Stücke und drei Konzerte.
„Wir wiederholen jetzt, in einem fremden Land, was wir in Kyjiw schon einmal geschafft haben“, sagt Katarina. „Wir hätten in Kyjiw eigentlich noch eine kleine Bühne eröffnen wollen, es war schon fast soweit. Unsere Hauptbühne befand sich im Haus des Schauspielers, das sie immer abreißen wollten, um stattdessen eine Bank hinzubauen oder einfach, um es zu verkaufen. Das gab uns den Anstoß, auf die Barrikaden zu gehen, zu protestieren, uns an den Kyjiwer Bürgermeister Vitali Klitschko zu wenden. Er nannte uns ‚aggressive Intelligenzija‘. Er verstand uns einfach nicht: ‚Wollt ihr sagen, ihr habt keine 30 Millionen für eine anständige Sanierung?‘
Wir saßen wie Studenten mit einer Flasche Wein am Strand und schmiedeten Pläne
Und dann saßen wir zu dritt da, Viktor war traurig, Mischa Borsykin war traurig, der eine ein verdienter Künstler, der andere eine Rock-Legende, und alle sahen sich gezwungen, von Null anzufangen und ihr ganzes Leben zurückzulassen. Ich sagte: ‚Was habt ihr denn bloß? Darin steckt unsere große Chance, wieder jung zu sein. Wir sind wieder wie Studenten, bei denen noch nichts fix ist, die mit einer Flasche Wein am Strand sitzen und Zukunftspläne schmieden. Zurück an den Start, ein neues Leben!‘“
Ein neues Leben. Auf den Ruinen des alten. Eine Flasche Wein für drei. An allen Enden der Welt sitzen sie jetzt genauso im Sand, auf dem Asphalt, auf dem Sofa – Menschen, die vor Krieg und Gefängnis geflüchtet sind, bei denen genauso nichts fix ist, die nicht wissen, wie es weitergeht. Vorerst in einem kleinen Dorf zwischen Budva und Bečići, in einem halbdunklen Saal, in dem noch vor einem Jahr Bilder gelagert wurden und sich jetzt Sintschillo als Arkadina aus der Tschaika mal im feurig folkloristischen Tanz dreht, mal als Phaidra Trigorin zu Füßen sinkt, während Koschel als Einstein die Eifersucht quält und Borsykin in der Ecke am Keyboard mal vom Tod und mal vom Glück singt. Dann scheint alles möglich, und die Verzweiflung schwindet mit der Ebbe. Der Weltuntergang ist ausgeblieben – Borsykin hat ihn abgewendet.
Mit keinem anderen Staatsführer trifft sich Wladimir Putin derart häufig wie mit seinem belarussischen Kollegen Alexander Lukaschenko. Vor allem seit dem Beginn der Proteste in Belarus im Jahr 2020 und seit Beginn der russischen Großinvasion in die Ukraine hat die Anzahl der Besuche, die bis auf zwei Ausnahmen allesamt in Russland stattfanden, deutlich zugenommen. Die Gründe sind klar: Lukaschenko ist für Putin trotz aller Differenzen in der Vergangenheit der loyalste Verbündete; der russische Präsident hält dem belarussischen Diktator im Gegenzug den Rücken frei, unterstützt ihn wirtschaftlich, versucht aber gleichzeitig, den russischen Einfluss in Belarus weiter zu erhöhen. Erstaunlich ist dabei immer wieder, wie Lukaschenko für sich Vorteile auszumachen versucht, obwohl er weiß, dass er sich gegenüber dem Kreml in der deutlich schwächeren Position befindet.
Nun war Lukaschenko Ende vergangener Woche wieder in Moskau, es war bereits das zweite Treffen zwischen den beiden Staatenführern in diesem Jahr. Die Treffen werden in unabhängigen belarussischen Medien regelmäßig eingehend diskutiert. Dabei standen diesmal vor allem diese Fragen im Vordergrund: Welche aktuelle Rolle spielt Lukaschenko für Putin im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine? Könnte Belarus immer noch mit eigenen Truppen eingreifen? Oder wäre es dem Kreml dienlicher, wenn Lukaschenko Russland mit seinen industriellen Möglichkeiten im Kampf gegen die Sanktionsauswirkungen unterstützt und er für den Fall, dass es doch irgendwann zu Verhandlungen mit der Ukraine kommen sollte, die Rolle des „Friedensstifters“ für Putin übernimmt? Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski gibt in seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk Antworten auf diese und andere Fragen.
Alexander Lukaschenko teilte bei seinem Besuch im Kreml am 12. April vor Journalisten mit: „Ich bestreite ja nicht, dass wir ein Co-Aggressor sind“. Dabei unterstrich er aber auch: „Jeder erfüllt seine Aufgabe.“ Anders gesagt, Wladimir Putin und Lukaschenko haben sich offenbar auf eine Aufgabenteilung in der ukrainischen Frage (und darüber hinaus) geeinigt. Diese spezielle Aufgabenteilung zeigte sich auch darin, dass der Gast während seines aktuellen Besuchs als Sprachrohr des Kreml zum Thema Friedensgespräche mit Kyjiw fungierte. Er trat vehement dafür ein, die Verhandlungen von Istanbul 2022 als Grundlage zu nehmen und diskreditierte die für Juni geplante Konferenz in der Schweiz, zu der Moskau nicht eingeladen wurde. Putin pflichtete – wie es sich für einen Zaren ziemt – großmütig bei.
Selbst wenn Lukaschenko zugibt, Co-Aggressor zu sein, hindert ihn das nicht daran, als Friedensstifter aufzutreten. Den ukrainischen Präsidenten, den er viele Male beleidigt und als politischen Jungspund deklassiert hat, nannte er diesmal höflich beim Vor- und Vatersnamen. Kurzum, er ist ein Großmeister im Herumlavieren.
Russland braucht jetzt ein solches Belarus
Die Moskauer Journalisten fragten Lukaschenko, wie hoch er die Wahrscheinlichkeit einschätze, dass Belarus in die Kampfhandlungen eintreten müsse. Die Antwort lautete: „Eine solche Notwendigkeit gibt es nicht. Und eine solche Notwendigkeit wird es auch nicht geben.“
Es folgten Argumente, die der belarussische Machthaber vermutlich wiederholt vor Putin von Angesicht zu Angesicht ausgebreitet hat. Heute scheint zwischen ihnen in dieser Hinsicht Konsens zu herrschen. Lukaschenko sagte: „Russland braucht jetzt ein solches Belarus – friedlich, still und ruhig, das seine Aufgabe erfüllt. Im Einzelnen werde ich Ihnen nicht erzählen, womit wir uns beschäftigen“.
Im Grunde kann man erraten, dass es vor allem um die Unterstützung des kriegsführenden Russland bei der Produktion von Nachschub geht – sowohl im zivilen Sektor (im Zuge der Sanktionen und der Abwanderung westlicher Firmen aus Russland sind einige Lücken entstanden) als auch im militärischen Bereich. Unter anderem hilft Minsk Moskau dabei, mithilfe von Grauimporten die Sanktionsauswirkungen zu mildern.
Des Weiteren erklärte Lukaschenko offen, dass es derzeit selbstmörderisch sei, sich von Belarus aus in der Ukraine einzumischen. Erstens sei „deren Grenze zu Belarus verbarrikadiert – da ist kein Rankommen. Sie ist vollständig vermint und zubetoniert, und es stehen 120.000 ukrainische Soldaten an dieser Grenze.“
Zweitens, so erklärte er, würde sich in diesem Fall die Front um 1000 Kilometer – nämlich um die Länge der belarussischen Grenze mit der Ukraine, Polen und den baltischen Staaten – verlängern (jaja, die aggressiven NATO-Staaten warten nur darauf!): „Wenn wir in den Krieg eintreten, müssen wir diese Front sichern. Können wir das? Wir können das nicht. Ich sage Ihnen: Wir können das nicht. Wollen wir Probleme? Nein, wollen wir nicht.“
Und ein weiterer Punkt: „Die Hälfte unseres Landes liegt im Hundertkilometerradius von Kyjiw (hier übertreibt er in seinem üblichen Stil – Anm. d. A.). Auch die Erdölraffinerie in Mosyr, die zum Glück bislang ohne Einschränkung arbeitet, sie wurde modernisiert, und auch die Russen tanken Benzin aus der Raffinerie Mosyr.“ Es ist anzunehmen, dass Lukaschenko faktisch wiederholt hat, was er auch Putin in ihren Tête-à-Têtes dargelegt hat. Und der ist mit dieser Argumentation bis heute mehr oder weniger einverstanden: Besser keine schlafenden Hunde wecken. Andernfalls hätte Lukaschenko keine solche Überzeugung ausgestrahlt.
Die Tatsache, dass der belarussische Machthaber wieder zwei Tage bei seinem Großen Bruder zu Gast war und gemeinsam mit ihm die Kosmonauten ehrte, spricht alles in allem dafür, dass zwischen ihnen gegenseitiges Verständnis eingekehrt ist. Die von einigen Kommentatoren überspitzte Version, Putin würde seinem Partner wieder und wieder verzweifelt die Daumenschrauben anziehen, erscheint eher unwahrscheinlich.
Der Klassiker: Rückendeckung für die „russischen Brüder“
Die beiden Herrscher reagierten auch auf die Äußerungen ihrer politischen Gegner und einer Reihe von Experten, dass laut Lukaschenko „Putin und Lukaschenko morgen Europa einnehmen wollen“. Der belarussische Regent versicherte, man habe „niemals solche Pläne besprochen“. Der Kremlchef bezeichnete diese Verdächtigungen als Unsinn. Auf der Gegenseite liegt das Vertrauen in die Aussagen der beiden Herrscher verständlicherweise bei Null. Die hatten auch vor dem Einmarsch in die Ukraine 2022 unverfroren versichert, nur gemeinsame Militärübungen durchzuführen.
Damals war jedoch offensichtlich, dass Truppen zusammengezogen wurden, und die Amerikaner warnten in Klartext vor einem anstehenden Überfall. Eine solch schlagkräftige Formation ist heute weder für einen erneuten Marsch auf Kyjiw von belarussischem Territorium aus noch für einen Blitzkrieg zur Einnahme von Vilnius (oder gar Warschau) ersichtlich. Sollte sich eine solche Formation bilden, dann dauert das länger als einen Monat, und würde zudem mit den heutigen Möglichkeiten der Aufklärung klar entdeckt werden. Aktuell ist es für Putin logischer, an den bestehenden Fronten in der Ukraine maximal voranzukommen, um im Falle von Friedensverhandlungen eine möglichst günstige Position zu haben.
Selbst wenn Russland eine neue Mobilisierung durchführt, würde das Kanonenfutter am ehesten in der Ukraine gebraucht, vielleicht für den erwarteten Angriff auf Charkiw. In dieser Situation eine weitere Front gegen die NATO zu eröffnen, wäre fraglos eine schlechte Idee.
Lukaschenko wird hingegen mit Vergnügen den Anschein erwecken, die russischen Brüder vor einer potenziellen NATO-Aggression zu beschützen. Unter anderem behauptet er, sich den westlichen Truppen heldenhaft entgegenstellen zu wollen, sollten sie in der Ukraine auftauchen: „Jetzt haben sie begonnen, von der Verlegung eigener Truppen in die Ukraine zu reden, höchstwahrscheinlich an die Grenze zu Belarus. Wir warten, sollen sie nur kommen.“
Doch diese Truppenverlegung ist bislang mit einer Heugabel auf Wasser geschrieben, und so oder so ist klar, dass die Franzosen oder auch die Briten nicht in die Offensive gehen würden. Doch Lukaschenko ist es wichtig, Moskau davon zu überzeugen, wie wertvoll seine Mission ist, die verdammten Westler zurückzuhalten, die an den Grenzen des Unionsstaates mit den Panzerketten rasseln.
Die Weltraumparty soll weitergehen – die Kosten trägt der große Bruder
Derweil hat der belarussische Bündnispartner es eilig, Dividenden aus der aktuellen Situation einzustreichen. Am 11. April sagte er im Kreml zu Journalisten: „Wenn wir schon Aggressoren sind, sollten offen gestanden auch die gleichen Bedingungen für die Wirtschaftssubjekte und die Menschen gleich sein.“
Zwar ist das doppelt gemoppelt, doch der Inhalt ist verständlich. Als einziger Verbündeter des kriegsführenden Imperiums will Minsk ein Maximum an Vorteilen. Im Gespräch mit Putin merkte Lukaschenko an: „Die Kredite, die für gemeinsame Projekte bewilligt wurden – 100 Milliarden Russische Rubel [circa 1 Milliarde Euro – dek] – sind schon zu über 80 Prozent in Projekten umgesetzt.“ Die Andeutung ist klar: Es wäre keine Sünde, noch ein paar Kreditmittel rüberwachsen zu lassen.
Zudem ist Lukaschenko sichtlich euphorisch ob der Tatsache, dass es locker gelungen ist, auf das russische Raumfahrtprogramm aufzuspringen. Am 26. März rutschte ihm raus, dass der Weltraumflug Belarus 70 Millionen Dollar kosten würde, Russland allerdings diese Ausgaben übernehme. Jetzt überredet Lukaschenko Putin, wieder belarussische Kosmonauten in den Orbit zu schicken. Dem belarussischen Machthaber gefällt eindeutig das Image des Anführers einer Raumfahrernation, und er wünscht sich eine Fortführung der Party, zumal der große Bruder die Kosten dafür übernimmt.
Der Wohlstand wackelt, doch Lukaschenko ist es gewohnt, sich herauszuwinden
In den ersten Wochen der großangelegten Invasion Russlands in der Ukraine, besonders, nachdem die Angreifer bei Kyjiw aufs Maul bekommen hatten, wirkte Lukaschenko nervös und gereizt. Jetzt ist er viel lockerer: Er konnte die Entsendung seiner Truppen in diesen Fleischwolf vorerst abwenden und von Russland neue Produktionsaufträge bekommen. Die russische Armee drängt die Ukrainer zurück. Ein Teil der westlichen Politiker tendiert scheinbar dazu, Kyjiw zu einem Frieden zu ungünstigen Bedingungen zu zwingen. Die Ansichten einiger Kommentatoren, dass Putin den belarussischen Vasallen im Falle eines Friedensabkommens mit der Ukraine weniger schätzen wird, die Subventionen streicht und Belarus als Trostpreis annektiert, kann man anzweifeln.
Eine friedliche Verschnaufpause würde Moskau am ehesten nutzen, um Kraft und Ressourcen für eine „Endlösung der Ukraine-Frage“ zu sammeln. Und dann weiterzumachen. Und bei solchen Plänen kann der belarussische Verbündete noch sehr nützlich sein. Warum ihn also verprellen? Wie man sieht, hat sich Lukaschenko, dieser Meister des Manövers, begabt im Springen zwischen Strömungen, unglaublich geschickt an die Situation des großen Krieges in der Nachbarschaft angepasst (und dabei der eigenen Wählerschaft noch das Image des weisen und starken Friedensschützers in die Köpfe gepflanzt).
Es steht auf einem anderen Blatt, dass sein Wohlstand arg wacklig ist. Auf dem russischen Markt verschlechtert sich langsam die Stimmung. Bei den Händlern dort haben sich große Produktionsvorräte angesammelt, worüber sich Lukaschenko kürzlich bei einem Branchentreffen empörte. Auch die belarussische Außenhandelsbilanz verschlechtert sich – Äquatorialguinea ist, auch wenn man hundertmal hinfliegt, ein schlechter Ersatz für EU und Ukraine. Die einseitige Orientierung auf den russischen Markt und die Bindung im Bereich der Exportlogistik verstärken die Abhängigkeit vom Imperium. Das Russische Imperium seinerseits, sieht man von der Weltraumprotzerei ab, kann im Bereich innovativer Technologien nicht behilflich sein. Zudem atmet es Aggression, sie ist sein Modus vivendi. Mit einem solchen Großen Bruder kann sich der ganze relative Wohlstand, der heute vorhanden ist, unversehens in Nichts auflösen.
Doch Lukaschenko hat keine Wahl, nach Den Haag will er ja auch nicht. Er ist es gewohnt, sich herauszuwinden, und tut das auch heute, wenn er versucht, selbst aus dem Status des Co-Aggressors den größtmöglichen Gewinn zu pressen.
Schätzungen zufolge kämpfen rund 1500 bis 2000 Freiwillige aus Belarus aktuell auf Seiten der Ukraine, beispielsweise im Kalinouski-Regiment. Nach ihrem Einsatz können sie nicht zurück in ihre Heimat, da sie dort politisch verfolgt werden würden, für die Ukraine erhalten sie häufig keine Aufenthaltsgenehmigung. Sie gehen also ins Exil, nicht selten nach Polen, wo infolge der Repressionen in Belarus bereits viele Belarussen gelandet sind. Dort müssen sie sich ein neues Leben aufbauen, was alles andere als leicht ist, da sie vom Krieg gezeichnet sind.
Wie hilft man solchen Menschen? Was brauchen sie, um im Alltag wieder ankommen zu können? Die Redaktion des belarussischen Auslandssenders Euroradio hat mit betroffenen Belarussen gesprochen und mit Aktivisten und Organisationen, die sich für sie einsetzen.
Manchmal schickte Zichi („der Stille”) Fotos mit neutralem Hintergrund nach Hause. Seine Familie dachte, der neutrale Hintergrund sei Warschau. Tatsächlich war die Mehrzahl der Bilder in der Südukraine aufgenommen. Der belarussische Freiwillige nahm an Militäroperationen teil, von denen wir in den Nachrichten gelesen haben – an der Befreiung des Gebietes um Cherson, der ukrainischen Sommeroffensive. Doch kürzlich tauchte wirklich Warschau auf seinen Fotos auf. Nach zwei Jahren Einsatz hatte er beschlossen, ins zivile Leben zurückzukehren, erhielt aber in der Ukraine keinen Aufenthaltsstatus. So musste er nach Polen gehen. In Warschau ist es schwieriger für Zichi als bei Cherson. Keine Arbeit, keine Waffenbrüder – nur eine Posttraumatische Belastungsstörung und Depressionen. Wenn Belarussen in der Emigration hören, wo Zichi die letzten zwei Jahre verbracht hat, sagen sie „vielen Dank“. Doch das ist nicht genug, um ein neues Leben zu beginnen.
Die belarussischen Freiwilligen haben aber keinen Staat, der sich um sie kümmert
Der Ehemann von Olha Haltschenko aus Kyjiw ging 2014 als Freiwilliger an die Front. Damals hatte er einen russischen Pass. 2022 meldete sich auch ihr Vater als Freiwilliger. Seit 2014 verfolgt Olha aufmerksam, wie in der Bevölkerung auf Wellen heißer Liebe zur Truppe Wellen ebenso starken Desinteresses folgen. „Das ist ein natürliches Verhalten in allen Gesellschaften. Zuerst ein Hoch der Popularität der Armee. Wenn die Soldaten dann heimkehren und versuchen, sich im zivilen Leben zu integrieren, kommt eine Gegenströmung. 2014 bis 2015 waren bei uns alle „die Liebsten, die Besten, unsere schönsten Jungs“. Dann ging es los: „Wir haben euch nicht dorthin geschickt“, „Warum bekommt ihr Ermäßigungen, warum könnt ihr kostenlos Bahn fahren? Das haben wir alles miterlebt.“ Als die Empathie der ukrainischen Gesellschaft weniger wurde, blieb den Soldaten noch der Staat mit seinen Garantien (auch wenn sie teilweise seltsam anmuten – das Veteranengesetz ist alt und garantiert den Teilnehmern von Kriegseinsätzen bis heute ein kostenloses Festnetztelefon und einen Rundfunkempfänger).
Die belarussischen Freiwilligen haben aber keinen Staat, der sich um sie kümmert. Und wenn in der Zivilgesellschaft die Empathie „abhanden kommt”, bleibt ihnen überhaupt nichts. „Der Veteran hat seine Zeit, seine Gesundheit, seine Karriere, manchmal sogar seine Familie geopfert. Was kann die Gesellschaft einen Menschen geben, um dieses Opfer zu kompensieren?“, überlegt Olha Haltschenko. „Die brennendste Frage ist zunächst die Unterstützung bei der Reha. Die Wiederherstellung der Gesundheit ist die erste Sorge des Veteranen und der Veteranin, sowohl physisch als auch mental. Man muss nicht der Staat sein, um finanziell zu helfen, den Menschen die Möglichkeit zu geben, einen Psychologen, Physiotherapeuten oder Ergotherapeuten (der Menschen mit Verletzungen hilft, ihre Fähigkeiten zurückzuerlangen) aufzusuchen.
Eine weitere wichtige Bitte von Seiten der Veteranen ist die Sicherung eines gewissen Zeremoniells in Bezug auf die gefallenen Kameraden und die Unterstützung ihrer Familien. Es ist ihnen wichtig, das Gedenken an ihre Freunde zu erhalten, die Leistung der Gefallenen zu ehren. Die dritte Bitte ist die Unterstützung bei der Umsetzung eigener Möglichkeiten jenseits der Front. Das kann Hilfe bei der Arbeitssuche sein, bei der Aufnahme einer geschäftlichen Unternehmung, bei der Ausbildung, beim Erwerb neuer Kompetenzen. Denn oft geraten die Menschen bei der Rückkehr in eine Welt, die sich verändert hat, besonders, wenn sie in Bereichen gearbeitet haben, die sich dynamisch entwickeln.“
Hat jemand beispielsweise im IT-Bereich gearbeitet, stellt er fest, dass seine Kenntnisse nach zwei Jahren veraltet sind und er Weiterbildung braucht, seine Fähigkeiten erweitern muss, um auf dem Arbeitsmarkt wieder wettbewerbsfähig zu sein. Dann ist es gut, wenn jemand hilft, passende Kurse und das Geld dafür zu finden.
Es ist gut, wenn die Familie wartet – doch nicht alle werden erwartet
„Aber das Leben ist doch völlig anders“, dachte Zichi kürzlich, als er mit Belarussen und Ukrainern in Warschau zusammensaß. Aber wie es ist, das erzählte er niemandem in dieser Runde. Auch nicht, dass er im Schlafsack in der Südukraine bequemer schlief, als im Bett in Warschau. Soldaten kommen nicht gern in relativ friedliche Städte wie Kyjiw oder Lwiw, auch nicht zur Erholung. Sie haben sich an das stressige Leben im Feld gewöhnt und wissen häufig nicht, was sie tun sollen, wenn dieser Stress plötzlich fehlt, sagt Maryna, Neurologin im Rehabilitationszentrum Lanka. „Man muss einen Menschen nicht bis ins kleinste Detail ausfragen, was er erlebt hat. Mit der Zeit, wenn das Vertrauen stärker wird, erzählt er selbst von diesen Ereignissen, um sie zu verarbeiten.“
Wenn nach der Rückkehr von der Front die Familie wartet, ist das Ankommen leichter. Doch unter den Freiwilligen gibt es auch solche, die nach dem Kriegsausbruch keinen Kontakt zu ihren Nächsten halten konnten. Es gibt solche, deren Verwandte in Belarus leben. Und es gibt Familien, die nicht wissen, dass der neutrale Hintergrund auf dem Foto im ukrainischen Mykolajiw ist, nicht in Warschau. „Natürlich hilft das Gefühl ungemein, dass du sicher bist, geliebt wirst, dass jemand auf dich gewartet hat. Wenn eine geliebte Person von der Front zurückkehrt, empfehle ich, sie in einfache Alltagshandlungen einzubinden. Bei uns im Lanka-Zentrum hat man erstmal einen Tag zum Ankommen, danach werden die Aufgenommenen gebeten, sich an der Alltagstätigkeiten zu beteiligen. Man kann der Person auch ein Haustier schenken, ja, das ist ein verantwortungsvoller Schritt. Aber einfache Tätigkeiten – du hast einen Hund, du musst mit ihm spazieren gehen, du musst ihn dressieren – erden hervorragend.
Ich weiß, viele Soldaten treffen sich gern mit ihren Kampfbrüdern, mit denen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Man sollte sich aber nicht auf die sozialen Kontakte innerhalb dieser Kleingruppe beschränken. Regelmäßige Treffen mit einem nachvollziehbaren Zeitplan vereinbaren zu können, ist aber eine gute Sache. Sie werden dann zur beruhigenden Routine.“
„Alle wenden sich von uns ab: Auf dem Konto sind Null Złoty“
Wenn du nicht weißt, wohin du gehen kannst, suchst du dir Gleichgesinnte. In Polen gibt es eine Veteranenorganisation – die Assoziation der belarussischen freiwilligen Kämpfer. Man hilft sich gegenseitig, Unterkunft, Kleidung und Arbeit zu finden. Es ist einfach eine Chatgruppe in einem Messengerdienst.
„Vor kurzem suchte ein Kamerad Wohnung und Arbeit in der Umgebung von Warschau. Wir verbreiteten den Aufruf und konnten ihm helfen, wir fanden alles“, erzählt Pawel Marjeuski, ein Vertreter der Organisation. „Manchmal sammeln wir, um jemandem für einen Monat die Unterkunft im Hostel zu bezahlen. Gerade heute habe ich einem Kameraden Geld überwiesen, so viel ich konnte. Wenn größere Beträge notwendig sind, wenden wir uns an BYSOL und starten eine Sammlung für die Rehabilitation. Wir haben kein Zentrum, in das man kommen kann, um uns zu treffen, denn wir haben keine Finanzierung. Überhaupt keine. Wir haben eine Stiftung in Polen registriert, um die Probleme unserer Leute lösen zu können. Aber auf dem Konto sind Null Złoty. Es gibt keine Spenden und es ist uns auch nicht gelungen, Fördermittel zu bekommen, die Fördermittelgeber betrachten uns als Kombattanten und wollen nicht mit uns zusammenarbeiten. Unser Traum ist es, eine Finanzierung zu finden, um allen Leuten wenigstens ein bis zwei Wochen im Hostel bezahlen zu können. Aber bislang erhalten wir nur Ablehnungen.“
Zudem benötigen wir dringend Spezialisten für die Arbeit mit Suchterkrankungen
Als Pawel selbst im Sommer 2022 aus der Ukraine zurückkam, kam er bei Freunden unter. Im ersten Monat ängstigten ihn die Geräusche der Flugzeuge und Hubschrauber, die über Warschau flogen. „Bei vielen tritt hier eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) auf. Den einen stören die Straßenbahnen, ein anderer hat Panikattacken, weil es vor dem Fenster so ruhig ist und niemand schießt. Eines der größten Probleme ist es, einen Psychologen zu finden. Auch wir helfen in erster Linie dabei, Psychologen zu finden, erst danach kommt die Arbeitssuche. Arbeiten kannst du auch morgen noch, aber ohne psychologische Hilfe Mist bauen, das kann sofort passieren.“
Das Problem ist, dass der minimale Stundensatz für einen Psychologen in Warschau bei 70 Euro liegt, erklärt Pawel. Es gibt Psychologen, die belarussischen Veteranen kostenfrei helfen. Manchmal wenden sich die Männer an Organisationen, die politischen Häftlingen helfen, dort hilft man ihnen, Spezialisten zu finden. Im Reha-Zentrum Lanka wurde auch versucht, unter den Belarussen Psychologen für die Veteranen zu finden, die mit den Opfern der Repressionen von 2020 gearbeitet hatten. Aber es stellte sich heraus, dass die meisten von ihnen keine Kriegstraumata bearbeiten können.
„Bislang arbeiten wir nur mit ukrainischen Psychologen, die Erfahrung mit der Arbeit der ATO haben. Sie haben erprobte Methoden. Die Kameraden und Kameradinnen melden zurück, dass ihnen die Arbeit mit diesen Spezialisten passt, dass es ihnen im Laufe des Prozesses besser geht. Die Hilfe belarussischer Psychologen lehnten die Kämpfer häufig ab, da sie kein Vertrauensverhältnis aufbauen konnten.
Zudem benötigen wir dringend Spezialisten für die Arbeit mit Suchterkrankungen. Wenn sich eine PTBS ausprägt, kommt es leicht auch zur Ausprägung von Abhängigkeiten, beide Zustände gehen gerne Hand in Hand. In einer solchen Situation ist eine Abhängigkeit bösartig, sie verläuft sehr schnell und zerstörerisch. Wenn der Mensch das Problem erkennt und Hilfe sucht, ist es gut, wenn diese umgehend geleistet werden kann. Aber es ist schwierig, belarussisch- oder russischsprachige Spezialisten in Europa zu finden, und die Wartelisten sind lang.”
„Wir deklarieren nicht explizit, dass wir Jobs für Männer mit Kampferfahrung suchen”
Die Propaganda liebt die Geschichte von den Legionären, die um des Geldes Willen in der Ukraine kämpfen. Wie kann es dann sein, dass die Männer nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg oft nicht mal das Geld für ein Hostel haben? „Sie kommen nicht als Millionäre zurück, der Sold ist nicht sehr hoch. Seien wir ehrlich – wer würde, egal in welcher europäischen Stadt, für 2000 Dollar im Monat sein Leben riskieren?“, sagt Pawel Marjeuski. „Viele kaufen von diesem Geld Munition, die es im Lager oder über die Freiwilligen nicht gibt. Viele mieten Wohnungen, nicht alle leben im Feldlager. Deshalb kehren alle mit unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten von der Front zurück.“
Wer heute in Warschau ein Uber bestellt, könnte auf Zichi treffen. Doch er ist anonym unterwegs: Seine Familie ist in Belarus geblieben, daher verbirgt er seinen wahren Namen und auch seinen wahren Kampfnamen. Wenn ihr ihm helfen wollt, im zivilen Leben anzukommen, schreibt an unsere Redaktion. Zichi braucht weniger Geld als eine Arbeit. Er hofft, dass ein halbwegs geordneter Tagesablauf und eine interessante Tätigkeit ihm helfen werden, sich in seinem neuen Leben zurechtzufinden.
Die Assoziation der belarussischen freiwilligen Kämpfer verfolgt die Entwicklung belarussischer Unternehmen in Polen und sammelt Stellenangebote. Aber während es in einem Staat Unterstützung für Veteranen bei der Aufnahme einer neuen Arbeit gäbe, können die belarussischen Exilgemeinschaften dies nicht leisten. „Wir deklarieren nicht explizit, dass wir Jobs für Männer mit Kampferfahrung suchen. Ich bitte die belarussischen Unternehmer einfach, mir etwas über die offenen Stellen zu erzählen, und die Männer bewerben sich dann ganz allgemein, ohne irgendeine Bevorzugung. Sie kommen also inkognito dort an“, erzählt Pawel.
Manchmal gelingt es den Freiwilligen auch, in Umschulungsprogrammen unterzukommen, aber in diesen Gruppen gibt es nicht für alle Platz. Gibt es denn irgendeine Priorisierung für Veteranen? „Wo, in Polen?“, wundert sich Pawel. „Das Einzige, was uns von anderen unterscheidet, ist, dass wir mehr Aufmerksamkeit seitens des polnischen Staates haben. Ich weiß, dass es für politische Häftlinge doppelt so schnell geht, internationalen Schutzstatus zu erhalten, als für Leute mit Kampferfahrung.“
„Das Front-End einer Gesellschaft muss auf die Arbeit mit Veteranen vorbereitet sein“
Kürzlich kehrte ein schwedischer Freiwilliger, der in der Ukraine gekämpft hatte, nach Hause zurück. Sofort nach seiner Ankunft in Schweden kontaktierten ihn mehrere Organisationen, die ihm psychologische Hilfe anboten. Er lehnte die Hilfe ab. „Ich habe wirklich keine Probleme“, versichert uns unser Gesprächspartner. Er schloss sich nicht einmal einer der Veteranenorganisationen an, die sich zum Zweck der gegenseitigen Unterstützung treffen, und meinte, er hätte auch so genug Unterstützung. Handelt es sich nicht um Freiwillige, sondern um Berufssoldaten – schwedische Soldaten nehmen an internationalen Missionen teil, zum Beispiel waren sie lange in Afghanistan präsent –, verpflichtet sich der Staat, die Rückkehrer für den Zeitraum von zehn Jahren zu unterstützen.
Heute gibt es in Polen etwa zehn belarussische Freiwillige mit Unterstützungsbedarf. Hauptsächlich geht es um Hilfe bei der Arbeitssuche, bei einigen um die Bezahlung von Arztrechnungen. Das ist wenig, es braucht keinen großen Staat, um zu helfen. Um den Bedarf der Kämpfer in der ersten Zeit zu sichern, würde es völlig genügen, wenn diejenigen, die Posts über die Befreiung Belarus‘ mit der Waffe in der Hand liken, etwas spenden würden.
Insgesamt waren wenigstens 1000 Belarussen an den Kampfhandlungen in der Ukraine beteiligt, sagt Maryna. Zu verschiedenen Zeitpunkten können sie Hilfe der Diaspora und der Zivilgesellschaft benötigen. Zudem muss die Gesellschaft darauf vorbereitet sein, dass Menschen mit neuen Reaktionen aus dem Krieg zurückkehren. Olha Haltschenko insistiert: Nicht die Veteranen sollen denken, dass sie jemandem zur Last fallen, dass sie sich in das alte, schwer verständliche System integrieren müssen. Sondern die Gesellschaft muss verstehen, wie Menschen ticken, die im Krieg waren.
„Sie stottern unter Umständen, können in der Menge die Orientierung verlieren, fühlen sich vielleicht unwohl oder gestört, wenn es ringsum sehr laut ist. Sie können stark auf etwas reagieren, das anderen normal erscheint. Das Front-End der Gesellschaft – Ärzte, Juristen, Verkäufer – muss dafür bereit sein, dass nebenan Veteranen wohnen, dass sie zu ihrer Kundschaft gehören können. In den USA hat die Polizei besondere Vorschriften für die Gesprächsführung mit Veteranen. Man darf zum Beispiel nicht hinter ihrem Rücken gehen oder sie umzingeln, da das verständlicherweise aggressive Reaktionen hervorrufen kann.
Außerdem muss man darauf eingestellt sein, dass es Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft gibt. Auch in der Ukraine gibt es bis heute Probleme im Umgang mit diesen Menschen, man zeigt mit dem Finger auf sie oder fragt sie übergriffig aus.
Wie soll man sich also verhalten?
In der Ukraine gab es eine Kampagne: Beim Anblick eines Soldaten legten die Menschen die Hand aufs Herz, um ihren Respekt auszudrücken. Ich mache das auch: Wenn ich in der Menge einen Soldaten sehe, jemanden, der offensichtlich im Kampfeinsatz war, versuche ich zu nicken oder zu lächeln. Meist wollen die Veteranen keine große Aufmerksamkeit. Ihnen genügen Akzeptanz und Verständnis, angemessenes Verhalten, Respekt vor ihren Erfahrungen im Kampfeinsatz.“
Melitopol im Süden der Ukraine war eine der ersten großen Städte, die im Frühjahr 2022 von russischen Truppen eingenommen und besetzt wurden. Bis dahin lebten dort fast 150.000 Menschen. Im September 2022 veranstaltete der Kreml ein Scheinreferendum. Seitdem betrachtet er das Gebiet als Teil Russlands. Anfangs wehrten sich die Bewohner gegen die Besatzung. Dann wurden die Aktivsten deportiert, wer nicht freiwillig ging, wurde bedroht oder gefoltert. Olga Mussafirowa hat mit einigen von ihnen gesprochen. Sie schildert, wie Russland eine Stadt nach und nach in seine Gewalt bringt.
Im frontnahen Saporishshja heulen Tag und Nacht die Sirenen, oft schlagen Artilleriegeschosse ein. Vierzig Kilometer von hier Richtung Orichiw wird gekämpft, aber leider nicht nur dort …
Iwan Fedorow, gebürtig aus Melitopol und Gouverneur der Oblast Saporishshja, nennt es im ukrainischen Fernsehen seine Hauptaufgabe, eine Verteidigungslinie und Befestigungsanlagen zu bauen. Daran wird, sagt Fedorow, rund um die Uhr gearbeitet.
Am 11. März 2022 wurde der 33-jährige Fedorow (damals Bürgermeister von Melitopol, der sich weigerte, sich zu ergeben) vom russischen Militär entführt. Die Aufnahme einer Überwachungskamera zeigt, wie er von Männern mit Maschinenpistolen aus dem Amtsgebäude gezerrt wird.
Trotz der Besatzung reagierte die Stadt sofort: Die Bewohner gingen auf die Straße und forderten die Freilassung ihres Bürgermeisters. Die „Befreier“ wunderten sich: Haben die keine Angst zu protestieren? Von wem werden sie bezahlt? Am nächsten Tag verkündete Präsident Selensky, dass Fedorow gefoltert werde, damit er vor laufender Kamera sage: Russland bleibt für immer, und Widerstand ist zwecklos. Bald wurde der Entführte gegen mehrere 2002 und 2003 geborene russische Soldaten im Grundwehrdienst eingetauscht. Vor kurzem [im Februar 2024 – dek] wurde er zum Verwaltungschef der Oblast ernannt.
Den neuen Verwaltungschef nennen die Ukrainer „Gauleiter“
Melitopol hingegen wurde zur „Hauptstadt“ des okkupierten Teils der Oblast Saporishshja. Als Verwaltungschef (in der Ukraine nennen sie solche Leute „Gauleiter“) bestimmten die Russen einen Einheimischen mit militärischem Stammbaum, Jewhen Balyzky. Er war Volksdeputierter der Ukraine und des Rats der Oblast Saporishshja, Mitglied von Janukowitschs Partei der Regionen und in weiterer Folge des Oppositionsblocks. Als einer der Ersten in der Oblast erhielt er einen russischen Pass und schloss sich Putins Partei Einiges Russland an. Er war es, der sich die „Operation Deportation“ in Melitopol und anderen besetzten Gebieten ausdachte und sie auch umsetzte.
„Wir haben zahlreiche Familien ausgesiedelt. Das war alles andere als einfach“, erinnerte sich der „Gauleiter“ kürzlich und meinte damit offensichtlich moralische Hürden, mit denen sein Team zu kämpfen hatte. „Und zwar die, die gegen die Spezialoperation waren, die die russische Flagge, die Hymne oder den Präsidenten der Russischen Föderation diffamiert haben. Wir nutzten den Status, den wir damals hatten – rechtlich gehörten wir noch nicht zur Russischen Föderation –, und wiesen solche Leute mitsamt ihren Familien aus. Das taten wir, weil wir wussten: Die können wir nicht umstimmen. Und dann müssten wir noch brutaler gegen sie vorgehen. Es könnte höchste Gefahr für ihr Leben bestehen, deswegen sollen sie sich doch lieber in ihren Banderastaat verziehen und sich dort ihre ideale Welt zusammenbauen.“
„Was meinen Sie mit Lebensgefahr?“, fragte eine Journalistin eines staatlich kontrollierten Senders.
„Sie hätten einfach von Nachbarn umgebracht werden können“, erklärte Balyzky. „Leider gab es in der ersten Phase der Spezialoperation bedauerliche Fälle von Selbstjustiz. Wo Leute fremde Wohnungen bezogen, fremde Häuser ausraubten, es gab Plünderungen, auch von Einkaufsläden … Wir ließen sie gehen. Manche mussten wir dazu zwingen. Die brachten wir bis zum ‚Bändchen‘ [gemeint ist der Checkpoint, hinter dem die graue Zone beginnt – dek], dort verlasen wir den Aussiedelungsbescheid, gaben ihnen eine Flasche Wasser mit und … Aber was macht man mit einer Frau mit drei Kindern, die andere Überzeugungen hat? Die Russland eben nicht als ihre Heimat sieht. Die das, was passiert, nicht richtig findet. Sollen wir die etwa umbringen?“ Der neue russische Regionalchef wirbt beim Publikum um Verständnis. „Wir haben unseren Bescheid verlesen und sie losgeschickt. Sollen sie machen, was sie wollen.“
„Sind Ihnen solche Entscheidungen schwergefallen?“, fragte die Interviewerin.
„Ja, was denn sonst? Wenn ich doch gerade erst mit diesen Leuten Silvester gefeiert habe!“ Balyzky wirkte direkt ein bisschen gekränkt. „Wir haben an einem Tisch gesessen. Wir leben doch alle in derselben Stadt, ich bin seit 1998 in der Lokalpolitik. Ich kenne 15.000 Menschen persönlich, per Handschlag.“
Jahrelang saßen sie an einem Tisch. Heute kollaboriert der eine mit den Russen, der andere ist ins Ausland geflohen
Einen der Ersten, die aus Melitopol ausgewiesen wurden, konnte ich in Israel ausfindig machen. Mychailo Wolodymyrowytsch Kumok passt genau in die Beschreibung des „Gauleiters“: „Wir haben an einem Tisch gesessen.“ Wenn man nämlich an die Tische im Sitzungssaal des Regionalrats denkt, an denen offizielle, aber auch andere Veranstaltungen stattfanden. Eigentlich sahen sie sich fast täglich. Die Adresse der Medienholding Melitopolskije wedomosti (dt. Melitopoler Nachrichten), die Kumok gegründet und als fortschrittlichster Herausgeber der Region drei Jahrzehnte lang geleitet hat, befand sich unmittelbar neben dem Amtsgebäude des Exekutivkomitees mit dem Empfangszimmer des Volksdeputierten Balyzky. Noch dazu waren die Ehefrauen der beiden befreundet – bis zur russischen Invasion.
Auf die Besatzung von Melitopol reagierte Kumoks Familie eher verärgert als verängstigt. Tatjana, die älteste Tochter, wurde sogar zur Chronistin der Ereignisse. Sie war gerade erst nach vielen Jahren in Israel in die Ukraine zurückgekehrt, um eine Zweigstelle ihres Unternehmens zu eröffnen, ein Geschäft für Brautmode. Ihre Blogeinträge und Facebook-Postings über tägliche Entführungen, Enteignungen und andere Errungenschaften der „neuen Staatsgewalt“ wurden von Medien weltweit aufgegriffen.
Die Familie nahm an proukrainischen Demonstrationen teil, zu der größten kamen 7000 Menschen. Tatjana stellte oft Livestreams davon ins Netz. Dann begannen die Besatzer, die Proteste gewaltsam aufzulösen, und die Menschen standen vor der Wahl, entweder stillzuhalten oder über die Krim das Weite zu suchen. Eine Überquerung der hart umkämpften Frontlinie wäre wohl keine gute Idee gewesen.
Die Website der Medienholding war weiterhin in Betrieb, dort wurden die Dinge beim Namen genannt. Auch der redaktionsinterne Chat wurde weitergeführt. Mitte März wurden in einer Vorstadt zwei Journalisten festgenommen. Es war klar, es würden alle drankommen, auch der „Chef der ganzen Bude“, meinte Kumok selbstironisch.
Mychailo Kumok bekam am 21. März 2022 Besuch von den Besatzungsbehörden. Nicht nachts, sondern gegen zehn Uhr vormittags. Seine Tür wurde nicht aufgebrochen, man wartete draußen auf ihn.
Kumok schlussfolgerte: Wenn sie ohne Türaufbrechen und sonstige Special Effects auskommen, dann ist das hier die Light-Version. Er ließ die fünf Bewaffneten in Sturmhauben ein.
Während der Hausdurchsuchung mussten er und seine Frau in getrennte Zimmer gehen. Die Männer packten den Rechner und diverse Geräte ein und forderten Kumok auf, mitzukommen – „gleich hier um die Ecke“. Tatjana, die ein bisschen aufmüpfig war, musste auch zum Verhör.
„Es begann ganz klassisch mit: ‚Wir befreien euch doch …‘“, äfft Mychailo Kumok, ein fabelhafter Erzähler, sein damaliges Gegenüber nach. „‚Warum nennt ihr uns in eurer Zeitung Orks und Okkupanten?‘ – ‚Die Orks sind eine Metapher. Aber Okkupanten – was seid ihr denn sonst? Meine Festnahme macht in Israel bereits Schlagzeilen. Viel Spaß mit dem internationalen Skandal. Bald kriegt ihr den Befehl aus Rostow – freilassen!‘ So kam es dann auch, nach sechs Stunden Nervereien. Unsere Geräte bekamen wir aber erst nach und nach zurück.“
Kumok beriet sich mit der Geschäftsführerin seiner Holding, und gemeinsam beschlossen sie, die Website „stillzulegen“, um die Mitarbeiter nicht zu gefährden. Israelische Pässe hatte nur seine Familie. Dafür veranstalteten die „Befreier“ in seinem Betrieb ein Pogrom: Sie ruinierten die Überwachungskameras und klauten aus allen Büros die alkoholischen Getränke. Tatjana blieb ihrer Mission treu und stellte ein Video mit entsprechenden Kommentaren zum ‚Appetit des Russki Mir‘ ins Netz. Bei Mychailo Kumok klingelte danach wieder das Telefon: „Wir müssen uns treffen!“ – „Zweck?“ – „Bezüglich Ihrer Tochter.“ – „Das überzeugt mich. Wann sehen wir uns?“ Tatjana engagierte sich damals mit einem Wohltätigkeitsfonds für alte Menschen in Melitopol. Das „Rendezvous“ fand auf dem Friedhof statt, für die passende Atmosphäre.
Flucht oder Folterkeller – Sie haben die Wahl
Der Repräsentant der neuen Herrschaft bot ein paar Varianten zur Auswahl an, die „direkt mit Balyzky“ abgestimmt waren. Erstens: Wohltätigkeit schön und gut, aber aus der Politik soll Tatjana sich raushalten, wenn Sie in Melitopol bleibt. Zweitens: Als Geste des guten Willens bekommt die Familie die Möglichkeit, die Stadt zu verlassen. Oder drittens: Die ganze Familie ab in den Keller. Wofür entscheiden Sie sich?
Die meisten, die ausgewiesen wurden, durften sich das nicht aussuchen.
Im Netz findet man einiges an Videomaterial zur letzten Etappe der Deportation. Diese Beiträge mit immergleicher Handlung verbreitet die Okkupationsverwaltung, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Es gibt weder Ermittlungen noch Gerichtsverfahren, nicht einmal pro forma: Balyzky entscheidet allein über jedes Schicksal.
Flüchtlinge müssen zu Fuß die Front passieren
„Vom russisch besetzten Tokmak bis nach Saporishshja sind es 80 Kilometer. Auf der Strecke liegen noch die okkupierte Bezirksstadt Wassyliwka und Dörfer, die ebenfalls von den Okkupanten kontrolliert werden“, erzählte mir Olha Bohlewska, Journalistin aus Saporishshja. „Dahinter liegt die graue Zone, dann die Zone, die von der Ukraine kontrolliert wird, Dörfer und Felder. Da wird überall geschossen, praktisch verläuft da die Front. Die Leute werden in der nackten Steppe ausgesetzt, ohne Gepäck. Wenn sie Glück haben, haben sie ihre Dokumente dabei. Sie müssen die weiteren feindlichen Checkpoints auf eigene Faust passieren und sich einen Weg durch vermintes Gelände bahnen, das jederzeit aus der Luft beschossen werden kann.“
September 2022. Angesehene ältere Bürger werden ausgewiesen. Der 74-jährige Viktor Romanow, ein bekannter Unternehmer aus Melitopol, Eigentümer der Mineralwassermarke Mirnenskaja, Inhaber von Baufirmen, Cafés und Verkaufsstellen. Außerdem der 76-jährige Nikolaj Kischko, Direktor des Agrarunternehmens Mogutschi, verdienstvoller Landwirt der Ukraine, Abgeordneter im Regional- und Bezirksrat, Ordensträger. Vor seiner Ausweisung wird Kischko drei Tage lang eingesperrt. Betroffen sind auch Wassili Massalabow, Chef der landwirtschaftlichen Genossenschaft Drushba, emeritierter Professor an der Universität für Agrotechnik in Melitopol und Doktor der Ingenieurwissenschaften, und Anatoli Hrybko, Abgeordneter des Dorfrats von Wessele und Leiter von Irida, einem Kommunalbetrieb für Wasserversorgung.
„Alles klar? Naaach rechts! Lauft!“ Die Alten lassen sich Zeit. Romanow trägt eine Wasserflasche. Seine Firma kann er nicht mitnehmen. Heute meins, morgen deins. Wie viele Menschen sich in die Ungewissheit begeben mussten und wie viele von ihnen es bis zu den ukrainischen Checkpoints geschafft haben, ist statistisch nicht erfasst. Die Melitopoler schätzen die Zahl auf Hunderte. Nicht alle sind bereit, an die Öffentlichkeit zu gehen oder gar mit Journalisten zu sprechen.
Das Dorf Wessele im Bezirk Melitopol liegt versteckt abseits der Autobahn. Bis April 2022 – die umliegenden Siedlungen waren bereits von Russen besetzt – wehte auf dem Amtsgebäude die blau-gelbe Flagge. Doch gerade diese Zeit brachte eine schwere Enttäuschung, sagte Anatoli Hrybko:
„Die Hälfte der Bevölkerung hatte offenbar auf Russland gewartet. Der Rest sah bedrückt drein.“
Der ehemalige Militärkommissar im Ruhestand glaubte nicht, dass die Besatzung lange dauern würde.
„Meine Firma Irida kümmerte sich um die Wasserversorgung und den Export von Industrieabfällen. Ich komme zum Stützpunkt und treffe auf beunruhigte Schlosser: Die Russen haben Sie schon gesucht, die Pistolen im Anschlag, wir sollen bloß nicht auf die Idee kommen, kein Wasser zum Checkpoint zu leiten. Auch das benachbarte Nowoolexandriwka, wo an die sechzig Soldaten im Sportsaal einer Schule lagerten, sollen wir mit Wasser beliefern. Und sie wollten einen Bagger zum Schützengräben ausheben. Aber das geht endgültig zu weit“, Hrybko zieht mit der Handkante eine Linie über den Tisch, „keine Schützengräben für die Raschisten. Da habe ich unbezahlten Urlaub bis Kriegsende beantragt.“
Doch hin und wieder besuchte er seine Kollegen, machte ihnen Mut: „Das geht vorbei, die Ukraine wird wiederkommen.“ Und er beobachtete, was in Wessele geschah.
Die Metzgerin läuft von Haus zu Haus und sammelt Unterschriften für den Anschluss an Russland
Da wurde gerade das Referendum über den Anschluss an Russland vorbereitet. Als Agitatorin lief die Metzgerin mit Heft und Kugelschreiber von Haus zu Haus: „Wofür werden Sie stimmen?“ Auch bei Hrybko klingelte sie. Und wurde weggeschickt. Die Kampagne für die Dumawahlen verlief noch revolutionärer. Mitglieder der Wahlkommission brachten die Wahlurnen in Begleitung von MP-Schützen zu den alten Leuten nach Hause: „Hier ankreuzen!“
„Einerseits hat die Bevölkerung Angst, ihre Jobs und ihr Einkommen zu riskieren. Andererseits sind sie es gewohnt, den Mund aufzumachen: ‚Sind die Wahlen denn frei?‘ – ‚Na klar …‘ – ‚Dann bin ich für die Kommunisten und nicht für Einiges Russland!‘“, erinnerte sich Anatoli Hrybko an die Aneignung der „neuen Gebiete“ und die Einführung einer neuen Ordnung durch die Russische Welt. „Wessele ist sehr dicht mit russischem Militär bevölkert. Leerstehende Häuser werden sofort von Soldaten besetzt, die von ihren Positionen im Wald abgelöst werden und sich ausruhen wollen.“
Alles, was Anatoli Hrybko, der immer noch als Abgeordneter wahrgenommen wurde, tun konnte, war, bei freiwilligen Evakuierungen nach Saporishshja zu helfen und von dort aus humanitäre Hilfe zu organisieren. Er musste konspirative Fähigkeiten entwickeln, um weder sich noch seine Landsleute zu gefährden. Gegen Denunziation aber war er machtlos.
An einem frühen Samstagmorgen Anfang September 2022 rollten drei Autos vor Hrybkos Haus. Fünfzehn MP-Schützen stellten sich rund um den Hof auf. „Habt ihr euch nicht in der Adresse geirrt?“, fragte seine Frau im Hinausgehen.
Valentyna war Sachwalterin im Bezirksrat und verfügte über eine beneidenswerte Gelassenheit. Es war die erste demonstrative Hausdurchsuchung im Dorf.
Ein altes Abzeichen mit dem ukrainischen Wappen? Aha, ein Nazi-Symbol!
Abgesehen von Computern, Handys und Dokumenten nahmen sie auch Hochschul-Abzeichen mit, zum Beispiel die Anstecknadel des Dnepropetrowsker Regionalinstituts für staatliche Verwaltung, das Hrybko abgeschlossen hat.
„Da ist ein ukrainisches Wappen drauf, also war es für die gleich Nazi-Symbolik. Sie krallten sich auch die sowjetischen Medaillen mit Hammer und Sichel, aber dann fanden sie ein Namensschild und einen Souvenir-Pin von der UNO! Was sich über die Jahre eben so in den Schubladen ansammelt. Na, das war der Knüller: ‚Aha, du bist an dem Biolaboratorium beteiligt?!‘ Ich wusste gar nicht, wie ich reagieren sollte“, Hrybko hob ratlos die Schultern. „Zum Lachen war mir nicht. ‚Los, erzähl mal, was da gemacht wurde, wird‘s bald!‘ Die glauben das allen Ernstes. Dann entdeckten sie das Abschlussalbum von dem bereits erwähnten Regionalinstitut. Einige Kollegen trugen auf den Fotos Uniform. ‚Der ist beim SBU, und ihr habt Kontakt! Was ist sein Deckname?‘“
Sie verbanden Anatoli Hrybko mit einem Handtuch die Augen, brachten ihn nach Melitopol und sperrten ihn in eine Zelle. Er wusste nicht, wo genau er sich befand – auf der Polizeidienststelle oder im Untersuchungsgefängnis.
„Am nächsten Morgen verhörten sie mich, mit einer Plastiktüte über dem Kopf. Sie schlossen mir irgendwelche Kabel an, angeblich einen Lügendetektor.“
„Und wozu die Tüte?“
„Damit mich keiner erkennen konnte. Den, der mich verhörte, nannten sie Jegor. Ich hatte den Eindruck, dass sie aus mir einen Partisanenführer machen wollten, den sie somit entlarvt hatten. Offenbar hatten die Denunzianten ihnen das so berichtet.“
Anatoli ist bereit, alles zu sagen, wenn nur die Stromschläge aufhören
Bei den nächsten Verhören schalteten sie dann den Strom ein. Sie fesselten ihm die Hände mit Klebeband und steckten ihm Klemmen an die Finger. Er konnte nicht sehen, was passierte, er spürte es nur:
„Der Strom geht an. Aua! ‚Mit wem hast du kooperiert?‘ Sie lesen die Chats in meinem Handy, verstärken den Strom bis ich zu zucken begann. Und wieder fragen sie nach dem Biolaboratorium. Am nächsten Tag dasselbe noch einmal. Ich bin herzkrank, leide an Bluthochdruck, ich hatte keine Medikamente dabei und sie gaben mir keine.“
Anatolis Frau Valentyna warf einen Blick in das Zimmer, wo wir uns unterhielten. Sie war besorgt: Erinnerungen sind genauso schmerzhaft wie Stromschläge. In der Zelle war seine größte Angst, dass sie auch Valentyna festnehmen würden.
„Das ging so weit, dass ich selbst den Vorschlag machte: ‚Sagt mir an, was ihr hören wollt‘“, seufzte Hrybko. „Ich schwärzte mich selbst an, nach dem Motto, ja, ich habe Informationen zu russischen Truppenbewegungen weitergegeben, Flugrouten und dergleichen. Darauf steht laut geltender russischer Gesetzgebung eine Haftstrafe von mindestens 15 Jahren. Sie fragten mich auch nach meiner Haltung zur ‚militärischen Spezialoperation‘. Als ich sagte, dass ich dagegen sei, wurde ich dafür sofort mit Strom bestraft. Also schrieb ich jetzt: ‚Neutrale Haltung.‘ Ich wiederholte meinen Text vor der Kamera. Damit war die Folter vorbei.“
Auf Befreiung hoffte er gar nicht mehr. Er lebte von einem Tag auf den anderen und erwartete nichts Gutes.
„Die Zeit vergeht. Die Tür fliegt auf, ich höre ein Kommando: ‚Gesicht zur Wand!‘ Sie ziehen mir einen Plastiksack über den Kopf, legen mir Handschellen an, setzen mich in einen Wagen“, zählt Hrybko auf. „Wir fahren über eine Stunde. An der Stimme erkenne ich Jegor, der mich verhört hat: ‚Balyzky hat dir das Leben geschenkt!‘“
Denunzianten werden reich belohnt. Auf einmal haben die Nachbarn ein neues Auto
Am Checkpoint Wassyliwka drängten sich die Journalisten. Kameras der russischen TV-Sender umzingelten ihn: Eine Deportation, wie interessant, wie brandheiß! Die Urteile gegen Romanow, Kischko und Massalabow waren schon vorher veröffentlicht worden. Der völlig entkräftete Hrybko in seiner abgewetzten Kleidung wurde als Letzter gebracht. Am Schluss ertönte das übliche Kommando: „Lauft!“
In seiner schönen Villa in Wessele haben sich FSB-Leute einquartiert. Sein Elternhaus ist völlig leergeplündert. Schade um all die schönen Dinge, aber das ist nicht das Schlimmste. Hrybko plagte eine andere Frage: Wie kann er nach der Befreiung zurückkehren und mit Leuten zusammenleben, die denunziert oder sonstwie dem Feind zugearbeitet haben?
„Denunzianten werden mit 50.000 Rubel [knapp 500 Euro – dek] belohnt“, mischte sich Verwaltungssekretärin Iryna Kabanowa, eine ehemalige Ortsvorsteherin von Oserne, in unser Gespräch ein. „Die Rente beträgt 10.000 [knapp 100 Euro – dek]. So lieben die Leute eben Russland, auch wenn sie in der Ukraine geboren sind. Dabei sollten wir zusammenhalten wie Pech und Schwefel!“
Iryna Kabanowa forderte das Schicksal lieber nicht heraus. Gleich nach dem ersten Besuch des FSB, dem jemand „signalisiert“ hatte, dass Kabanowa Spitzel sei und der ukrainischen Armee Koordinaten durchgebe, ließ sie Haus und Besitz zurück und ging weg. Die Frage, wer es gewesen ist, versucht sie sich gar nicht erst zu stellen, aber die Gedanken drängen sich von selbst auf. Die einen Nachbarn haben auf einmal neue Haushaltsgeräte, die anderen ein schickes Auto. Aber das Dorf sieht aus wie tot, sagt sie. Die Leute reden nicht mehr miteinander. Sie haben Angst.
Auch Ärzte, Pflegekräfte und anderes medizinisches Personal hatten sich 2020 massenhaft den Protesten in Belarus angeschlossen. Trotz des eklatanten Personalmangels im Land gingen die Machthaber danach massiv gegen Augenärzte, Chirurgen, Psychologen oder Krankenpfleger vor. Bis heute kommt es zu gezielten Repressionen und Strafverfahren gegen medizinisches Personal. Ärzte werden entlassen, kommen hinter Gitter, werden zu Extremisten oder Terroristen erklärt, viele der Fachkräfte haben Belarus verlassen. In der Oblast Witebsk ist die Anzahl der Ärzte innerhalb eines Jahres um 700 zurückgegangen.
Die Journalistin Jana Machowa berichtet, was im belarussischen Gesundheitswesen vor sich geht, wohin und wovor die dringend gebrauchten Fachkräfte fliehen und welche Folgen dies für Patienten und Kranke hat.
2023 ist das Einsetzen von Gelenkprothesen in Belarus eine Operation, die für den Durchschnittsbürger fast utopisch ist. „Schön realistisch bleiben! Vom Orthopäden-Prozess haben Sie gehört?“ So beschreibt eine Patientin, die ein neues Kniegelenk braucht, die Reaktion von Ärzten auf ihre Anfrage. Im Frühjahr 2023 rollte eine Verhaftungswelle durch die Orthopädischen Abteilungen des Landes, dutzende erfahrene Fachärzte landeten hinter Gittern – so wie kurz davor Psychologen und Psychotherapeuten, die die Silowiki in der Hoffnung, an Informationen zu „problematischen“ Patienten zu kommen, ebenfalls zahlreich festnahmen. Das zu Jahresbeginn geänderte Gesetz Über psychotherapeutische Hilfeleistung erlaubt es nun den Geheimdiensten, ohne Angabe von Gründen die Bereitstellung von Informationen über Klienten zu verlangen.
Den Orthopäden werden offiziell Bestechlichkeit und illegale Absprachen vorgeworfen. Inoffiziell spricht man in Medizinerkreisen über eine mögliche Umgestaltung des Marktes sowie die Vermutung, alle diese „Prozesse“ könnten den Zweck haben, die Privatmedizin sowie Mediziner, die 2020 mitsamt ihrer ganzen Abteilung protestierten, dem Staat zu unterwerfen.
Die Massenverhaftungen haben die Wartezeit für Gelenkimplantate, die ohnehin bereits Jahre betrug, noch zusätzlich verlängert. Sogar den Daten des Gesundheitsministeriums zufolge warten an die 14.000 Menschen auf ein künstliches Hüftgelenk. Die Empörungswelle ist bis zu Lukaschenko durchgedrungen, der ganz typisch reagierte: „Bis Jahresende macht ihr mir all diese Gelenke!“, forderte er vom Gesundheitsminister, ohne sich für Details zu interessieren. „Aber zackig! Einer steht, zwei nähen. Los, organisieren Sie das.“ Das Gebrüll in der Sitzung verkürzte die Wartezeit für Operationen natürlich nicht.
Ein Ärztemangel aufgrund von niedrigen Gehältern und jenseitigen Anforderungen, was den Umfang der zu leistenden Arbeit betrifft, bestand in Belarus auch schon vor 2020. Mit dem Beginn der Massenrepressionen nach den Präsidentschaftswahlen verschärfte sich die Situation. Im Herbst 2022 meldete die polnische Gesundheitsministerin Katarzyna Sojka, dass im Laufe des letzten Jahres rund tausend belarussische Ärzte eingereist seien.
Die Belarusian Medical Solidarity Foundation ByMedSol führte eine Studie zur Zahl der medizinischen Fachkräfte in Belarus durch. Als Grundlage dienten offen zugängliche Quellen und offizielle Statistiken. Die Ergebnisse sind ernüchternd. „Wenn das Gesundheitsministerium Ende 2022 von 48.000 praktizierenden Medizinern spricht, dann ist das gelogen. In Wirklichkeit sind es mindestens 10.000 weniger“, erklärt der Gründer der Stiftung, Andrej Tkatschow, und fügt hinzu, dass seit 2020 die Lügen in den staatlichen Strukturen immer größere Dimensionen annehmen und man, statt Probleme zu lösen, lieber die Statistiken manipuliere.
Seinen Daten zufolge haben in den letzten drei Jahren tausend bis mehrere tausend medizinische Fachkräfte Belarus verlassen. Indirekt bestätigen das die Daten der landesweiten Jobbörse: Der Suchbegriff „Arzt“ bringt rund 6500 Stellenangebote, für Krankenschwestern gibt es über 4000 freie Arbeitsplätze. „Äußerst vorsichtig geschätzt sind auf jeden Fall mehr als 1000 Mediziner ausgewandert. Es können auch bis zu 5000 sein. Man kann sie nur indirekt zählen, weil viele medizinische Fachkräfte den Job gewechselt, aber keine Möglichkeit zur Emigration haben“, erklärt ein Vertreter von ByMedSol.
26 Mediziner sind als politische Häftlinge anerkannt
Slawomir Gadomski, stellvertretender Gesundheitsminister, sieht den Ausweg aus der personellen Not in einem größeren Angebot an staatlich finanzierten Studienplätzen, als „Zuckerl“ verspricht er eine soziale Förderung in Form von Wohnungen. Lukaschenko hat den Ärztemangel kommentiert, indem er Polen, wohin seine wertvollen Fachkräfte verschwinden, mit der Faust drohte. Im November 2020 erklärte er: „Wir haben keine überschüssigen Ärzte. Wir brauchen sie selber, für unsere Leute. Zurückhalten werden wir aber keinen … Wer abhaut, braucht nicht mehr wiederzukommen.“ Wiederkommen, das haben die Ärzte allerdings ohnehin nicht vor. Die meisten, die seit 2020 abgewandert sind, sind vor Repressionen geflüchtet.
Die Mediziner stachen während der Proteste sehr ins Auge. Sie demonstrierten mit Plakaten direkt vor den Krankenhäusern. Wie sonst niemand wussten sie über das Ausmaß der Gewalt Bescheid, immerhin waren sie es, die die Opfer medizinisch versorgen mussten.
„Es war unmöglich zu schweigen. Jeden Tag [im August 2020 – dek] kamen Verprügelte und Verletzte herein. Blaugeschlagen, mit Platzwunden und Schussverletzungen. Ich arbeite schon lange im OP, habe schon vieles gesehen, aber sowas … Vor der Arbeit stellte sich unsere Belegschaft vor den Haupteingang der Klinik, manche hatten Plakate gemalt: Nein zur Gewalt. Was hätten wir denn sonst tun können?“, erzählt ein Chirurg aus einer Minsker Klinik, der anonym bleiben will. Manche Kollegen, fügt er hinzu, hätten nach kurzer Haft gekündigt und das Land verlassen, andere hätten den Beruf gewechselt, und manche säßen noch immer hinter Gittern.
Andrej Ljubezki, eine Koryphäe im Bereich Kinder-Kiefer- und Gesichts-Chirurgie, rief dazu auf, die Verfolgung und Misshandlung der Menschen einzustellen. Woraufhin er zu fünf Jahren Strafkolonie verurteilt und zum Terroristen erklärt wurde. „Jeder von uns hat einen oder auch mehrere Bekannte, Freunde oder Nachbarn, die festgenommen wurden, die erniedrigt und geprügelt wurden“, schrieb Ljubezki, der inzwischen als politischer Gefangener gilt, auf Facebook noch vor seiner Verhaftung.
Wegen Kleidung in den „falschen“ weiß-rot-weißen Farben wurde eine 71-jährige Fachärztin für Onkologie und Mammalogie mit einer Geldstrafe von 3770 Rubel (damals rund 1100 Euro) belegt. Die 51-jährige Psychiaterin Natalja Nikitina wurde an ihrem Arbeitsplatz im Minsker Psychiatrie- und Psychotherapiezentrum für Kinder festgenommen. Ein paar Stunden zuvor hatte sie eine Mitteilung über ihre Entlassung erhalten. Wegen Kommentaren im Internet wurde die Ärztin zu einem Jahr und zehn Monaten Strafkolonie und einer Geldstrafe in Höhe von 6400 Rubel (damals rund 1900 Euro) verurteilt. Das sind nur einige Beispiele.
Im Oktober 2023 betrug die Zahl der aus politischen Gründen inhaftierten Ärzte rund 26. Vertreter von ByMedSol gehen davon aus, dass die Dunkelziffer höher ist. Aber Menschen, die einmal durch den Fleischwolf der Repressionen gedreht wurden, wollen oder trauen sich oft nicht, offen zu sprechen.
Ich behandle meine belarussischen Klienten jetzt von Polen aus
„Morgens um halb sieben kamen KGB-Bedienstete zu mir nach Hause, stemmten die Türen auf. Fünf Stunden Hausdurchsuchung, fünf Stunden Verhör. Ich wurde gegen Unterschrift entlassen, mit dem Zusatz: nicht für lange“, erzählt Jelena Gribanowa, Psychologin mit 20 Dienstjahren.
Nicht einmal nach diesem Vorfall wollte Jelena das Land verlassen, doch 2021 wurde ihr klar, dass man sie nicht in Ruhe lassen würde – und sie ergriff die Flucht: „Im Staatsfernsehen war ein Beitrag, in dem aufgrund meiner ehrenamtlichen Tätigkeit ein ‚psychologisches Zentrum der Protestbewegung‘ und eine ‚Koordinatorin des Litauer Puppenspielers‘ aus mir gemacht wurde. Und dann kam absoluter Nonsens von wegen, wir würden ‚von Europa finanziert‘.”
Die Psychologin lebt seit nunmehr zwei Jahren in Polen, hat belarussische und ukrainische Klienten, arbeitet als Psychologin und Supervisorin für eine Menschenrechtsorganisation in Charkiw.
Bevor sein Diplom in Polen anerkannt wurde, arbeitete ein ebenfalls lieber anonym bleibender Onkologe ein Jahr lang als Lieferant in Warschau. „Bis zur Anerkennung meines Abschlusses durfte ich arbeiten, was ich wollte, nur nicht als Arzt. Die medizinische Prüfung ist hier sehr schwer, beim letzten Mal haben von 800 Ärzten (großteils aus Belarus und der Ukraine) nur sechs sie geschafft. Daher kommt es oft vor, dass belarussische Ärzte bereits im Vorfeld, während sie noch in Belarus leben und arbeiten und ihre Migration planen, die Nostrifizierung in Polen beginnen. Die größte Herausforderung ist es, Wohnraum zu finden; ich hatte Glück, ich hatte schon zu Hause auf eine Wohnung gespart. Denn auch wenn das Diplom anerkannt wird, müssen alle im ersten Jahr ein Praktikum machen und verdienen nicht viel“, erzählte der Arzt.
Private Ärztezentren wurden zur Entlassung von Ärzten gezwungen
Die Repressionen betreffen medizinisches Personal auf allen Ebenen. Weil er nichts gegen Mitarbeiter unternahm, die Gewalt ablehnen, wurde einer der landesweit besten Herzchirurgen entlassen, Alexander Mrotschek, Direktor des RNPZ (Republikanisches Zentrum für Forschung und Praxis) für Kardiologie. Der Gründerin des RNPZ für pädiatrische Onkologie und Hämatologie, Olga Aleinikowa, sowie dem Direktor des RNPZ für Onkologie in Borowljany, Oleg Sukonko – das sind die beiden wichtigsten Onkologiezentren für Kinder und Erwachsene in Belarus – wurde erstmal die staatliche Prämie für 2020 gestrichen. Ihre Mitarbeiter wurden wegen Illoyalität und Kritik am Regime in Handschellen direkt aus ihren Dienstzimmern geführt. Bald musste auch die Leitung aus diversen Gründen ihren Platz räumen. Sogar private medizinische Einrichtungen wurden unter Druck gesetzt. 2022 wurde das beliebte Ärztezentrum Lode geschlossen. Nach umfassender Prüfung wurde der Verwaltung eine Liste zugestellt, anhand welcher umgehend eineinhalb Dutzend illoyale Ärzte gekündigt wurden.
Als Lode seinen Betrieb wieder aufnahm, gab der Gründer kurz darauf die Summe bekannt, die er an die Staatskasse berappen musste – 236.000 Rubel (damals rund 68.000 Euro). Hinter vorgehaltener Hand wurde diese Summe um ein Vielfaches vergrößert und vermutet, dass das wohl die Rache für 2020 sei, als die Verletzten, die aus der U-Haft in Okrestina kamen, im Lode kostenlos behandelt wurden.
Ebenfalls 2022 unterbrach das Gesundheitsministerium für sechs Wochen die Lizenz des Ärztezentrums Nordin, über zwei Monate standen auch Merci und Krawira still. Das Augenärztezentrum Nowoje srenije (dt. Neue Sehkraft) traf es am härtesten – ihm wurde die Lizenz entzogen. „Neugestaltung des Marktes? Oder feindliche Übernahme?“, fragten sich die Mediziner. Parallel dazu tauchten in Minsk Filialen einer neuen Privatklinik auf. In Medizinerkreisen wird gemunkelt, dass sie von „familiennahen“, also aus Lukaschenkos Umfeld stammenden, Personen betrieben werden.
„Betrachtet man die Situation als Versuch, die feudale Ordnung wiederherzustellen, dann passt alles zusammen. Es gibt einen Feudalherren und seine Vasallen. Diese verteilen die verfügbaren Ressourcen mithilfe von Zwang, Selbstbehauptung auf Kosten anderer und Sadismus. Alle anderen sind Bauern, sozusagen Verbrauchsmaterial. Wieso also nicht eine eigene Klinik bauen und den Gewinn untereinander aufteilen? So entstehen neue, regierungstreue Privatkliniken“, sagt Lidija Tarassenko, Koordinatorin von ByMedSol; als ausgebildete Gastroenterologin leitete sie die Endoskopie-Abteilung im Alexandrow-RNPZ für Onkologie und Radiologie (dem wichtigsten onkologischen Gesundheitszentrum in Belarus) und arbeitete in einer Privatklinik. „Die Ärzte werden eingesperrt, die Gesundheitszentren aus denselben Gründen ‚gemolken‘. Früher schrieben sie verschämt die Summe auf ein Zettelchen, heute sagen sie einem direkt ins Gesicht, wie viel man zahlen muss, um ‚einstweilen‘ seine Ruhe zu haben.“
Absolventen werden an Arbeitsplätze verpflichtet
„Die Fremdsprachenkurse sind voller Medizinstudenten, die nach dem Abschluss sofort auswandern wollen – der eine nach Polen, die andere nach Deutschland. Deswegen entscheiden sich viele für eine kostenpflichtige Ausbildung“, berichtet anonym ein Professor an einer medizinischen Universität.
Doch auch die Behörden haben die ungünstige Tendenz bemerkt und versuchen, zukünftige Spezialisten zu verpflichten. Bildungsminister Andrej Iwanez hat bereits angekündigt, dass nun alle Studenten, egal ob sie auf eigene oder auf Staatskosten studiert haben, verpflichtet werden, eine gewisse Zeit an einer ihnen zugewiesenen Stelle zu arbeiten. Auch davon, dass diese Zeit fünf und nicht mehr wie bisher zwei Jahre betragen soll, war schon die Rede. Vor ein paar Jahren schlug Lukaschenko vor, die verpflichtende Arbeitszeit für Absolventen medizinischer Hochschulen auf zehn Jahre zu verlängern. Wer der Zuweisung nicht folgt, wird gerichtlich dazu gezwungen, eine Riesensumme zu bezahlen, die der Staat angeblich in seine Ausbildung investiert hat.
Der Personalmangel besteht überall, vor allem bei hochspezialisierten Fachkräften; am drastischsten ist die Situation in den Regionen. „Die Ausbildung zum hochspezialisierten Facharzt dauerte früher Jahre. Heute genügt es, sich zu einem viermonatigen Kurs anzumelden und im Namen des Chefs einen Antrag zu stellen. So wird versucht, mit einer schnellen Umschulung die personellen Lücken zu stopfen“, erzählt eine anonyme Fachärztin aus einer Minsker Klinik. Bisher ist nur ein steigender Bedarf an Ärzten zu beobachten, während die Zahl der Einstellungen sinkt. Die Statistik wird manipuliert, indem unbesetzte freie Stellen aus den Personalplänen verschwinden. So wird die Kurve des steigenden Personalmangels optisch begradigt.
Gleichzeitig gibt es weiterhin immer mal wieder Nachrichten über einzigartige chirurgische Eingriffe, die in Belarus durchgeführt werden, zum Beispiel Herzoperationen an Kindern. Die finden auch tatsächlich statt. Nur sind solche Operationen punktuelle, einzelne Beispiele für die Arbeit hochqualifizierter Fachärzte, die noch im Land und nicht von Repressionen betroffen sind und an die der Durchschnittsbürger nur sehr schwer herankommt.
Den Patienten bleibt nichts anderes übrig, als sich selbst zu helfen
Die abwandernden Ärzte stehen am Höhepunkt ihrer Karriere und hätten gerade ihr Wissen weitergeben und ihre Ablöse vorbereiten können. „Mit einer ordentlichen medizinischen Versorgung kann man in Belarus auch deswegen nicht rechnen, weil die Nachfolge fehlt. Die Ärzte verlassen ihre Posten, verlassen das Land. Und zwar im arbeitsfähigsten Alter von 30 bis 45 Jahren“, erklärt Lidija Tarassenko.
Für die verbleibenden Ärzte, sagt sie, wird es aufgrund der Überlastung immer schwieriger. Sie müssen alle Funktionen erfüllen: die Patienten untersuchen, die Instrumente bereitstellen und sterilisieren, die Dokumentation erstellen. „Noch dazu wird der Beruf gern heroisiert, und das ist ungünstig. Es führt zu überzogenen Erwartungen: ‚Ihr seid Ärzte, ihr müsst das machen!‘ Der menschliche Organismus ist aber nicht dafür gemacht, 24 Stunden am Stück zu arbeiten, und das für drei“, meint Tarassenko.
„Ich sehe, wie die Kluft zwischen der zivilisierten Welt, der fortschrittlichen Technik und dem, wie unser Gesundheitssystem aufgebaut ist, immer größer wird. Die Situation von Krebspatienten ist ungeheuerlich. Zur Linderung brauchen sie opioide Schmerzmittel. Zu solchen Patienten kommt dreimal am Tag ein Krankenwagen, angeblich zur Beobachtung, als wären sie drogensüchtig.“ Aber das sei nur ein Beispiel für eine maßlose Herangehensweise, dafür, wie das Gesundheitssystem nicht aussehen soll, erklärt sie.
„Es fehlen ganze Fachgebiete. Wir haben und hatten nie ausgebildete Experten für Ernährung oder Schmerztherapie. Und kaum jemand versteht, dass wir sie brauchen würden – es war ja nie anders. Alles wird schlechter, aber das versuchen sie zu ignorieren. Solange die Junta an der Macht ist, kann man nicht viel machen. Denen ist egal, was mit den Menschen passiert. Wir haben ja gesehen, wie das bei Covid lief. Jetzt sind dieselben Leute an der Macht, und von ihren Fehlern haben sie sich eines gemerkt: Sie sind damit durchgekommen. Selbst wenn Leute ins Gesundheitswesen kommen, die etwas verändern wollen – die sind dem System fremd und werden hinausgedrängt. Den Patienten bleibt nichts anderes übrig, als sich selbst zu helfen“, zieht Lidija Tarassenko ihre unerfreuliche Bilanz.
Mitte März haben Ermittler von Polizei und Geheimdienst in ganz Russland Wohnungen von Künstlern und Künstlerinnen durchsucht. Sie kamen im Morgengrauen, brachen Türen auf und beschlagnahmten Computer und Handys. Die Durchsuchungswelle erfasste Moskau, Sankt Petersburg, Nishni Nowgorod, Samara, Jekaterinburg, Perm, Uljanowsk. Viktoria Artjomjewa beleuchtet für die Novaya Gazeta, was das Besondere an diesen Künstlern ist und warum ihr Schaffen der Staatsmacht ein Dorn im Auge ist.
Vielen Künstlern, deren Wohnungen durchsucht wurden, blieb es ein Rätsel, warum gerade sie ins Visier der Behörden geraten waren. Eine zentrale Vermutung ist, dass es mit den Ermittlungen gegen Pjotr Wersilow zu tun hat, der als „ausländischer Agent” eingestuft ist. Wersilow wurde in Abwesenheit zu 8,5 Jahren Strafkolonie verurteilt, weil er „Falschnachrichten über die russischen Streitkräfte“ verbreitet haben soll. Anlass waren seine Postings in sozialen Netzwerken und eine Aussage in einem Interview, dass er die ukrainischen Streitkräfte unterstütze. Allerdings kennen viele Künstler, bei denen der FSB angeklopft hat, Wersilow gar nicht persönlich. Es kann natürlich sein, dass freischaffende zeitgenössische Künstler in den Augen der Geheimdienste wie eine einzige große mafiöse Gruppe aussehen. Trotzdem erscheint hier eine andere Version wahrscheinlicher – nämlich, dass es sich um eine Einschüchterungsmaßnahme vor den „Wahlen“ handelte. Zumal es für keines der Opfer der erste Kontakt mit den Men in Black war.
Katrin Nenaschewa zum Beispiel, die als eine der Ersten durchsucht wurde, hat bereits zwei Wochen wegen Organisation eines friedlichen Abendessens gesessen — das war eine Aktion kurz nach dem 24. Februar 2022, und der erste Versuch, eine Selbsthilfegruppe für Menschen zu gründen, die noch in Russland sind. Als Nenaschewa freikam, nahm das Projekt Schwung auf und wurde um die Initiative Ja ostajus! (dt. Ich bleibe hier!) erweitert. Sie bringt Menschen zusammen, die aus diversen Gründen nicht emigrieren können oder wollen, aber gegen Putins Regime sind. Sie treffen sich, veranstalten Performances, inszenieren Theaterstücke, organisieren Exkursionen und andere Aktivitäten. Außerdem organisierte Nenaschewa im Herbst 2023 in Sankt Petersburg das Projekt KOTelnja, in dem regelmäßig Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche stattfinden: Selbsthilfegruppen sowie kreative und informative Workshops zu mentaler Gesundheit und Kinderrechten. Im Rahmen dieses Projekts gab es auch das Programm Prodljonka (dt. Hort) für Kinder ukrainischer Flüchtlinge.
Ermittler durchsuchten die Wohnung seiner Bekannten, nahmen technische Geräte und Bilder mit und verhörten sie über Wersilow und Philippenzo
Noch schlimmer hat es den Street-Artisten Philippenzo erwischt. Letztes Jahr musste er das Land verlassen, weil er wegen politisch motiviertem Vandalismus angeklagt wurde. Die Anklage hatte mit seinem Graffiti Isrossilowanije (eine Kombination der Wörter Vergewaltigung und Russland) zu tun. Er hatte es vor dem Nationalfeiertag auf eine Mauer unter der Elektrosawodksi-Brücke in Moskau gesprayt und kommentiert: „Was dieses Land heute treibt, kann man nicht anders nennen.“ Schon vorher hatte Philippenzo Konflikte mit den Behörden: 2021 nahm er an einer Aktion zur Unterstützung des Mediums Meduza teil (in Russland als „unerwünschte Organisation“ eingestuft), und im Juli 2023 wurde er wegen angeblichen Widerstands gegen die Polizei festgenommen. Doch erst die Anklage wegen Vandalismus veranlasste ihn zur Ausreise. Allerdings war es, wie sich am 12. März zeigte, mit dieser Ausreise nicht getan: Ermittler durchsuchten die Wohnung seiner Bekannten, nahmen technische Geräte und Bilder mit und verhörten sie über Wersilow und Philippenzo.
Pussy-Riot-Aktivistinnen im Visier
Im Zusammenhang mit Wersilow kamen die Ermittler auch auf Pussy Riot zurück (zwei der Mitglieder sind als „ausländische Agentinnen“ eingestuft), deren Manager und Mitglied er war. Abgesehen vom Punk-Gebet, das am meisten Aufsehen erregte, ist die Band für viele Protestaktionen gegen Wahlfälschungen und Genderdiskriminierung bekannt. Wobei Pussy Riot keine feste Besetzung und Hierarchie hat, so dass jemand, der mitmacht, nicht zwangsläufig alle früheren Bandmitglieder kennen muss. Mehr noch: Als Wersilow, Marija Aljochina und Nadeshda Tolokonnikowa 2012 bei Pussy Riot aktiv waren, stritten sie sogar darüber, wer das Recht habe, im Namen der Band zu sprechen. Die Frauen saßen damals im Gefängnis und beschwerten sich, dass Wersilow hinter ihrem Rücken ohne jede Befugnis PR für Pussy Riot betreibe). Bei so undurchsichtigen Beziehungen innerhalb der Gruppe wirkt es seltsam, dass die Silowiki so viele Jahre später Wersilow auf diesem Weg belangen wollen. Jedenfalls klingelten sie am 12. März bei den Pussy-Riot-Aktivistinnen Olga Kuratschjowa und Olga Pachtussowa. Ihre letzte gemeinsame Aktion mit Wersilow war 2018 die Performance Der Polizist kommt ins Spiel: Als Polizisten verkleidet rannten sie beim Finale der Fußball-WM über das Spielfeld, um damit gegen politische Verfolgung zu protestieren.
Anti-Kriegs-Botschaften in Sankt Petersburg
Auch Sankt Petersburger Künstler blieben nicht verschont: Die Ermittler suchten Kristina Bubenzowa vom Projekt Partija mjortwych (dt. Partei der Toten) und Sascha Bort von der Gruppe Jaw (dt. Wachsein) heim. Die Partija mjortwych ist ein Projekt mit langer, wirrer Geschichte, die bis zu Eduard Limonow zurückreicht. Die zentrale Idee ist, die allgemeine Aufmerksamkeit auf „die größte soziale Gruppe“ zu lenken, nämlich die Toten, die, wie wir wissen, kein Recht und keine Möglichkeit zur Äußerung haben, in deren Namen die Regierung jedoch zahlreiche Entscheidungen trifft – von Veranstaltungen wie dem Unsterblichen Regiment bis zur Unterstützung der militärischen Spezialoperation. Ab dem 24. Februar 2022 konzentrierte sich die Partei auf Anti-Kriegs-Botschaften, und im September wurde sie dann wegen Verletzung religiöser Gefühle angeklagt: Nach dem orthodoxen Osterfest hatten sie ein Foto gepostet, auf dem einer von ihnen in schwarzer Kutte mit entsprechenden Plakaten auf dem Friedhof stand. Letzten Dienstag war das den Silowiki just wieder eingefallen, und sie nahmen es zum Anlass, gleich bei der Partei vorbeizuschauen. Natürlich auch, um nach Wersilow zu fragen.
Die Sankt Petersburger Künstlergruppe Jaw ist für politische und sozialkritische Streetart bekannt. 2021 entstand zum Beispiel It’s ok: ein Graffiti im Innenhof eines Hauses auf der Wassiljewski-Insel, das einen Mann mit einer Zeitung im Lehnsessel darstellt, umgeben von Artikeln aus Strafgesetz und Verwaltungskodex. Ein Regenbogen steht für LGBT-Propaganda (in Russland als extremistisch verboten), die Zeitung für die Verbreitung extremistischer Inhalte und eine Mangafigur auf einem Plakat für Suizidalität. Doch der Mann sitzt ruhig da und ignoriert die Verbote. Das Graffiti bezog sich auf Cancel Culture im Sinne einer generellen Absage der Kultur als solcher.
Prophylaktische Hausdurchsuchungen vor der Wahl
Kurz darauf machte der FSB auch bei Najila Allachwerdijewa, der Direktorin von PERMM, dem größten Provinz-Museum für zeitgenössische Kunst, eine Hausdurchsuchung. Die Geschichte des PERMM in Bezug auf Zensur ist überhaupt symptomatisch: Gründer und langjähriger Leiter des Museums war Marat Gelman („ausländischer Agent”), der 2014 aus Gründen der Zensur entlassen wurde. Die Kunstgalerie war Teil der so genannten Permer Kulturrevolution: Der damalige Gouverneur Oleg Tschirkunow verfolgte konsequent einen Plan, der Perm zur Kulturhauptstadt zuerst von Russland und dann von ganz Europa machen sollte. Und Gelman hatte entschieden hier ein Pendant zum Guggenheim-Museum in Bilbao zu schaffen.
Lange Zeit war das Permer Museum ein Beispiel für das, was gelingen kann, wenn ein talentierter Kulturträger im Tandem mit einem talentierten Gouverneur agiert: Von hier gingen Initiativen wie die Ausstellung Russkoje bednoje (dt. etwa Russisches Armes) aus, die den Anstoß zur „Revolution“ gab; Festivals wie Shiwaja Perm (dt. Lebendiges Perm) und Belyje notschi (dt. Weiße Nächte) sowie Partnerschaften mit Sankt Petersburg und Kooperationen mit mehreren Regionen der Peripherie und schließlich die Einleitung eines kulturellen Dialogs der russischen Provinz mit Europa; und Ausstellungen in Mailand, Venedig, Paris, aber auch Präsentationen westlicher Künstler in Perm und die Erweiterung der Sammlung vor Ort.
2014 wurde das PERMM geschlossen und die Permer „Revolution“ eingestellt. Der Gouverneur wurde abgelöst, und seinem Nachfolger missfiel eine solche Verwendung des Regionalbudgets.
Najila Allachwerdijewa, die nach mehreren Wechseln schließlich Direktorin des Museums wurde, musste einigen Aufwand treiben, um es am Leben zu erhalten. Das PERMM ist heute das einzige Provinzmuseum für moderne Kunst – und das Traurige ist, dass es kein zweites gibt und dass es wirklich provinziell ist. Trotzdem erreichten die prophylaktischen Hausdurchsuchungen vor den Wahlen auch Allachwerdijewa: Ihre Wohnung wurde am 13. März durchsucht.
Wozu das ganze?
In all diesen Durchsuchungen lässt sich kaum eine Logik erkennen: Wenn es um Wersilow geht, dann stellt sich die Frage, wieso man Leute durchsucht, die er gar nicht kennt. Wenn aber das Ziel ist, Künstler einzuschüchtern, warum ist dann zum Beispiel Kristina Gorlanowa betroffen, die ehemalige Leiterin des Uraler Puschkin-Museums? Sucht man trotzdem wenigstens irgendeine (wenn auch noch so spekulative) Logik, so könnte sie so aussehen: Zeitgenössisiche Kunst ist in all ihren Formen per definitionem die schnellste und schärfste Reaktion auf alles, was rundherum passiert. Streetart, Performance, Ausstellungen und Festivals, die aus den hermetischen Museen auf die Straße, unter die Leute, ins Publikum drängen, sind Protest in seiner reinsten Form.
Wie wir wissen, ist mittlerweile alles Unverständliche und Nicht-Traditionelle illegal
Am schlimmsten ist für das heutige Regime, dass die künstlerische Botschaft dieses Protests oft unverständlich, unlogisch und unerklärlich ist. Wie wir wissen, ist mittlerweile alles Unverständliche und Nicht-Traditionelle illegal.
Daher ist die Performance, die die Staatsmacht letzte Woche in ganz Russland aufführte, natürlich weder die erste noch die letzte ihrer Art, und die einzig mögliche Logik dahinter ist, dass jeder freie, informelle Ausdruck verhindert werden soll. Weil es im heutigen Russland nur eine Performance geben darf – die Festnahme, und nur eine Kultur – die Cancel Culture.
Polen ist Belarus nicht nur geographisch nahe, sondern auch kulturhistorisch. Jahrhunderte waren die beiden Länder in der Polnisch-Litauischen Adelsrepublik verbunden. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entschied sich Polen für eine demokratische Entwicklung und eine Orientierung gen Westen, während Belarus mit einem diktatorischen System dem postsowjetischen Raum vehaftet blieb und sich vor allem ab 1994 verstärkt Richtung Russland orientierte.
Trotz dieser offensichtlichen Nähe scheint das Ausmaß der Repressionen in Belarus für viele Polen unbegreiflich zu sein. Auch würden sie nicht verstehen, dass es womöglich den Belarussen zu verdanken sei, dass Russland sich nicht schon längst bis an die polnische Grenze ausgedehnt hat. Diese Beobachtungen erörtert der belarussische Journalist und Autor Sewjaryn Kwjatkouski auf der Online-Plattform von Nowy Tschas.
Aktuellen Ergebnissen des polnischen Sozialforschungsinstituts CBOS zufolge stehen 47 Prozent der Polen den Belarussen feindselig gegenüber. Dabei ist allerdings nicht näher benannt, um welche Belarussen es geht – diejenigen, die erst kürzlich nach Polen migriert sind oder Belarussen im Allgemeinen oder die Belarussen, die Lukaschenko unterstützen.
Das erste Mal begegnete mir Fremdenfeindlichkeit in Polen komischerweise in Białystok. Das ist merkwürdig, weil Belarussen in der Grenzregion eigentlich schon seit dreißig Jahren fest zum Landschaftsbild gehören. Es gibt dort viele Verbindungen zwischen den Menschen, sowohl familiär als auch durch den kleinen Grenzhandel. Ich musste damals für einige Tage ins Krankenhaus und rief beim Personal reges Interesse hervor – ein Schriftsteller und Journalist aus Belarus war dort zum ersten Mal. Es war der elfte Monat des russischen Angriffskriegs in der Ukraine und mehr als zwei Jahre seit Beginn der Massenrepressionen in Belarus.
Tatsächlich haben sich die Belarussen enorm verändert, aus der postsowjetischen Bevölkerung ist eine moderne Zivilgesellschaft geworden
„Und, was haben Sie vor – vielleicht weiter nach Deutschland?“ Zuerst dachte ich, dass man mich für einen Wirtschaftsflüchtling hält. Dann wurde mir klar, dass die Menschen hier über den Zustrom verschiedener Migrantengruppen besorgt waren. Die Ukrainer flüchten vor den Raketen, die Belarussen vor … Aus den Gesprächen begriff ich, dass im Krankenhaus kaum jemand wirklich eine Ahnung hatte, was gerade einmal 40 Kilometer Richtung Osten passierte. Die polnischen Medien haben das Leben in Belarus in den vergangenen dreißig Jahren zwar ausführlich beleuchtet. Und natürlich beginnt und endet jeder Beitrag mit dem Wort „Lukaschenka“. Doch im Unterschied zu anderen Nachbarländern von Belarus wird in Polen auch rege über die belarussische Gesellschaft berichtet. Die polnischen Leser der Auslandsrubrik kennen im Zusammenhang mit Belarus also die Worte „Diktatur“ und „Repressionen“. Erzählt man von den belarussischen Realia, erhält man in der Regel mitfühlende Blicke und etwas wie „ja ja, wir wissen Bescheid“. Doch sind die Ereignisse von 2020 und das, was heute passiert, völlig verschiedene Epochen.
Tatsächlich haben sich die Belarussen enorm verändert, aus der postsowjetischen Bevölkerung ist eine moderne Zivilgesellschaft geworden. Vielleicht stehen deshalb vierzig Kilometer östlich von Białystok noch keine russischen Panzer. Im Herbst 2020 nannte die polnische Regierung die Zahl von einer halben Million Belarussen, die Polen bereit sei, als Geflüchtete aufzunehmen. Heute wissen wir, dass in den letzten drei Jahren insgesamt etwa 350.000 Belarussen ihr Land verlassen haben.
Unabhängig davon, welche Partei regiert, war Polen auf staatlicher Ebene der belarussischen nationaldemokratischen Bewegung gegenüber immer positiv eingestellt. Das liegt vermutlich daran, dass alles Belarussisch-Demokratische automatisch als anti-imperial und damit Polen verbunden wahrgenommen wird. Angenommen, von den 350.000 emigrierten Belarussen haben sich 200.000 in Polen niedergelassen. Zusammen mit den ukrainischen Geflüchteten ist das eine sehr große Zahl. Aber es sind weit weniger Menschen, als Polen anfangs erwartet, und auch als die Lukaschisten erhofft hatten. „Belarussen“ und „Lukaschisten“ – diese Unterscheidung treffen Belarussen jetzt in Gesprächen.
Russische Panzer stehen noch nicht an der Grenze zu Polen, weil die Lukaschisten es nicht geschafft haben, die Struktur der Gesellschaft zu ihrem Vorteil zu verändern. Was ist dort, hinter der Wand? Diesem Zaun, der gegen die gezielt organisierten Migranten aus Asien gebaut wurde. Dort, hinter der Wand, werden täglich Menschen verhaftet. Dutzende Menschen werden gleichzeitig eingesackt. Architekten, Ärzte, Anwälte, Arbeiter aus verschiedenen Betrieben werden angeklagt. Kinderreiche Eltern, alte Menschen, Minderjährige werden zu Haftstrafen verurteilt.
Man spricht von etwa 50.000 Menschen, die eine Untersuchungshaft durchlaufen haben, und etwa 5000, die aufgrund von Strafsachen verurteilt wurden und einsitzen. Über die Anführer der Bewegung von 2020 gibt es kaum Informationen, von einigen gibt es nicht einmal die Auskunft, ob sie noch am Leben sind. Ja, in Belarus gibt es keine Erschießungen auf offener Straße wie bei den deutschen Nazis, aber die Folter der „Politischen“ in den Gefängnissen nähert sich dem Niveau der stalinschen Lager.
Im August 2020 war im Süden von Minsk, bei der Stadt Sluzk, bereits ein Konzentrationslager eingerichtet worden, es bestand drei Tage lang. Die Proteste waren so massiv, dass die Lukaschisten einfach nicht wussten, wie sie die große Anzahl an Festgenommenen bewältigen sollten. Doch vor dem Konzentrationslager schreckten sie zurück. Bis zum heutigen Tag. Auf sechs Millionen erwachsene Staatsbürger kamen in den ersten vier Monaten der revolutionären Ereignisse 2020 mehr als eine Million Menschen, die äußerst aktiv daran teilnahmen. Nehmen wir noch jene hinzu, die die Familien der Verhafteten finanziell oder logistisch unterstützten, und die, die Menschen in ihren Wohnungen versteckten. Und wie viele fühlten mit, auch wenn sie nicht teilnehmen konnten!
Heute mit einer politischen Einstellung in Belarus zu bleiben – das ist auch ein Akt des Widerstandes
Weder Politologen noch Soziologen haben Zweifel daran, dass dort, östlich von Białystok, die absolute Mehrheit der Menschen Lukaschenko nicht unterstützt. Und es ist keine gleichgültige, sondern eine aktive Haltung. Und sie bedeutet, dass diese Mehrheit auch den Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht akzeptiert. Zum Zeitpunkt der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 hatte die Repressionswalze in Belarus bereits totalen Charakter angenommen. Man konnte für alles hinter Gitter kommen: für einen roten Streifen an weißen Socken, für eine weiß-rot-weiße Fernseherverpackung auf dem Balkon, für rote und weiße Schneeflöckchen im Fenster. Die weiß-rot-weiße nationale Flagge war zum Symbol des Freiheitskampfes geworden. Mit Beginn des großangelegten Krieges gingen die Menschen in Belarus auf die Straße, um die Ukraine zu unterstützen, auch wenn sie wussten, dass sie festgenommen und gefoltert würden (mit Schlägen, Hunger, Kälte, Chlorwasser auf dem Zellenboden).
In der erzwungenen Emigration hatte ich Gelegenheit, mit Ukrainern zu sprechen, die den Bombardements entkommen waren. Wenn wir, die Belarussen, ihnen erzählten, was die Lukaschisten selbst mit jenen machen, die nur Administrativstrafen absitzen, stehen den Menschen, über denen Bombensplitter hinweggeflogen sind, die Haare zu Berge. Heute mit einer politischen Einstellung in Belarus zu bleiben – das ist auch ein Akt des Widerstandes. Unter den Belarussen zweifelt kaum jemand daran, dass sie Ereignisse von 2020 den Beginn der russischen Invasion in der Ukraine verzögert haben, da Putin ruhiges Hinterland brauchte. Doch auch heute, 2024, ist Belarus kein zuverlässiger Aufmarschort für potenzielle Interventionen im Baltikum oder Polen.
Im Krankenhaus von Białystok antworte ich auf die Frage, ob ich nicht weiter in den Westen ziehen wolle, dass Belarus doch sehr nah sei und ich dorthin müsse. Jetzt gilt es nur noch zu verstehen, wie das gehen kann. Aber das ist nicht nur eine belarussische, sondern eine kollektive Frage an alle, die verstehen, dass Russland, und mit ihm Lukaschenko, gestoppt werden müssen.