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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Bilder vom Krieg #21

    Bilder vom Krieg #21

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Rafał Milach

    Foto © Rafał Milach

    dekoder: Ein verrußtes Gebäude und eine junge Frau mit dem Wappen der Ukraine auf der Wange – was verbindet diese beiden Bilder? 

    Rafał Milach: Ich beschäftige mich schon lange mit den unterschiedlichen Initiativen, die hier bei uns in Polen gegen die russische Aggression protestieren. Vor einigen Jahren habe ich zusammen mit anderen Fotografen, Künstlern, Wissenschaftlern und Aktivisten das Archive of Public Protests gegründet. Uns interessiert das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft und was politische Entscheidungen auslösen können. Ein Krieg ist wohl die heftigste Auswirkung, die eine politische Entscheidung auf das Leben der Menschen haben kann. Ich berichte nicht direkt über den Krieg, aber hin und wieder fahre ich auch in die Ukraine, um mir vor Ort einen Eindruck von den Folgen der russischen Aggression zu machen. Die beiden Bilder stellen die Verbindung her zwischen Krieg und Protest.

    In Deutschland gibt es zwei Arten von Demonstrationen mit Bezug zu diesem Krieg: Auf den einen fordern Teilnehmerinnen und Teilnehmer mehr Unterstützung für die Ukraine, auch mit Waffen. Auf den anderen werden ein Ende dieser Unterstützung und Verhandlungen mit Russland gefordert. Gibt es so etwas auch in Polen?

    Demonstrationen, die die russische Position offen unterstützen, gibt es in Polen nicht. Aber es gibt auch hier Proteste, die von Russland benutzt werden. Das sind zum Beispiel die Proteste der Bauern gegen Importe aus der Ukraine. Oder der Widerstand rechter Politiker gegen Klima-Abkommen, die die Vorgängerregierung der rechten PiS-Partei noch selbst geschlossen hat. Das passt in die Agenda der russischen Propaganda und die Proteste spielen Russland in die Karten, ähnlich wie das in anderen Ländern Europas auch der Fall ist. 

    Wer kommt denn zu den Protesten? Sind das überwiegend Ukrainerinnen, oder auch Polinnen und Polen?

    Die Proteste werden überwiegend von Ukrainerinnen getragen. In Polen gab es ja auch schon vor dem Beginn des Krieges 2014 eine große ukrainische Diaspora. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer sind zum Arbeiten nach Polen gekommen. Aber nach dem Februar 2022 haben sich auch sehr viele Polen beteiligt und übrigens auch viele Menschen aus Belarus. Es gab Proteste im ganzen Land, in Wrocław, in Krakau, in Poznań und vielen anderen Städten. Über eine lange Zeit gab es fast wöchentlich Proteste, aber seit einer Weile wird es weniger. Mein Eindruck ist, dass auch die Menschen in Polen langsam müde werden von diesem Konflikt. Wenn man bedenkt, dass die polnische Gesellschaft sehr ablehnend gegenüber Migranten eingestellt ist, dann war die Solidarität nach Beginn der Vollinvasion und die Bereitschaft, Ukrainerinnen und Ukrainer aufzunehmen wirklich beeindruckend. Aber das lässt jetzt nach und vereinzelt wird auch Unmut über die Geflüchteten laut. Deswegen halte ich es für so wichtig, dass wir uns von Zeit zu Zeit daran erinnern, dass wir froh sein können, dass wir nicht direkt vom Krieg betroffen sind. Wir können uns ja nicht einmal sicher sein, dass das nicht noch kommt.

    Haben die Menschen in Polen Angst vor der russischen Aggression?

    Ja. Sie sprechen oft darüber, was passieren würde, wenn Russland unser Land angreift. Das ist gar nicht so unrealistisch, gerade wenn man unsere Geschichte kennt. Polen war ja mehrfach von Russland besetzt.

    An wen richtet sich der Protest?

    In Warschau haben sich die Demonstrierenden meistens vor der russischen Botschaft getroffen, sind dann vor das Parlament gezogen und schließlich in die Innenstadt. Sie hatten also mehrere Adressaten: Russland, die polnische Regierung und die polnische Gesellschaft. Oft haben sich ihnen auch polnische Politiker angeschlossen.

    Wie ist das Bild von dem verrußten Beton entstanden?

    Nach der Welle von Raketenangriffen auf die ukrainische Hauptstadt Anfang Februar 2024 habe ich den Schauplatz im Südwesten von Kyjiw besucht, wo Trümmer eines abgeschossenen Marschflugkörpers niedergegangen sind. Es gab mehrere Tote und einige Wohnungen wurden zerstört. Ich habe mich einer Gruppe Freiwilliger angeschlossen, die Trümmer beseitigten und verbrannte Möbel wegräumten, damit die Wohnungen wieder bewohnbar gemacht werden können. Das ist gewiss nicht mit dem vergleichbar, worunter derzeit die Menschen in Charkiw und anderen frontnahen Städten zu leiden haben. Aber selbst an Orten wie Kyjiw, die relativ gut durch Flugabwehrsysteme geschützt sind, besteht immer noch ein Risiko, unter russischen Beschuss zu geraten. 

    Sie haben sich für ein abstraktes Motiv entschieden. Warum?

    Die Medien zeigen täglich Bilder von Leid und Zerstörung. Ich fahre nicht an die Front, ich mache keine News-Fotografie. Ich interessiere mich mehr für das, was nach diesen traumatischen Ereignissen passiert, wenn der Rauch sich verzogen hat und das Leben wieder beginnt. Ich möchte zeigen, wie der Krieg auch jenseits der großen Katastrophen seine Spur in den Städten und im Leben der Menschen hinterlässt. So arbeiten wir übrigens auch beim Archive of Public Protest. Es geht um mehr als nur Berichterstattung, wir wollen die Perspektive öffnen. 

    Fotografie: Rafał Milach 
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 11.06.2024

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  • „Wenn Böses im Namen des ganzen Landes getan wird, kann man nicht schweigen“

    „Wenn Böses im Namen des ganzen Landes getan wird, kann man nicht schweigen“

    Seit seiner Jugend beschäftigt Wladimir Kara-Mursa der Widerstand gegen Diktaturen. Als junger Journalist drehte er Dokumentarfilme über das Leben sowjetischer Dissidenten. Später setzte er sich in Washington für die Verabschiedung des sogenannten Magnitski-Gesetzes ein, das Sanktionen gegen russische Politiker und Beamte vorsieht, wenn sie an Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren. Er überlebte zwei Giftanschläge, die mutmaßlich vom selben FSB-Kommando verübt wurden, das auch den Anschlag auf Alexej Nawalny begangen haben soll. Im April 2023 verurteilte ein Moskauer Gericht Wladimir Kara-Mursa wegen der „Verbreitung von Falschinformationen über die russische Armee“, der „Mitwirkung bei einer unerwünschten Organisation“ und wegen „Hochverrats“ zu 25 Jahren Straflager.
    Kara-Mursa hat immer offen darüber gesprochen, dass er Kraft und Mut für seine Arbeit aus dem Glauben schöpft. Das christliche Portal Mir Vsem (dt. Friede sei mit euch) hat ihn gefragt, wie er seinen Glauben in der Haft praktizieren kann und wie er die Rolle der Russisch-Orthodoxen Kirche im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine beurteilt.

    Der Oppositionspolitker Wladimir Kara-Mursa vor Gericht in Moskau im Oktober 2022 / Foto © Sergei Bobylev/IMAGO/ITAR-TASS

    Mir Vsem: Sie sind jetzt schon zwei Jahre hinter Gittern. Wie hat sich diese Zeit auf Ihr Selbstverständnis als Christ ausgewirkt, und auf Ihr Verhältnis zum Glauben und zur Kirche? 

    Wladimir Kara-Mursa: Mein Verhältnis zum Glauben und mein Selbstverständnis als Christ haben sich nicht verändert. Und das gilt auch für das Verhältnis zur Kirche. Aber natürlich setze ich die Kirche weder mit ihrem Verwaltungsapparat gleich noch mit einzelnen Amtsträgern, auch nicht mit den höchstgestellten. Das hat mich Vater Georgi Edelstein gelehrt, ein sehr weiser und lauterer Mensch und, wie ich finde, ein wirklicher christlicher Geistlicher. Er betont immer – auch in seinen Büchern und in unserem gemeinsamen Film Die Pflicht, nicht zu schweigen von 2019 –, dass man die Kirche Christi nicht nach dem Verhalten einzelner Personen beurteilen darf, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Namen auftreten. Diese Personen können sich sehr unwürdig verhalten, aber das macht nicht das Wesen des Glaubens und der Kirche aus. Auch heute sind in meinen Augen die verfolgten Priester, die ihre Stimmen gegen Krieg, Blutvergießen und Brudermord erheben, diejenigen, die das eigentliche Wesen des Christentums und der Orthodoxen Kirche zum Ausdruck bringen – und nicht die kirchlichen Würdenträger, die ihnen deswegen verbieten, Gottesdienste abzuhalten und ihnen das Amt aberkennen. Diese verfolgten Geistlichen, die, um mit Martin Niemöller zu sprechen, nicht bereit sind, „auf menschliche Anordnung hin das zu verschweigen, was Gott uns zu sagen gebietet“, retten heute meiner Ansicht nach die Ehre der Russisch-Orthodoxen Kirche. 

    Sie standen vor der Entscheidung zwischen Ihren Prinzipien, die Sie in die Opposition geführt und schließlich ins Gefängnis gebracht haben, und dem nachvollziehbaren Wunsch, das zu vermeiden und Ihren Angehörigen Leid zu ersparen. Ist Ihnen die Wahl schwergefallen?

    Es gibt ein großartiges Buch von Ljudmila Ulitzkaja. Es heißt Die Dichterin und ist dem Andenken an die Lyrikerin Natalja Gorbanewskaja gewidmet, mit der sie befreundet war. Gorbanewskaja nahm im August 1968 an der Demonstration der Sieben teil – sieben Menschen [sic!], die auf dem Roten Platz gegen den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei protestierten. Ulitzkaja schreibt über sie: „Sie wollte Gott keinen Kummer machen. Sie war keine Heldin, sie war nicht auf Märtyrertum und Probleme aus. Sie hatte einfach keine andere Wahl.“ Das trifft es sehr genau. In solchen Zeiten, in denen Böses im Namen des „ganzen Volkes“, des „ganzen Landes“ getan wird, kann man nicht schweigen, sich abwenden, ignorieren – denn das würde bedeuten, dass all diese Taten auch in meinem Namen begangen werden. Deshalb gab es keine Wahl – Schweigen wäre für mich eine Form der Zustimmung gewesen. Und aus sicherer Entfernung zu reden, entspricht nicht meiner Vorstellung von der Verantwortung eines Politikers, der in der Öffentlichkeit steht. Aber Sie haben ganz recht damit, nach den Angehörigen zu fragen. Die Familien der politischen Gefangenen haben an dieser Last viel schwerer zu tragen als wir selbst. 

    Mir ist es leider nicht möglich, den Gottesdienst zu besuchen

    Haben Sie die Möglichkeit, die Gefängniskirche zu besuchen oder einen Geistlichen zu sprechen? Wie läuft das ab? Nehmen Sie an den Sakramenten teil?

    In den beiden Straflagern, zwischen denen ich in Omsk hin- und her verlegt werde gibt es zwar Kirchen, aber als „böswilliger Regelverletzer“, der im internen Lagergefängnis eingesperrt ist, darf ich sie nicht aufsuchen – so wie ich mich generell nicht auf dem Gelände des Lagers bewegen und keinen Kontakt zu anderen Häftlingen aufnehmen darf. Deshalb ist es mir leider nicht möglich, den Gottesdienst zu besuchen. Wenn ich beichten und das Abendmahl empfangen will, muss ich einen schriftlichen Antrag beim Leiter der Kolonie stellen. Dann sucht mich ein Geistlicher in Begleitung von Mitarbeitern des Föderalen Strafvollzugsdienstes FSIN auf und vollzieht die Sakramente – entweder direkt in der Zelle oder in einem Dienstgebäude, zum Beispiel in der Sanitätsabteilung. 
    Nach dem Strafgesetzbuch haben Gefangene das Recht, einen Geistlichen ihrer Wahl kommen zu lassen, damit sie auch im Gefängnis die Möglichkeit haben, Verbindung zu ihrem Seelsorger zu halten. Das ist sehr wichtig, doch bisher habe ich diese Möglichkeit nicht nutzen können. Im Moskauer Gefängnis hat mich Vater Alexej Uminski regelmäßig besucht, und im Winter wurden die nötigen Verwaltungsmaßnahmen in Gang gesetzt, damit er hierher kommen kann. Aber um die Weihnachtszeit wurde er dann wegen seiner Antikriegshaltung des Amtes enthoben, und ich erhielt von der Bezirksverwaltung des FSIN eine Absage. Der Rat und die Unterstützung eines Seelsorgers sind für mich schon im normalen Alltag sehr wichtig, und umso mehr im Gefängnis. 

    Können Sie in der Zelle beten? Und wie reagieren die Zellengenossen darauf? 

    Ich bete täglich, in der Regel morgens und zur Nacht. Alle Gebete verrichte ich hier nur still für mich und nur in der Zelle. Seit meiner Verlegung nach Sibirien im letzten Frühherbst befinde ich mich permanent in Einzelhaft, deshalb stellt sich die Frage nach den Zellengenossen nicht.

    Die innere Freiheit zu sagen, was du denkst, ist ungeheuer wichtig, und niemand kann sie uns nehmen

    Es ist immer wieder zu hören und zu lesen, Freiheit sei etwas Inneres, man könne sich auch im Gefängnis frei fühlen. Das klingt gut, aber stimmt es auch?

    In gewissem Sinn stimmt es tatsächlich. Wie ich gehört – oder besser gesagt, in einem Brief gelesen – habe, ist kürzlich ein Sammelband mit Schlussworten politischer Gefangener erschienen. Sie wurden eingesperrt, weil sie sich in Russland öffentlich gegen den Krieg ausgesprochen haben (Anm. der Redaktion: Es geht um den Band Golosa rossiiskogo soprotiwlenija, dt. Stimmen des russischen Widerstands). Und vielen fällt auf, dass sich diese Menschen, die im Gefängnis sitzen, viel freier und offener äußern als diejenigen, die einstweilen in Freiheit sind. So war es auch schon zu Sowjetzeiten: Die Dissidenten sagten vor Gericht Dinge, für die alle andern sofort ins Gefängnis gekommen wären, denn sie waren ja schon dort. Diese innere Freiheit, die Freiheit zu sagen, was du denkst, ist ungeheuer wichtig, und niemand kann sie uns nehmen. Aber die körperliche Unfreiheit in Raum und Zeit, die Tatsache, dass du nicht die Freiheit hast, bei deiner Familie zu sein, spürst du hier jeden Tag und jede Minute. Und das ist sehr belastend. 

    Erleben Sie die Unfreiheit als Prüfung für Ihren Glauben?

    Es wäre unlauter, wenn ich das vollkommen verneinen würde. Im Großen und Ganzen nein. Aber meine Gedanken und Gefühle haben sich über die letzten gut zwei Jahre gewandelt. Auch wenn ich weiß, dass alles Gottes Wille ist, wie im Buch des Propheten Jeremia (29,11) geschrieben steht, dass nur der Herr weiß, was er mit jedem von uns vorhat, und dass Kleinmut für einen Christen Sünde ist, so ist es nicht immer leicht, gegen die rein menschlichen Empfindungen der Ungerechtigkeit, Verzweiflung und Schwermut anzukämpfen. Vor allem, wenn man die ganze Zeit völlig allein ist. Und man trägt seine Prüfung nicht immer mit der geschuldeten Demut.

    Ich möchte gern glauben, dass alles, was im Leben mit uns geschieht, seinen Sinn hat

    Der Priester und Märtyrer Wassili Sokolow schrieb seinen Angehörigen 1922 aus dem Gefängnis: „Jedes Leiden gereicht dem Menschen und seiner unsterblichen Seele zum Vorteil.“ Glauben Sie, dass das, was Sie zurzeit durchmachen, gut für Ihre Seele ist?

    Ich bin diesem Gedanken bei Menschen, die die Erfahrung der Gefangenschaft gemacht haben, häufig begegnet. Alexander Solschenizyn hat im Archipel GULAG geschrieben, er habe im Gefängnis seine „Seele großgezogen“ und es dafür gesegnet, dass es in seinem Leben gewesen ist. Im Moment kann ich Ihnen nicht antworten: „Ja, das ist es, was ich empfinde.“ Ich möchte gern glauben, dass alles, was im Leben mit uns geschieht, seinen Sinn hat. 

    Haben Sie Zugang zu christlicher Literatur? Was lesen Sie gerade, was haben Sie in den beiden letzten Jahren gelesen?

    Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich in Freiheit wenig in der Heiligen Schrift gelesen habe. Aber während der Haft habe ich alle fünf Bücher Mose, die vier Evangelien, die Apostelgeschichte und einige weitere Bücher der Bibel gelesen, aus dem Alten und Neuen Testament. Die Bergpredigt, die für mich den Kern des Christentums darstellt, habe ich immer wieder gelesen und lese sie weiterhin. Ich bin mit sieben Jahren Christ geworden. Damals bat ich meine Mutter darum, getauft zu werden. Das war Ende der 1980er Jahre, noch zur Zeit der Sowjetunion. Seither spielt der Glaube eine große Rolle in meinem Leben. Und es ist mir wichtig, jetzt, im fünften Jahrzehnt meines Lebens, bewusst und reflektiert die Bibel zu lesen und die Entscheidung, die ich im Alter von sieben Jahren getroffen habe, nochmals zu bekräftigen. 

    Es gibt die russische Gefängnisregel: „Glaube nicht, fürchte dich nicht, bitte um nichts.“ Passt das zu einem gläubigen Menschen?

    Im Verhältnis zu Gott natürlich nicht, in keinem dieser drei Punkte. Aber die Regel bezieht sich ja nicht auf das geistliche Leben der Gefangenen. Als praktischer Ratschlag für das Überleben im Gefängnis hat sie nichts an Aktualität verloren.

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  • „Uns gibt es nicht“

    „Uns gibt es nicht“

    Warum begegnen Menschen in den westlichen Ländern Belarus mit so wenig Interesse? Warum läuft Belarus meistens unter dem Radar der internationalen Aufmerksamkeit? Warum gibt es so wenig Interesse für die belarussische Literatur? Das sind Fragen, die viele Belarussen umtreiben und die auch aktuell wieder in den sozialen Medien diskutiert werden. Der belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevič hat dazu einen launigen, polemischen aber auch analytischen Post für seinen Facebook-Account geschrieben, der vom Online-Portal Budzma übernommen wurde. „Die meisten, die über die Aussichten der belarussischen Literatur im Westen diskutieren“, schreibt Bacharevič, „verstehen meiner Meinung nach die fünf wichtigsten Dinge nicht.“

    Erstens. Uns gibt es nicht.

    Im Westen gibt es Belarus praktisch nicht. Die belarussische Sprache nicht, die belarussischsprachige belarussische Literatur nicht, die belarussische Geschichte nicht, Belarus nicht als Text, den andere verstehen und annehmen, der akzeptiert ist und in den großen Welttext eingeht. Auf die belarussischsprachige belarussische Literatur schaut man immer ein wenig argwöhnisch und herablassend. Genau wie auf die Sprache Balbuta.

    Folgendes muss man verstehen: Die belarussische Literatur wird in der Regel abgelehnt, ohne gelesen zu werden, ohne dass Bücher und Manuskripte auch nur aufgeschlagen werden. Es genügt zu hören: „belarussische Literatur“ – sofort denken sie an etwas selbstverständlich Schwaches. Es ist sehr schwer, die Menschen vom Gegenteil zu überzeugen. Ein belarussisches Buch kann sein, wie es will – spannend, genial, schlecht, wunderlich, unterhaltsam, langweilig … Ganz gleich. 99 Prozent nehmen es gar nicht in die Hand, lesen keine einzige Seite, denn es ist ja belarussisch, also direkt uninteressant. Deshalb: Ein Hoch auf die ausländischen Enthusiasten, Wissenschaftler und Übersetzer, die hin und wieder doch westliche Verleger überreden, in den Text zu schauen, ihn schätzen zu lernen und eine Übersetzung herauszugeben! Denn wenn ein belarussisches Buch doch einmal gelesen wird, ruft es häufig wohlwollende Verwunderung hervor: So ist das also, wir wussten ja gar nicht, dass es bei euch interessante Autoren gibt.

    Und noch ein Hinweis: Belarussische historische Belletristik ist für den westlichen Leser im Grunde pure Fantasy. Eine Geschichte von einem ausgedachten Land und ausgedachten Menschen, von Monstern und Magiern. Aber Fantasy gibt es im Westen so viel, dass niemand auch noch eine belarussische Version braucht, die Anspruch auf Ernsthaftigkeit erhebt. Die belarussische historische Prosa läuft dem westlichen Geschichtsbild zuwider. Daher gibt es dort keine Perspektive für sie.

    Zweitens.

    Hundertmal habe ich es gesagt und sage es jetzt noch einmal: Der westliche Buchmarkt hat seine Erwartungshaltung. Für die belarussische Literatur gibt es ein winziges Regal – wie auch für andere kleine Literaturen. Die belarussische Literatur interessiert den Westen nur dann, wenn sie sich mit der ihr zugewiesenen Rolle abfindet. Für den westlichen Leser, Kritiker und Verleger kann die belarussische Literatur nur dann interessant sein, wenn sie aus der Position der Opfer spricht: „Wir sind unglücklich und leiden, bei uns herrschen Finsternis, Diktatur, Hoffnungslosigkeit, Tschernobyl, Lukaschenka, Zweiter Weltkrieg, Okkupation usw.“ – oder aus der Position der Zeugen: „Wir erzählen euch jetzt, wie das ist – erst in der Sowjetunion, dann unter Lukaschenka, am eigenen Leib alle Schrecken von Totalitarismus, Armut, Elend und Diktatur zu erleben.“ Wenn belarussische Literatur versucht, mehr als das zu sein – Warnung, Idee, Reflexion, pure Kunst, Philosophie, all das, was jede große Literatur eben einfach sein kann – sagt man uns: Stopp. Lasst mal die Finger davon, das ist unser Privileg. Woher wollt ihr denn etwas von der Welt verstehen? Wie kommt ihr darauf, dass ihr das Recht habt, etwas anderes als Opfer oder Zeugen zu sein? Denkt daran, aus welchem Loch ihr gekrochen seid – und dann überlegt gut, ob ihr uns etwas beibringen könnt. Räumt erst einmal bei euch selbst auf.

    Drittens. Übersetzer

    Ich schreibe hier ausschließlich über die belarussischsprachige Literatur. Denn die russischsprachige Literatur, die sich belarussisch nennt, ist ein ganz anderes Phänomen. Übersetzer aus dem Russischen gibt es zuhauf. Man muss niemandem erklären, was das imperiale Russland ist, seine Kultur, Geschichte, seine Sprache, seine Literatur. Stellt man die belarussische russischsprachige Literatur in einen russischen, sowjetischen oder postsowjetischen Kontext – dann hat man auch in der belarussischen Literatur ganz gute Aussichten, gesehen und gelesen zu werden.

    Aber was sollen die belarussischsprachigen Autoren in dieser Situation tun?

    Im Westen, das lohnt sich zu wissen, fürchtet man sich sehr vor Nationalismus. Die belarussischsprachige belarussische Literatur wird häufig als nationalistische Literatur wahrgenommen. Vielleicht sagt man euch das nicht direkt ins Gesicht. Man denkt es aber. Und man denkt auch: „Anstatt in ihrer kleinen Sprache zu schreiben, die nicht mal in ihrem Land wirklich jemand spricht, könnten sie doch lieber Russisch schreiben – und wären anerkannt und verständlich. Und anstatt über ihre eigenen Sachen auf Belarussisch zu schreiben, könnten sie sich doch dem Russischen und Sowjetischen zuwenden, das ist klar, verständlich und verkauft sich! Aber euer Belarus als Europa – das klingt ja lachhaft … Das soll Europa sein? Belarus ist ein kleines Russland, als solches sehen wir es, und so ist es interessant für uns, und alles, was diesem eleganten Muster widerspricht, ist naiver Nationalismus und der kindische Versuch, auf unseren europäischen Schnellzug aufzuspringen.“

    Viertens

    Nun müssen wir auch ein wenig über die eigene Schuld der belarussischen Literatur sprechen. Häufig, wenn nicht in der Mehrheit der Fälle, ist sie langweilig-traditionell, kriegerisch-traditionalistisch, demonstrativ verschlossen für westliche Einflüsse, konservativ und nationalistisch im negativen Wortsinne, fremdenfeindlich und sowjetisch. In vielen ihrer Erscheinungsformen zeigt sie keinen Wunsch, vom Westen zu lernen, Entdeckungen zu machen, Kontakt zur Welt aufzubauen. Idiotischer Größenwahn, literarisches Chuch'e, das macht sie aus, die belarussische Literatur. „Wir brauchen das alles nicht, es ist fremd, wir sind groß und besser als alle, die wir kennen, denn wir haben Schamjakin und Dunin-Marzinkewitsch.“ Mit einem solchen Credo kommst du nirgendwohin. Die großen Nationaldichter Kupala und Kolas, gemachte Ikonen, kennt im Westen niemand, und mit diesen Ikonen und der bolschewistischen Flagge der Sowjetliteratur, mit dem Stolz auf den stalingeschaffenen „Künstlerbund“, ohne Sprachkenntnisse, ohne Interesse daran, was sich in der westlichen Literaturwelt tut, im Glauben an die eigene Ausnahmestellung treten die alten belarussischen Schriftsteller mit unsicherem Lächeln in die große Welt hinaus und beklagen sich: Und wo sind wir? Wo ist unsere Sichtweise, wo die Anerkennung? Wir haben sie verdient! Wieso sieht uns niemand?

    Fünftens

    Die großen westlichen Verlage – das ist Kommerz, das ist kapitalistisches Unternehmertum. Es geht zuallererst um Geld. Und wenn ein Buch niemand lesen will, es nicht einmal durchblättern möchte, dann wird es sich nicht verkaufen. Deshalb erscheinen die belarussischsprachigen belarussischen Bücher, die relativen Erfolg in kleinen Leserkreisen haben und hoffentlich auch zukünftig erscheinen werden, in kleinen und unabhängigen Verlagen – wo Geld zum Glück nicht alles entscheidet. Das sind Orte, wo Verleger arbeiten, die sich für unsere Literatur und unsere Kultur interessieren, die Bücher lieben, das Wort, die Idee, den Stil – und nicht Millionenauflagen. Für den westlichen Markt ist das ist völlig normal. Es gibt riesige Verlage, es gibt kleinere, und es gibt ganz kleine – jeder hat sein Publikum, seine Nische, seine Erfolge und seine Ausrichtung. Hauptsache ist, all das schließt Kontakte, Wechselwirkungen und Perspektiven auf größere Sichtbarkeit und Rezeption nicht aus.

    Und noch einmal: ein Hoch auf alle Deutschen, Engländer, Polen, Franzosen, Litauer, Niederländer, Schweden, Norweger, Amerikaner, Schotten, die ohne besonderen persönlichen Vorteil, nur aus Interesse an unserer Literatur, versuchen, westliche Verleger für belarussische Literatur zu interessieren. Ein Hoch auf die Übersetzer, dank denen Bücher belarussischer Schriftsteller verlegt, gelesen, besprochen, präsentiert werden – und dadurch leben.

    Alles in allem ist das kein fröhliches Bild. Doch nun geht es um Trost und Hoffnung. Ich bin zwar nicht sicher, ob mich das beruhigt, aber: Zum Glück oder zum Unglück sind wir nicht allein. Auf der Welt gibt es viele kleine Literaturen mit noch bescheideneren Perspektiven. Bei uns ist nicht alles so schlecht. Immerhin existiert die belarussische Literatur im Westen in Übersetzungen aus dem Belarussischen. Das reicht nicht – aber es wird immer mehr.

    Was soll man also tun, wenn man so sehr dazugehören will, sein will wie alle, Erfolg haben möchte?

    Man kann beginnen, in einer Fremdsprache zu schreiben. Die Konkurrenz wird aber hart sein. Außerdem gelingt es kaum, in einer anderen Sprache so zu schreiben wie in der eigenen. Es kommt einer bewussten Abkehr von Komplexität und Stil gleich. Um nicht zu sagen – einem Verrat. Denn die Hauptsache ist das Wie, nicht das In welcher Sprache. Und doch ist es eine Abkehr. Von sich selbst, zugunsten der Sichtbarkeit. Letztlich hat die absolute Mehrheit der belarussischen Autoren die belarussische Sprache erst später gelernt, nicht in der Kindheit wie eine Muttersprache. Warum also nicht noch eine Sprache lernen? Oder zwei? Oder drei?

    Man kann auch auf Russisch schreiben. Wie ich schon sagte, das ist dann etwas ganz anderes und man begegnet dir ganz anders. Die Rezeption ist eine ganz andere, viel wohlwollender, leichter und mit mehr Anerkennung.

    Von den schmalen Regalen, die im Westen für die belarussische Literatur bereitstehen, schrieb ich bereits. Von Opfern und Zeugen. Ich renne mir seit Jahren den Kopf an dieser Wand ein. Und manchmal scheint mir, sie gibt ein wenig nach. Genau das will ich mit der deutschen Übersetzung meines Romans Europas Hunde erreichen – erzwingen, dass ich mit diesem Buch nicht als Wilder aus einem elenden Land betrachtet werde, sondern als europäischer belarussischer Autor, der etwas zu sagen hat und dessen Land und Sprache nicht schlechter sind als andere.

    Man kann es so machen wie Julia Cimafiejeva und ich. Weiterhin in dieser kleinen Sprache schreiben. Mit Ausdauer und Würde. Literatur auf Belarussisch. Eine andere belarussische Literatur schreiben – nicht die größte von allen, sondern eine von vielen Literaturen dieser Welt. Von anderen lernen, aufmerksam lesen und zuhören, möglichst offen sein. Über das Eigene schreiben, ohne das Fremde abzulehnen. Nicht zulassen, auf ein Regal, in eine Nische oder in die Grube für die Unglücklichen und Traurigen geschoben zu werden. Nicht zulassen, dass sie dich als „blutende Wunde“ vermarkten. Stets das Gefühl haben, auf Reisen zu sein. Andere Sprachen sprechen, erklären, fragen, versuchen zu verstehen: Wo sind wir? Was ist das für eine Welt? Was will sie uns sagen? Eine Reise hält jederzeit Überraschungen bereit, angenehme und weniger angenehme.

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    Presseerklärung: dekoder „unerwünscht“ in Russland

    Erklärung zur Einstufung von dekoder als sogenannte „unerwünschte Organisation“ durch die Behörden der Russischen Föderation

    Mit der Einstufung von dekoder als „unerwünschte ausländische Organisation“ haben die russischen Behörden ein weiteres Mal gezeigt, dass sie keine Informationen dulden, die von der staatlich vorgegebenen Linie abweichen. dekoder gibt deutschen Leserinnen und Lesern einen Einblick in den Diskurs der unabhängigen Journalistinnen und Journalisten aus Russland und Belarus und vernetzt Wissenschaft und Journalismus über die Grenzen hinweg. Russischsprachige Leserinnen und Leser bekommen auf dekoder.org/ru verlässliche Informationen über Deutschland, Europa und Belarus – ohne Zensur der staatsnahen russischen Medien. Berichterstattung, Hintergründe, Debatten und Vernetzung, die nicht unter der Kontrolle des Staates stehen, werden vom Regime in Moskau offensichtlich als Bedrohung wahrgenommen

    Die Liste der „unerwünschten ausländischen Organisationen“, die von der russischen Generalstaatsanwaltschaft geführt wird, umfasst mittlerweile mehr als 160 Namen, darunter renommierte Forschungs-Institutionen wie das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien oder die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde. Die Listung als „unerwünschte Organisation“ soll die Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten, die sich noch in Russland aufhalten, erschweren.  

    Für die Redaktion von dekoder kommt die Einstufung durch die russische Staatsanwaltschaft nicht unerwartet. Viele Redaktionen, deren Texte dekoder in Übersetzung veröffentlicht, sind inzwischen selbst als „ausländische Agenten“ oder „unerwünschte Organisationen“ eingestuft. Die meisten von ihnen arbeiten seit Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges auf die Ukraine im Exil. dekoder wird alles in seiner Macht Stehende tun, um Autorinnen, Autoren und Kontaktpersonen, die sich noch in Russland aufhalten, zu schützen.  

    Hintergrund 

    Die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation hat dekoder am 31. Mai 2024 zu einer sogenannten „unerwünschten Organisation“ erklärt. „Unerwünschten Organisationen“ ist jegliche Arbeit in Russland verboten. Darüber hinaus handeln alle russischen Staatsangehörigen, die mit einer als „unerwünscht“ eingestuften Organisation zusammenarbeiten, nach russischem Gesetz ordnungswidrig. Im Wiederholungsfall greift das Strafrecht, es drohen Freiheitsstrafen von bis zu vier Jahren.  

    Mit der Stigmatisierung gehen die Behörden gegen die Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit vor. Das Ziel ist die Einschränkung des Pluralismus, auch in Westeuropa. Die Vermittlung von Fakten- und Hintergrundwissen zu Russland soll auch in Deutschland unterbunden werden. Russland will die unabhängige und wissenschaftlich fundierte Berichterstattung auch unterbinden, um seiner Auslandspropaganda zu mehr Wirkung zu verhelfen. 

    veröffentlicht am 3. Juni 2024 

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    Auf den russischen Großangriff auf die Ukraine folgte in Russland eine bis heute andauernde Welle der Repressionen – vor allem auch gegen unabhängige Medien, von denen zahlreiche ihren Betrieb einstellen oder ins Exil gehen mussten. Gleichzeitig begünstigten Schock und Empörung auch die Gründung einer Reihe neuer Onlinemedien wie The New Tab, die Novaya Gazeta Europe oder Cherta, die meist aus dem sicheren Ausland und mit anonymen Korrespondentinnen und Korrespondenten vor Ort arbeiten. Eines davon ist Verstka. Auf dem Blog Inymi slowami des US-amerikanischen Kennan Institutes erzählt die Chefredakteurin Lola Tagajewa die Gründungsgeschichte ihres Mediums, das auch für dekoder zu einer wichtigen Quelle geworden ist.

    „Viel Geld werden wir nicht verdienen, wenn überhaupt welches; doch eins weiß ich sicher – es wird schwierig. Für Medien ist es immer schwierig. Vor allem jetzt.“ So also klang das Traumangebot, das ich Marianna Luschnikowa, der zukünftigen Marketingchefin von Verstka, im März 2022 schickte.

    Marianna und ich hatten gerade unsere ersten Trainings auf den Markt gebracht. Durchaus erfolgreich. Das letzte war für die Niederlassung einer transnationalen Firma gewesen, deren Produkte in jedem Haus zu finden sind, in dem es Babys gibt. Von dem Geld für dieses Training lebten Marianna und ich vier Monate lang, bis Einkünfte von Verstka kamen.

    Ein Start ohne große Ressourcen und prominenten Namen

    Warum rede ich gleich über Geld? Weil ich fast keines hatte. Und Medien haben ohne Geld keine Chance. Also, richtige Medien, nicht das private Blog von Lola Tagajewa. Ein Blog wollte ich nicht, und Gott sei Dank ließ ich die Finger davon. 

    Also, das Geld. Verstka hat seit letztem Jahr über 30 Mitarbeiter, und ich habe eine ungefähre Vorstellung von unserem Jahresbudget. Doch damals hatten wir im Grunde nur zwei Monatsgehälter für drei Journalisten. Einen halbwegs prominenten Namen, mit dem ich Sponsoren hätte ködern können, hatte ich auch nicht. Viel hatte ich also nicht, nur die Gewissheit: Etwas anderes als Journalismus kann ich jetzt nicht machen. Ich bin nicht die Einzige, die seit dem 24. Februar [2022 – dek] wie benommen ist.

    Zu dem Zeitpunkt war ich seit drei Jahren damit glücklich, nicht mehr journalistisch zu arbeiten, und wollte eigentlich gar nicht zurück. Ich bin politische Journalistin und Redakteurin in den 2010er Jahren gewesen: Damals mündete unsere Hoffnung auf Modernisierung unter Medwedew allmählich in Chroniken von Gerichtsprozessen. Meine Kündigung begründete ich damit, dass das Politikressort zur Apokalypse geworden sei. Damals hatte ich noch keinen Schimmer … Doch ich wollte sehen, dass meine Arbeit etwas bringt. Also wandte ich mich einem Bereich zu, den der Staat noch nicht so brutal unterdrückte – Problemen der Geschlechterungleichheit und der häuslichen Gewalt.   

    Ich hatte keine Rückkehrpläne und lehnte alle Jobangebote von Medien ab. Doch 2022 begann der Krieg, und es gab [in Russland – dek] fast keine Medien mehr, die darüber  hätten berichten können. Alle waren geschlossen, geflüchtet, übten Selbstzensur. Im März wurden direkt vor meinen Augen mit besonderem Zynismus Medien vernichtet, für die ich mal gearbeitet hatte: Doshd, Novaya Gazeta – und auf RBC wurde es immer schwieriger, etwas zwischen den Zeilen zu lesen. Ich wusste nicht, dass der Journalismus am Ende trotz allem überleben würde. 

    Ich hatte großes Mitleid mit den Ukrainern und allen, die durch den Krieg leiden mussten

    Ich sah zu, wie Medien geschlossen wurden, und es fühlte sich an, als würden Mauern fallen und Bollwerke einstürzen, die für viele ein sinnvolles Weltbild beschützt hatten, und als würden Massen propagandistischer Untiere die letzten bei Verstand gebliebenen menschlichen Wesen endgültig auffressen. Außerdem hatte ich großes Mitleid mit den Ukrainern und allen, die durch den Krieg leiden mussten. 

    Ich habe es nicht so in Erinnerung, dass ich unbedingt ein eigenes Medium wollte. Eher zerrte dieses Gefühl von Ungerechtigkeit an mir, das ein „Ich habe nicht wirklich Lust“ plattwalzt und zu einem „Es muss“ macht. Damals dachte ich auch noch, dass es statt Journalismus nur noch Streams geben würde. Fast alle machten Streams, und viele sahen sie sich auch an, muss man zugeben. Das Ergebnis war eine Art kollektiver Gruppenpsychotherapie, gemischt mit Gesprächsjournalismus. Mir fällt es leichter, psychisch gesund zu bleiben, wenn ich mich als Reaktion auf Stress Hals über Kopf in die Arbeit stürze, statt mit anderen darüber zu sprechen und mir Sorgen zu machen.

    Außerdem hatte ich Fragen, auf die ich keine Antworten fand. Zum Beispiel, was aus diesen Müttern und Ehefrauen wurde, die die Straße nach Kabardino-Balkarien im Kauskasus blockiert hatten, um zu herauszukriegen, was mit ihren in der Ukraine verschollenen Söhnen und Ehemännern passiert war. Nichts außer einer kurzen Nachricht in einem Telegram-Kanal war über ihre Aktion zu finden. Ich wollte aber wissen, wie es nach ihrer Festnahme weitergegangen war und ob sich die Geschichte der „Soldatenmütter“ der 1980er und 1990er Jahre wiederholen könnte, die ihren Kindern nicht nur in die Kampfzonen hinterherfuhren, sondern zu einer starken Kraft gegen den Krieg wurden. Insofern war einer der ersten Texte bei Verstka dieser Protestaktion gewidmet.   

    Da ich sowohl mit Medien als auch mit Start-ups Erfahrung hatte, schätzte ich die Schwierigkeiten, die uns bevorstanden, zwar hoch ein, aber lösbar. Jetzt sage ich mir: „Du hattest keinen blassen Schimmer, Lola. Wenn du das gewusst hättest, hättest du nämlich die Finger davon gelassen.“

    Doch damals war es mir enorm wichtig, Journalismus zu betreiben, soweit ich es mir eben leisten konnte. Wenn nur ein wichtiger Text pro Monat zu schaffen ist, dann soll es eben nur einer sein. Wenn mehr geht – umso besser. Man kann nicht einfach stillsitzen und nichts tun. Dafür ist jetzt nicht die Zeit.  

    Es gibt wenig, das ich bei der Arbeit so sehr mag wie Fakten. Mit Fakten ist es einfach. Im Gegensatz zu Interpretationen lassen sie dich nie dumm aussehen. Wie ich die Entwicklung von Verstka anlegte, sieht man daran, dass ich dafür meinen eigenen Telegram-Kanal mit gut vierzig Followern hergab, weil ich nicht mit einem neuen Account ganz bei Null anfangen wollte. Der Channel hieß Swobodnyje slowa Loly Tagajewoi (dt. Lola Tagajewas freie Worte) – und auf Telegram heißt Verstka noch immer: svobodnieslova. Die Überzeugung, dass diese vierzig Leute, die mich in ihrer Panik hinzugefügt hatten, als Facebook Mitte März 2022 als extremistisch eingestuft wurde, irgendwie wichtig sind für den Start meines Projekts – das illustriert am besten, wie wenig Ressourcen wir hatten.   

    Der Glaube an eine Idee wiegt viel mehr als ein Startkapital

    Die ersten Autoren waren leicht gefunden – ich postete auf Facebook: Wer möchte bei mir als Journalist oder Journalistin arbeiten? Ich weiß nicht, wieso diese Leute – tolle Autoren, die noch immer für Verstka schreiben – das Vertrauen hatten, dass das ohne Geld und mit einem Planungshorizont von zwei Monaten etwas werden könnte (sie hätten mich ja auch für eine Stadtirre halten können). Vielleicht strahlte ich eine unverwüstliche Sicherheit aus, hier und jetzt das Richtige zu tun. Heute weiß ich hundertprozentig, dass der Glaube an eine Idee und die daraus entstehende Energie viel mehr wiegt als ein Startkapital. Mit Glauben und Energie findet sich das nötige Geld, aber wenn der Glaube fehlt, dann bleiben auch die Entwicklungsperspektiven nebulös. Auch wenn das wie ein Insta-Post über erfolgreichen Erfolg klingt.   

    Wir wollten ungefähr Mitte Mai starten, aber am 25. April schrieb ich spätabends um zehn in den Chat: Morgen früh um sieben geht es los. Wir hatten nichts fertig, weder die Website noch die Social-Media-Auftritte. Dafür hatten wir eine Story, bei der ich mir sicher war: Selbst wenn wir sie handschriftlich auf Zettel schreiben, fotografieren und über meine privaten Accounts posten, ist das der beste Start. Es war die Geschichte einer Mutter in einer Kleinstadt, die die Großbuchstaben Z von den Fenstern des Kindergartens heruntergerissen hatte, in den ihre Söhne gingen. Gefühlt alle meine Kontakte teilten das Video mit ihr, aber keiner wusste, wie diese Heldin hieß. Sie war eine dieser namenlosen Heldinnen des Widerstands, die wir so dringend brauchten und über die wir mehr erfahren wollten. Anja Ryshkowa machte sie ausfindig und interviewte sie. Schon in den ersten 24 Stunden hatten wir zweitausend Abonnenten auf Telegram, und den Text, den wir zunächst nur auf Telegram posteten und erst später auf die Website brachten, lasen hunderttausend Menschen. Mein Redakteurinnen-Gespür hatte mich nicht getäuscht.      

    Ich hatte mir keine festen Ziele gesteckt, wie viele Follower es werden sollten und was ich erreichen wollte – um mich nicht auch noch mit eigenen Erwartungen unter Druck zu setzen. Ich überlegte so: Wenn das Projekt Erfolg hat, werden wir auch Unterstützung für seine Weiterentwicklung bekommen, und alles wird gut. Wenn es aber nichts wird, dann hab ich selbst keine Lust auf so ein Medium. Und ich hatte Glück. 

    Das erste Journalistinnen-Team von Verstka erwies sich als stark. Und ich habe nie geglaubt und glaube immer noch nicht, dass man heutzutage beim Launch eines Medienprojekts auf eine spezielle, geheimnisvolle Nische abzielt, für die man Ressourcen und Mühe investiert. In einer Situation, in der zielgruppenspezifische Werbung keine Option ist und die sozialen Medien kahlgeschlagen sind, erreicht man am Anfang nur Follower, die einem Kollegen zur Verfügung stellen. Also muss man auf Zitierbarkeit setzen. Andere Möglichkeiten sehe ich für ein Medienprojekt ohne Namen und ohne Geld nicht. Nur exklusives Material! Wer braucht ein Nachrichten-Rewrite auf einem kleinen Channel, wenn es Meduza gibt? Und immer der Zeit und den Themen voraus sein, bloß nicht den anderen hinterherhecheln. Das war ein gutes Training für das redaktionelle Gespür – welcher Text wird morgen gebraucht? Was wird am ehesten geteilt und zitiert? Welches gesellschaftliche Interesse ist am Entstehen? Wir mussten die Themen vorgeben, nicht ihnen nachlaufen.              

    Verstka hat alle Kräfte gebraucht, aber auch viel zurückgegeben. Ich weiß gar nicht, was einer Chefredakteurin mehr Freude macht – zuzusehen, wie talentierte, aber noch kaum bekannte Journalisten zu Stars werden, oder mitzubekommen, wie Texte den Nerv des Publikums treffen. 

    Eine weitere richtige Entscheidung war, dass die Marketingchefin schon da war, bevor wir an die Öffentlichkeit gingen und es irgendein Team gab, so dass einer die Sache lenken konnte. Mit diesem Tipp erspart man sich viel Geld: Ein fähiger Marketingchef aus dem Business ist die Rettung der Redaktion. Einen Text als solchen braucht keiner. Daher halte ich mich an folgende Regel: Wenn der Text keine Nachricht enthält, die automatisch Verbreitung findet, dann schaltet sich die Distributionsabteilung ein und sucht nach Wegen, wie das Material möglichst viele Leser erreicht. Wir können es uns finanziell nicht leisten, den Verstka-Channel für nur tausend Abonnenten zu betreiben, auch nicht für hunderttausend. 

    Im ersten Jahr ernährte sich Verstka von meiner Lebenskraft. Wahrscheinlich auch von der Kraft anderer, die mit mir zusammen dieses Projekt angefangen hatten. Eineinhalb Jahre später war ich ausgelaugt von dieser pausenlosen „Plasmaspende“ und stellte mir die ehrliche Frage: Hätte ich es schonender angehen können? Die ehrliche Antwort war: Nein. Ein Projekt ohne Geld und Namen hätte ohne diesen fulminanten Start keine andere Chance gehabt, in einer so schwierigen Zeit zu überleben und relativ groß zu werden. Wenn wir klein angefangen hätten, hätten wir jetzt vielleicht an die zehntausend Abonnenten. Und die Redaktion bestünde immer noch aus ein paar wenigen Mitgliedern. Wäre ich dann glücklicher und gesünder? Vielleicht. Aber diese Frage hat sich damals nicht gestellt. Der Krieg hat alles verändert.      

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  • Was haben die Wahlen zum Koordinationsrat der belarussischen Opposition gebracht?

    Was haben die Wahlen zum Koordinationsrat der belarussischen Opposition gebracht?

    Bei den Wahlen zum Koordinationsrat der belarussischen Opposition, die vom 25. bis 27. Mai 2024 stattfanden, erhielt die Liste von Pawel Latuschko und der Bewegung Sa swabodu mit Abstand die meisten Stimmen. Sie wird mit 28 Abgeordneten im neuen Koordinationsrat vertreten sein. Allerdings nahmen nur 6723 Belarussen an der Abstimmung teil. 

    Welchen Sinn macht eine Wahl, wenn in Belarus selbst massive Repressionen herrschen und Hunderttausende Belarussen im Exil mit den zahlreichen Herausforderungen der neuen Heimat kämpfen? Welche Legitimität kann ein Proto-Parlament haben, wenn es insgesamt zu wenige Belarussen repräsentiert? Ist es aber nicht doch ein erstaunlicher Prozess, wenn eine verfolgte Opposition versucht, unter schwierigen Bedingungen einen demokratischen Prozess voranzutreiben? All diese Fragen werden in den belarussischen Medien und auf digitalen Plattformen diskutiert und erörtert. Wir haben einige Stimmen aus dieser Debatte zusammengestellt. 

    Pozirk: „Nicht an der harten Realität zerbrechen” 

    Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski fragt sich, was die belarussische Opposition tun kann, um nicht noch mehr Boden in der belarussischen Gesellschaft zu verlieren. 

    [bilingbox]Die Frage ist auch, wie die westlichen Demokratien das Ergebnis der Abstimmung bewerten und wie sie dementsprechend mit dem neuen Koordinationsrat umgehen werden. 

    Die Politiker selbst sollten sich Gedanken machen, wie gut ihre Slogans ziehen und bei den Belarussen ankommen. Was sollten sie an ihren Programmen und Strategien ändern, um nicht endgültig an der harten Realität zu zerbrechen? Eine der spannendsten Fragen ist, wie sich der Koordinationsrat jetzt dem Team von Tichanowskaja gegenüber verhält. Viele Kommentatoren sahen in diesem Wahlkampf den Wunsch einiger politischer Akteure, ihre eigenen Positionen zu stärken, um Tichanowskaja und ihre Leute zu verdrängen und die Rollen auf dem Olymp der Opposition neu zu verteilen.~~~Отдельный вопрос — как оценят итоги голосования и, соответственно, как станут относиться к новому составу КС западные партнеры демократических сил. Самим политикам важно задуматься, насколько их лозунги катят, находят отклик у белорусов. Что стоит изменить в программах и стратегиях, чтобы окончательно не оторваться от суровой реальности. 
    Одна из интриг заключается в том, как поведет себя КС в отношении команды Тихановской. Многие комментаторы видели за этой кампанией желание некоторых политических игроков укрепить свои позиции, чтобы потеснить Тихановскую и ее людей, перераспределить роли на оппозиционном Олимпе.[/bilingbox]

    erschienen am 28. Mai 2024, Original

    Zerkalo: „Der Sinn der Wahlen konnte nicht vermittelt werden” 

    Der Politanalyst Artyom Shraibman ist sich sicher, dass es der Opposition nicht gelungen ist, die Bedeutung der Wahlen zu vermitteln. 

    [bilingbox]Es ist nicht gelungen, den Sinn der Wahlen zum Koordinationsrat deutlich zu machen: nicht nur der Mehrheit der Belarussen, sondern auch bedeutenden Initiativen aus Opposition und Zivilgesellschaft. Es ist bezeichnend, dass bei der Wahl viele nicht angetreten sind, die die für Belarussen wohl die greifbarste und sichtbarste Arbeit machen: Menschenrechts- und humanitäre Organisationen wie BYSOL, die Gruppierung ehemaliger Silowiki BELPOL, die regelmäßig spektakuläre Recherchen zu Fällen von Korruption und der Umgehung von Sanktionen veröffentlicht, oder die Cyberpartisanen, die es immer wieder fertigbringen, erfolgreiche Cyberattacken durchzuführen. All diese Gruppen haben nicht die Zeit gefunden oder den Sinn darin gesehen, sich an der Wahlkampagne zu beteiligen.~~~Смысл выборов в КС не удалось объяснить не только большинству беларусов, но и некоторым значимым оппозиционным и гражданским инициативам. Показательно отсутствие на выборах нескольких структур, которые занимаются, возможно, наиболее осязаемой и заметной для беларусов работой: правозащитных и гуманитарных организаций вроде BYSOL, группы экс-силовиков BELPOL, регулярно публикующей эффектные расследования случаев коррупции и обхода санкций, или «Киберпартизан», которые все еще умудряются проворачивать успешные кибератаки. Все эти группы не нашли времени или смысла участвовать в кампании.[/bilingbox]

    erschienen am 28. Mai 2024, Original

    Nasha Niva: „Es ist nicht die Zeit für Machtkämpfe” 

    Unter Bedingungen von Repression und Verfolgung Wahlen durchzuführen, mache wenig Sinn, meint der Journalist Mikola Bugai. 

    [bilingbox]Diese Wahlen können letztlich eine positive Rolle spielen, wenn sie auch erstmal ernüchtern. Wenn sie sogar denen, die es vorher nicht begriffen haben, zeigen, dass jetzt nicht die Zeit ist, um innerhalb der Opposition Machtkämpfe auszutragen, und nicht nur nicht innerhalb der Opposition: In der gegenwärtigen geopolitischen Lage ist auch ein Machtwechsel in Belarus unmöglich. Wer denkt schon an Minsk, wenn sich der Westen noch nicht mal zur Befreiung von Melitopol entschließen kann. Jetzt ist es nicht an der Zeit, sichtbare Strukturen aufzubauen. Jetzt ist es an der Zeit, alles Stille, Nicht Öffentliche und Nicht Sichtbare zu stärken und zu mehren, das dazu beiträgt, dass Belarus belarussisch und die Belarussen Belarussen bleiben, dass sie leben und arbeiten können. Die Zeiten ändern sich, und die Politik sollte sich mit ihnen verändern.~~~Но эти выборы могут сыграть и позитивную роль, если они отрезвят. Если они покажут даже тем, кто этого раньше не понимал, что сейчас не время бороться за власть внутри оппозиции, да и не только внутри оппозиции: в сложившейся геополитической ситуации и смена власти в Беларуси невозможна. Какой Минск, если Запад не может решиться на освобождение Мелитополя. Сейчас совсем не время строить видимые структуры. Сейчас самое время, чтобы тихо приумножать любые негромкие, непубличные, непофасные дела, которые помогают Беларуси оставаться белорусской, а белорусам — оставаться белорусами, жить и работать. Времена меняются, и политика тоже должна меняться вместе с ними.[/bilingbox]

    erschienen am 27. Mai 2024, Original

    Reform: „Angst hat die Belarussen von der Wahl abgehalten” 

    Der Journalist Igor Lenkewitsch führt die geringe Wahlbeteiligung vor allem auf den Terror zurück, mit dem das System Lukaschenko gegen die eigene Bevölkerung vorgeht. 

    [bilingbox]Man kann sich zu Tode ärgern, wie schrecklich alles ist. Aber das wird kaum etwas an der Lage ändern. Genauso wenig wird auch der Terror nachlassen, mit dem das Regime gegen die Belarussen wütet. Viel wichtiger ist es, zu verstehen, wie man unter den gegebenen Umständen handeln soll. Wenn Massenkampagnen wegen der Angst derzeit nicht möglich sind, sollte man sich auf Bereiche konzentrieren, für die es keine große Teilnahme von Menschen braucht. Die negativen Erfahrungen dieser Wahlen muss man sich genau anschauen. Und es wäre der größte Fehler zu glauben, dass die Angst, die sich in der Gesellschaft eingenistet hat, schnell und einfach überwunden werden kann.~~~Можно убиваться по поводу того, насколько все ужасно. Но от этого положение дел вряд ли изменится. Равно как не ослабнет террор, который режим обрушил на беларусов. Гораздо важнее понять, как действовать в сложившейся обстановке. И если фактор страха не дает возможностей проводить массовые кампании, сфокусировать внимание на тех направлениях, которые не требуют вовлечения в процесс значительного количества людей. Негативный опыт этой кампании необходимо осмыслить. И самой большой ошибкой было бы считать, что поселившийся в обществе страх удастся быстро и легко переломить.[/bilingbox]

    erschienen am 28. Mai 2024, Original

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  • Menschen des Waldes

    Menschen des Waldes

    „Eine wichtige Dimension des belarussischen Lebens ist immer noch die Schutz- und Ressourcenfunktion des Waldes, das Neue ist die ökologische Sorge um ihn.“ So heißt es im Ankündigungstext zum Fotoprojekt Menschen des Waldes (belaruss. Ludzi Lesu), das die Initiative VEHA im Jahr 2021 ins Leben gerufen hat. Das Projekt geht der Beziehung der Belarussen zu ihren Wäldern auf den Grund. Im Mai 2024 wurde das fertige Buch zum Projekt mit dem Michail Anempadystau-Preis ausgezeichnet. Wir haben mit Lesia Pcholka, Kuratorin von VEHA, über das Projekt gesprochen und zeigen eine Auswahl von Bildern. 

    1978, Wjalikaja Berastawiza. Auf der Birke: Hieorhij Stracha, seine Tochter Tazzjana, sein Sohn Aleh und Natallja Lytschkouskaja. Natalljas Mutter Swjatlana steht rechts / Foto © Aljaxandr Lytschkousk, zur Verfügung gestellt von Mikola Taranda. VEHA-Archiv, Sammlung „Menschen des Waldes

    dekoder: Wie ist die Idee zum Projekt entstanden?

    Lesia Pcholka: Die Idee, ein Buch zum Thema Wald zu machen, hatten wir im Jahr 2021. Direkt nach den Protesten von 2020 und während der einsetzenden massenhaften Repressionen. Die Straßen der Städte waren damals unsicheres Gelände geworden, die Wände unserer Wohnungen boten keinen Schutz mehr. Man hatte uns den städtischen Raum genommen. Die Wälder boten damals vielen Belarussen Ruhe, viele zogen aufs Land. 

    Wir machten eine Ausschreibung zu dem Thema, um Fotos zu bekommen. Die Frist endete am 20.02.2022, vier Tage vor Russlands großer Invasion in der Ukraine. Wir hatten das Material vorliegen und waren schon tief in das Thema eingestiegen, aber dann kam der Schock des Krieges. Wir diskutierten im Team lange, ob wir das Recht haben, in Zeiten solchen Leids über ein belangloses Thema wie den Wald zu sprechen. Es fehlte auch Kraft, um sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Trotzdem gaben wir das Buch heraus, denn wir fühlten uns dem Plan für das Projekt verpflichtet. 

    In der Folge erhielten wir Rückmeldungen, dass diese anderen Nachrichten für die Menschen wichtig waren, sie führten sie vom Schrecken weg, zeigten etwas über sie selbst, die Belarussen, über das weitergehende unsichtbare Alltagsleben in Zeiten von Krieg und Repression. Mit der Zeit begriffen wir, dass unser Thema nicht schlecht gewählt war, ich bin froh, dass wir die Arbeit am Buch zu Ende gebracht haben.

    Was für eine Beziehung haben Belarussen zum Wald?

    Dieses Thema hat meine Kollegin Asia Cimafiejeva sehr gut dargestellt in ihrem Artikel Der Wald und der Alltag der Belarussen für unser Buch. Sie schreibt darin, die Kollektion von VEHA Ludzi lesu zeige verschiedene Aspekte – sowohl private als auch öffentliche. Auf den Bildern sehen wir einerseits die lebendige Beziehung zwischen Mensch und Wald, wie sie für ein traditionelles Denken typisch ist. Wir sehen die modernistische Entfremdung von der Natur und die Rückkehr zu ihr als einem Ort der Erholung oder gar Flucht vor der Realität. Wir beobachten aber auch staatliche Interessen: wirtschaftliche und militärische. Der Wald ist Hintergrund für viele Beziehungen und Tätigkeiten des Menschen. Wir betrachten ihn nicht getrennt von uns – schon die Präsenz des Fotoapparats bezeichnet unseren Einbruch in sein Territorium. Wie positiv dieses Eindringen für den Wald ist, bleibt eine offene Frage.

    Wie kommen Sie an die Fotos für die Projekte?

    Aktuell hat das VEHA-Archiv fünf thematische Sammlungen: The Best Side/ Najlepšy bok; Girl’s night/Dziavočy viečar; Last photo/Apošny fotazdymak; People of the Forest/Ludzi Lesu; Ruins of Belarus/Ruiny Belarusi. Wir analysieren verschiedene belarussische Familienarchive und schauen, welche Motive am häufigsten auf den Fotos auftauchen, auf dieser Grundlage wählen wir unsere Themen aus. Wir machen eine Ausschreibung und die Menschen schicken uns digitale Kopien von Fotos aus ihren Privatarchiven. Darüber hinaus bitten wir um detaillierte Informationen zu Jahr und Ort der Aufnahme sowie den Namen der Abgebildeten. So bleiben die Originalfotos in den Familien, nur die Kopien werden zum Forschungsgegenstand, zum Teil des VEHA-Onlinearchivs, und in Ausstellungen und Büchern veröffentlicht. 

    Unsere letzten Bücher wurden in Belarus herausgegeben, in kleinen Auflagen von etwa 200 Exemplaren. Das Buch Ludzi Lesu ist das erste, das im Exil erschien, in Polen. Es besteht aus drei Teilen. Den ersten Teil könnte man beschreiben als Einssein mit der Natur – Menschen umarmen Bäume oder verstecken sich in hohen Waldblumenwiesen. Der zweite Teil zeigt Fotos, die den Wald als Ressource darstellen. Im dritten Teil geht es um den Wald als Erholungsgebiet und Schauplatz von Alltagshandlungen.

    Wie kommt das Projekt bei den Belarussen an?

    Das Buch Ludzi Lesu ist 2022 erschienen. Immer mehr Menschen verlassen das Land und das letzte, woran sie denken, ist ihre Bibliothek aufzufüllen. Zwar haben wir in der Galerie FAF in Warschau eine Buchpräsentation organisiert, aber es gab keine nennenswerten Rezensionen zu dem Buch. Die belarussische Kultur hat 2022 einen harten Schlag versetzt bekommen, von dem sie sich nicht so schnell erholen wird. Ich weiß nicht, wie bewusst es den Menschen im Ausland ist, dass es für Belarussen innerhalb von Belarus gefährlich ist, sich mit ihrer nationalen Kultur zu beschäftigen. Außerhalb der Landesgrenzen gilt man als Besatzernation, zusammen mit den Russen. Das sind keine förderlichen Bedingungen.

    Welches Ziel hat die Arbeit von VEHA?

    Die Fotografien im VEHA-Archiv sind keine künstlerischen Attraktionen, sondern eine kollektive Darstellung von Alltäglichkeit. Ein Abbild dessen, wo wir heute stehen. Unsere Routine, das, was wir für bedeutsam genug halten, um es zu fotografieren. Gerade in den alltäglichen Praktiken provozieren wir Veränderungen – oder aber entscheiden uns für Akzeptanz und Normalisierung. Dafür setzen wir das, was wir auf dem Foto sehen, in Beziehung zu der Zeit, in der das Foto entstanden ist, zu den politischen und sozialen Ereignissen dieser Zeit. Diese Praxis hilft dabei, das Vergangene zu ordnen, sich die eigene Geschichte zurückzuholen.

    1966, der See Naratsch / Foto © zur Verfügung gestellt von Uladsimir Sadouski, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    Links: 1968, Tscherwen / Foto © zur Verfügung gestellt von Stanislawа Naidowitsch, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes
    Rechts: 1969–1970, Retschyza. Woĺha und Ljubou Karunnaja / Foto © zur Verfügung gestellt von Aljaxandr Drahawos, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes
    1974, Wolha Shukawa (links) mit einer Freundin / Foto © zur Verfügung gestellt von Vassilina Sakalouskaja, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1930er Jahre, Polesien / Foto © zur Verfügung gestellt von Fundacja Archeologia Fotografii, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    Links: 1959, Tscherwen. Vera Lipen / Foto © zur Verfügung gestellt von Stanislawa Naidowitsch, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes
    Rechts: 1956, Tscherwen. Vera Lipen / Foto © zur Verfügung gestellt von Stanislawa Naidowitsch, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1966, Der See Naratsch / Foto © zur Verfügung gestellt von Uladsimir Sadouski, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1900–1910er Jahre, Schklou. Arbeiter der Fabrik Spartak am Ufer des Dnjepr / Foto © zur Verfügung gestellt vom Shklou District Historical and Regional Studies Museum, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1950er Jahre,das Dorf Starasselle. In einem Garten am Apfelbaum / Foto © zur Verfügung gestellt vom Shklou District Historical and Regional Studies Museum, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    Links: 1950, Baranawitschy. Valjanzina Bahuschewitsch / Foto © zur Verfügung gestellt von Maxim Schwed, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes
    Rechts: 1945–1950, Maryja Jeudakimauna Pesljak / Foto © zur Verfügung gestellt von Julija Kaljada, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1934, Schklou. Im Park / Foto © zur Verfügung gestellt vom Sklou District Historical and Regional Studies Museum, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1978, Studentin des Medizinischen Institutes Hrodna (heute staatliche Medizinische Universität Hrodna) während der studentischen Baubrigade / Foto © Alina Taranda, zur Verfügung gestellt von Mikola Taranda, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1960er Jahre, Kusali. Tolik und Siarhej Protscharawy mit Mikalai Palikarpau / Foto © zur Verfügung gestellt von Darja Palikarpawa, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1920–1930er Jahre. Mädchen beten während eines Sommercamps vor einer behelfsmäßigen Kapelle auf dem Baumstumpf eines alten Baumes / Foto © zur Verfügung gestellt von Siarhej Leskiec, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    Links: 1920–1930er Jahre / Foto © zur Verfügung gestellt vom Luninets District Local History Museum, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes
    Rechts: 1980, Hluscha, Region Mahilioŭ. Ales Adamowitsch / Foto © Jauhen Koktysch, zur Verfügung gestellt von Natallja Adamowitsch, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    1966, Am See Naratsch. Raman Chacjalowitsch / Foto © zur Verfügung gestellt von Uladsimir Sadouski, VEHA Archiv, Sammlung „​Menschen des Waldes

     

    Fotos: VEHA-Archiv, Sammlung Menschen des Waldes
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Ingo Petz
    Veröffentlicht am: 28.05.2024

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  • Alternative Wahlen für Belarus

    Alternative Wahlen für Belarus

    Vom 25. bis 27. Mai finden die Wahlen zum Koordinationsrat der belarussischen Opposition im Exil statt. Das Organ wurde während der Proteste im Jahr 2020 gegründet, um einen möglichen Machtwechsel vorzubereiten. Viele Mitglieder des Rates, die die Zivilgesellschaft, Wirtschaft oder Kultur repräsentierten, wurden damals inhaftiert oder mussten das Land verlassen, wie beispielsweise die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch.

    Die Opposition um Swetlana Tichanowskaja institutionalisiert seit dem Gang ins Ausland die Arbeit der demokratischen Bewegung, es wurde ein Übergangskabinett geschaffen, nun soll der Koordinationsrat in eine Art Proto-Parlament umgebaut werden, das die Interessen der Belarussen vertritt und die Arbeit der Oppositionsführung kontrolliert. Die Wahl läuft digital ab, dazu wurde speziell eine App entwickelt, über die sich Wähler registrieren lassen können. So sollen auch Belarussen im Inland an der Wahl teilnehmen können. Zur Wahl stehen 256 Kandidaten, die als zwölf Gruppierungen ins Rennen gehen.

    Für das Online-Medium Pozirk beschäftigt sich der Journalist Alexander Klaskowski mit diesen Gruppierungen und ihre politischen Ausrichtungen, mit den Wahlen und mit dem Sinn eines solchen Organs im Exil. 

    Auf die Wahlen zum Koordinationsrat (KR) reagieren Aljaxandr Lukaschenka und seine Geheimdienste sehr viel lebhafter als der belarussische Durchschnittswähler. Bereits fünf Koalitionen, die zur Wahl in den KR antreten, sind zu extremistischen Vereinigungen erklärt worden.

    Die bevorstehenden Wahlen zum Koordinationsrat (KR) hatte Lukaschenka genau einen Monat vor dem Wahltag erwähnt, nämlich am 25. April vor der VII. Allbelarussischen Volksversammlung: „Jetzt sind sie sogar bis zu den Kalinouski-Leuten gekommen. Da ist es eh schon zum Bruch gekommen. […] Sie wissen nicht, wen sie aufstellen sollen. […] Das ist ein Hauen und Stechen.“

    Der Herrscher hat zwar Schadenfreude gezeigt und versucht, die politischen Opponenten als bedeutungslose Gestalten hinzustellen, doch ist schon dieser Kommentar als solcher bezeichnend. Es scheint, als würde den Führer des Regimes etwas umtreiben, nämlich sein Komplex von 2020. Damals hatte es geschienen, als sei alles im Kasten; die wichtigsten Widersacher saßen hinter Gittern. Doch dann tauchte wie aus dem Nichts diese Hausfrau Zichanouskaja auf. Also sollte man jetzt lieber übervorsichtig sein.

    Durch die Brandmarkung als Extremisten sollen in der Vorstellung der Regierung sowohl die weniger standhaften Kandidaten für den KR eingeschüchtert als auch potenzielle Wähler abgeschreckt werden. Die Letzteren bekommen das Signal, dass eine Stimmabgabe für „kriminelle Elemente“ lange Haftstrafen nach sich ziehen könnte.

    Für alles Gute, gegen alles Schlechte

    Unterdessen ist der politisch aktive Teil der Diaspora in Bewegung geraten. Zu den KR-Wahlen sind zwölf Listen mit 265 Kandidaten zugelassen. Die Wahlen finden nach einem Verhältniswahlrecht statt. Für europäische Demokratien ist das eine gewöhnliche Sache, für Belarussen jedoch etwas Neues.

    Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja und der Oppositionspolitiker Pawel Latuschko (rechts) am 26. März 2022 beim Tag der belarussischen Freiheit in Warschau / Foto © Aleksander Kalka/IMAGO/ZUMA Wire

    Salidarnasc

    Wenn man sich anschaut, wer auf den Listen zusammengefasst wird, erscheinen einige Bündnisse aus der Situation geboren. So haben sich die Sozialdemokraten der Narodnaja Hramada (dt. Volksgemeinschaft) mit einem Teil der Christdemokraten zum Bündnis Salidarnasc (dt. Solidarität) zusammengeschlossen. In normalen Demokratien stehen Sozialdemokraten und Christdemokraten für recht unterschiedliche Ideologien. Unter den Bedingungen in Belarus aber bedeuten Parteietiketten kaum etwas, insbesondere nach 2020.

    Das Programm von Salidarnasc besteht lediglich aus vier Punkten und fällt durch Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler auf. Kurzum: Es wirkt wie in der U-Bahn geschrieben. Die Thesen sind äußerst allgemein und plakativ.

    So steht da als erster Punkt „Einsatz für möglichst baldige, freie, faire und transparente Wahlen auf dem Gebiet der Republik Belarus nach den Standards der OSZE“. Ein prächtiger Wunsch. Dumm nur, dass Lukaschenka diese Standards nicht anerkennt. Und mit dem politischen Ruhestand hat er es überhaupt nicht eilig. Wie also wollen sie ihn dann überreden oder zwingen? Mit einer Resolution des Koordinationsrats?

    Wolja

    Die Bewegung Wolja (dt. Freiheit) beispielsweise hat nicht vor, irgendwen zu überreden. Sie verkündet „die Befreiung des Landes von der hybriden Besatzung“, „die Entfernung von Personen aus der Staatsmacht in Belarus, die diese verfassungswidrig innehaben“.

    Hierzu wird unter anderem die Bildung einer belarussischen Befreiungsarmee vorgeschlagen. Die Frage ist: Woher kommen die Ressourcen (Menschen, Waffen)? Und: Welches Land würde es erlauben, dass auf seinem Territorium ein solches Heer aufgestellt wird? Spoiler: Die herrschenden Eliten der Nachbarländer haben wohl kaum den brennenden Wunsch, sich auf diese Weise Probleme aufzuhalsen.

    Unabhängige Belarussen

    Die Unabhängigen Belarussen versprechen im Falle ihrer Wahl, drei Pläne zur Befreiung von Belarus auszuarbeiten: einen operativ-taktischen, einen strategischen und einen Reserveplan. Die Autoren des Programms konstatieren dabei „eine tiefgreifende Diskreditierung des nicht umgesetzten Mobilisierungsplans Peramoha (dt. Sieg) der Organisation BYPOL sowie das totale Scheitern der demokratischen Kräfte im Bereich der strategischen Planung“.

    Gesetz und Rechtsordnung

    Wenn man sich vorstellt, dass Aljaxandr Asarau, der Leiter von BYPOL mit seiner Liste Gesetz und Rechtsordnung in den KR einzieht, lässt sich eines erwarten: Die Diskussionen im „Protoparlament“ zwischen den Gruppen, die den Schwerpunkt auf einen gewaltsamen Kampf gegen das Regime legen, werden heftig.

    Im Großen und Ganzen sind die Szenarien eines gewaltsamen Machtwechsels in Belarus bislang höchst illusorisch. Und der aktuelle Verlauf des Krieges in der Ukraine fördert diese Perspektiven nicht.

    Ein Land für das Leben

    Eine Reihe von Programmen ist nach dem schlichten Prinzip „für alles Gute, gegen alles Schlechte“ geschrieben. So setzt sich die Koalition Ein Land für das Leben die „Vereinigung aller demokratischen Kräfte“ zum Ziel.

    Eine derartige Idylle hat es noch nie gegeben, seit eine Opposition gegen Lukaschenkas Regime besteht. Und wird es wohl nicht geben. Eine Allianz von Sjanon Pasnjak, Walery Zapkala und Swjatlana Zichanouskaja wäre unvorstellbar.

    Stimme der Diaspora

    Das Bündnis Stimme der Diaspora – Geschlossenheit über Grenzen hinweg wird dafür kämpfen, „dass die Stimme der belarussischen Diaspora in aller Welt bei Entscheidungen der demokratischen Kräfte in Belarus erhört wird“. Das Programm dieser Liste ist ebenfalls sehr allgemein gehalten.

    Team Latuschka und die Bewegung „Für die Freiheit“

    Das Programm der Koalition Team Latuschka und die Bewegung „Für die Freiheit“ (die Anführer sind Pawel Latuschka, der eine Masse von Titeln besitzt, sowie dessen Mitstreiter Jury Hubarewitsch) sieht solide und sorgfältig durchgearbeitet aus. In dem Dokument gibt es konkrete Punkte, zum Beispiel, dass der KR ein Programm zur Förderung der nationalen Wiedergeburt von Belarus verabschieden sollte.

    Eine andere Frage ist, wie wirksam die Beschlüsse des KR sein werden. Welche Dokumente man auch verabschiedet, das Regime von Lukaschenka wird weiter die Souveränität des Landes abgeben. Er hat das Tor zur „russischen Welt“ weit aufgestoßen.

    Unsere Sache

    Die Vereinigung Unsere Sache mit der Politologin Rosa Turarbekowa an der Spitze hat folgende Devise gewählt: „Nein zum eisernen Vorhang zwischen Belarus und Europa!“ Dieses Team hat einen konkreten Zweijahresplan formuliert. Unter anderem soll durch die Arbeit des KR mit Regierungen demokratischer Länder erreicht werden, dass „mindestens auf dem Niveau von 2019 humanitäre, Arbeits- und Touristenvisa für Belarussen ausgestellt werden“.

    Beim Werben um Stimmen aus Belarus setzen andere Kandidatengruppe für den KR ebenfalls den Akzent darauf, dass man die Mitbürger nicht in der Diktatur eingepfercht lassen dürfe und sie nicht ohne Möglichkeit bleiben sollten, nach Europa zu fahren.

    Jugendoffensive und Es reicht mit der Angst

    Für ein vereinfachtes Verfahren zum Erhalt von Visa und Dokumenten zum Studium oder für Reisen tritt auch die Jugendoffensive ein. Die Liste Es reicht mit der Angst will ebenfalls Lobbyarbeit für offene Grenzen für ihre Landsleute betreiben. Daneben ist sie für einen verstärkten Druck auf das Regime (das sei wohl „die einzige Sprache, die der Diktator und seine Junta verstehen“).

    Europäische Wahl

    Die Europäische Wahl mit Aljaxandr Dabrawolski an der Spitze, einem leitenden politischen Berater von Zichanouskaja, verspricht, „sich aktiv an der Ausarbeitung und Erörterung von Reformprogrammen zu beteiligen, die auf den Aufbau eines Rechtsstaates und einer effizienten Wirtschaft in Belarus nach europäischen Standards abzielen“. Allerdings stellt sich die Frage, wie lang man Reformpläne für die Schublade schreiben wird. Werden die nicht schon überholt sein, wenn die lichte Zeit eines neuen Belarus anbricht?

    Block Prakopjeu-Jahorau

    Der ehemalige Gastronom und leidenschaftlicher Regimekritiker Wadsim Prakopjeu und der Vorsitzende des jetzigen KR, Andrej Jahorau, haben den Block Prakopjeu-Jahorau aufgestellt, der ebenfalls ein konkretes Zweijahresprogramm anbietet. Vorgesehen ist dort unter anderem „ein Übergang der demokratischen Kräfte zur Selbstfinanzierung (Kaffeekasse)“. Das klingt spannend. Ist aber, sagen wir es mal so, eine Herkulesaufgabe.

    Auch sollen „überflüssige politische Entitäten entfernt werden“. Und eine „Optimierung der Struktur [der demokratischen Kräfte, ist hier wohl gemeint – A. K.] sowie die Vereinigung doppelnder Organisationen erreicht werden, damit die Ressourcen besser koordiniert und genutzt werden“. Eigentlich eine hochaktuelle Idee, weil sich die Ressourcen zusammenziehen wie Chagrinleder. Nur dass diejenigen, die unters Messer der Optimierung sollen, sich mit einem solchen Schritt wohl kaum abfinden werden.

    Zauberstab gesucht

    Insgesamt ist die Qualität der Programme sehr unterschiedlich. Einige sind eindeutig in Eile geschrieben und bestehen aus leeren Parolen. Andere enthalten konkrete Ideen. Dennoch stellt sich die Frage, inwieweit und auf welche Weise der KR bei der Umsetzung helfen kann. Welchen Zauberstab bekommen jene, die in den neuen Rat einziehen?

    Das Personal des aktuellen KR hat jedenfalls, milde gesagt, nicht zusammengefunden. Seine Legislaturperiode bleibt vor allem durch Skandale und nicht eingehaltene Deadlines in Erinnerung. Immerhin wurde die Entlassung eines Ministers von Zichanouskaja erreicht, nämlich die von Asarau.

    Eine starke Alternative?

    Der größte Reinfall war, dass die Frist für die nächste Wahl zum KR nicht eingehalten wurde. Schließlich bestand der Clou ja darin, diese Wahl parallel zu der „Nichtwahl“ des Lukaschenka-Regimes am allgemeinen Wahltag abzuhalten, dem 25. Februar. Man hatte verkündet: Wir bieten den Belarussen eine starke Alternative.

    Es wurde lange klug geredet, doch ist es nicht gelungen, sich rechtzeitig auf ein Wahlsystem zu einigen. Und hier hat nicht das Regime Knüppel zwischen die Beine geworfen; das haben sie selbst verbockt.

    Aber lieber spät als nie. Die Kandidaten rufen engagierte Belarussen verstärkt dazu auf, an der Wahl teilzunehmen. Von der Wahlbeteiligung wird die Legitimität des neu zusammengesetzten KR abhängen.

    Allerdings ist die Lage hier dramatisch. Es lässt sich leicht vorhersagen, dass vor allem die Diaspora zur Wahl gehen wird (und selbst die Frage, wie aktiv das sein wird, ist noch offen).

    Nachlassendes Interesse, Angst und begrenzte Legitimität

    Innerhalb von Belarus hat selbst bei denen, die man als Verfechter von Veränderungen bezeichnen könnte, allgemein das Interesse an der Tätigkeit der Oppositionsstrukturen im Ausland nachgelassen. Das geschieht vor allem deshalb, weil letztere offensichtlich nicht ernsthaft auf das Geschehen im Land Einfluss nehmen können, weil Lukaschenka die Lage dort zementiert hat. Er stützt sich dabei recht stark auf den Kreml, und die Wirtschaft wächst trotz der Sanktionen.

    Hinzu kommt, dass selbst der politisierte Teil der Bevölkerung durch ganz banale Angst von einer Stimmabgabe abgehalten werden kann. Die Silowiki waren bemüht, diese Angst durch Bots, Fake News und Videos mit Bekenntnissen von Leuten anzufachen, die angeblich bei der Registrierung beim Peramoha-Plan erwischt wurden. Und so sehr die Organisatoren der Wahlen auch versichern, dass die Plattform absolut sicher ist, wird ein gewisser Teil der Belarussen im Land lieber nichts riskieren.

    Der Koordinationsrat hat selbst dazu beigetragen, das Ansehen dieser Institution zu diskeditieren

    Schließlich muss deutlich gesagt werden, dass der jetzige KR selbst einiges dazu beigetragen hat, das Ansehen dieser Institution zu diskreditieren.

    Der Vorsitzende Jahorau erklärte Anfang April, dass man bei einer erfolgreichen Kampagne „mit einer Wahlbeteiligung von 50.000 und mehr“ rechne. 50.000 sind weniger als ein Prozent der belarussischen Wahlberechtigten. Wenn also eine derartige Ziffer erreicht wird, wäre die Legitimität der neuen Abgeordneten zwar größer als die ihrer Vorgänger, aber dennoch recht begrenzt.

    Keine Schwatzbude

    Am schwierigsten wird es für die neuen Abgeordneten zu beweisen, dass der KR keine Schwatzbude ist und keine zusätzliche Quelle von Zwist und Reibereien, sondern genau die Struktur, die die Anhänger eines Wandels in Belarus brauchen.

    In den KR ziehen ambitionierte politische Akteure ein. Einige Experten gehen davon aus, dass Latuschka, der mit der längsten Liste antritt (47 Kandidaten), das Protoparlament als Bühne nutzen wird, um seine politische Position zu stärken. Er selbst wendet sich leidenschaftlich gegen jeden Verdacht, er wolle die Stellung von Zichanouskaja untergraben.

    Trotzdem sprudelt das Thema hoch: Wenn er mit seinen Anhängern im KR die Mehrheit erringt, wird es dann zu einem Tauziehen kommen? Gerät diese Struktur zu einem ernsthaften Opponenten des Büros von Zichanouskaja? Wir können annehmen, dass die Mission des erfahrenen Dabrawolski mit seiner Liste darin besteht, ein solches Szenario zu verhindern und dem Team von Zichanouskaja ausreichend Einfluss im KR zu sichern.

    Und das ist nicht das einzige Spannende bei den anstehenden Wahlen.

    Wenn der Koordinationsrat lediglich zu einer Kampfarena gerät, wird sich die Krise der Opposition nur verstärken

    Wettbewerb ist natürlich gut. Er ist das Markenzeichen der Demokratie. Allerdings ist zu bedenken, dass die belarussischen demokratischen Kräfte sich unter extremen Bedingungen bewegen. Wenn der KR lediglich zu einer Kampfarena gerät, die ständig neue Kluften erzeugt, wird sich die Krise der Opposition nur verstärken. Wenn dort einhellig leere Beschlüsse verabschiedet werden, wird von ihm ebenfalls keine große Wirkung ausgehen.

    Für den neuen KR wird es äußerst wichtig sein, endlich eine überzeugende Mission dieser Institution auszuloten und seine Notwendigkeit nicht durch schöne Erörterungen zu beweisen, sondern in der Praxis. Diese Legislaturperiode wird für das weitere Schicksal des Koordinationsrates entscheidend sein.

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  • „Wie kann es sein, dass man die Sprache seiner Heimat nicht beherrscht?“

    „Wie kann es sein, dass man die Sprache seiner Heimat nicht beherrscht?“

    „Wie kann es sein, dass man die Sprache seiner Heimat nicht beherrscht?“ Mit diesem unter Belarussen und Ukrainern immer wieder heiß diskutierten Thema beschäftigt sich eine Ausgabe der Artikelserie Baljutschyja pytanni (dt. Schmerzhafte Fragen) von Media_IQ, in der Experten auf drängende Fragen der Zeit antworten und diese diskutieren. Dazu hat sich das belarussische Online-Portal zwei Koryphäen auf diesem Gebiet eingeladen: den belarussischen Sprachwissenschaftler und ehemaligen Oppositionspolitiker Winzuk Wjatschorka und die ukrainische Linguistin Larysa Masenko, die in der Ukraine als eine der führenden Forscherinnen zur ukrainischen Sprache gilt. Beide diskutieren in ihren jeweiligen Muttersprachen, Belarussisch und Ukrainisch, über die Dominanz des Russischen in ihren Ländern und über die Unterschiede in der Verwendung von Sprachen in der Ukraine und Belarus. Wir bringen einen Auszug des Gesprächs.

    Media_IQ: Sind russischsprachige Belarussen Belarussen? Und russischsprachige Ukrainer Ukrainer?

    Larysa Masenko: Die zentrale Frage an dieser Stelle ist aus meiner Sicht: Welche Antwort gibt die Person auf die Frage nach der Muttersprache (ukr. ridna mowa)? Wenn ein russischsprachiger Ukrainer oder ein russischsprachiger Belarusse antworten, dass ihre Muttersprache Ukrainisch respektive Belarussisch ist, dann kann man sie als Ukrainer beziehungsweise Belarussen betrachten. 

    Mit der Unterstützung internationaler Organisationen haben wir 2006 eine große Befragung in der Ukraine durchgeführt. Wenn man die Ergebnisse betrachtet, so nannten 15 Prozent der Ukrainer Russisch als ihre Muttersprache, sie lebten mehrheitlich im Osten und Süden des Landes. Bei den Bewohnern von Kyjiw, dessen Großteil leider auch russischsprachig ist, gibt jedoch die Mehrheit als Muttersprache Ukrainisch an. Anhand dieses Kriteriums kann man also tatsächlich erkennen, ob eine Person ukrainisch ist und eine ukrainische Identität hat, obwohl sie Russisch spricht. 

    Winzuk Wjatschorka: Bei uns ist die Situation komplizierter. Unter anderem, weil wir keine konkrete, sichere Antwort auf die Frage haben, wie viele Belarussen das Belarussische als Muttersprache betrachten und was sie unter diesem Begriff überhaupt verstehen – Muttersprache. Die Sache ist, dass in der internationalen Soziolinguistik eine ganze Bandbreite an Bezeichnungen für die sprachliche Identität und das Sprachverhalten des Menschen existieren. Da gibt es mother tongue, die Muttersprache oder Erstsprache. Es gibt die Hauptsprache, die der Mensch am besten beherrscht, die Sprache, die er üblicherweise im Alltag verwendet. Und es gibt die sprachliche Identität – mit welcher Sprache verbindet der Mensch seine Herkunft, seine Familie, seine Zukunft und letztlich auch seine Nationalität.

    Belarussisch als Muttersprache, auch wenn die Mutter gar nicht Belarussisch sprach – das waren die Opfer der sowjetischen Russifizierung der 1960er und 1970er Jahre

    Bei uns wurde früher in den Volksbefragungen die Frage nach der Muttersprache ohne Erläuterung gestellt, wodurch die Befragten ihre eigene Interpretation zugrunde legen konnten, so auch das Konzept der Sprachidentität. Wenn jemand also nicht täglich Belarussisch sprach, oder nicht die belarussische Literatursprache, konnte er die belarussische Sprache dennoch als seine rodnaja mowa betrachten, also die Sprache seiner Familie und Herkunft, oder sie gar als Muttersprache bezeichnen, auch wenn seine Mutter gar nicht Belarussisch mit ihm sprach (das waren die Opfer der sowjetischen Russifizierung der 1960er und 1970er Jahre), aber die Mutter seiner Mutter, also die Großmutter, noch Belarussisch gesprochen hatte. So ergibt sich eine Perspektive, dass seine Kinder und Enkel wieder Belarussisch sprechen werden, und das hat bei uns ja tatsächlich stattgefunden – die Rückkehr zur belarussischen Sprache nach ein oder zwei Generationen.

    Was bedeutet eigentlich Belarussisch sprechen?

    Sehr wichtig ist aber auch, dass die Menschen, die selbst zurückgefunden haben oder ihre Kinder an die belarussische Sprache heranführen, sich dessen bewusst sind, dass dies die Sprache ihrer Herkunft, ihrer Familie ist. In den späteren Volkszählungen, die schon unter Lukaschenka stattfanden, wurde auf einmal erläutert, was unter rodnaja mowa zu verstehen sei: Nämlich jene Sprache, die der Mensch zuerst in seiner Kindheit gelernt hat. Damit wurde den Menschen praktisch das Recht entzogen, die Sprache ihrer Identität anzugeben. Dadurch ergab sich zwischen den Umfragen 1999 und 2009 ein absolut katastrophaler Einbruch bei den Zahlen zur sprachlichen Identität – 22 Prozent weniger gaben Belarussisch als Muttersprache an.

    Es ist wirklich beispiellos, dass sich innerhalb von zehn Jahren die sprachliche Identität einer kompletten Bevölkerung so verändert! Einerseits liegt das an der antibelarussischen Politik des Lukaschenka-Regimes, andererseits an der Veränderung der Fragestellung, durch die man Belarussisch nicht mehr als rodnaja mowa angeben konnte. 

    Ein weiterer wichtiger Punkt: Was bedeutet eigentlich Belarussisch sprechen? Wie ich schon sagte, umfasst das nicht nur die Verwendung der Standardsprache. Jede Person, die einen Dialekt spricht, spricht ohne Frage Belarussisch. Die Person selbst versteht das vielleicht als Mischsprache: „Sie wissen schon, wie wir sprechen – ein belarussisches Wort, ein polnisches Wort, ein russisches Wort, ein belarussisches Wort, ein ukrainisches Wort …“ Es ist abhängig von der Geografie. Tatsächlich sind das aber belarussische Dialekte. Nur war es den Menschen nicht möglich zuzugeben, dass sie Belarussisch sprechen – es galt als unfein. 

    In der Sowjetzeit galt das als peinlich. Und auch jetzt ist es wieder unangenehm. Dabei ist doch eine Person, die das Belarussische passiv beherrscht, es versteht und gut beherrscht, letztlich auch belarussischsprachig. Worauf ich hinaus will: Eine Person, die im Alltag Russisch spricht, aber das Belarussische versteht und beherrscht, einige Wörter einbaut, kann potenziell jederzeit zu dieser Sprache zurückkehren. Die Person ist potenziell belarussischsprachig. Und wenn irgendwelche emsigen Soziologen sagen, dass bei uns nur drei Prozent oder fünf Prozent Belarussisch sprechen, dann verstehen sie diese Hintergründe einfach nicht. 

    Insofern ist ohne Frage jeder, der Russisch spricht, aber diesen Hintergrund, diese Vorgeschichte hat, ein Belarusse, und besitzt mithin die Option, zur belarussischen Sprache zurückzukehren.

    In der Ukraine ist es wichtig, die ridna mowa als Sprache meines Volkes, meines Landes zu behandeln 

    L.M.: Hier wurde eine wichtige Frage aufgeworfen: Was ist die Muttersprache, wenn die Eltern russischsprachig sind. Bei uns sind die Großstädte am stärksten russifiziert, in den Städten leben viele Menschen, dort fand die Industrialisierung statt, es gab viel Zuzug, und so entstand der Schmelztiegel der Russifizierung. Die Kleinstädte und Dörfer verloren ukrainischsprachige Einwohner. Für die Kinder dieser Generation, die in die Städte zogen und zum Russischen übergingen, war das Ukrainische oft die Sprache von Oma und Opa, es war die Sprache ihrer Ahnen, die Sprache aller vorangegangenen Generationen. In diesem Sinne ist das Ukrainische also zweifellos ihre Muttersprache, ridna mowa. Ich möchte außerdem sagen, dass wir für unsere Situation folgende Definition gefunden haben: ridna mowa ist die Sprache meines Landes. Ich verstehe, dass ridna mowa in anderen Ländern anders definiert wird, wie Sie bereits gut beschrieben haben, am weitesten verbreitet ist das Konzept der Muttersprache. Ja, ridna mowa ist die Sprache der Mutter, von ihr lernt das Kind diese Sprache. Aber in Anbetracht unserer Situation ist es, denke ich, ebenfalls wichtig, ridna mowa als Sprache meines Volkes, meines Landes zu behandeln.

    Ist es im 21. Jahrhundert korrekt, die Identität eines Menschen über die Sprache zu definieren?

    L.M.: Die sprachliche, ethnische und nationale Identität sind doch sehr eng miteinander verbunden. In allen Ländern, hauptsächlich in den europäischen Ländern, gibt es nur eine Amtssprache; es gibt nur sehr wenige zweisprachige Staaten. Diese kann man separat besprechen, dort gibt es fast immer einen Konflikt, da jedes Volk, jede Nation ihre Identität unstrittig hauptsächlich über die Sprache definiert. Jedoch nicht nur über die Sprache, sondern auch über die Kultur, die in dieser Sprache geschaffen wird, denn in der Kultur kommt die Identität sehr klar zum Ausdruck.

    Deshalb ist es unbedingt notwendig, das Ukrainische bei uns zu verbreiten. Im Moment gibt es einen großen Umbruch, einen großen Bruch im Verhältnis zu Moskau …

    Und es hat ein starker Wechsel vieler russischsprachiger Ukrainer zum Ukrainischen begonnen. Tatsächlich hat dieser Prozess bereits nach der Revolution der Würde aktiv an Fahrt aufgenommen, nachdem im Jahr 2019 endlich das Gesetz Über die Staatssprache eingeführt wurde, das klar definierte, in welchen Bereichen das Ukrainische als Amtssprache verpflichtend zu verwenden ist. Putin und sein Umfeld dachten, nur weil es zu Sowjetzeiten gelungen war, einige Städte zu russischsprachigen zu machen, besonders die Großstädte im Osten und Süden, würden die Menschen dort die russische Armee mit Brot und Salz empfangen. Aber das Gegenteil war der Fall, die Ukrainer sehen Russland nun bewusst als Feind, sie sehen den genozidalen Krieg, der zum Zweck der Vernichtung der Ukrainer geführt wird. Ihr Widerstand ist sehr stark geworden und viele Menschen wechseln nun zur ukrainischen Sprache.

    Am schlimmsten ist, dass der Status des Belarussischen als alleinige Staatssprache nicht erhalten werden konnte

    W.W.: Die ukrainische Situation ist natürlich eine epochale Kraftprobe. Einerseits hat sich der ukrainische Staat stark für die ukrainische Sprache eingesetzt, worauf wir Belarussen in unserer aktuellen Situation nur mit Neid blicken können. Denn der aktuelle Staat, der sich Belarus nennt, verdrängt die belarussische Sprache funktional und zielgerichtet, letztlich muss man schon sagen, er vernichtet sie. Andererseits ist die Ukraine Ziel eines verbrecherischen Angriffs geworden, der unter anderem gerade mit einer sprachlichen Argumentation begründet wird. Das brachte alle an Russland angrenzenden Völker dazu aufzuwachen und zu verstehen, dass dieses Russland und die aufgezwungene Russischsprachigkeit, die von einigen als Reichtum betrachtet wird, da die russische Sprache zu den Weltsprachen gehöre und eine Brücke zu kulturellen, wissenschaftlichen und allerlei anderen Reichtümern darstelle, in Wirklichkeit die Brücke zum Einmarsch des Aggressors ist …

    Um auf die Frage zurückzukommen, ob die sprachliche Identität identisch ist mit der nationalen – ja, ich denke, dass die aktuelle sprachliche Situation in Belarus instabil und entropiehaft ist. Wenn wir in der kurzen Periode der realen Unabhängigkeit und der relativen Demokratie in der ersten Hälfte der 1990er Jahre innerhalb von sechs Jahren der belarussischen Sprache ihren Status zurückgeben konnten, ein bis zwei Millionen Schüler durch das belarussischsprachige Bildungssystem lotsen konnten, dann trat eine sprachliche Wirkung ein, die dann mit Gewalt wieder aus der Gesellschaft herausgepresst wurde, nachdem gerade sprachliches Selbstbewusstsein und funktionale sprachliche Normalität zurückgekehrt waren.  

    L.M.: Am schlimmsten ist, dass der Status des Belarussischen als alleinige Staatssprache nicht erhalten werden konnte, so wie es in der Ukraine gelungen ist. Als Lukaschenka an die Macht kam, wurde das belarussische Sprachengesetz geändert, und Russisch wurde neben Belarussisch zur Staatssprache erklärt. Natürlich öffnete das den Russifizierern und Kolonisatoren Tür und Tor. Es ist sehr bedauerlich, dass durch verschiedene Manipulationen, faktisch durch Betrug der Bevölkerung, eine Person wie Lukaschenka an die Macht gekommen ist. Denn Lukaschenka verachtet die belarussische Sprache, er hat geäußert, dass es nur zwei große Sprachen gäbe – Russisch und Englisch, Belarussisch hingegen sei sehr arm, man könne damit keine technischen Sachverhalte beschreiben, da es keine Fachtermini gäbe, und so weiter. Wie soll eine Sprachenpolitik mit einem solchen Präsidenten aussehen?

    Auch bei uns ist die sowjetische Politik noch spürbar, dass damals die hervorragendste Elite, die das Ukrainische verteidigte, ins Lager geschickt wurde, und die Russifizierung stark vorankam. Besonders unter Schtscherbyzky in den 1970er Jahren, der die ukrainische Sprache aus dem offiziellen Gebrauch nahm, auch in der Partei. 

    Sind die ukrainische und belarussische Sprache durch ihre Nähe zum Russischen bedroht?

    L.M.: Bei uns wird häufig nicht berücksichtigt, dass es einen Unterschied zwischen der individuellen Zweisprachigkeit und der staatlichen Zweisprachigkeit gibt. Wenn ein Mensch zwei Sprachen beherrscht, oder heutzutage oft auch drei, denn unsere Schüler und Studenten lernen ja auch intensiv Englisch, dann ist daran überhaupt nichts Schlimmes, im Gegenteil.

    Die staatliche Zweisprachigkeit ist jedoch ein ausgesprochen negatives Phänomen, besonders, wenn sie so ausgeprägt ist wie bei uns, in einem postimperialen Raum, wo die gesamte Bevölkerung der Ukraine und Belarus‘ in der sowjetischen Zeit Russisch lernen musste, da andernfalls keine berufliche Karriere möglich war.

    Diese Sprache verdrängte die lokalen Sprachen, so dass dieser Bilinguismus, wie sogar Wissenschaftler aus anderen Ländern bestätigen, ein Zustand des Ungleichgewichtes war, in dem ein ständiger Konflikt zwischen zwei Sprachen herrschte, da eine Sprache die andere Sprache aus deren heimischem Territorium verdrängen wollte. Ein solcher Konflikt wird nur durch den Sieg einer der beiden Sprachen gelöst, oder durch den Zerfall des Staates in zwei Teile, wie es beispielsweise in Belgien der Fall ist.

    W.W.: Ich würde die regionale Betrachtung etwas eingrenzen. Wir sind in Mittelosteuropa, und für Mittelosteuropa ist staatliche Zweisprachigkeit etwas sehr Exotisches. Die einzige Ausnahme ist zum großen Leidwesen Lukaschenkas Belarus. Auch wenn Lukaschenka hundertmal sagt „Wir haben kein Sprachproblem, es wird uns untergeschoben“, so war er es doch selbst, der nach seinem durch populistische Losungen errungenen Wahlsieg 1994 die unausweichlichen Probleme beim wirtschaftlichen und politischen Aufbau eines jungen Staates gleichsetzte mit dem Sprachenproblem, als er nämlich sagte: All diese bewussten Menschen mit ihrer Sprache seien schuld an all diesen Problemen. Das Referendum begann er ausgerechnet mit der Sprachenfrage. Er verwirrte die Menschen und stellte eine die Identität betreffende Frage, was der damaligen Gesetzeslage nach bei einem Referendum eigentlich nicht zulässig war. Die Ergebnisse sollten nur beratenden Charakter haben, aber Lukaschenka entwickelte schon damals seine eigene Haltung zu Gesetz und Verfassung. Er betrachtete das Ergebnis als verbindlich und so wurden wir das einzige postsowjetische Land, und darüber hinaus auch das einzige mittelosteuropäische Land, mit zwei Staatssprachen – und die Folgen ließen nicht lange auf sich warten. 

    In komplizierten Situationen, wie der belarussischen, kann es eine Übergangszeit geben

    Bereits 2007 nahm die UNESCO die belarussische Sprache in ihren unheilvollen Atlas der gefährdeten Sprachen auf, da der Prozentsatz der Menschen, die in den Folgegenerationen die Sprache von ihren Eltern oder in der Schule lernen würden, auf ein gefährliches Niveau gesunken war. Noch stehen wir auf der ersten Stufe der Bedrohung, aber vielleicht hat sich das seit 2007 auch schon geändert und wir sind in diesem bedrohlichen UNESCO-Atlas eine Stufe höher geklettert.

    Der Status der Staatssprache bedeutet, dass ein Staatsbeamter verpflichtet ist, diese Sprache zu verwenden, dass der Staat verpflichtet ist, die Rechte dieser Sprache zu schützen, dass ich, als Belarussischsprachiger, das Recht habe, mich auf Belarussisch an jede beliebige staatliche Institution zu wenden, und auf Belarussisch eine Antwort erhalte. Nicht mehr und nicht weniger. 

    In komplizierten Situationen, wie der belarussischen, kann es eine Übergangszeit geben. In Kasachstan, wo der demokratische Charakter des politischen Systems zwar infrage steht, wird das Kasachische als Staatssprache beispielsweise für einige Zeit begleitet von Russisch als zweiter Amtssprache, das aber nicht Staatssprache ist. Allmählich, langsam, aber sicher, nähert man sich so einem Zustand, in dem die kasachische Sprache vollwertig und allgegenwärtig gebraucht wird. 

    Wenn Menschen, die sich für das Belarussische als einzige Staatssprache aussprechen, ein Hang zu Gewalt und Zwang nachgesagt wird, verfälscht das schlicht die Realität. Im Jahr 1990, als die Entscheidung getroffen wurde, Belarussisch zur alleinigen Staatssprache zu machen, beschloss man eine sehr sanfte Zeitschiene: fünf bis sechs Jahre, für das juristische Feld sogar zehn Jahre Zeit, um vollständig zur belarussischen Sprache überzugehen, unter Berücksichtigung der Ausbildung von Fachkräften, Entwicklung der Terminologie, Buchdruck, Übersetzung der Gesetzgebung. Hätte es 1994 nicht diesen populistischen Umsturz gegeben, hätten wir heute eine Situation ähnlich wie in der Ukraine. Diese Lehre sollten wir verinnerlichen und Fehler nicht wiederholen. 

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  • „Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung“

    „Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung“

    Die Cyberpartisanen haben die offizielle Webseite des belarussischen KGB gehackt und konnten dabei Datenbanken erobern, darunter auch rund 40.000 Nachrichten, die von 2014 bis 2023 über die Website an den Geheimdienst gesendet wurden. Belarussische Medien haben diese Nachrichten durchforstet und dabei Denunziationen ausfindig gemacht, in denen Menschen andere beim KGB anschwärzen. Es sind nicht nur Belarussen, die ihre Landsleute denunzieren, sondern auch Russen oder sogar EU-Bürger, die sich mit Vorwürfen, Verdächtigungen und Handlungsaufforderungen an die Geheimdienstler wenden. 
    Der Historiker Aljaxandr Paschkewitsch meint, dass „das Ganze zunächst systematisiert“ werden müsse, um allgemeine Schlussfolgerungen aus den Funden ziehen zu können. Es sei jedoch klar, dass es sich bei der Mehrheit nicht um eindeutige Denunziationen handeln würde, sagt Paschkewitsch. Die Redaktion der Online-Plattform Nasha Niva hat recherchiert, dass es sich beim weitaus großen Teil der Nachrichten um Spam handelt, dazu kommen Meldungen von Menschen, die offensichtlich psychisch krank sind, und zahlreiche Anfragen von Menschen zu Verwandten und Bekannten, die in der Zeit des Großen Terrors verschwunden sind, oder zu Menschen, die nach den Protesten von 2020 festgenommen wurden. „Es ist schwierig, eine konkrete Zahl der tatsächlichen Denunziationen von Belarussen zu nennen, eine manuelle Zählung wäre erforderlich.“ Höchstwahrscheinlich übersteige ihre Zahl, schätzt Nasha Niva, nicht 1000 bis 2000 Nachrichten.

    Igor Lenkewitsch vom Online-Medium Reform hat sich eine Auswahl an Denunziationen genauer angeschaut. Darunter viele Hinweise auf Menschen, die während und nach den Ereignissen von 2020 die weiß-rot-weiße Protestsymbolik verwendeten, die mittlerweile verboten ist, aber vor allem auch Nachrichten von Leuten, die Kollegen oder Nachbarn offensichtlich eins auswischen wollten, und sogar ein Angebot von einer Initiative, die sich mit einem absurden Plan dem KGB andienen wollte.

    Nachbarn, Kollegen, Mitbewohner

    „Ich möchte der Organisation zur Terrorismusbekämpfung mitteilen, dass *** im staatsnahen Einkaufszentrum Korona im Restaurant Amsterdam arbeitet, die die weiß-rot-weiße Bewegung vorbehaltlos unterstützt, ihr Profil auf Facebook heißt ***, solche Menschen sollten nicht in Unternehmen der Republik Belarus arbeiten.“

    Diese Anzeige wurde eindeutig von einem oder einer Bekannten erstattet. Oder einem Kollegen, einer Kollegin. Vielleicht sind sie aneinandergeraten, waren sich uneinig über das Speisenangebot oder darüber, wie die Kunden zu bedienen seien? Wir können nur raten. Aber hier ist sie, die Anzeige, und zwar nicht irgendeine, sondern bei der Organisation zur Terrorismusbekämpfung. Wenn schon, denn schon.

    Hier das Schreiben einer Dame aus Baranowitschi: „In unserem Büro arbeiten unter anderem *** und ***, die seit Juli/August 2020 bis heute während der Arbeitszeit Nachrichten aus extremistischen, staatsfeindlichen Quellen besprechen, sich aggressiv gegen den Präsidenten und die Regierung äußern, auf widerliche und zynische Weise die Staatssymbolik beleidigen und gehässig und boshaft die staatlichen Sicherheitsstrukturen und Strafverfolgungsbehörden durch den Dreck ziehen. Im Herbst letzten Jahres brüsteten sie sich unverhohlen mit ihrer Teilnahme an nicht genehmigten Weiß-Rot-Weiß-Demonstrationen.“ 

    Und hier noch die Denunziation einer Staatsbürgerin, die sich nicht als „Petze“ empfindet: „Ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich einen Mann kenne, der die Situation in Lida destabilisieren will. Er ist weiß-rot-weiß gesinnt und vor ein paar Tagen, soweit mir bekannt, aus dem Ausland eingereist. Was er dort macht, weiß ich nicht, aber er hat eine Summe von über 15.000 Euro mitgebracht. Ich weiß, er hat Geldkarten von europäischen Banken. Ich bin mir sicher, so provokativ wie er eingestellt ist, dass dieses Geld den smahary zugute kommen wird. Ich bitte Sie sehr, diesen Mann zu überprüfen, weil das zu Unruhe führt. Ich weiß, dass er zu Demonstrationen geht, in seinem Mobiltelefon werden Sie genügend Informationen finden. Ich habe mich nie für eine, entschuldigen Sie die Wortwahl, Petze gehalten, aber ich mache mir große Sorgen um die Zukunft meines Landes und der Kinder.“ Es folgen die Daten der Person, gegen die sich die Anzeige richtet. Natürlich ausschließlich aus Sorge „um die Zukunft“.


    Weiter geht’s. Der Direktor der *** GmbH namens – vollständiger Name – „beschäftigt Anhänger der weiß-rot-weißen Bewegung, die aus dem Belarussischen Metallurgiewerk BMS entlassen wurden. Normale Leute nimmt er nicht. Wir bitten, Maßnahmen zu ergreifen und das zu klären.“ Man kann davon ausgehen, dass diese Anzeige von so einem „Normalen“ stammt, der sich beworben hatte und der, aus welchen Gründen auch immer, abgeblitzt ist. Woraufhin er das einfach so hingeschmiert hat.

    Sie führt ein Doppelleben, und ich halte das für Verrat

    Auch Nachbarn lassen sich zu Denunziationen hinreißen. Zum Beispiel ein Minsker aus der Prityzki-Straße: „Guten Abend. An der Adresse *** wird eine Wohnung an verdächtige Leute vermietet. Immer wieder hängen sie weiß-rot-weiße Fahnen auf und laden Gäste ein, die laut sind. Ich bitte, diese Wohnung und ihre Mieter zu überwachen. Und den Vermieter zur Rede zu stellen.“ So sind die Methoden im Kampf gegen lärmende Nachbarn.

    Und auch das kommt aus Minsk, von wachsamen Nachbarn in der Rafijew-Straße: „Wir melden Ihnen, dass die beiden in der Wohnung Nr. *** wohnenden Frauen, von der die eine *** heißt und die jüngere ihre Tochter *** ist, Verachtung für die vom Präsidenten der RB [Republik Belarus – dek] durchgeführte Politik äußern, andere dazu anstiften, Unzufriedenheit kundzutun und abends zu Protestaktionen im Hof einladen.“

    Nein, wir haben natürlich nicht das Jahr 1937. Die Nachbarn denunzieren nicht, um das Zimmer in der Kommunalka zu bekommen, das nach der Verhaftung der Beschuldigten frei wird. Die Wohnung Nr. *** wird ihnen keiner zusprechen, und das wissen sie. Ist ihr Motiv also der gute alte Klassenhass? 

    Hier geht es um beinah verwandtschaftliche Beziehungen: „Guten Tag! Meine Aufgabe ist, Folgendes mitzuteilen, was Sie mit der Info machen, ist Ihre Sache. Die Schwester meines Mitbewohners *** ist Staatsbürgerin der RB und arbeitet seit zehn Jahren in Belgien. Sie ist Programmiererin. Sie lebt jetzt mit ihrem Chef zusammen. Meinem Mitbewohner zufolge ist es ihr gemeinsamer Job, Informationen zu sammeln und zu verkaufen. Sie kommen immer einmal im Jahr hierher, dieses Jahr zweimal. Wir unterhielten uns, und offenbar ist sie eine glühende Russophobin, Anhängerin der weiß-rot-weißen Sekte und aller faschistischen Führungsmethoden, die in der Ukraine zur Anwendung kommen. Das letzte Mal waren sie ungefähr vom 7. bis 11. Dezember da.“ Diese Bürgerin verdächtigt also die Schwester ihres Mitbewohners, Spionage zu betreiben. Was sie eilig den Behörden meldet.

    Und hier eine sehr traurige Geschichte: eine Denunzierung der Ex-Freundin. Die Anzeige ist lang, daher fasse ich sie zusammen und füge Zitate ein. „Guten Tag. Ich halte es für meine Pflicht, Sie über eine gewisse Person zu informieren“, eröffnet der Verfasser sein Opus. Er erzählt von einer Journalistin der staatlichen Medien, die „seit dem 18. August 2020, wie auch ihre Verwandten, an Demonstrationen teilnahm. Aus Gründen lebten wir zusammen, und nach den Wahlen am 9. August, als alles begann, verbat ich ihr, etwas auf die Straße zu gehen. Aber sie hat nicht auf mich gehört.“

    „Bald sprach sie nach der Arbeit immer öfter davon, dass alles schlecht sei und man etwas unternehmen müsse. Am 12. Dezember 2020 fing sie sehr schnell und nervös davon an, dass wir dringend nach Piter müssen, weil alles ganz schlimm sei und keiner wisse, wie das weitergehe. Ich beschloss, mit ihr auszureisen. Immerhin war sie meine Freundin. Wir holten ihre Tochter, und am 26. Dezember brachte ich uns alle auf illegalem Weg nach Piter. Im Nachhinein ist mir klar, dass das ein riesiger Fehler war. So lebten wir bis April. Der Umzug nach Piter kostete mich enorm viel Geld, das ich mir geliehen habe und immer noch schulde. Doch im April fingen wir an zu streiten, sie ging zurück nach Belarus, und Ende Juni sah ich sie wieder im Fernsehen. Das fand ich sehr unangebracht, weil sie ja für die Opposition eintritt. Und mir wurde natürlich klar, dass sie mich einfach vorübergehend für ihre Zwecke benutzt hat. Sie führt ein Doppelleben und ich halte das für Verrat.“

    Dann fügt der Verfasser hinzu, dass er bereit sei, „als Zeuge auszusagen, wenn nötig, unter Anwendung eines Lügendetektors.“ Er mache das nicht „aus Rache, weil wir getrennt sind, sondern weil ein Mensch für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden und dafür einstehen muss“. „Außerdem habe ich ihretwegen gesundheitlichen und finanziellen Schaden erlitten (hohe Schulden) und meine psychische Stabilität eingebüßt. Ich bitte, in dieser Angelegenheit für Gerechtigkeit zu sorgen. Danke.“

    Die Leute, die diese Anzeigen schrieben, gingen wahrscheinlich davon aus, dass die Schriftstücke geheim bleiben würden. Aber dann kam es anders. Die Lustrationen von Seiten der Hacker begannen unerwartet früh. Das ist aber alles nur die Spitze des Eisbergs: Obige Denunziationen wurden allein anhand des Suchbegriffs „weiß-rot-weiß“ in der Datenbank gefunden. Mit anderen Suchbegriffen kann man bestimmt noch viel Aufschlussreiches ausheben. Aber das Grundmotiv ist klar. In diesen konkreten Fällen braucht man nicht anzufangen, über den Grad der ideologischen Spaltung der Gesellschaft nachzudenken – in meinen Augen ist das ganz banale Rache. 

    Ich hasse diese smahary, die für irgendeinen Mist kämpfen

    In anderen Fällen darf man ideologische Motive jedoch nicht ausschließen. Manchmal wenden sich idealistische Bürger sogar mit konkreten Anregungen und Empfehlungen an den KGB. So schlägt hier ein Genosse noch härtere Maßnahmen vor: „Wenn im Gefängnis kein Platz mehr ist, bringt sie doch in Militärkasernen und lasst sie die Drecksarbeit machen, Minderjährige eingeschlossen.“

    „Die Verletzten sollten am besten einzeln weggesperrt werden, denn gerade für Fotos mit Zusammengeschlagenen gibt es gutes Geld. Außerdem braucht es Höchststrafen für bezahlte Demonstranten und finanzielle Anreize für Leute, die aktiv jede Aktivität der Weiß-Rot-Weiß-Bewegung unterwandern“, raten andere. Wieder andere bieten schlicht ihre Dienste als Spitzel an: „Ich hasse diese smahary, die für irgendeinen Mist kämpfen, mit ihrer weiß-rot-weißen Fascho-Symbolik. Deshalb bin ich bereit, bei Bedarf Informationen weiterzugeben, die Ihnen, den Wächtern des Vaterlands, dabei helfen, das Land vor dem Verfall zu retten, damit es nicht wird wie … in der Ukraine zum Beispiel … Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung. Bitte geben Sie meine Adresse nicht weiter. Ich befürchte Konspiration. Danke Ihnen für alles! Allein schon dafür, dass ich mich mitteilen konnte.“

    Mit Kuhmist gegen Proteste

    Eine Bürgerinitiative hat dem KGB sogar einen detaillierten Plan „zur endgültigen Unterbindung bezahlter Demonstrationen“ vorgelegt. Sie nennen das Projekt Operation Pastuschok (dt. kleiner Hirte) und behaupten, es sei „bestens auf die Mentalität unserer Landsleute zugeschnitten, überaus einfach und rentabel“. Diese Initiative verdient eine eingehendere Betrachtung. Für die Umsetzung ihres Vorhabens benötigen die Verfasser 50 Kühe, eine zwanzigköpfige Menschengruppe und Tierfutter. Die Menschen sollen „die Zunge im Zaum halten können und dabei freundlich sein, insbesondere gegenüber Journalisten. So sollen dann eines schönen Morgens in der Nähe des Unabhängigkeitsplatzes 50 Kühe unter Aufsicht von fünf bis acht Menschen auftauchen, „die die Rolle der Landwirte übernehmen". Sobald sich die bezahlten Demonstranten auf dem Platz versammeln, soll sich die Herde in deren Richtung bewegen.

    Ein Wort an die Planer: „Die Bauern sollen mit polnischen weiß-rot-weißen Flaggen laufen und höhere Löhne, den Bau eines großen landwirtschaftlichen Betriebs sowie einer Molkerei fordern. In regelmäßigen Abständen sollen vier bis fünf Personen Futter für die Kühe bringen. Die wütenden Bauern sollen die Demonstranten so weit wie möglich einbeziehen, um beim Verteilen von Heu und Füttern der Kühe zu helfen. Danach ist es an der Zeit, die Kühe zu melken, woran sich die Demonstranten ebenfalls beteiligen sollen. Für ihre Mitarbeit bekommen sie kostenlos leckere, noch warme Milch. Nach einer Weile werden die Kühe anfangen, auf den Platz zu scheißen. Wenn die Demonstranten sich nicht daran stören, bleibt der Kuhmist einfach liegen und wenn doch, dann sollen die Bauern den Demonstranten Schneeschaufeln geben und sie der Reihe nach die Fäkalien auf einen Haufen schaufeln lassen. Die Polizei soll davon KEINE Notiz nehmen.

    Die wütenden Bauern sollen darauf hinweisen, dass sie keine Zeit zum Putzen haben. Eine der Kühe könnte man im Laufe der Aktion zusammen mit den Demonstranten weiß-rot anmalen und die Demonstranten dazu ermuntern, sich mit ihr fotografieren zu lassen. Diese Kuh wird so für ein paar Tage zum Symbol der Demonstranten.

    Der Überraschungseffekt: Die gemeinsame Arbeit bewirkt einen Schulterschluss der wütenden Bauern mit den Passanten. Zunächst werden die Demonstranten das Geschehen mit Interesse verfolgen, bis sie irgendwann durch Kuhmist laufen müssen in typisch würziger Landluft. Dann ist der Moment gekommen, den Demonstranten seitens der Stadtverwaltung vorzuwerfen, dass sie sich nicht nur wie Schafe benehmen, sondern wie eine ganze Viehherde. Man kann sie zum Beispiel beschuldigen, dass sie die Hauptstadt zuscheißen oder spontan andere Vorwürfe gegenüber den Demonstranten und ihren Organisatoren erfinden. Das Ergebnis: Die bezahlten Demonstranten werden sich weigern, weiterhin für 30 Dollar Honorar durch Scheiße zu laufen und sich die Kleidung dreckig zu machen. Entweder werden sie Geld von den Organisatoren fordern oder weggehen. Oder man könnte mit Hilfe der Kühe ganz aus Versehen die aktivsten Demonstranten von den Plätzen wegdrängen.

    Denkbar ist, dass die Organisatoren den Demonstranten dann ein höheres Honorar zahlen oder sie an einen anderen Ort schicken. Die ‚wütenden Bauern‘ sollen dann ebenfalls den Ort wechseln und den bezahlten Demonstranten folgen – und hier kommen nun die anderen Leute aus der Gruppe ins Spiel, die diskret als Informanten fungieren und vorgeben, wohin sie die Herde treiben sollen. Die Kundgebung der Opposition wird mit dem Geruch von Scheiße assoziiert in Erinnerung bleiben. Fazit: Mit Ihrer Erlaubnis wird die Pastuschok-Methode zum ersten Mal in der Geschichte der Farbrevolutionen dazu beitragen, die Pläne der Übeltäter und Landesverräter endgültig unschädlich zu machen.“

    Weiterhin bekunden die Autoren des Konzepts ihre Bereitschaft, „zum Wohle unseres Staatsoberhaupts und unseres Belarus persönlich und unentgeltlich an dieser Aktion teilzunehmen.“

    Kaum auszudenken, was aus Minsk geworden wäre. Was soll man von diesem Vorschlag halten? Ist das eine ernstgemeinte Initiative „von unten“ oder ein erstklassiger Fake? Mit solchen Verbündeten braucht man jedenfalls keine Feinde. Man muss ihnen nur die Initiative überlassen. Und nein, ich weiß nicht, warum so viele Denunzianten nicht ordentlich schreiben können. Wobei das viel aussagt.

    Das Ganze wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Dabei ist es nicht einmal so wichtig, ob die Denunziationen aus Liebe zum Regime oder aus persönlichen Rachegelüsten heraus erfolgen. Fest steht, dass sie unter den Bedingungen der anhaltenden Repressionen immer zahlreicher werden. Wahrscheinlich haben die Optimisten recht, und wir befinden uns noch nicht im Jahr 1937. Aber wo dann? Anfang der 1930er?

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