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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Warum sind Polizisten bestechlich?

    Warum sind Polizisten bestechlich?

    Antikorruptionskampagnen, höhere Gehälter und verschärfte Strafen für Bestechung helfen nicht gegen Korruption. An der Moskauer Hochschule für Wirtschaft HSE wurde eine Untersuchung mit tatsächlichen Mitarbeitern der russischen Polizei durchgeführt. Sie nahmen an einem Spiel teil, das ihre Neigung zur Korruption aufzeigen sollte. An diesem Spiel nahmen auch gewöhnliche Studenten teil. Die Polizisten waren dabei insgesamt öfter bereit, Bestechungsgelder zu nehmen oder zu zahlen, sogar wenn es sich offensichtlich nicht lohnte. Korruptionsprinzipien und -normen waren für sie wichtiger als Gewinne oder Risiken.

    Eine Gruppe von Forschern der Hochschule für Wirtschaft hat sich ein für Russland leidiges Thema vorgenommen: die Korruption bei der Polizei.

    Sie sind davon überzeugt, dass Korruption in einer bestimmten Kultur und bestimmten Prinzipien begründet liegt, die tief in unserer Gesellschaft verwurzelt sind: Wenn man einem Mitarbeiter der Staatlichen Straßenverkehrsinspektion Geld zusteckt, kann man sich ziemlich sicher sein, dass er das Geld nimmt und bei dem Vergehen ein Auge zudrückt. Wenn man einem Polizisten vorschlägt, man könne sich doch „einigen“, gibt es eigentlich keinen Zweifel, dass das funktioniert.

    Innerhalb der Polizei haben sich mittlerweile feste Korruptionsstrukturen herausgebildet. Beamte der mittleren Ebene nehmen Bestechungsgelder von den normalen Bürgern und – damit es nicht herauskommt – teilen sie sie hinterher mit ihren Vorgesetzten. So entsteht ein funktionierendes Korruptionsnetz. Dabei haben die Polizisten, wie die Studie zeigt, diese Prinzipien derart verinnerlicht, dass sie nicht von ihnen ablassen, selbst wenn die Korruption sich finanziell nicht lohnt. Sie sind bereits eine in sich geschlossene Gruppe, die durch eine bestimmte Kultur mit bestimmten Werten und Prinzipien verbunden ist.

    Zu diesem Ergebnis kamen die Wissenschaftler aufgrund eines Experiments, das mit russischen Polizisten vom Polizeihauptmann bis hin zum Oberst durchgeführt wurde, von denen alle einen Zusatzlehrgang der Akademie des russischen Innenministeriums absolviert hatten. Das Durchschnittsalter der Versuchspersonen betrug 36 Jahre. Die russische Polizei befand sich während der Untersuchung gerade in einer Phase der Umstrukturierung.

    Dieselbe Untersuchung wurde mit Studierenden der Hochschule für Wirtschaft durchgeführt. Ihre Ergebnisse wurden mit denen der Polizeibeamten verglichen.

    Korruptionsspiel

    Das Experiment bestand aus einem Spiel. Ziel war nicht, einem konkreten Beamten seine Neigung zur Bestechlichkeit nachzuweisen, sondern zu verstehen, wie die Polizisten interagieren und was ihr Verhalten motiviert. Es wurde kein echtes Geld verwendet.

    Die Offiziere wurden in Gruppen zu je 5 Mann eingeteilt, alle saßen am Computer. Sie wussten, dass sie mit Leuten aus dem Raum, in dem sie saßen, in einer Gruppe waren, wussten aber nicht mit wem.

    Das Spiel bestand aus 24 Runden, die in drei Spielphasen aufgeteilt waren.

    Erste Spielphase

    In jeder Runde erhält jeder Teilnehmer 100 Punkte, das ist sein Einkommen. Dieses kann er mithilfe einer beliebigen Menge von Bestechungseinnahmen aufbessern. Dabei werden die Handlungen des Spielers mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit überwacht. Wird er geschnappt, muss er alle Bestechungspunkte zurückgeben und noch dazu 50 Strafpunkte zahlen.

    Die Mitglieder einer Gruppe können Geld in einen gemeinsamen Topf geben, quasi als kollektives Bestechungsgeld für den Vorgesetzten, der sie kontrolliert. Schaffen sie 500 Punkte zusammenzubringen, hört die Überwachung auf.

    Nach jeder Runde zählen die Teilnehmer, wie viel Geld sie bekommen und wie viel sie ausgegeben haben, dann treffen sie ihre Entscheidung für die nächste Runde.

    Damit wird modellhaft folgende Situation nachgestellt: Nehmen wir ein konkretes Polizeirevier. Die Offiziere der mittleren Ebene stehen vor einer schwierigen Wahl: Ihr Gehalt ist niedrig, es besteht jedoch die Möglichkeit, es durch Bestechungsgelder aufzubessern. Dabei besteht das Risiko, dass sie von ihren Vorgesetzten erwischt werden. Dieses Risiko kann man jedoch senken, wiederum mithilfe von Schmiergeldern: Für eine Belohnung verschließt der Vorgesetzte die Augen vor dem Vergehen des Untergebenen. Auf diese Weise entsteht ein Korruptionsnetz.

    Neuer Vorgesetzter

    In der zweiten Spielphase nach acht Runden werden die Regeln geändert: Nun kann der gemeinsame Topf plötzlich unkontrolliert verschwinden. Wenn dies geschieht, sind die Gelder der Teilnehmer verbrannt, ihre Bestechlichkeit wird nicht länger gedeckt.

    Im richtigen Leben sähe das so aus: Der Vorgesetzte wird durch einen Neuen ersetzt. Von ihm ist nicht bekannt, ob er Schmiergelder akzeptiert oder nicht. Wenn er ehrlich ist, hat die Existenz eines gemeinsamen Topfs keinen Sinn mehr. Schmiergeld nimmt der neue Vorgesetzte sowieso nicht und er hat auch nicht vor, die Vergehen seiner Untergebenen zu decken.

    Gehaltserhöhung

    In der dritten Runde steigt das Einkommen der Teilnehmer auf 300 Punkte, Schmiergeld nicht eingerechnet. Doch wenn man geschnappt wird, muss man alle Bestechungsgelder zurückzahlen, plus in dieser Runde 300 Punkte. Doch die Spieler wissen nicht, ob der Vorgesetzte bestechlich ist oder nicht, genau wie in der zweiten Spielphase.

    Tatsächlich wurde diese Methode – Gehaltserhöhung in Kombination mit drastischen Strafen – im Kampf gegen die Korruption in Georgien und vielen anderen Ländern angewandt.

    In einer solchen Situation sollte jemand, der kein Risiko will, besser kein Bestechungsgeld annehmen.

    Kultur zwingt Polizisten bestechlich zu bleiben

    Die Unterschiede zwischen den Studenten und den Polizisten wurden sofort offensichtlich. Die Wissenschaftler hatten die Regeln sachlich neutral erklärt. Den Studenten war bis zum Schluss nicht klar, dass es sich um eine Art Test auf Korruptionsanfälligkeit handelte. Den Polizisten hingegen war dies sofort klar, als sie die Spielregeln hörten.

    Die Studenten bevorzugten insgesamt wesentlich öfter ehrliches Verhalten, während die Polizisten in der Mehrheit der Fälle Korruptionsnetze aufbauten.

    Interessant war, dass die Polizisten in der ersten Spielphase weniger Bestechungsgelder nahmen, später dann die Zahl der Bestechungsfälle anstieg, obwohl sich Korruption wirtschaftlich immer weniger lohnte. Dies bestätigte, dass in Bezug auf Korruption folgendes Gesetz gilt: Je mehr Druck der Beamte ausgesetzt ist und je höher das Risiko, desto aktiver nimmt er Bestechungsgelder an. Mithilfe der Bestechungsgelder versucht er, die gestiegenen Risiken zu kompensieren. Faktisch bedeutet das, dass Antikorruptionskampagnen im Rahmen der geltenden Normen nicht funktionieren. Doch Kultur und Normen bei der Polizei ändern sich sehr langsam.

    Die Entscheidung, kein Schmiergeld mehr an die Vorgesetzten zu zahlen, trafen die Polizisten erst in der dritten Spielphase, und auch dann nicht in allen Fällen. Die Studenten versuchten insgesamt seltener, ihre Vorgesetzten zu bestechen. Solche Versuche hatte es vor allem in der ersten Spielphase gegeben, in der zweiten und dritten Phase nahmen sie ab.

    Die Strategie der Studenten war verständlich: Sie nahmen Bestechungsgelder während der ersten und zweiten Spielphase, als es sich lohnte, in der dritten Phase bevorzugten sie ehrliches Verhalten. Die Polizisten ließen sich dagegen eher von gewissen Normen und Prinzipien leiten, denen eine Korruptionskultur zugrunde liegt. De facto verhalten sich Polizisten solidarisch und wählen, ohne sich untereinander abzusprechen, die korruptionsträchtigsten Vorgehensweisen.

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    „Der Kommissar ist ein sehr netter Mensch.“

  • Banja, Jagd und Angeln …

    Banja, Jagd und Angeln …

    In der russischen Provinz finden sich immer noch archaische Erwerbsarten, die es bereits in der Zarenzeit gab: Subsistenzwirtschaft, Abwanderung in Großstädte, Schwarzarbeit. Die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen sind nach wie vor die Banja, das Angeln, Jagen und die Gaststätte, wo Staatsvertreter, Volk und Unternehmer die Möglichkeit haben, sich freundlich auszutauschen. Das ist das Ergebnis einer Studie der Moskauer Higher School of Economics zu Sozialstrukturen in der Provinz.

    Der soziale Status von Bewohnern der Provinzstädte und Dörfer lässt sich nur schwer bestimmen. Weder wurde hier das westliche Klassensystem übernommen, in dem die Einteilung nach Einkommensniveau erfolgt, noch die Ständeordnung mit ihrer Einteilung in Staatsdiener und Angestellte, die ihnen der Staat offeriert. Zu dieser Erkenntnis gelangten Soziologen im Zuge des Projekts Sozialstrukturen der russischen Provinzgesellschaft der Chamowniki-Stiftung.

    Dabei wurde die arbeitsfähige Bevölkerung Russlands in zwei Gruppen eingeteilt – die erste bezieht in irgendeiner Form Einkünfte aus dem Staatshaushalt (insgesamt 71 Prozent), die andere ist als Unternehmer und Freiberufler selbständig (15 Prozent). In diese Kategorie fallen Geschäftsleute, aber auch Wanderarbeiter (Personen, die auf der Suche nach Verdienstmöglichkeiten vorübergehend von Zuhause weggehen). „Wir haben eine Ressourcenwirtschaft und keine Marktwirtschaft, daher gibt es auch keine Klassenunterteilung [im europäischen Sinne]“, erklärt Simon Kordonski, Vorsitzender des Sachverständigenrats der Chamowniki-Stiftung und Professor an der Moskauer Higher School of Economics. „Stände“ ließen sich vier ausmachen: Staatsvertreter (5 Prozent), Volk (66 Prozent), Unternehmerschaft (15 Prozent) und Randgruppen (13 Prozent). Der Staat, so die Meinung der Experten, orientiere sich sich an jener Gruppe, deren Einkommen aus öffentlicher Quelle stamme, während sich „aktive Staatsbürger außerhalb seines Blickfelds“ befänden. Laut Kordonski neutralisiert jeder Stand eine bestimmte Bedrohung, wobei  immer jene Sparte die meiste Unterstützung erfährt, die die akuteste Bedrohung bekämpft. „Im Moment ist das zum Beispiel die Gefahr eines Krieges, also bekommt die Armee am meisten“, schlussfolgert der Soziologe. 

    Der legale privatwirtschaftliche Sektor bietet in der Provinz nicht allen Arbeitswilligen Platz, daher werden sie zu Wanderarbeitern und suchen Arbeit in Großstädten. Aufgeführt wurden außerdem Sonderformen der Beschäftigung: Stufen-Manufakturbetriebe, in denen mehreren Familien je eine Produktionsstufe zugeteilt ist, und die Garagenwirtschaft, bei der man den Garagennachbarn seine Dienste erweist. Beides sind Schattensektoren (laut dem Statistikamt Rosstat macht die Schattenwirtschaft möglicherweise 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus). Die Experten weisen darauf hin, dass die Garagenwirtschaft und Manufakturbetriebe nichts Neues sind: „Das sind historisch bekannte und in der Zarenzeit weit verbreitete Lebenserhaltungsmethoden der Provinzbevölkerung gewesen. Einerseits ist das archaisch, andererseits – was heißt archaisch, wenn wir heutzutage so leben“, überlegt Simon Kordonski.

    Archaisch ist in der Provinz auch das Empfinden für den Status eines Menschen: Es hängt vor allem von seinem Einfluss ab (seinem gesellschaftlichen Status, der bei weitem nicht immer dem offiziellen entspricht), von seiner Zugehörigkeit zu einem bestimmten Klan. Die Zugehörigkeit zum Staatsapparat oder das reale Einkommen stehen als Status-Messer erst an dritter und vierter Stelle. Kordonski führte schließlich auch noch jene Institutionen der Zivilgesellschaft an, die es Staat, Volk und Unternehmern ermöglichen, sich zu treffen und ihre Standpunkte zu verhandeln: „Das sind die Banja, das Jagen, das Angeln und die Gaststätte.“

    „Die Menschen warten auf die Zukunft als Wiederholung einer guten Vergangenheit“, erklärte Simon Kordonski. Und Forschungsleiter Juri Pljusnin, Professor an der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften, präzisierte: „Die gute Vergangenheit stellt sich allerdings jeder anders vor.“

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  • Zerfall eines Konzerns: ein Szenario

    Zerfall eines Konzerns: ein Szenario

    Wladislaw Inosemzew ist ein bekannter Wirtschaftswissenschafter und Soziologe liberaler Prägung. Er war in Führungspositionen verschiedener Banken tätig und engagierte sich zuletzt immer wieder auch unmittelbar politisch. In diesem Artikel, der monatelang zu den meistgelesenen Materialien des russischen Internets gehörte, vergleicht er die russische Staatswirtschaft mit einem Unternehmen, dessen Gewinn von nur wenigen Nutznießern abgeschöpft wird und dessen erstarrte Strukturen nicht mehr auf Veränderungen des Umfelds reagieren können. Inosemzew glaubt, dass Russland nicht politische Revolutionen bevorstehen, sondern ein Abgleiten ins Chaos, wenn der Konzern zerfällt und keine Auffangstrukturen geschaffen werden.

    Die dramatischen Ereignisse an der Wirtschaftsfront Ende letzten Jahres haben Experten zu Äußerungen über eine mögliche Palastrevolution, eine soziale Explosion oder ähnliche Geschehnisse veranlasst, die in nächster Zukunft eine drastische Richtungsänderung in der Entwicklung Russlands bewirken könnten. Mir scheint, dass solche Überlegungen auf einer ungerechtfertigten Überschätzung des Potenzials sowohl der Bevölkerung als auch der Eliten in Russland beruhen. Weder diese noch jene sind derzeit in der Lage, gemeinsam überlegt zu handeln oder auch nur projektorientiert zu denken. Deshalb wird der Zerfall des Regimes, wenn es in Zukunft (und zwar einer nicht allzu nahen) zum Scheitern verurteilt ist, meiner Ansicht nach sehr viel banaler und alltäglicher verlaufen.

    Ein effektiver Konzern im Sinne seiner Stakeholder

    Russland wird unter Wladimir Putin wie ein Großkonzern verwaltet, dessen Geschäftstätigkeit ganz und gar der Bereicherung seiner Manager dient. Die Aktionäre (als die man mit gewissen Einschränkungen die Bevölkerung des Landes bezeichnen könnte) erhalten ein paar Boni – genug, um auf den von Zeit zu Zeit pro forma durchgeführten „Hauptversammlungen“ keine unerwünschten Fragen zu stellen. Der „Konzern“ Russland setzt – wie jeder andere auch – die ihm optimal erscheinende Anlagestrategie um, bildet Reserven, versucht, sich im Wettbewerb mit konkurrierenden Unternehmen durchzusetzen, und tauscht von Zeit zu Zeit die Führungskräfte aus. Durch den Verkauf seiner Waren auf dem Weltmarkt generiert er große Geldflüsse. Dabei hat der besagte Konzern jedoch ein Problem, welches sich offenkundig nicht im Rahmen des von seinen faktischen Eignern als ideal und unwandelbar betrachteten Modells lösen lässt.

    Dieses Problem besteht nicht etwa in ineffektiver Führung. Das wird von den jetzigen Liberalen zwar gern mantraartig wiederholt, hat jedoch sehr wenig mit der Realität im Land zu tun. Um zu verstehen, ob ein System effektiv ist, muss man seine eigentlichen Ziele kennen. Russland wirkt nur dann ineffizient, wenn man es als gegeben sieht, dass das Ziel darin besteht, das Wohlergehen der Bevölkerung zu steigern und die Wirtschaft auf Basis einer innovationsorientierten Ordnung zu entwickeln. Bis auf politische Sonntagsreden weist jedoch nichts darauf hin, dass das tatsächlich der Fall ist. Beurteilt man das System hingegen danach, dass es in erster Linie maximalen Ertrag aus der Rentenökonomie schlagen und äußerst unverhältnismäßig zu Gunsten der führenden Klasse umverteilen soll, dann sieht es höchst effektiv aus. In keinem Land der Welt haben sich die Beamten und die ihre Interessen vertretenden Oligarchen, die ja auch die letztendlichen Nutznießer sind, so schnell und in derart großem Umfang bereichert; nirgendwo haben so offenkundig unprofessionelle Personen derartige Erfolge erzielt. Also wird Russland sehr wohl effektiv geführt, nämlich so, dass alle Interessen der herrschenden Klasse befriedigt werden und sie weiterhin das Land ausplündern kann.

    Unflexibilität verhindert ein Reagieren auf Veränderungen am Rohstoffmarkt

    Das Problem ist anders gelagert. Jedes Unternehmen muss Gewinn abwerfen. Dieser ergibt sich aus der Differenz von Verkaufseinnahmen und Betriebskosten. Ein modernes, flexibles Unternehmen sollte im Idealfall beide Komponenten kontrollieren – die erste durch Absatzsteigerung, Einführung neuer Produkte und Preisanpassungen, die zweite durch die Reduzierung von Anzahl und Kosten der eingesetzten Ressourcen. Russland ist jedoch ein unflexibles Unternehmen, das weder die eine noch die andere Option hat.

    Die wichtigsten Rohstoffe, die das Land heute produzieren kann, sind Erdöl, Gas, Kohle und Metalle. Deren Produktionsaufkommen ist in den letzten 25 Jahren nicht gestiegen. Selbst im Rekordjahr der Erdölgewinnung, 2014, wurden mit 527 Mio. Tonnen 4,5 % weniger aus dem Erdinneren gepumpt als 1989 in der RSFSR.

    Beim marktfähigen Gas wurde ein moderates Wachstum von 5,4 % verzeichnet, bei Kohle ein Rückgang um 14 %, beim Stahl um 22 %. Diese Entwicklung fand statt, während der Verbrauch der besagten Ressourcen weltweit um jeweils 37 %, 78 % und 64 %  bzw. um das 2,05-fache stieg und unsere Wettbewerber ihr Produktionsvolumen sehr stark erhöhten (Kasachstan produziert heute 3,5-mal so viel Öl wie 1989 und Katar 26-mal so viel Gas wie Ende der 80er Jahre). Doch Russland ist nicht nur nicht in der Lage, die Liefermenge zu erhöhen, sondern verfügt zudem auch nicht über neue Technologien (im Gegensatz etwa zu den USA mit ihrer Schiefergasgewinnung, Kanada mit seinem Ölsandabbau und sogar Japan, das am Meeresboden aufgelöste Erdgasvorkommen fördert). Und natürlich kontrolliert Russland auch nicht die Preise für die von ihm produzierten Güter – nicht zuletzt aufgrund seiner Unfähigkeit, Abkommen mit Partnern zu schließen, aber auch, weil es sich seit Jahren weigert, seine langfristigen Verträge auf Spotmarkt-Verkäufe und die Beförderung über Pipelines auf Seetransporte umzustellen. Der Konzern „Russland“ ist somit nicht fähig, die inneren und äußeren Herstellungs- und Absatzbedingungen seiner grundlegenden Erzeugnisse zu ändern.

    Zugleich zeigt sich, dass der Konzern auch seine eigenen Betriebskosten nicht unter Kontrolle hat. Bei einem praktisch unveränderten Produktionsaufkommen in fast allen Feldern (bis auf Handel, Bankdienstleistungen, Mobilkommunikation und einige andere Branchen) sind die Kosten für die Basisressourcen auf dem Binnenmarkt von 2000 bis 2013 um das 8–16-fache des US-Dollarpreises, das Durchschnittseinkommen um das 13,5-fache, die Renten um das knapp 18-fache und die Kosten für die Aufrechterhaltung der eigenen Sicherheit (durch die Ministerien für Inneres und Verteidigung) um das 10,7-fache gestiegen. Die Führung des Landes sagt oft, dass sie keine Reduktion der Finanzierung der geschützten Haushaltsposten plant, und das darf man ihr glauben: Die Folgen eines solchen Schrittes könnten katastrophal sein. Die einzige Option ist die Abwertung der Verbindlichkeiten gegenüber den Mitarbeitern des Konzerns – die Präsident Putin in diesem Herbst genehmigt hat. Und dann stellt sich die Frage, wie sehr diese Abwertung letztlich den Betrieb der restlichen Systemkomponenten verteuert, deren Nutznießer es nicht gewohnt sind zu sparen (und auch die Frage, ob Renten und Gehälter angesichts einer Inflation von 30 % nicht fieberhaft angeglichen werden müssen, bleibt offen). Die Wirtschaft kennt keine Beispiele dafür, dass ein Konzern überlebt hätte, dessen Umsatz auf die Hälfte bis ein Drittel sinkt und der praktisch keinerlei Kostenschnitte vornehmen kann.

    „Wenn der Geldfluss ins Stocken kommt, verliert die Herrschaft Russlands ihren Sinn.“

    Die Schlussfolgerung ist einfach. Ein unflexibler Konzern, der mit der Situation konfrontiert ist, dass die Preise für seine Produkte beständig sinken und weder die Produktion diversifiziert noch die Kosten gesenkt werden können, geht dem Ruin entgegen. Erst entledigt er sich eines Teils seiner internen Verpflichtungen, dann hört er auf, externe Verbindlichkeiten zu bedienen, bis er entweder – unter normalen Bedingungen – unter den Schutz des Insolvenzrechts fällt (wie er in den USA durch Chapter 11 garantiert wird) oder – unter abnormalen Bedingungen – von seinen Wettbewerbern zerstört wird. Ein Staat kann weder den ersten noch den zweiten Weg gehen, doch es geht hier auch nicht um das Schicksal eines Landes, sondern um das Verhalten seiner herrschenden Klasse.

    Über die letzten fünfzehn Jahre hat sich die Politik in Russland untrennbar mit dem Business verflochten. Sie ist heute die rentabelste Form des Unternehmertums. Die Bürokratie kontrolliert direkt und indirekt einen Großteil der Wirtschaft – weniger durch den Besitz von Vermögenswerten, als über die Regulierung der Geldflüsse. Wenn der Geldfluss ins Stocken kommt, verliert die Herrschaft Russlands ihren Sinn. Der Kampf um die Macht im jetzigen System ist ein Kampf um die Kontrolle über das Geld. Wenn Macht jedoch keinen Reichtum mehr einbringt und nur noch für Verantwortung steht, wird sie nicht nur für die heutige russische Führungsriege nicht mehr interessant sein, sondern – so fürchte ich – auch für die meisten ihrer Gegner aus dem liberalen Lager.

    Eben deshalb, so scheint mir, wird ein Zusammenbruch des Regimes (der nur bei und infolge einer weiteren Verschlechterung der Wirtschaftslage möglich ist) weder von Massenprotesten noch von Palastrevolutionen begleitet sein. Es ist nicht bekannt, dass man sich auf sinkenden Schiffen an die Gurgel gegangen wäre, um für die letzten ein oder zwei Stunden das Steuer zu übernehmen. Passagiere und Besatzung fallen in solchen Situationen entweder in Schockstarre und gehen unter, oder sie versuchen jeder für sich, das eigene Leben zu retten und die besten Plätze in den Rettungsbooten zu besetzen – und je pöbelhafter die Gesellschaft sich ausnimmt, desto öfter geschieht Letzteres. Die Kontrolle über ein Unternehmen, das keinen Gewinn bringt, ist sinnlos, und deshalb – um es noch einmal zu sagen – wird die Kommandobrücke des sinkenden Schiffes ganz einfach verlassen werden.

    Nur gesellschaftliche Transformation kann die Entstehung von Chaos verhindern

    Etwas Ähnliches ist in unserem Land schon vor einem Vierteljahrhundert geschehen, als die Strukturen der Sowjetmacht praktisch keine Kontrolle über Geldflüsse und Vermögenswerte gewährleisteten. Die Macht ging damals sofort auf andere, schon bestehende Strukturen über, die zuvor nicht bedeutend schienen. Die heutige Situation unterscheidet sich in wenigstens drei Punkten von damals. Erstens sind keine entsprechenden Reservestrukturen vorhanden (ein Zerfall Russlands ist wenig wahrscheinlich). Zweitens sind die Möglichkeiten, aus dem System auszusteigen, sehr viel einfacher und vielfältiger (es gibt mehr Geld, die Grenzen sind offen). Drittens ist der Appetit des Repressionsapparats weitaus größer. Das bedeutet: Das entstehende Chaos wird erstens nicht von kleinräumigeren Organisationsstrukturen aufgefangen; zweitens wird es an den zu seiner Überwindung benötigten qualifizierten Führungskräften fehlen, weil diese sich lieber zurückziehen oder ausreisen; drittens wird der Krieg aller gegen alle wegen der zahlreichen skrupellosen und gierigen Silowiki besonders grausam ausfallen. Und deshalb werden die 90er Jahre, von deren Wiederkehr man jetzt zu sprechen beginnt, als eine vergleichsweise passable Zeit erscheinen, was das Ausmaß der sozialen Erschütterung angeht.

    Der einzige – wenn auch schwache – Trost ist, dass nur eine solche radikale Zerstörung die Wiedererrichtung des „Konzerns“ Russland in einer weiteren Gestalt verhindern und Ausgangspunkt für die Entstehung einer normalen Gesellschaft sein kann, die von unten aufgebaut wird und in der eine harte Führung nicht als Segen gilt, sondern als Bedrohung, nicht als Beschützer, sondern als Feind. Einen anderen Weg in die Zukunft als die konsequente Vollendung der Transformationen der 90er Jahre gibt es in Russland nicht. Und man möchte glauben, dass sich hierzulande Menschen finden werden, die – nicht jetzt, sondern aus dem bevorstehenden Chaos heraus – Wege für den Aufbau einer neuen russischen Gesellschaft sehen. Denjenigen Vertretern der Elite, die es vorziehen, allein sich selbst zu retten, kann man hingegen nur noch raten, bei ihrem Abgang das Licht hinter sich zu löschen. Im Hinblick auf die meisten der jetzigen Landesherrscher würde ich sagen: Dies ist dies das Beste, was sie tun können.

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  • Stalins Follower

    Stalins Follower

    Angeblich „immer mehr Russen befürworten die stalinistischen Repressionen“, so lautete die erstaunliche Botschaft im Kommentarverlauf zur jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum. Allerdings war das, offen gestanden, gar nicht direkt gefragt worden. Es würde ja wohl auch kaum einem Menschen klaren Verstandes und mit nur einem Fünkchen Gewissen in den Sinn kommen, sich mit jemand wie Pol Pot auf freundschaftlichen Fuß zu stellen, in Anbetracht der Zahl seiner Opfer. Dennoch ist und bleibt es eine Tatsache, dass immer mehr Russen dem geschichtsträchtigen Generalsekretär gegenüber positiv eingestellt sind.

    Sie sind bereit, ihm Denkmäler zu errichten, nach ihm benannte Museen zu gründen und seine strategischen Leistungen im Krieg zu preisen. Bisher sind diese seine Neu-Anhänger oder „Follower“ (das Wort fiel mir ein, nachdem ich den blutrünstigen Thriller The Following gesehen hatte, den ich nicht empfehle, der aber daran erinnert) Gott sei Dank noch nicht die Mehrheit. Sondern die Minderheit. Sie treten jedoch als eine gut organisierte und äußerst aktive, um nicht zu sagen erboste Gruppe auf. Was zumindest an der enormen Anzahl von Kommentaren zu sehen ist, die sie unter jedem Themen-Artikel hinterlassen.

    Mal schlagen sie dem Autor vor, er soll sich seine „Bürne anne Wand einhaun“, weil er sich gegen jegliche Diktatur ausspricht. Mal soll er sich in ohnmächtigem Zorn lieber gleich aufhängen, denn, so heißt es da, „bald benennen wir Wolgograd wieder in Stalingrad um“. Und dem mythischen Drachen namens Stalin raten sie, endlich aufzuräumen mit all den Betrügern und Bürokraten. Mit der Fünften Kolonne. Mit der Ukraine. Und auch gleich noch mit der jüdischen Mafia, das ist ja bei uns schon Tradition. Das darf nicht fehlen.

    Aber machen wir uns nichts vor: Gewiss hätte keiner der Follower seine eigenen Töchter und Söhne den treuen Mitstreitern Stalins – Jagoda, Jeshow und Berija – zum Fraß vorgeworfen. Ebenso unvorstellbar wäre für sie, dass die oben erwähnten Genossen, wenn sie sich, wie von den Followern unmissverständlichen erwünscht, materialisierten, nachts bei ihnen in der Wohnung auftauchen und klären würden, was da so läuft, wie es in den unvergesslichen 1930ern geschah. Nicht den realen Stalin beten sie an – den kleingewachsenen, nicht akzentfrei russischsprechenden Georgier mit der verkümmerten Hand –, sondern den anderen, den aus dem Kino, den klugen, im weißen Dienstrock, der wortgewandt jeden beliebigen Intelligenzling am Telefon zu Tode erschrecken konnte: „Auf der Sssscchhtelle wird Genosse Stalin mit Ihnen sprechen.“ Ich gebe zu, auch ich liebe dieses Motiv, von dem sich unsere Generation garantiert niemals befreien können wird.

    Nehmen wir zum Beispiel den berühmten antisowjetischen englischsprachigen Film Der rote Monarch (Red Monarch, 1983). Ach, was war das für ein toller Stalin, ein rechter Schelm in einer echten Schelmenposse. Wie er da ärgerlich die Porträtbüste Lenins anschaut, der ihm selbst nach dem Tod noch die Liebe des Volkes wegfrisst.

    Sieht ihm das ähnlich? Klar. Ist das lustig? Klar.

    Oder der Stalin in Wassili Aksjonows Roman Moskwa-kwa-kwa, seinem besten, wie ich finde. Folgende Szene: Winter, Schneegestöber, der protzige Schriftsteller Smeltschakow, der in dem berühmten Hochhaus an der Kotelnitscheskaja-Uferstraße in Moskau wohnt, trinkt armenischen Kognak der Marke Ararat und stößt übers Telefon mit Genossen Stalin persönlich an. „Ararat ist Scheiße“, sagt ihm sein nächtlicher Trinkgenosse Stalin. „In einer halben Stunde bekommst du eine Kiste Gremi. Trink meinetwegen solange noch deinen scheiß Ararat, dann machst du weiter mit Gremi.“ Und dann plaudern sie über den „Bluthund Tito“.

    Auch hier naive Malerei: der Traum der sowjetischen Elite vom intimen Verhältnis zur Macht. Und Aksjonow kann man nun wahrlich nicht als Stalinisten bezeichnen, sein Vater und seine Mutter wurden 1937 verhaftet, er verbrachte seine Kindheit im Heim. Nach 18 Jahren Lagerhaft (!) schreibt seine Mutter, Jewgenija Ginsburg, ihre Memoiren Krutoj marschrut (deutsch: Marschroute eines Lebens und Gratwanderung). Doch Stalin hatte sich ins Hirn eingebrannt, einerseits als Alptraum, andererseits als Märchenfigur. Und falls es einen gegeben hätte, so hätte er sehr gut einen wunderbaren Prototyp für Voland abgeben.

    Ja, diese Sichtweise gibt es. Ich unterstütze sie selbstverständlich nicht, denn ich empfinde diese Deutung als sehr platt. Aber wenn man sich Stalin als das personifizierte Schicksal der russischen Geschichte vorstellt, das das Gute nicht kennt, aber manchmal gerechten Einfluss ausübt (mit der Erschießung der großen Mehrheit von Dämonen der Revolution, der Mitläufer und Speichellecker), dann passt das Bild von Voland!

    Mit anderen Worten, Stalin ist mit uns. Er ist unser ein und alles. Und soll auch gefälligst mit uns verschwinden. Aber ihn in die Zukunft mitzuziehen, zu unseren Kindern, in Form von Denkmälern und einer Zurschaustellung irrationaler Liebe zur Gewalt – was könnte sinnloser und schlimmer sein? Was wollen sie denn damit sagen? Dass sie ihm furchtbar dankbar sind? Wofür? Wer durch die Hölle gegangen ist, der ist nicht dankbar. Die Opfer des Holodomor sind nicht dankbar. Nicht dankbar sind auch die „Millionen Opfer der Willkür des totalitären Staates“ – das ist nicht meine Formulierung, sondern ein Zitat aus dem Gesetz Nr. 1761 der Russischen Föderation vom 18. Oktober 1991. Die verbannten Kulaken (heute würden wir sie Landwirte nennen) sind nicht dankbar. Auch nicht die Bauern, die ihr gesamtes Leben in äußerster Armut und ohne Pässe verbrachten. Und wer nicht durch die Hölle gegangen ist, der wird wohl kaum was verstehen. Für ihn ist es ein historischer Holzschnitt.

    Oder gefällt ihnen die Gegenwart so sehr, dass sie bereit sind, sich vor den längst verwesenen Führern zu verbeugen, die sie hierher gebracht haben? Das kann ich nicht glauben. Denn sonst würden sie dem Autor nicht vorschlagen, sich seine „Bürne anne Wand einzuhaun“. Nicht gegen die Ukraine kämpfen, einen der wichtigsten Teile der UdSSR. Und würden nicht das Beil gegen die Oligarchen schwingen. Unsere Gegenwart ist auch für Stalins Follower kein Zuckerschlecken.

    Wesentlich ist etwas anderes. Worin genau sind sie sich einig, wenn sie über Stalin diskutieren? Darin, dass es Ideen gibt, für die es sich lohnt, Millionen umzubringen, damit andere Millionen überleben und sich freuen? Oder darin, dass es eine „Gerechtigkeit“ eines Herrschers gibt, die höher steht als die Wahrheit, höher als die Humanität, höher als Gesetze und höher als jedes Gericht? Dass das Bespitzeln von Mitmenschen bis hin zur Denunziation und zum Abtransport in die Folterkammer normale Praxis ist und eine normale Moral?

    Ich weiß es nicht. Da setzt sich dieser durchgeknallte Enkel Jewgeni Dschugaschwili hin und schreibt Klagen. Auf formaler Grundlage: Schau mal, in Nürnberg wurde die Erschießung von Zehntausenden polnischer Offiziere in Katyn nicht [als sowjetisches Verbrechen] verurteilt. Folglich sind alle, die dies als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachten und als persönliches Verbrechen Stalins, ohne dessen Sanktionen so etwas nicht möglich gewesen wäre, selbst Verbrecher laut Artikel 354.1 (Rehabilitierung des Nazifaschismus), Strafgesetzbuch der Russischen Föderation. Und haben so zwei, drei Jährchen verdient …

    Er schwärzte den Historiker Feldman an. Dann den Historiker Zharkow. Er tippt und tippt. Die Verbrecher sind seiner Meinung nach nicht diejenigen, die Zehntausende ohne Gerichtsverhandlung und ohne Untersuchung erschossen. Auch nicht unsere Zeitgenossen, die dies für richtig halten, für gerechtfertigt oder als nie dagewesen, nie passiert abtun usw. Sondern die Historiker, die Publizisten, die gelegentlich daran erinnern … Erstaunlich!

    Obwohl, eigentlich sollten wir Dschugaschwili dem Jüngeren dankbar sein. Dafür, dass er, selbst ein Follower, ja geradezu die Quintessenz der Followerschaft, den anderen Followern eine klare Perspektive für ihren Neostalinismus aufgezeigt hat. Und sie auch uns anderen gezeigt hat. Ohne eine deutliche juristische und moralische Bewertung („Jetzt entscheidet euch doch endlich, habt euch nicht so, dann seid ihr mich auch wieder los!“) unserer politischen Vergangenheit haben wir keine Chance, in die Zukunft zu gehen.

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  • Mine im Livekanal

    Mine im Livekanal

    Im Petersburger Holiday Inn soll eine Diskussionsveranstaltung beginnen: Michail Chodorkowski, nach Begnadigung und Entlassung aus der Haft inzwischen im Ausland lebend, wird über Video in den Saal geschaltet. Kaum sind die ersten Worte gesprochen, ertönt auch schon ein Alarm und der Saal wird geräumt. Die meisten Besucher sind mit solchen Vorkommnissen bereits vertraut. Der Journalist Ilja Milschtein kommentiert.

    Das Gebäude ist vermint. In dem verminten Gebäude sind Strom und Internetverbindung gekappt. Wieder eine Bombe, wieder eine Evakuierung. Menschen werden aus dem Saal geführt, Menschen leisten Widerstand. Vor den Fenstern heult eine Sirene.

    Die gestrigen Nachrichten aus dem Petersburger Hotel Holiday Inn Moskowskije Worota stifteten als Genre-Chaos ordentlich Verwirrung: War es eine Übung, wie damals in Rjasan, war es eine Geiselnahme, nur dass die Terroristen irgendwie unentschlossen und sonderbar gekleidet waren – in Polizeiuniform? Es gab aber keinen Anlass, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Wie soll man sagen: Die Videoschaltung zwischen russischen Bürgern und Michail Chodorkowski fand nun einmal während einer Art Anti-Terror-Operation statt. War ja nicht das erste Mal, etwas Ähnliches war schon einmal vorgekommen. Mit Stromausfall und unterbrochenem Internet. Man sollte sich wohl einfach daran gewöhnen. Genau das ist jedoch schwierig. Zum einen, weil es schwierig ist, mit jemandem zu sprechen, wenn überall Fremde herumrennen und ihn beim Reden stören: Das spürt man, selbst wenn man nicht im Raum ist. Zum anderen ist unklar, was das alles soll. Wenn die Aufgabe darin bestand, das Treffen von Chodorkowski mit seinen Zuhörern in Russland platzen zu lassen, dann wurde die Aufgabe nicht erfüllt. Wenn man die Absicht hatte, die obersten Chefs als trostlose Deppen zu präsentieren, dann kann man den anonymen Drehbuchautoren gratulieren. Aber war das der Sinn? Es bleibt ein rätselhafter Spuk.

    Eine Erklärung ist, dass der ehemalige politische Gefangene Chodorkowski im Kreml gefürchtet ist. So sehr gefürchtet, dass die Kremlherren schon allein beim Gedanken, dass er frei vor Publikum auftreten könnte, ganz blöde werden, und das mündet dann in ein solch herzzerreißendes Spektakel: Auf der Bühne eines verminten Saals, in dem unbehelligt Polizisten, Journalisten, Abgeordnete und normale Bürger herumspazieren, hängt ein Bildschirm, aus dem Chodorkowski zu hören ist.

    Aber weshalb hat Wladimir Wladimirowitsch Putin Angst vor Michail Borissowitsch Chodorkowski? Laut allen Beliebtheitsumfragen liegen die Werte des nationalen Führers astronomisch hoch, Chodorkowski aber rangiert unter ferner liefen. Die Landsleute interessieren sich zwar nach wie vor für den ehemaligen YUKOS-Chef, mehr aber auch nicht. Und mit seinen bei dem Auftritt kundgetanen strategischen Gedanken zum Wahlkampf wird er es wohl kaum schaffen, die Grundpfeiler des Putin-Regimes ins Wanken zu bringen. Das teilte Chdorkowski dem verminten Publikum im Grunde auch mit, als er äußerte, die Machthaber würden die Wahlen vollständig kontrollieren und unerwünschten Kandidaten den Zugang verwehren.

    Es gibt auch die Erklärung, dass die Machthaber Chodorkowski nicht fürchten, sondern schlicht hassen. Und eine solche Abneigung gegen den Betroffenen hegen, dass ihnen der Appetit vergeht und sie jeden seiner Auftritte vor russischem Publikum als persönliche Beleidigung empfinden. Und wenn Wladimir Wladimirowitsch Putin erfährt, dass Michail Borisowitsch Chodorkowski schon wieder plant, vor russischem Publikum aufzutreten, dann gehen die Mitarbeiter des Innenministeriums automatisch in Alarmbereitschaft und die besten Mineure des Landes, Seite an Seite mit Elektrikern und, wie heißen sie noch, Providern, entschärfen rasch die Bombe, den Strom, das Internet und den Feind.

    Aber man hasst ja im Kreml momentan ausnahmslos alle: von Obama bis zu den kleinsten Banderowzy in der Ukraine. Es ist also vollkommen unverständlich, weshalb ausgerechnet Chodorkowski eine solche Ehre erwiesen wird. Außerdem ist er bei weitem nicht der radikalste Regimegegner, und wenn es um kalte Rache ginge, hätte Putin dann nicht an Chodorkowskis zehn Jahren in fernen Lagern sein Mütchen kühlen können? Wenn Wladimir Wladimirowitsch Michail Borisowitsch tatsächlich so sehr hassen würde, wie man es immer wieder hört, dann hätte kein Genscher dem Gefangenen helfen können und wir würden heute totgelangweilt den zäh verlaufenden dritten YUKOS-Prozess verfolgen.

    Also, worum geht es? Wahrscheinlich könnte man die Situation viel einfacher und mit weitaus schwächeren Emotionen als Angst und Hass beschreiben. Beispielsweise mit dem Bestreben, Chodorkowski und seinen Mitstreitern, die die Führungsriege heftig ärgern, einfach ordentlich in die Suppe zu spucken. Tja, solcher Sadismus zeigt sich nicht nur in den Beziehungen des Kremls zu Chodorkowski. Er zeigt sich auf den unterschiedlichsten Ebenen.

    Nehmen wir die „zivilgesellschaftliche“ Eigeninitiative eines Dimitri Enteo, der Plakate auf Ausstellungen oder Rock-Konzerten zerreißt, oder eines Witali Milonow mit seinen orthodoxen Aktivisten, die überall dort provozieren, wo sie Schwule und Lesben wittern. Es kommt auch vor, dass die Leute des Landesherren, eben jene Policemen, eine Liveschaltung mit Kiew kappen – wobei völlig klar ist, dass die Moskauer Teilnehmer dieser Liveschaltung weder tierische Angst noch bodenlosen Hass bei den Machthabern auslösen. Aber ihnen den Abend zu verderben, die Liveschaltung abstürzen zu lassen, die Zuschauer in einen Polizeitransporter zu sperren, die eigene Allmacht zu genießen und den anderen in die Suppe und auf das Gesetz zu spucken – das ist doch ganz angenehm, geben Sie’s zu. Es ist eine Winzigkeit, aber sie kitzelt sanft die Herzen der Mächtigen im Land, die von den tagtäglichen Sanktionen und heiligen Siegen ganz erschöpft sind.

    Daher kommt der ganze Spuk – vom Wort spucken.

    Kurz, es muss äußerst gute Gründe für solche Aktionen geben, wenn die Machthaber sogar riskieren, wie komplette Idioten dazustehen, und diese Gründe gibt es. Keine großartigen, aber jedem verständliche, der die Regierung über die letzten anderthalb Jahrzehnte beobachtet hat: Eben jenen Wunsch, jeden, der nicht einverstanden ist, mit einer Sirene auszuschalten, jegliches andere Gedankengut niederzutrampeln und jede Ansammlung von Menschen, die einem Dissidenten zuhören wollen, aufzulösen – der Wunsch ist klar und übermächtig. In gewisser Weise sogar rührend, wenn auch ermüdend. Denn Bürger, die nicht einverstanden sind, gibt es immer noch ziemlich viele und auf alle muss man aufpassen, indem man ihnen irgendeine Fiesheit serviert.

    Eine Tretmine unterjubelt, bildhaft gesprochen. Sie zum Verhör bestellt, und dann sollen sie mal, während sie gemütlich russische Bücher lesen, grübeln, was sie vor den Steuerbehörden verheimlicht haben. Das sind kleine Schweinereien, im Grunde unbedeutend im Hinblick auf die Interessen einer Atommacht, aber sie wärmen die Seele. Die kalte, man kann ruhig sagen, eingefrorene Seele des Herrschers und seiner treuen – unverfrorenen – Diener. Wie dem auch sei, es ist ihnen ein Vergnügen und davon haben sie momentan nicht viele.

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  • Die Vertikale der Gewalten

    Die Vertikale der Gewalten

    Pawel Tschikow, Gründer und Leiter der Menschenrechtsorganisation AGORA, analysiert, wie der Geheimdienst alle Organe der Rechtsordnung unter seine Kontrolle gebracht hat.

    Vorige Woche hielt Wladimir Putin die Jahresversammlung des FSB ab und gab den Mitarbeitern der Staatssicherheit folgende Worte mit auf den Weg: „In diesem Jahr werden Arbeitsbelastung und Verantwortung wachsen. Und Ihre Aufgabe wird es sein, die Effektivität in allen Tätigkeitsbereichen zu steigern.“ Dass heute niemand anders als der FSB in allen Tätigkeitsbereichen oberster Willensvollzieher des Kreml ist, steht außer Zweifel. Die früheren Unterschiede und Zuständigkeitsgrenzen zwischen den Behörden sind ausgelöscht.

    Der Wettbewerb um die Macht ist beendet

    Es gibt keine Checks and Balances und keinen Wettbewerb mehr – nicht nur zwischen den verschiedenen Staatsgewalten, sondern auch unter den Silowiki. Im Jahr 2006 hatte eine Periode der Auseinandersetzungen begonnen: zwischen Verteidigungsminister Sergej Iwanow und Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinow, zwischen dem Leiter des FSB Nikolai Patruschew und dem Leiter der Drogenkontrollbehörde (FSKN) Viktor Tscherkessow, zwischen Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow und Generalstabschef Juri Balujewski, zwischen Generalstaatsanwalt Juri Tschaika und dem Chef des Ermittlungskomitees (SKR) Alexander Bastrykin – seit dem letzten Jahr ist sie beendet.

    Durch Gerüchte über ihre Abschaffung wurde der Drogenkontrollbehörde und dem Föderalen Migrationsdienst deutlich signalisiert, dass ihre Existenz an einem seidenen Faden hängt. Der Leiter des Föderalen Strafvollzugsdienstes Gennadi Kornijenko wartet seit über einem Jahr auf einen Bescheid zu seinem Rücktrittsgesuch. Die Rede von einer Entlassung des Innenministers Wladimir Kokolzew hält sich hartnäckig. Justizminister Alexander Konowalow erhält im Herbst mit Sergej Gerassimow einen ersten Stellvertreter zur Seite gestellt, der aus der Präsidialverwaltung kommt und faktisch die Leitungsbefugnisse übernimmt. Die Leiter des Ermittlungskomitees, des Innenministeriums und der Generalstaatsanwaltschaft treten, außer bei Gremiensitzungen ihrer Behörden, seit über einem Jahr nicht mehr öffentlich auf.

    Der FSB regelt den Rechtsvollzug

    Die Befugnis für den Rechtsvollzug liegt unterdessen ausschließlich beim FSB. Die Frage der Schuld einer bestimmten Person entscheidet sich im Augenblick ihrer Festnahme. Die Verwertung der bei operativen Ermittlungen gewonnenen Informationen hat nicht nur den längst sinnlos gewordenen Strafprozess ersetzt, sondern sogar die gerichtliche Vorermittlung.

    Mittlerweile wird das Internet nicht mehr von der Aufsichtsbehörde Roskomnadsor reguliert – jedenfalls nicht faktisch. Vielmehr ist es der FSB, dem der Präsident aufträgt, „die russische Internetsphäre auch weiterhin von illegalen, kriminellen Materialien zu säubern und dafür die modernen Technologien aktiver zu nutzen“ (Zitat aus einer Rede auf eben jener Jahresversammlung). Für die Kontrolle von NGOs ist nicht, wie im entsprechenden Gesetz vorgesehen, das Justizministerium zuständig – der FSB soll „auch weiterhin auf die Existenz von ausländischen Finanzierungsquellen bei Nichtregierungsorganisationen achten, ihre in der Satzung festgelegten Ziele mit der praktischen Arbeit vergleichen und jeglichen Verstoß unterbinden“ (gleiche Quelle).

    Für Ordnung auf dem Devisenmarkt sorgte früher die Finanzaufsicht der Zentralbank. Jetzt obliegt es der Staatssicherheit, „Versuche dunkler Machenschaften an den russischen Aktien- und Devisenmärkten, die zu Kurssprüngen führen und das Finanzsystem des Landes überhitzen, aktiver aufzudecken und zu vereiteln“.

    Das Ermittlungskomitee, das dem Innenministerium über lange Zeit immer mehr Prozessvollmachten und eine immer umfassendere Zuständigkeit für Strafrechtsfälle abgerungen hat, befasst sich heute im Grunde nur noch mit der Bearbeitung von Unterlagen für die operative Ermittlungsarbeit des FSB. Die einzige nach wie vor aktive operative Einheit des Innenministeriums ist das Zentrum zur Bekämpfung des Extremismus, das letztlich ebenfalls der Polizeiabteilung des FSB zugeordnet ist.

    Die Inhaftierung des Leiters der Vollstreckungsbehörde wegen des Diebstahls von 300 Millionen Rubel ist ein Verdienst des FSB. Die Festnahme der Personen, die den Mord an Boris Nemzow ausgeführt haben – ein Verdienst des FSB. Die Durchsuchungen bei Nationalisten in Moskau – ebenfalls. Die krasse Zunahme an Verfahren wegen Spionage, Anstiftung zum Extremismus und Verletzung der territorialen Integrität – FSB, FSB, FSB.

    Aufstieg der Geheimdienste unter Putin

    Auf den ersten Blick nichts Neues – gleich nach Putins Regierungsantritt wurden massenweise Leute mit Geheimdienstvergangenheit rekrutiert. Über seine gesamte erste Amtszeit hinweg gelangten Mitarbeiter der Staatssicherheit in Schlüsselpositionen von Staatsapparat und Wirtschaft. Eben dies war das Ziel der ersten Phase: Die Höhen einnehmen und die Stellung ausbauen. In der zweiten, langen Etappe ging es dann darum, zu beobachten und Informationen zu sammeln. Die Präsidentschaft von Dimitri Medwedew eignete sich besonders gut zum Beobachten und Aufspüren potenzieller Bedrohungen. Man ließ ihm freie Hand und nahm letztlich diejenigen ins Visier, die an die Liberalisierung glaubten und sich hervortaten – in der Politik, in der Wirtschaft und unter den Beamten. Inzwischen läuft die dritte Phase: die praktische Verwertung der gewonnenen Informationen. Die von der neuen Staatsduma in den Jahren 2012 und 2013 vorbereiteten Gesetze liefern die nötige Grundlage für diese umfassende Operation.

    So gesehen gibt es für die Verschwörungstheorien, denen zufolge irgendjemand hinter all diesen Vorgängen stecken müsse, eine recht einfache Erklärung. Der FSB hat vom Präsidenten grünes Licht für die Nutzung vorhandener operativer (sprich: kompromittierender) Informationen erhalten.

    Jetzt gibt es nur noch ein einziges Entscheidungszentrum – unter den Silowiki hat sich eine Hierarchie herausgebildet, angeführt vom Geheimdienst, der wiederum sämtliche verfügbaren Ressourcen mobilisiert hat. Die Kontrolle der Grenzübertritte läuft über die Grenztruppen. Die Kontrolle der Finanzströme über die Finanzaufsichtsbehörde Rosfinmonitoring. Die Kontrolle der NGOs über das Justizministerium. Die Kontrolle des Internet über die Aufsichtsbehörde Roskomnadsor. Und gerade erst haben sich das Innenministerium und die Drogenkontrollbehörde verpflichtet, Rechtsvorschriften, die ihre operative Arbeit regulieren, mit dem FSB abzustimmen.

    Nachdem Putin Präsident geworden war, hatte die Machtkonzentration begonnen. Den größten Einfluss erhielten diejenigen, die die Vorermittlungen in entscheidenden Strafprozessen leiteten – gegen Gussinski, Chodorkowski und so weiter. Über die gescheiterten Präsidentschaftsambitionen von Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinow ist viel geschrieben worden. Und um das politische Gewicht der Generalstaatsanwaltschaft zu verringern, wurden ihr nach und nach die Ermittlungsaufgaben entzogen. Und allein die Ermittlungsbefugnis ohne weitere Vollmachten genügte dem Leiter der Ermittlungsbehörde Bastrykin um innerhalb weniger Jahre zum vielleicht größten politischen Schwergewicht zu werden. In den Jahren 2012–2013 bestimmten mehr und mehr Durchsuchungen, Verhaftungen und Ermittlungen in politischen Verfahren die Tagesordnung in Russland. Der Sprecher der Ermittlungsbehörde, Wladimir Markin, wurde zum wichtigsten Sprachrohr der Innenpolitik. Aber Vorermittlungen und Gerichtsverhandlungen über Ingewahrsamnahmen rufen zwangsläufig auch auf Seiten der Verteidigung Aktivitäten hervor. Beschwerden wegen Folter, Anträge auf Fachgutachten, Kommentare von Journalisten, Hungerstreiks von Angeklagten, Ohnmachtsanfälle, Notarzteinsätze im Gerichtssaal, Berufungen und Anrufungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – all das erzeugt ständigen Rummel und Gegenwind in den Medien. Zudem ließ sich durch solche Aktionen in der Regel die Situation der Angeklagten verbessern.

    Ermittlung statt Rechtsprechung: Der FSB kann heute gegen jede beliebige Person in der Russischen Föderation ein Strafverfahren mit garantierter Festnahme und Verurteilung einleiten

    Und so folgt nun die nächste Metamorphose. Die Entscheidung der Schuldfrage wird in ein noch früheres Verfahrensstadium verlagert. Ein Stadium, in dem der Zugang zu Dokumenten verboten ist und Informationen ein Staatsgeheimnis darstellen. In dem der Verteidiger keinerlei Rechte hat. Es geht um operative Ermittlungsarbeit – wer hat wem was gesagt und weitergetragen, Dienstberichte über Dienstberichte. Der gerichtliche Vorermittler sammelt dann nur noch die ihm vorliegenden Ermittlungsunterlagen und legt eine Strafprozessakte an. Die Erfindung ist nicht neu.

    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat auf Beschwerden von Verurteilten hin Dutzende einschlägiger Strafverfahren wegen Drogenmissbrauchs untersucht. Er stellte fest, dass sich in ihnen die Schuldfrage wegen angeblichen Drogenhandels im Moment der Festnahme entscheidet. Als Begründung dienen Informationen aus der operativen Ermittlungsarbeit, Berichte der Fahnder, Daten von Informanten, abgehörte Telefongespräche. Die Einleitung einer operativen Ermittlung, die Einhaltung der Gesetze bei der Informationsbeschaffung und die Entscheidung über die Verwertung der gewonnenen Informationen werden von niemandem wirksam kontrolliert, so der Straßburger Gerichtshof. Weder die Staatsanwaltschaft noch das Gericht tun dies, obwohl sie offiziell dazu verpflichtet sind.

    Der Betroffene hat in den folgenden Phasen – in der gerichtlichen Vorermittlung oder im Gerichtsverfahren – keinerlei Möglichkeit, anfängliche Befunde zu entkräften und ihre Unrichtigkeit zu beweisen. Einfach gesagt, kann der FSB heute so ungehindert wie nie gegen jede beliebige Person in der Russischen Föderation ein Strafverfahren mit garantierter Festnahme und Verurteilung einleiten. Die Behörde hat in den vergangenen Jahren eine ungeheure Menge an Informationen gesammelt und bereits grünes Licht für ihre Verwertung erhalten. In eben diesem Sinn ist die Rede von Wladimir Putin auf der letzten Jahresversammlung des FSB zu verstehen.

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    Mine im Livekanal

    Produktion von Ungerechtigkeit

    „Der Kommissar ist ein sehr netter Mensch.“

  • „Der Kommissar ist ein sehr netter Mensch.“

    „Der Kommissar ist ein sehr netter Mensch.“

    Seit inzwischen vier Monaten stehen in Moskau vier Basejumper unter Hausarrest. Sie waren am 20. August [2014 – dekoder] auf einen der Türme des Hochhauses am Kotelnitscheskaja-Ufer geklettert und von dort mit ihren Gleitschirmen abgesprungen. Am gleichen Tag – jedoch auf einem anderen Turm des gleichen Gebäudes – hat jemand den weithin sichtbaren Sowjetstern auf der Spitze des Turmaufbaus in den Farben der Ukrainischen Landesflagge angestrichen: gelb und blau. Dies führte zu einem gehörigen Skandal.

     

    Kaum waren die Basejumper in der Nähe des Gebäudes gelandet, wurden sie umgehend festgenommen. Binnen kürzester Zeit jedoch stellte sich heraus, dass nicht sie für die provokative Stern-Aktion verantwortlich waren, sondern ein ganz anderer Extremsportler: Ein ukrainischer Hochhauskletterer mit dem Spitznamen „Mustang“. Er veröffentlichte auf seiner facebook-Seite Fotos von seinem Kletterausflug, komplett mit Bildern, die ihn mit Pinsel und Farbeimer in der Hand zeigen. Zugleich entlastete er ausdrücklich die vier russischen Basejumper, von deren Anwesenheit auf dem Nebendach er überhaupt nichts mitbekommen hatte. Auch keines der bei Gericht angefertigten Gutachten hat irgendwelche Anhaltspunkte für eine Beteiligung der Russen am Vorfall mit dem Stern liefern können. Dennoch wurde die Anklage gegen die Basejumper nicht fallengelassen. 
    Und so warten die vier jungen Leute – Anna Lepeschkina, Alexej Schirokoshuchov, Alexander Pogrebow und Jewgenija Korotkowa – weiterhin auf ihre Verhandlung. Aufgrund der vom Gericht verfügten Einschränkungen können sie mit niemand kommunizieren ausser mit ihren Anwälten und den engsten Familienmitgliedern. Sie dürfen weder Internet noch Telefon benutzen, sie haben keine Möglichkeit zu arbeiten, zu studieren oder Sport zu treiben. Wie lange der Arrest sich noch hinziehen wird, weiss niemand. Am 17. November 2014 ist er um zwei Monate verlängert worden. So hat sich aufgrund eines zufälligen Zusammentreffens in schwindelnder Höhe das Leben der vier Sportler und ihrer Familien von einem Moment auf den anderen vollkommen verändert. Darüber, wie es sich anfühlt, wenn ein Familienmitglied zum Beschuldigten in einem sehr öffentlichkeitswirksamen Verfahren wird, befragten wir den Vater des Basejumpers Alexej Schirokoshuchov.

    Fotos von Georgij Sultanow / Yod
    Fotos von Georgij Sultanow / Yod


     
    Haben Sie eine Erklärung dafür, weshalb ihr Sohn immer noch unter Hausarrest steht?


    Ich habe einige Bekannte im Polizei- und Justizsystem. Nach Alexejs Festnahme habe ich sie um ihren Rat gebeten. Sie haben mir zu verstehen gegeben, dass der Ausgang des Verfahrens „ganz oben“ entschieden wird. Vor einigen Jahren hätte man eine solche Sache noch mit Geld oder einer anderen Gefälligkeit lösen können … Aber heute, wenn es eine Anweisung von oben gibt, hilft weder Geld noch das Gesetz. Man bekommt einen Menschen aus diesem Räderwerk nicht so einfach wieder heraus. Selbst dann nicht, wenn er vollkommen unschuldig ist. Der Kommissar, der das Verfahren leitet, hat es genau so auch Alexej gesagt: „Ich weiss ja, dass nicht du es warst, der den Stern angestrichen hat. Aber ich kann nicht zulassen, dass das Verfahren eingestellt wird.“ 
    Der Kommissar ist auf unserer Seite, ein sehr netter und gutwilliger Mensch, aber er hat eine Aufgabe bekommen, und er führt sie aus. Genauer, er kann sie eben nicht ausführen, denn das Verfahren gegen die Jumper löst sich sowieso vor aller Augen in Luft auf, es gibt ja keinerlei Indizien gegen Alexej. Deshalb wird dem Kommissar, wie er hat durchblicken lassen, wohl auch bald nichts anderes übrig bleiben als zu kündigen, beziehungsweise ihm wird gekündigt werden. Die Anwälte, die sich um Alexej und die anderen kümmern, haben ihm neulich schon tröstend auf die Schulter geklopft und ihm gesagt, sie könnten ihm dann vielleicht einen neuen Job bei einer Bürgerrechts-Organisation vermitteln. Mir tut dieser Kommissar leid – er ist eigentlich ein guter Kerl. Aber er arbeitet eben für das System, und zugleich ist er selbst dessen Opfer. Meistens sind die Leute von der Polizei und den anderen Staatsorganen ganz sympathisch, wenn man von Mensch zu Mensch mit ihnen redet. Aber im Dienst verwandeln sie sich in Wölfe. Als sie unsere Kinder festgenommen haben, gab es gleich ein sehr starkes Pressing. Im Revier wurde ihnen die Oberbekleidung weggenommen, sie haben kein Wasser bekommen, ihnen wurde nicht erlaubt, die Eltern anzurufen. Statt dessen hieß es: „Wir organisieren jetzt erst einmal die nötigen Indizien für euch.“ Klar, was damit gemeint war. Die Vernehmungsbeamten haben auch versucht, unsere Kinder untereinander in Streit zu bringen, damit sie gegeneinander aussagen. Erst nachdem Mustang, der ukrainische Kletterer, öffentlich bestätigt hat, dass er unsere Kinder gar nicht kennt, haben sie mit dem Pressing aufgehört.


    Was haben Sie nach Alexejs Festnahme als erstes getan?


    Ich habe von der Verhaftung meines Sohnes überhaupt erst aus dem Radio erfahren. Und davon, dass es einen Gerichtsprozess geben soll, auch nur von einem Mitarbeiter des FSB, der zusammen mit Alexej Basejumping macht. Weil Hausarrest nur an der offiziellen Meldeadresse möglich ist, wohnt Alexej derzeit in unserer alten Wohnung, die wir schon längst an jemand anders vermietet hatten. Diese Mieter haben wir, gleich als wir von dem Verfahren erfahren haben, bitten müssen, unverzüglich auszuziehen. Ja, man kann schon sagen: Wir haben sie vor die Tür gesetzt. Das ist nicht schön, natürlich, aber in solch einer Lage denkst du nur an eins: Wie kannst du es schaffen, dass dein Sohn nicht im Gefängnis landet? Wir haben den Leuten als Ausweichmöglichkeit sogar unsere eigene Wohnung angeboten, aber sie sind dann doch zu Bekannten umgezogen. 
    Jetzt sitzt Alexej den lieben langen Tag allein in seinen vier Wänden. Er hat mit niemandem Kontakt ausser mit den engsten Familienmitgliedern, seinem Anwalt, dem Ermittlungsbeamten und den Mitarbeitern des Strafvollzugs. Ich muss sagen, ich war seelisch darauf vorbereitet, dass seine Basejumping-Leidenschaft schlecht ausgehen könnte. Wir leben ja schon lange in dauernder Angst um Alexej. Ich habe ihm oft gesagt: „Eines Tages wird dich nach einem Sprung noch der Leichenwagen einsammeln, oder du sitzt im Rollstuhl, oder es geschieht irgendetwas Drittes – ich weiss nicht, was, aber etwas Schlechtes.“ Und so ist es gekommen.



    Erzählen Sie doch einmal, wie Alexej unter den Bedingungen des Hausarrestes lebt.


    Ich haben meinem Sohn eine gute Nähmaschine gekauft. Alexej näht ganze Tage lang Fallschirme und Gleitschirme, danach übergebe ich diese Erzeugnisse unseres „Häftlings“ an seine Freunde in der Freiheit. Alexej freut sich, wenn er hört, dass sein Material im Einsatz war. Er beklagt sich eigentlich nie – er ist sowieso eher ein verschlossener und schweigsamer Mensch. Aber ich sehe: Es geht ihm schlecht. Für Bücher oder Filme hat er nie eine besondere Leidenschaft gehabt, aber ohne Basejumping und seine Freunde kann er nicht leben. Einmal ist er nach einem Sprung schlecht gelandet, er hatte an beiden Füßen offene Brüche. Man konnte da von aussen bis auf den Knochen sehen. Ich dachte, nach solch einem Unfall hört er auf zu springen. Aber kaum konnte er wieder einigermaßen laufen, hat er weitergemacht. Alexej ist schon immer so gewesen. Er braucht zum Leben das ständige Adrenalin. Wenn er sich nicht bewegt und nicht an der frischen Luft ist, bekommt er Depressionen. 
    Es gibt eigentlich nur ein Gutes an dieser Situation – unsere Familie ist sehr zusammengerückt. Mein Sohn und ich haben uns schon lange nicht so häufig gesehen und so viel miteinander unterhalten wie jetzt. Der Arrest hat unsere Familie zusammengeschweisst. Das letzte Mal waren wir so eng verbunden nach der Geburt unserer jüngsten Tochter. Neujahr werden wir mit der ganzen Familie in der Wohnung feiern, in der Alexej jetzt lebt.


    Seit der Festnahme ihres Sohnes haben Sie viel mit der Polizei, den Gerichten, dem Strafvollzug zu tun, und Sie waren bei den Gerichtsverfahren anwesend. Hat das Ihre Einstellung zum Staat in irgendeiner Weise verändert?


    Ich habe mich schon früher immer bemüht, mich so weit wie möglich von unseren Staatsstrukturen fernzuhalten. Ich habe mich politisch nie besonders engagiert. Berufsmäßig bin ich selbständig, ich bin viel herumgereist. Ich würde mich zur Mittelklasse zählen, wenn sie, natürlich, als solche bei uns existiert. Ich habe vier Kinder: Die beiden älteren Mädchen leben ständig in Europa. Bezüglich des russischen Rechtssystems und der Willkür bei den Gerichten habe ich mir niemals irgendwelche Illusionen gemacht. Meine Hoffnung war, dass nie jemand von uns mit unserer Polizei oder unseren Gerichten überhaupt etwas zu tun haben muss.


     
    Wieviel Geld haben sie ausgegeben, um ihrem Sohn zu helfen?


    Die Hauptausgaben waren die für den Anwalt. Er wurde uns vom Vorsitzenden der Bürgerrechtsorganisation „Agora“, Pawel Tschikow, vermittelt. Ich war schon vorher ihm über Twitter verlinkt. Den ersten Anwalt, den Tschikow uns vorgeschlagen hat, haben wir abgelehnt: Er hatte vorher eine bekannte Regimegegnerin verteidigt, und wir konnten keinen Anwalt gebrauchen, der überall schon gleich in die Schublade eines Oppositionellen gesteckt wird. Unsere Kinder sind keine Oppositionellen, sie sind Extremsportler. Sie mischen sich nicht in die Politik ein, sie leben für ihre eigenen Interessen, in einer kleinen Gruppe von Gleichgesinnten. Und sie haben ein sehr gutes Verhältnis untereinander: Die anderen Basejumper aus dem Freundeskreis von Alexej haben mir zum Beispiel geholfen, Geld für seinen Verteidiger zusammenzubringen. Für die Dienste des Anwalts haben wir ungefähr 300.000 Rubel [damals etwa 8000 Euro] ausgegeben. Das ist für uns nicht übermäßig viel Geld. Wir haben alle feste Arbeit, und Alexej selbst hat auch viel gearbeitet vor seiner Festnahme. Er ist Ingenieur in einer Baufirma, ein Spezialist für Bauwerksplanung. Sein Arbeitgeber hält große Stücke auf ihn. Deshalb entlässt er ihn jetzt auch nicht. Er hält die Stelle frei, bis Alexej wieder zur Arbeit zurückkehren kann. 
     

    Was werden Sie machen, wenn die Basejumper zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden?


    Nun, ich werde wohl keine Meetings und Mahnwachen zur Verteidigung meines Sohns organisieren. Dabei – auch mich haben die Wahlfälschungen bei der Dumawahl von 2011 empört und ich war von Anfang an der Meinung, dass die Mitglieder von Pussy Riot nicht im Gefängnis sitzen sollten. Aber der Großteil der russischen Bevölkerung steht eben auf der Seite von Putin. In ihren Augen sind die Mitglieder und Sympathisanten der Protestbewegung nichts als Vaterlandsverräter, die Fünfte Kolonne oder einfach Verrückte. Ich will nicht, dass landesweit Fernsehsendungen ausgestrahlt werden, die mich mit einem Protestplakat in der Hand zeigen. Sollte der Prozess tatsächlich nach dem schlimmsten Szenario ablaufen, werde ich versuchen, die Frage auf juristischer Ebene zu entscheiden und Briefe an die verschiedensten Instanzen schreiben. Putin habe ich früher schon einmal geschrieben.


    Wie kam es denn dazu?


    Vor einiger Zeit bekam ich ständig Anrufe von einer Bank mit der Forderung, einen Kredit abzubezahlen. Die Sache ist, dass ich diesen Kredit überhaupt niemals aufgenommen hatte. Es war eine Art Erpressung. Alle meine Beschwerden über die Bankmitarbeiter blieben wirkungslos, die Belästigungen gingen einfach weiter. Und da habe ich eine Beschwerde an Putin geschrieben. Nach einiger Zeit kam auch tatsächlich eine Antwort. Man schrieb mir zurück, dass meine Beschwerde an die Bezirksstaatsanwaltschaft weitergeleitet worden sei – und die Anrufe hörten auf. Ich vermute, dass, wenn ein Brief an Putin geschrieben wird, die Präsidialverwaltung verpflichtet ist, mit ihm auch irgendetwas zu tun – man muss ja einen Bericht vorlegen können über die durchgeführten Maßnahmen. Wenigstens lesen müssen sie ihn ja. Auf wen kann man denn sonst noch hoffen?

    Auf die Presse, die Blogger, die öffentliche Meinung?

    Die Journalisten haben sich zu Anfang aktiv für uns interessiert, als unsere Kinder gerade festgenommen worden waren. Vor unserem Haus stand rund um die Uhr ein Wagen des Fernsehsenders NTW. Ein Freund von mir, der bei NTW arbeitet, hat mich aber gleich gewarnt, dass man diesem Sender besser keine Interviews geben sollte. Das Interesse der Journalisten liess dann schlagartig nach, als klar wurde, dass unsere Kinder mit der Sache überhaupt nichts zu tun hatten. 


    Dass sie unschuldig ein halbes Jahr unter Arrest zubringen müssen, ist also nicht interessant?


    Nein, inzwischen hat der Journalismus uns vergessen, die ganze Angelegenheit ist aus den Medien verschwunden.


    Gib es etwas, woraus Sie derzeit so etwas wie moralische Unterstützung beziehen?


    Ein wenig beruhigt mich der Gedanke, dass der Staatsanwalt und der Richter eines Tages auf langsamem Feuer in der Hölle köcheln werden. Aber im Ernst: Dass sie unsere Jungs und Mädchen immer noch nicht freigelassen haben, ist ohne Zweifel eine Ungerechtigkeit. Aber das Leben in unserem Land ist überhaupt ungerecht, und nicht nur in unserem Land. Ich habe mich daran gewöhnt und mache mir keine unnötigen Hoffnungen. Dennoch lässt mir natürlich die Frage keine Ruhe, wie es mit Alexej und den anderen weiter gehen soll. Allen ist inzwischen klar, dass die Basejumper an dem Tag nur zufällig auf dem gleichen Gebäude waren, und auch die Gerichtsexperten haben ihre Schuld in keiner Weise bestätigt. Aber sie werden nicht freigelassen. Statt dessen wird der Hausarrest wieder und wieder verlängert. Alle unsere Vorschläge, den Arrest in einen Freigang zu verwandeln, dass Alexej und die anderen sich also per Unterschrift verpflichten, die Stadt nicht zu verlassen, sind abgelehnt worden. Das Gericht sagt, es bestehe die Vermutung, dass sie dann weiter „gesetzwidrigen Aktivitäten nachgehen“ werden. Dabei ist keiner von ihnen in irgendeiner Weise zuvor auffällig geworden oder gar vorbestraft. Sie arbeiten alle oder studieren. Sie waren einfach nur durch Zufall zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber der Prozess geht weiter, und ein Ende ist derzeit absolut nicht abzusehen … 


    Am 10. September 2015 sind alle vier Basejumper vom Tagansker Bezirksgericht in Moskau freigesprochen worden, nachdem sie über ein Jahr unter Hausarrest zugebracht haben. Mediazona hat eine online-Reportage aus dem Gerichtssaal (auf Russisch). Die Anwälte der Angeklagten gehen allerdings davon aus, dass gegen den Freispruch von Seiten der Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt wird. [dek]

    update: Auf jetzt.de gibt es eine großartige Geschichte über hardcore-Skater, die mit den Basejumpern befreundet sind. Die Skater berichten dort auch vom Schicksal ihrer gleitschirmspringenden Freunde, wie es der Vater von Alexej in diesem Interview schildert.

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  • Welche Veränderungen hat 2014 gebracht?

    Welche Veränderungen hat 2014 gebracht?

    Russische Wissenschaftler, Philosophen und Intellektuelle antworten auf die wichtigste Frage des Jahres.

    Oleg Aronson, Philosoph

    Was dieses Jahr geschehen ist, hatten viele bereits auf die eine oder andere Weise vorhergeahnt. Dennoch ist es nicht leicht, über die Veränderungen im Jahr 2014 zu reden. Meiner Meinung nach betreffen sie nicht nur die politischen und wirtschaftlichen Umstände, sondern vor allem etwas, das ich unser moralisches Gespür nennen würde. Man kann zwar kaum sagen, dass dieses Gespür selbst nun ein anderes wäre als vorher, aber es war im vergangenen Jahr intensiven Attacken ausgesetzt, Attacken auf die Emotionen und das Bewusstsein: 2014 war ein Kriegsjahr, mit allem, was dies mit sich bringt.

    Der Krieg in der Ukraine ist in keiner Weise ein lokaler Konflikt und auch nicht einfach nur eine politische Rivalität unter Staaten oder eine banale Aggression. Die globale Welt, in der wir leben, hat die Epoche der Eroberungskriege bereits hinter sich, heute rennt niemand mehr geopolitischen Phantasmen hinterher. Welche Kriege in einer globalen Welt möglich sind, können wir uns bislang überhaupt nur begrenzt vorstellen: Wir wissen das eine oder andere über die Einsätze der USA im Irak oder in Afghanistan, aber diese Erfahrungen kann man nicht übertragen, denn bei diesen Kriegen wird der Feind noch im klassischen Sinne verstanden. Der Krieg in der Ukraine ist etwas anderes, er hat eher Ähnlichkeit mit einem Bürgerkrieg, allerdings mit einem, der nicht innerhalb der Ex-UdSSR vor sich geht, sondern auf dem Territorium der globalisierten Welt als ganzer.

    In diesem Krieg offenbart sich, wie vollkommen unangemessen sich Russland derzeit politisch gesehen verhält. Mehr als alles sonst fällt ein vollkommen unverhohlener Zynismus ins Auge. Je mehr die Politiker über Frieden sprechen, desto mehr entsteht der Eindruck, dass der Frieden an sich unmöglich ist.

    Ich denke, dass in einer wirtschaftlich globalisierten Welt alle Kriege die Tendenz haben, zu Bürgerkriegen zu werden, also zu Kriegen, in denen es keinen politischen Freund oder Feind gibt, oder es sie nur der Bezeichnung nach gibt, und in denen das Politische sich überhaupt als eine Fiktion erweist. Diese Art von Kriegen findet sozusagen im  Mass-Media-Modus statt. Die Kriegshandlung selbst ist dabei nur eine besondere Art von Effekt – wenn auch ein besonders dramatischer. Wir alle wissen, dass es Opfer gibt. Aber der eigentliche Krieg wird mit den Waffen der Medien geführt, und mit diesen Waffen wird im Grunde auch getötet. Beenden kann man solch einen Krieg nur, indem man die Medien radikal depolitisiert. In Russland sehe ich dafür bislang keine Anzeichen.

    In der globalen Welt braucht Krieg keinen konkreten Feind mehr. Der Krieg selbst verdrängt an Wichtigkeit den Gegner. Auch die Ukraine ist eigentlich ein zufälliger Feind. Im Grunde spielt die Trennung in politische Freunde und Gegner keine Rolle mehr, der Gegner kann jeder sein. Für die Politik ist nur wichtig, dass der Krieg weitergeht.

    Michail Gelfand, Professor für Bioingenieurwesen und Bioinformatik an der Lomonossow-Universität Moskau

    Der Krieg in der Ukraine, den Russland angezettelt hat, hat ausnahmslos alles verändert. Alle weiteren Ereignisse dieses Jahres sind Folgen dieses Krieges.

    Ljudmila Petranowskaja, Psychologin

    Die wichtigste Veränderung, was Russland angeht, besteht darin, dass von staatlicher Seite der Gesellschaftsvertrag annulliert worden ist. Dieser Vertag war bisher seinem Wesen nach ein Handel: Die Bürger verzichteten auf jegliche Kontrolle der staatlichen Machtausübung und erhielten dafür ein Grundmaß an Wohlstand und Stabilität. Im vergangen Jahr wurde den Bürgern dann gesagt, der Posten „Stabilität“ sei auszutauschen gegen den Posten „Großmacht“. Das sah für viele erst einmal verlockend aus. Aber schon gegen Ende des Jahres stellte sich heraus, dass von der Stabilität so gut wie gar nichts mehr übriggeblieben ist, der Wohlstand von Tag zu Tag dahinschmilzt, und mit der Großmacht hat es auch nicht so recht geklappt. Russland hat sich mit der ganzen übrigen Welt zerstritten, eine Menge alter Freunde verloren und seine Ziele nicht erreicht – mit Ausnahme desjenigen der Krim vielleicht. Aber auch da ist derzeit alles andere als klar, wie es weitergehen soll. Es wurde viel versprochen, aber nichts vollbracht. Faktisch gibt es jetzt überhaupt kein irgendwie greifbares Abkommen zwischen der Bevölkerung und der Staatsmacht mehr. Und das ist eine einschneidende Veränderung, denn zuvor gab es über 15 Jahre hinweg solch ein Abkommen und praktisch immer in der gleichen Form. Wie diese Situation sich weiterentwickelt, werden wir im nächsten Jahr erleben.

    Olga Sedakowa, Lyrikerin und Übersetzerin

    Das Jahr 2014 war nach meinem Empfinden eine Katastrophe. Wir (damit meine ich unser Land) haben eine ganz bestimmte Linie überschritten, und es gibt keinen Weg mehr zurück. Oder wenn es ihn gibt, dann ist er sehr schwierig zu finden. Zu Gorbatschows Zeiten sprach man von „allgemeinen menschlichen Werten“: Humanismus, Achtung vor dem Gesetz, eine generelle Vernünftigkeit, historische Zurechnungsfähigkeit … Dagegen ist das ganze abstoßende Gerede, das wir stattdessen jetzt als unsere angebliche nationale Identität serviert bekommen sollen, wirklich nichts als Schwachsinn. Es ist eine Mischung aus Protonazismus und Neostalinismus. (Neu ist in diesem Stalinismus allerdings die totale Gewissenslosigkeit: Zu Stalinzeiten hat man die Grausamkeit und Gemeinheit des Regimes versteckt oder wenigstens verschwiegen, nun aber zeigt man sie stolz herum). Hass und bisher nie dagewesene Dreistigkeit – das ist die Tonart der Musik, die jetzt gespielt wird.

    Ich habe in meinem ganzen langen Leben noch nie solch einen Unsinn gehört, wie man ihn jetzt überall zu hören bekommt. Und nicht nur in den Medien, obwohl die natürlich den Ton angeben. Auch unsere Mitbürger greifen das alles freudig mit auf! Man hört diese Obszönitäten heute selbst vom Nachbarn, den man noch vor einem halben Jahr für einen anständigen Menschen gehalten hat.

    Der kalte Krieg mit der Welt um uns herum hat begonnen. Und es beginnt auch ein (bisher noch) kalter Bürgerkrieg. Unsere Einschätzung davon, wer auf unserer Seite steht, wer unser nächster ist, hat sich ganz entschieden geändert. Es bricht überall etwas auseinander. In den Familien, im professionellen Umfeld, sogar in den Kirchengemeinden. Und es geht da nicht einfach um einen vorübergehenden Streit, sondern um eine tiefgehende Spaltung. Man hat sich so weit voneinander entfernt, dass eine Kommunikation nicht mehr möglich ist. Alles was bleibt, ist einander zu beschimpfen.

    Das ist natürlich alles nicht von heute auf morgen so gekommen, sondern hat eine Vorgeschichte. Aber was wir jetzt erleben, ist eine Stunde der Wahrheit. Dadurch wird die Lage nicht einfacher. Aber wir können immerhin die Augen nicht mehr davor verschließen, dass eine neue Zeit anbricht und wir uns ihr stellen müssen.

    Alexej Zwetkow, Schriftsteller und Essayist

    Es gibt diese Neujahrstradition, dem auslaufenden Jahr Flüche hinterherzuschicken und darauf zu hoffen, dass das neue Jahr besser wird. Es ist dabei schon fast unwichtig, was im scheidenden Jahr eigentlich gewesen ist, weil wir in jedem Fall etwas Besseres wollen. Dieses Mal ist es allerdings so, dass das vergangene Jahr tatsächlich Flüche verdient und 2015 sich schon sehr anstrengen müsste, um in die gleichen Niederungen abzustürzen. Aber auch das kann geschehen.

    Wer hätte je gedacht, dass 100 Jahre nach dem Beginn eines Krieges, in dem drei Imperien zu Grunde gegangen sind und die ganze damalige Weltordnung dazu, jemand den Versuch unternehmen würde, ein viertes solches Imperium zusammenzuschweißen, und mit derart tragischen Folgen für die Nachbarn. Und tragisch ist das natürlich nicht nur für die Ukraine, die hoffentlich noch die Chance hat, aus diesem ganzen Schlamassel heil herauszukommen. Es ist auch ein Drama für Russland selbst, denn vor uns selbst können wir nirgendwohin fliehen. Und auch die Hoffnung auf die Generation, die nach dem Zerfall der UdSSR aufgewachsen ist und die hätte freier und glücklicher sein sollen als wir, ist auch erst einmal dahin. Wenn es vielleicht auch einem Teil dieser Generation gelingen wird, sich wie Schiffbrüchige irgendwie zu retten. 

    Das Schlimmste ist der Verlust von Freunden – oder von denen, die man für Freunde gehalten hat. Wenn es nur Missverständnisse wären – Missverständnisse kommen nun einmal vor, und es gibt fast immer einer Möglichkeit, sie aufzuklären. Aber jetzt sieht es so aus, als würde sich die gemeinsame Welt, in der man zu leben glaubte, auf immer spalten. Das ist sehr schmerzhaft. An die Toten kann man wenigstens gute Erinnerungen behalten, viel schlimmer ist es, Lebende aus seinem Gedächtnis zu streichen.

    Allerdings sind diejenigen, die man in diesen Zeiten als Freunde behalten hat, dann umso wertvoller. Ganz zu schweigen von denen, die neu dazugekommen sind, zusammen mit der Ukraine, in der diese neuen Freunde leben und aus der ich ursprünglich komme und wo ich nun längst vergessene Kontakte wiedergefunden habe.

    Michail Jampolski, Philosoph

    Im Jahr 2014 hat Russland die Zone von Berechenbarkeit und Rationalität, ja überhaupt die von sinnvollen Kausalitäten verlassen. Alle Normen sind zerstört und das Land ist in eine politische und wirtschaftliche Krise gestürzt. Das soziale Gefüge besitzt keine stabile Konfiguration mehr, es befindet sich in einer Turbulenzzone. In der Systemtheorie nennt man dies ein instabiles Metasystem. In solch einem Zustand kann sich der geringste Einfluss ungeheuer verstärken und zu vollkommen unvorhersehbaren Resultaten führen. Anstelle vorausschauender Planungen kann es jetzt nur noch kurzfristige Überlebensstrategien geben. Man findet in Russland heute keinen einzigen Menschen mehr, der in der Lage wäre, langfristig zu investieren, und das nicht nur, was Geld, sondern auch, was die eigene Kraft angeht. Die Institutionen, welche die Gesellschaft hätten stabilisieren können, sind in ihren Strukturen geschwächt oder überhaupt hinfällig geworden. Das Gefühl, dass sich das ganze politische System nur an einem Menschen festhält – dem Präsidenten – wird immer stärker. Dieses Gefühl hat einen neuen Personenkult hervorgebracht, aber zugleich die Schwächen der Fundamente der russischen Gesellschaft offenbart: Es gibt keine Gerichte, keine politischen Parteien, keine soliden staatlichen Institutionen, keine funktionierende Wirtschaft … Das alles ändert das Bewusstsein der Menschen radikal. Und es bringt alle Maßstäbe von Zeit durcheinander. Eine mögliche 10-jährige Haftstrafe für den Oppositionspolitiker und Blogger Alexej Nawalny entspricht dann fast schon einer lebenslangen Haft – oder nur einer dreimonatigen, man kann es überhaupt nicht sagen. Die Perspektive von Zeit ist überhaupt verschwunden. Es entsteht und verbreitet sich eine Vorahnung des absoluten Systemkrachs. Und diese Transformation der Zeitperspektive und der Erwartungen wird selbst wiederum zu einem gewaltigen Destabilisierungsfaktor. Kurz gesagt, es sieht so aus, als ob das Jahr 2014 das Ende einer ganzen Epoche gewesen ist.

    Alexander Etkind, Philologe und Historiker

    Für Europa und für den Rest der Welt war 2014 das Jahr Russlands. Bei sehr vielen Menschen hat dieses Jahr ihre bisherige Vorstellung über den Charakter des russischen Staates verändert, über seine Legitimität und Lebensfähigkeit. Ich denke, in Russland selbst wird eine solche Neubewertung auch noch stattfinden, vielleicht sogar schon im nächsten Jahr.

    Anna Jampolskaja, Philosophin

    Ein großer Teil meiner Bekannten gehört zu denen, die man in Europa als Linke bezeichnet und in Russland als Liberale. Sie alle sind in eine Art Depression verfallen, ja in Verzweiflung. Es ist klar geworden, dass unsere soziale Gruppe, die sich lange Jahre als intellektuelle Avantgarde der Gesellschaft bezeichnet hat, mit der Mehrheit der Bevölkerung keine gemeinsame Sprache mehr hat. Wir haben keinen Traum mehr, den wir dem Menschen auf der Straße anbieten könnten. Das Wort haben jetzt die Traditionalisten, und sie verkünden: „Vorwärts in die rosige Vergangenheit!“ Und so befinden sich die europäischen ultrarechten und Putinisten derzeit im Aufstieg, und die ehemaligen Revolutionäre und Modernisten können nur wie ein Mantra wiederholen: „Freiheit“, „Gerechtigkeit“ … Diese Worte haben aber durch übermäßigen Gebrauch ihre beschwörende Kraft längst verloren.

    Niemand, auch wir selbst nicht, glaubt noch daran, dass man eine gerechte, freie Gesellschaft erschaffen kann. Wir sind nicht in der Lage, uns selbst, geschweige denn den anderen, ein positives Bild von Zukunft aufzuzeigen. Wir haben keine Hoffnung mehr. Ich denke aber, dass unsere Niedergeschlagenheit, unsere Verzweiflung und intellektuelle Kraftlosigkeit nichts mit einer tatsächlichen oder eingebildeten Besonderheit Russlands zu hat. Sie ist ein Zeichen unserer Zugehörigkeit zum europäischen Schicksal. Und deswegen ist es so wichtig, die Herausforderungen anzunehmen und diese Zeit mit erhobenem Haupt zu überstehen.

    gekürzt – dek.

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