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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Entlaufene Zukunft

    Entlaufene Zukunft

    Zwar gibt es keine genauen Statistiken, doch vieles spricht dafür, dass die Zahl der gut ausgebildeten russischen Auswanderer steigt. Iwan Dawydow von The New Times versucht, die aktuelle Lage greifbar zu machen und geht der Frage nach, was die jungen Menschen antreibt.

    Der neue politische Kurs des Kremls hat allerlei Auswirkungen, sichtbare wie verborgene. Eine der verborgenen ist die Entstehung einer neuen Klasse von Auswanderern. Junge, talentierte Leute, die in Russland bereits erfolgreiche Unternehmer sind oder beschlossen haben, anderswo bei null anzufangen, verlassen das Land oder planen den Aufbruch. Dabei geht es hier nicht um eine Massenflucht. Beim Großteil der Bevölkerung ist alles genau umgekehrt. Soziologen des Lewada-Zentrums stellen fest: Im Jahr 2015 ist die Zahl der Ausreisewilligen gesunken. Waren im Mai 2012 noch 46 % der Russen dezidiert gegen Emigration, so sind das jetzt 57 %, und die Zahl jener, die definitiv ausreisen wollen, ist im selben Zeitraum von 6 % auf 3 % gesunken. Auf die Frage „Haben Sie jemals in Erwägung gezogen, aus Russland auszuwandern?“ haben 2012 noch 67 % der Befragten geantwortet: „Daran denke ich überhaupt nicht“, 2015 waren das 73 %.

    So muss es auch sein: Der Hurra-Patriotismus der Propaganda wird ja gerade von den Massen jubelnd begrüßt, die bisher die Folgen des Konflikts mit dem Westen nicht ernsthaft am eigenen Leib gespürt haben. Wobei nach Angaben des Außenministeriums die Zahl der Russen, die ständig im Ausland leben, im vergangenen Jahr um 26.000 gestiegen ist und damit die 2-Millionen-Marke überschritten hat. Aber in den Reihen derer, die sich gestern noch in Russland selbständig machen wollten, die bereit waren, Talent und Grips in die Entwicklung des Landes zu stecken, die nicht von einer Karriere in der Stadtverwaltung oder beim FSB träumten, scheint gar niemand mehr übrig zu sein, der sich nicht für die Preise erschwinglichen Wohnraums in Portugal interessieren, nicht ein bisschen ins tschechische Recht reinschmökern, nicht gelegentlich überlegen würde, womit man denn in London die Leute auf sich aufmerksam machen könnte …

    Genaue Statistiken gibt es dazu noch keine, man muss mit indirekten Daten operieren oder sogar seinen persönlichen Eindrücken. Michail Denisenko, stellvertretender Leiter des Instituts für Demografie an der Higher School of Economics, meint dazu gegenüber The New Times: „Es wandern vor allem Reiche, Gebildete, Fachleute und junge Menschen aus.“ Ihm zufolge ist allein die Zahl jener, die nach Europa ziehen, seit fünf Jahren im Steigen begriffen. Man könne jedoch nicht von einem steilen Wachstum innerhalb eines Jahres sprechen, denn die statistischen Kennzahlen in Europa erfassen längere Zeiträume. Entscheidend ist hier aber nicht, wie viele Leute weggehen, sondern: welche. Anfang der Neunziger liefen vor der russischen Armut jene davon, die sich den Westen als leuchtenden Supermarkt erträumten. In den Jahren des Ölreichtums waren es die Begüterten und die wahren Herrscher über das Land – Silowiki und Staatsbedienstete – , die sich Yachten und Paläste anschafften. Die neuen Emigranten sind ein ganz anderer Fall. Das sind Menschen, die bereit sind, mit eigenen Händen Zukunft zu erschaffen, ihre eigene und die ihres Landes. Und natürlich werden sie das auch machen, sie sind schon mittendrin, bringen Europa zum Staunen: „Die Russen können ja mehr als Kalaschnikows und Panzer herstellen.“ Nur erschaffen sie diese Zukunft weder in Russland, noch für Russland.

    Auch indirekte Anzeichen weisen auf die neuen Emigranten hin. „Das Interesse an der Ausfertigung von Aufenthaltsberechtigungen ist gewachsen, in den letzten zwei Jahren ist etwa die fünffache Menge an Anträgen eingegangen“, erklärt Sofija Axjutina, Koordinatorin für internationale Projekte in der Agentur Euro-Resident. „Früher sind Leute mit beträchtlichen finanziellen Möglichkeiten ins Ausland gegangen, jetzt wollen es auch welche mit kleinem Budget tun.“ Am beliebtesten, sagt sie, sind Spanien, Italien, Deutschland und Belgien sowie, etwas abgeschlagen, Kroatien und Montenegro, wobei früher viele dort hinzogen. Die neuen Emigranten sind also alles andere als Milliardäre und suchen sich wohlüberlegt Orte aus, wo man nicht nur angehäuften Besitz verleben, sondern auch arbeiten und Geld verdienen kann. Politische Reden schwingen sie zwar nicht, ihre Entscheidung ist aber zweifellos als politische Geste zu verstehen. Sie sind nicht gewillt, ihre eigene Zukunft in einem Staat zu riskieren, der von den Silowiki beherrscht wird.

    Sang- und klanglos zu verschwinden ist auch eine Art, in einem Land Politik zu machen, in dem die Bürger keinerlei Möglichkeiten haben, das Vorgehen der Machthaber zu beeinflussen. Der Held aus Tschechows „Fall aus der Praxis“ beantwortet die Frage, was unsere Kinder und Enkel machen werden, so: „Wahrscheinlich lassen sie alles liegen und gehen fort … Einem guten, klugen Menschen steht ja die ganze Welt offen.“ Der Klassiker hat es erraten: Sie gehen fort.

     

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  • Die Propagandamacher (Teil 1)

    Die Propagandamacher (Teil 1)

    Russland informiert sich aus dem Fernsehen, doch das Fernsehen liefert nicht nur Information. Das Kulturportal Colta.ru veröffentlichte im August eine Serie von Berichten aus dem Inneren der staatlichen TV-Sender, in denen Mitarbeiter schildern, wie Nachrichten in Propaganda verwandelt werden. Wir bringen Teile dieser Serie auf dekoder.

    Die folgenden Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern der Allrussischen Staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft WGTRK wurden aufgezeichnet von Alexander Orlow und Dimitri Sidorow. Orlow war stellvertretender Chefredakteur der Fernsehsender Rossija 24 und Rossija 2 und wurde im Juli 2013 wegen facebook-Postings entlassen, die Alexej Nawalny unterstützten. Er plant nun ein Buchprojekt zu den Arbeitsumständen bei den Staatssendern und hat uns [dem Internetprojekt Colta, Anm. dek.] einen Teil seines Materials im Voraus zur Verfügung gestellt.

    Ein ehemaliger Mitarbeiter der Allrussischen Staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft WGTRK berichtet:

    Im Februar 2014 gab es eine Besprechung, bei der der Chefredakteur sagte, der Kalte Krieg fängt an. Nicht der Informationskrieg – der lief schon längst, darüber wussten sowieso alle Bescheid. Sondern so ein richtiger Kalter Krieg, etwas, das den meisten wie ein Atavismus vorkam. Er sagte, es beginnt eine Epoche, gegen die die 70er und 80er Jahre Kinderkram waren. Deshalb sollten sich die, die da nicht mitmachen wollten, besser gleich ein anderes Betätigungsfeld suchen, außerhalb des Nachrichtensenders. Und für alle anderen gilt: Welcome to the Club. Gegangen sind nur ein paar und auch nicht sofort, allmählich, nach und nach, ohne groß Porzellan zu zerschlagen oder ein Drama draus zu machen. Respekt für ihre Haltung und ihren klaren Kopf. Alle anderen sind geblieben.

    Die Leute im Top-Management waren ja nicht dumm. Alle heiklen Fragen wurden im engsten Kreis besprochen und nicht auf den großen Redaktionskonferenzen mit 25–30 Ressort- und Abteilungsleitern. Nach den Freitags-Briefings im Kreml kamen die Chefs zurück in den Sender, holten ihre engsten Vertrauten zusammen und hielten Besprechungen ab, zu zweit oder dritt. Sie legten die Kernthemen fest. Dann wurde alles nach unten weitergegeben. Die Politik im Sender war völlig undurchschaubar. Auch das war Teil des Kalten Krieges – alles lief extrem verschlossen ab, keinerlei offene Diskussionen.

    „Junta“, „Ukropy“ oder „Banderowzy“: Diese Begriffe sollten die Moderatoren benutzen – die, die vor der Kamera stehen. Extra für sie wurden solche Formulierungen bei den Treffen im engen Kreis zurechtgeschnitzt. Aus dem Mund des Chefredakteurs habe ich sie nie als Vorgabe gehört. Auf den Redaktionskonferenzen wurde eine Agenda formuliert. Es war klar, dass die Berichterstattung zur Ukraine voll aufgedreht werden sollte – unbedingt je eine Geschichte pro Tag von der Krim, aus Donezk und aus Kiew. Im März 2014, nach dem Referendum, war die übliche Ansage: jeden Tag mindestens ein neues Thema von der Krim, möglichst mehr. Jeden Tag musste berichtet werden, wie die Krim sich entwickelt, wie Wissenschaft und Gewerbe florieren und wie der Wohlstand und die Freude unserer neuen Mitbürger wachsen.

    Die Frage, von welcher Seite man das beleuchten sollte und ob man diejenigen erwähnt, die unzufrieden sind, stellte niemand, das war sinnlos, wäre reine Zeitverschwendung gewesen. Das Gleiche mit den Korrespondenten. Sie erfüllten eine rein technische Funktion – der richtigen Person das Mikro hinhalten, das richtige Statement aufnehmen, die richtige Info rausbringen.

    Die, die im Kriegsgebiet waren, die Kriegsberichterstatter, konnte man menschlich verstehen. Erstens wurden sie von ihren großen und kleinen Chefs mit massiver Propaganda zugedröhnt. Zweitens: Wenn du an der Front bist und auf dich geballert wird, dann hasst du nach ein, zwei oder drei Wochen die, die auf dich schießen – und die Jungs hockten dort anderthalb bis zwei Monate ohne Pause. Klar, dass sich in ihren Berichten die Akzente verschoben. Es gab aber moderate Korrespondenten, die aus einer Mücke keinen Elefanten machten. Wenn eine Granate fiel, sprachen sie auch von einer und nicht von einem Bombenteppich.

    Wie schon gesagt, alles wurde von Hand kontrolliert. Als die ersten Minsker Gespräche liefen und es hieß, dass wohl irgendein Frieden kommt,  gab es ein Verwendungsverbot für die Wörter „Faschisten“, „Banderowzy“ oder „Junta“. Danach schwang das Pendel zurück und alles ging von vorn los. Als Strelkow anfing, Städte einzunehmen, standen ihm sämtliche Kanäle offen, er wurde rauf- und runtergesendet. Später musste er dann weg aus dem Scheinwerferlicht, und wir haben ihn einfach nicht mehr so oft gezeigt.

    Die Propagandamaschine brachte es im Zusammenhang mit diesem Krieg zu unglaublichen Zuschauerzahlen. Die Quoten von Rossija 24 stiegen immer weiter – auf das Anderthalb-, Zwei- und Dreifache der Zeit vor dem Krieg. Wir beide wissen ja, Fernsehleute sind Adrenalinjunkies. Plötzlich ist Krieg. Richtiger Krieg – mit Blut, zerfetzten Eingeweiden und Einschlaglöchern von Geschossen im Boden und den Häusern. Kann sein, dass manche das als Spiel sahen, so was Postmodernes. Andere hatten einfach begriffen, dass sich damit richtig Kohle machen lässt – nicht mit dem Krieg als solchem, sondern damit, ihn im richtigen Licht darzustellen: Dass man so letztlich neue Hebel in die Hand kriegt und neue Finanzströme anzapfen kann. Und die setzen alles daran, ihr Ziel zu erreichen.

    Es tauchten auch sofort eine Menge Freelancer auf, die uns zugearbeitet haben, ein Haufen kleiner Produktionsfirmen. Sie haben Videos gemacht, keine besonders guten: Jemand schickte einen 45-minütigen Film über Donezk, in dem einfach Milizen hin- und herlaufen und rauchen, mit schlecht verständlichen Livepassagen und Synchronisierungen. Absolut wertlos, selbst unter Propagandagesichtspunkten, einfach verworrenes Zeug à la schlechtes Autorenkino. Und das wurde zur Primetime gesendet und am Wochenende viermal wiederholt. „Was soll dieser Mist?“, habe ich gefragt und kriege als Antwort: „Alter, du kapierst das nicht, das bringt Riesenquoten.“

    Anders als beim Krieg mit Georgien war das perfekt vorbereitet, ganz systematisch. So eine Vorbereitung ist nicht innerhalb von drei Tagen oder bei einer einzigen Besprechung zu machen. Das waren Wochen, Monate und Jahre.

    Einen Krieg der Sender untereinander, also einen Wettbewerb, gab es schon nicht mehr. Aus der Präsidialverwaltung kam die Anweisung: Schluss. Jetzt geht’s nicht mehr darum, wer hier der Tollere ist und mehr Exklusivmaterial hat. Exklusivbeiträge gingen nur dort, wo der eine die Großmutter von jemandem gefunden hat und der andere den Großvater von jemand anders. Alles andere floss zusammen in einen einzigen massiven Strom. Alle haben wild alles untereinander ausgetauscht – Bildmaterial, Sprecher, Kontakte. Alles wurde ein großes Ganzes. Aus unterschiedlichen Holdings, unterschiedlichen Aktionären, unterschiedlichen Medienstrukturen entstand ein gemeinsamer Propaganda-Organismus.

    Im Sender kamen keinerlei Diskussionen auf. Manchmal emotionale Ausbrüche im Raucherzimmer – aber auch das nur zwischen Leuten, die sich einigermaßen vertrauten. Nicht jeder redete mit jedem. Ein Klima des Misstrauens – die ständige Möglichkeit, dass jemand denunziert. Aber alle wussten eh alles voneinander. Der Chefredakteur kannte meine Überzeugungen, lud mich zu Besprechungen gar nicht erst ein, ihm war klar, dass ich da etwas nicht mögen würde. Mir war das absolut recht.

    Von den wirklich überzeugten Leuten, wie Mamontow oder Semin, die das alles tatsächlich glauben, gibt es nicht so viele. Im Grunde genommen sind alle so ähnlich wie Dimitri Kisseljow, Stufe-50-Trolle oder wie auch immer er sich da nennt. 40–50 Prozent von ihnen waren auf dem Bolotnaja-Platz, ihnen war das Ganze absolut zuwider. Aber gekündigt haben sie nicht, aus ganz trivialen Gründen – die Familie, Kredite. Außerdem war allen klar, dass man nirgendwohin wechseln kann. Manche haben ihren Kummer im Wein ersäuft, andere Drogen genommen. Oder sie haben sich stattdessen in die innere Emigration begeben, am Wochenende Bücher gelesen und versucht, alles von Montag bis Freitag zu vergessen. Für mich selbst war das alles – ich scheue das Pathos nicht – eine Tragödie. Mir war klar, dass ich mich seit anderthalb Jahren mit ziemlich beschämenden Sachen beschäftigte.

    Aber 25 % waren überzeugt und glaubten, dass sie das Richtige taten. Ich und meine Freunde – die echten, nahen, von denen die allermeisten nichts mit dem Fernsehen zu tun haben – wir haben uns sofort darauf geeinigt, über dieses Thema einfach nicht zu sprechen. Allen ist klar, in welcher Scheiße wir stecken, was im Land vor sich geht. Da muss man nicht noch weiter Salz in die Wunden streuen. Aber wenn du das Zeug selbst produzierst und innerlich nicht so stark bist, dann fängst du womöglich nach einer Weile an, es zu glauben. Die 86 % Zustimmung für Putin sind ja schließlich real.

    Meine persönliche, nur durch meine Gefühle belegte soziologische Analyse ist: 50 % der Leute im Sender waren ähnlich wie ich, 25 % waren überzeugt und den restlichen 25 % ist einfach alles komplett egal. Wenn Chodorkowski an die Macht käme und seinen Sender aufbauen würde, würden sie dort arbeiten – und wenn ein Faschist an die Macht käme, dann eben für den … Diese Leute wären, wenn sich die Lage mal grundsätzlich ändert, nicht in der Lage, zu einem normalen Journalismus und zu normalen Standards zurückzukehren – einfach deshalb, weil sie sie gar nicht kennen. Irgendwann wird man die alle durchsortieren müssen, aus dem Beruf werfen. Man muss völlig neue Leute auswählen und sie anders ausbilden.

    Ehemaliger Mitarbeiter im Nachrichtenbereich der WGTRK:

    Freitags um 12 Uhr mittags gab es ein Briefing im Kreml, zu dem alle Chefredakteure kamen. Der Chefredakteur unseres Senders erhielt einen gedruckten Plan, in dem alles stand: Wie und was und wer als Experte eingeladen werden sollte. Praktisch eine Anleitung, ein Stapel A 4-Blätter, 1 Zentimeter dick. Bei dieser Besprechung notierte der Chefredakteur Anmerkungen, die Korrekturen wurden direkt mit Bleistift eingetragen. Ich erhielt einen Teil dieses Stapels und arbeitete danach wie nach Plan.

    Die Besprechungen im Kreml wurden von verschiedenen Leuten geleitet. Ganz früher war das Alexej Alexejewitsch (Gromow – Anm. der Red.). Bei Surkow bin ich mir nicht sicher. Dann hat Dimitri Sergejewitsch (Peskow – Anm. der Red.) sie abgehalten. Als er anfing, war das zunächst ganz in Ordnung. Aber später kam man nicht mehr einfach so an ihn heran – hier per Brief, dort mit extra Anmeldung. Es entstand eine Art Kult um Peskow, er verhielt sich à la Putin – das bin ich. Er hat das nie gesagt, aber es wirkte so. Alexej Alexejewitsch hat dagegen immer gesagt: „Leute, wendet euch an mich, ich helfe bei allem, was nötig ist.“

    Jetzt gab es plötzlich „Telefonkonferenzen mit Peskow“, morgens und abends. Ich weiß nicht, ab wann. Ich glaube, es war frühestens zwei Wochen nachdem Putin zuerst verschwunden und dann triumphal zurückgekehrt war. Die liefen über die direkte Regierungsleitung, das gelbe Wählscheibentelefon. Da geht etwas vor sich. Keine Ahnung, was, ich bin zum Glück nicht dabei.

    Früher gab es bei unserer Arbeit keine großen Veränderungen. Man hatte das Gefühl, alles ist ruhig und friedlich, und dann kamen plötzlich ohne Ende Instruktionen von oben. Inzwischen gibt es immer Anrufe von oben oder nach oben, wenn im Sender solche Entscheidungen und derartige Fragen besprochen werden. Der Chefredakteur kann frei entscheiden, ob über einen Unfall im Moskauer Umland berichtet wird oder nicht. Aber was die große Politik, Krieg und Frieden, angeht, hat er keine Freiheit.

    Zum Beispiel war da diese Parade in Serbien. Nicht direkt zu Ehren von Putin, zu Ehren des Sieges [im Zweiten Weltkrieg; dek.]. Aber Putin war, sagen wir mal, anwesend, auch wenn er sich etwas verspätete. Die Parade war wirklich flott, wahnsinnig schön. Rossija 24 nahm das Signal vom serbischen Fernsehen auf und übertrug es nach Moskau. Die Serben hatten alles organisiert, wir nur eine Dolmetscherin für den Moderator der Parade besorgt. Es gab lediglich eine kleine Beschwerde, weil die Dolmetscherin eine Frau war. Der Chefredakteur war gerade nicht da, aber sein Stellvertreter. Der Chefredakteur hatte ihm vorher gesagt: „Wir zeigen die Parade so und so lange, dann gehen wir raus und machen Bild im Bild weiter.“ Offenbar hatte er diese Frage nicht abgestimmt, und es passierte Folgendes: Die Parade läuft, sie ist wirklich gewaltig, niemand hätte das erwartet. Und dann macht der stellvertretende Chefredakteur, was sein Chef ihm gesagt hat: Er lässt die Parade eine Zeitlang übertragen und verlegt sie dann in ein kleines Fensterchen.

    Da bricht die Hölle los, Dobrodejew ruft drei oder vier Mal an und brüllt wie von Sinnen, dass die Parade sofort wieder gezeigt und bis zum Ende übertragen werden soll. Zugleich regt er sich über die weibliche Dolmetscherin auf – warum übersetzt kein Mann? Es gab einen derartigen Zirkus wegen dieser Parade … Wir haben natürlich alles rückgängig gemacht und die Parade bis zum Schluss übertragen. Danach gab es wieder Anrufe: „Wie konntet ihr nur, was macht ihr da eigentlich für Mist?“ Die Festreden waren lange vorbei, er (Putin – Anm. der Red.) war längst nach Mailand weitergeflogen, und wir übertrugen immer noch. Bitte sehr, die Entscheidung hat der Chefredakteur getroffen – und obwohl er eigentlich Herr über den Sender ist, hatte er falsch gelegen und kriegte aufs Dach.

    Einmal haben wir über ein Arbeitstreffen zwischen Putin und dem kirgisischen Präsidenten berichtet, das noch gar nicht stattgefunden hatte. Die Sache ist die: Früher gab es die Richtlinie, dass wir Veranstaltungen, an denen der Präsident teilnimmt, nicht ankündigen, mit Ausnahme bedeutender und internationaler oder wichtiger nationaler Anlässe, zum Beispiel mit der Botschaft an die Föderalversammlung. Bei regulären Arbeitstreffen wird weder die Region bekannt gegeben, in der sie am Folgetag stattfinden, noch irgendetwas anderes. Solche Treffen wurden nur äußerst selten und auf besondere Weisung vorher angekündigt. In der Regel haben wir am gleichen Tag darüber berichtet, und fast immer im Nachhinein. Es hatte einmal ein Riesenproblem gegeben, als der Korrespondent während einer Liveübertragung sagte, dass das Flugzeug gelandet sei, obwohl es noch gar nicht gelandet war. Es ging um einen Unterschied von fünf Minuten, aber es war ein höllischer Skandal. Bei der Sache mit Kirgisistan war die Dame, die im Sender darüber berichtete, ohnehin keine große Leuchte. Sie schreibt selbst kaum Texte, sondern beschäftigt sich lieber mit ihrem Make-up. Die Regel, dass nichts vorab angekündigt werden darf, hatte sich ihr mit den Jahren fest eingebrannt, nachdem sie deshalb früher schon Ärger gehabt hatte. Und nun sah sie plötzlich die im Futur formulierte Meldung, dass das Treffen voraussichtlich nächste Woche stattfinden wird und sagte aus alter Gewohnheit „stattgefunden hat“. Und als es weiter unten im Text hieß „sie werden besprechen“, machte sie daraus in Gedanken „haben besprochen“.

    Die manuelle Kontrolle erstreckte sich sogar auf die Wettervorhersage, es gab dazu direkte Anweisungen. Zum Beispiel, dass sofort der führende Meteorologe Wilfand eingeladen werden muss, damit er sagt, dass ein furchtbarer Winter bevorsteht und wir alle frieren werden. Man fragt: „Und was, wenn kein kalter Winter kommt?“ Denn es sieht eher nach einem milden Winter aus. Aber es gibt die allgemeine Tendenz, auf der Abhängigkeit der anderen herumzureiten. „Wartet nur, bald drehen wir euch den Gashahn ab, und ihr werdet alle frieren.“ Also war die ständige Leier: „Uns steht ein kalter Winter bevor.“

    Auch bei den Briefings hieß es ständig: „Veranstaltet mehr Höllenzauber!“ Da kommt zum Beispiel von oben die Anweisung, dass eine Kamera gebraucht wird, bei irgendeiner Veranstaltung, und die Leute in der Besprechung fragen: „Was sollen wir denn da machen? Das ist doch ziemlich öde.“ Ein Kulturzentrum einer Botschaft organisiert eine Lesung – natürlich fragt man sich: Wozu braucht es da eine Kamera? Weil dort bestellte Leute hinkommen und eine Show inszenieren. So kann etwa irgendein passender Historiker auftauchen und losbrüllen: „Sie versuchen, unsere Geschichte umzulügen!“ Man trommelt arme alte Leutchen zusammen, die seit Jahren zu solchen Anlässen gehen und schickt eine Kamera und eine bestimmte Person, faktisch einen Provokateur.

    Die TV-Fragestunde des Präsidenten wird überwiegend von der WGTRK organisiert. Vom Ersten Fernsehprogramm, von der WGTRK, jeder kriegt seinen Anteil. Eine Abordnung fährt vorher zur Präsidialverwaltung und durchläuft mehrere Instruktionsrunden – zum Was und Wie und dazu, welche Regionen und Städte ausgewählt werden. Dort fahren dann Kamerateams hin, eine Menge verschiedener Leute sind vorher da, laufen mit den Gouverneuren und anderen herum, organisieren Treffen mit den passenden Leuten, wählen Themen aus, alles wird hundert- und tausendfach abgestimmt. Es gibt eine sogenannte Voraufführung, wie beim Theater für die Mamas und Papas. Eine komplette Durchlaufprobe. Putin nimmt nicht daran teil, aber Peskow. Er beantwortet natürlich keine Fragen an Putins Stelle, aber er kontrolliert alles. Ein Aufnahmeteam stellt den Ablauf ungefähr nach. Leute, die dabei waren, haben mir gesagt, dass sie wie vor den Kopf geschlagen waren. Sie seien regelrecht vor Scham gestorben, weil alte Leute mit ihren Fragen zum Aufnahmeteam kamen und gar nicht daran zu denken war, diese Fragen in die Sendung aufzunehmen.

    Die Sache ist die, dass es das Fernsehen als solches nicht mehr gibt. Selbst wenn du im Kulturressort arbeitest, sagen sie dir: „Diesen Regisseur unterstützen wir, aber den da nicht“. Du kannst dich entweder damit abfinden und lächeln oder nicht mehr arbeiten und weggehen – wenn das Niveau endgültig in den Keller geht und dir klar wird, dass du nicht mehr bleiben kannst.

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  • Das Begräbnis des Essens

    Das Begräbnis des Essens

    Die westlichen Wirtschaftssanktionen wurden von Russland mit Einfuhrverboten für verschiedene Lebensmittel aus europäischer Produktion beantwortet. Produkte, die über unklare Kanäle dennoch ins Land kommen, werden derzeit in großangelegten Aktionen öffentlich vernichtet. Das Internetjournal Spektr wirft einen Blick darauf, wie diese Maßnahmen begründet werden und wie verschiedene Bevölkerungsgruppen sie aufnehmen.

    Ende Juli unterschrieb der russische Präsident Wladimir Putin einen Erlass, wonach landwirtschaftliche Erzeugnisse, Käse und andere Nahrungsmittel, deren Einfuhr im Zusammenhang mit den Wirtschaftssanktionen verboten wurde, vernichtet werden müssen. Das am 6. August in Kraft getretene Dokument soll für mindestens ein Jahr gelten. Nach der Unterzeichnung des Erlasses scherzte man in den sozialen Netzwerken ein paar Tage lang über das Aussehen des beleibten Chefs der russischen Zollbehörde, Andrej Beljaninow, mit dem Hinweis, dass sich wohl kein zweiter mit der Vernichtung von Nahrungsmitteln so auskenne wie er. Die russische Regierung nahm das Ganze jedoch sehr ernst und organisierte am vergangenen Donnerstag eine regelrechte Schau-Exekution sanktionierter Lebensmittel.

    In einigen Regionen begann man mit der Umsetzung des Erlasses schon, bevor er tatsächlich in Kraft trat. So wurden zum Beispiel in Samara bereits am 4. August 114 Tonnen Schweinefleisch vernichtet, die nach den Worten der Sprecherin der russischen Landwirtschaftsaufsichtsbehörde Rosselchosnadsor Julia Melano schon im April „bei den Inspektoren Zweifel hervorgerufen hatten und beschlagnahmt worden waren“. Sie ließ verlauten, dass es sich dabei um in Europa hergestellte und mit falschen brasilianischen Zertifikaten nach Russland importierte Produkte handele.

    Aber ernsthaft gegen die geschmuggelten Lebensmittel vorzugehen, begann man erst zwei Tage später. Die News-Spalte der Landwirtschaftsaufsichtsbehörde flimmerte nur so vor Meldungen über immer mehr Lebensmittel mit gefälschten Zertifikaten. 1 ½ Tonnen Schweinefleisch, 9 Tonnen Möhren, 28 Tonnen Tomaten und Äpfel, 73 Tonnen Nektarinen (in Wirklichkeit noch viel mehr, das war nur eine der beschlagnahmten Partien) – all das muss dem neuen Erlass des Präsidenten zufolge vernichtet werden.

    Es blieb aber am Donnerstag nicht bei Beschlagnahmungen. Die Pressestelle der Landwirtschaftsaufsichtsbehörde veröffentlichte ein Video und eine Fotoreportage über die Vernichtung von Käse in der Region Belgorod, den man schon Ende Juli beschlagnahmt hatte. Mit einem Traktor wurden rund 9 Tonnen Käse in einer Mülldeponie zermalmt.

    In St. Petersburg verbrannte man Käse in einem Spezialofen. Bislang zwar nur eine kleine Partie, aber in der nächsten Zeit sollen in Pulkowo rund 20 Tonnen Käse verbrannt werden. Über 4 ½ Tonnen Gemüse wurden in einer Mülldeponie in der Region Brjansk vernichtet.

    Selbstverständlich blieben die Nutzer der sozialen Netzwerke bei solch entschlossenen, krassen Maßnahmen gegenüber ausländischen Lebensmitteln nicht gleichgültig und begannen, Witze zu reißen: Es entstanden Fotomontagen, Plakate, die Boris Jelzins Stab vor den Wahlen von 1996 veröffentlicht hatte, wurden wieder hervorgeholt, man schlug ähnliche Maßnahmen für den russischen Fußball vor oder veröffentlichte einfach Nachrichten, bei denen man angesichts der aktuellen Lage im Land nicht gleich wusste, ob sie echt waren oder ein Fake. Man witzelte auch über die Sache mit dem Lastwagenfahrer, der, als er von den neuen Gesetzen erfahren hatte, mit 1 ½ Tonnen Tomaten nach Weißrussland floh.

    Viele nahmen die Vernichtung der Lebensmittel jedoch sehr ernst. Sie fassten sie als Beleidigung für Russland auf, wo man sich an Kriegs- und Hungerjahre anderer Zeiten erinnert und einen respektvollen Umgang mit Essen gewohnt ist. Auf der Website change.org findet sich bereits eine Petition, in der Bürger die Regierung dazu aufrufen, die Lebensmittel nicht zu vernichten, sondern an Bedürftige weiterzugeben. Der Aufruf erhielt beinahe 300.000 Stimmen und wurde sogar im Kreml zur Kenntnis genommen. Putins Sprecher Dimitri Peskow, der zunächst verkündet hatte, die Umsetzung des neuen Gesetzes sei unumgänglich, hat bereits versprochen, die Petition zumindest in Augenschein zu nehmen. Er gab auch zu, dass der Prozess der Vernichtung von Lebensmitteln „nicht sehr angenehm aussieht“, betonte aber, dass es in der gegebenen Situation einfach keinen anderen Ausweg gebe.

    Gemäß Putins Erlass über die Prüfung gesellschaftlicher Initiativen berücksichtigt die russische Regierung Petitionen im Grunde nur, wenn sie auf einer Website namens Rossiskaja obschtschestwennaja iniziatiwa (Russische gesellschaftliche Initiative) publiziert werden. Ein ähnlicher Aufruf dort erhielt bisher erst gut 3000 Stimmen (und mehr als 130 dagegen), was ungefähr 96.000 weniger sind, als nötig wären, damit die Petition auf föderaler Ebene geprüft wird.

    Der russische Landwirtschaftsminister Alexander Tkatschow (von dem die Idee der Nahrungsmittelvernichtung stammt) ließ verlauten, sein Amt halte sich in der Angelegenheit der Vernichtung sanktionierter Erzeugnisse an die weltweit übliche Praxis. Seinen Worten nach muss Schmuggelware vernichtet werden, um so mehr, da sie größtenteils von recht zweifelhafter Qualität sei. „Wir dürfen die Gesundheit unserer Bürger nicht aufs Spiel setzen“, ergänzte Tkatschow. Im Übrigen ist für den Minister nicht nur das Wohlbefinden der Bevölkerung Anlass zur Sorge. Eine Verteilung der Lebensmittel an Bedürftige würde Alexander Tkatschow zufolge auch mit vermehrter Korruption und der Überschreitung von Dienstbefugnissen einhergehen. Dieselbe Meinung vertritt auch der Chef der Landwirtschaftsaufsichtsbehörde Sergej Dankwert.

    Doch nicht alle führenden Politiker teilen die Auffassung, dass die Vernichtung der Lebensmittel unumgänglich ist. Der Leader der Kommunistischen Partei Gennadi Sjuganow zum Beispiel bezeichnete solche Maßnahmen als barbarisch. „Auf unserem Planeten leben sieben Milliarden Menschen, von denen sich jeden Tag zwei Milliarden hungrig zu Bett legen. Es gibt viele Organisationen, die bereit wären, diese Lebensmittel Armen zukommen zu lassen“, erklärte der Politiker. Auch die Vertreter des Gerechten Russlands unterstützen die Idee einer Umverteilung des Essens. Der Leader der Liberal-Demokratischen Partei Russlands Wladimir Shirinowski wiederum bezeichnete die Zerstörung der Lebensmittel als „Kampf gegen Kakerlaken“. „Wir vernichten sie, und sie kommen wieder. Und wir vernichten sie wieder. Genau wie beim Kampf gegen den Diebstahl und gegen den Schmuggel“, sagte er.

    Der russischen Regierung geht es natürlich nicht um das Schicksal der Lebensmittel als solche. Sogar für nichtzertifizierte Ware hätte man schließlich viel vernünftigere Verwendungsmöglichkeiten finden können als die Verbrennung in Öfen unter dem Blitzlichtgewitter der Kameras und die demonstrative Zerstampfung im Schmutz. Und felsenfeste Beweise dafür, dass diese ganzen Nahrungsmittel tatsächlich unter Umgehung der Einfuhrverbote aus der verhassten EU oder aus den USA kamen, gibt es bisher auch nicht. Schmuggel mit billigen, minderwertigen Lebensmitteln gab es letzten Endes schon immer. Jedoch braucht es gerade jetzt eben jene Kameras, muss die russische Regierung gerade jetzt – nicht einmal der ganzen Welt, sondern in erster Linie den eigenen Bürgern – zeigen, dass sie selbstsicher ist und dass das Land bestens ohne die täglichen paar hundert Tonnen „feindlicher“ Nahrungsmittel auskommt.

    „Ich bezweifle, dass der Vorschlag, die sanktionierten Lebensmittel zu verteilen, durchkommt – das wäre irgendwie nicht cool und zu menschenfreundlich dafür, wie die Dinge derzeit stehen“, sagt der Redakteur der Zeitschrift Kommersant-Dengi, Juri Lwow. Angesichts der um ein weiteres Jahr verlängerten Sanktionen geht es genau darum, Coolness und Unabhängigkeit zu demonstrieren. Und die Blockadeopfer, die Hunger gelitten haben, werden es geduldig ertragen. Selbst die Aktivisten, die sich mit und ohne Grund hinter ihren kriegs- und blockadeerfahrenen Großvätern verstecken und in der Soße aus Siegesfeiern zum 70-jährigen Jubiläum des Kriegsendes bereit sind, so ziemlich alles zu verbieten, sind in den letzten Wochen irgendwie verstummt.

    Allerdings vermitteln die Ereignisse bisher weder Selbstsicherheit noch Stolz. Die demonstrative Vernichtung von Lebensmitteln ruft nur Unverständnis und Abscheu gegenüber all denen hervor, die das angezettelt haben. Und es erinnert auch schmerzlich an die berühmte Episode Das Begräbnis des Essens aus der humoristischen Sendung Oba-na! von 1990, in der – zu Zeiten allgemeiner Lebensmittelknappheit – Fleisch, Brot und anderen Nahrungsmitteln ein Staatsbegräbnis ausgerichtet wird. Damals scherzten die Autoren: „Das Essen ist tot, es lebe der Hunger!“ Aber jetzt ist das irgendwie nicht mehr lustig.

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  • Kaliningrader Bundesflagge

    Kaliningrader Bundesflagge

    Ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Aktivisten will mit der deutschen Bundesflagge ein ironisches politisches Statement setzen, aber der Ablauf der nächtlichen Aktion gerät durcheinander, die Flagge landet am denkbar ungeeignetsten Gebäude und auch das Gerichtsverfahren wegen „Beleidigung der politischen Grundfesten aller Bürger Russlands“ läuft bald ein wenig aus dem Ruder. Ein Einblick in die Graswurzel-Schicht des russischen politischen Lebens. 

    Alles begann am 11. März 2014: Die Krim war noch nicht unser, aber viel fehlte nicht mehr dazu, an den Gebäuden der Stadtverwaltungen im Südosten der Ukraine hingen russische Flaggen über Flaggen. „Begonnen hatte alles mit einem Scherz. Einer von uns sagte: Was wäre wohl, wenn man in Kaliningrad die deutsche Flagge raushängen würde?“, erzählt der Angeklagte Oleg Sawwin dem Richter. Er und Michail Feldman sind örtliche Bürgeraktivisten. Dimitri Fonarjow ist ein Freund von ihnen aus Moskau.

    Auf dem Weg zur Aktion irgendwie verlaufen

    Die Aktion ging ziemlich daneben, es ist verwunderlich, dass überhaupt etwas dabei rauskam. Die Aktivisten sagen, ihr Plan sei eigentlich gewesen, eine Flagge an einem Baum in der Nähe eines Verwaltungsgebäudes zu befestigen: „Wir wollten zeigen, dass Russland haargenau so viel Recht auf die Krim hat wie die Bundesrepublik Deutschland auf die Kaliningrader Oblast." Sie hatten dafür heimlich eine Leiter zusammengenagelt und sie im nahegelegenen Park versteckt. Aber als sie im Morgengrauen mit der Leiter zu dem Gebäude kamen, merkten sie, dass sie unter dem Gewicht eines Menschen zusammenbrach. „Mischa zimmert sogar Plakatlatten so schief zusammen, dass man sie hinterher geraderichten muss – ich kann mir schon vorstellen, was das für eine Leiter war“, sagt Anna Marjassina vom Komitee für öffentliche Selbstverteidigung (KÖS), der Organisation, der auch Feldman und Sawwin angehören.

    Im Dunkeln, als es noch ruhig auf den Straßen war, hatten sich die drei auf den Weg gemacht. „Wir waren ungefähr zwei Stunden unterwegs, hatten uns irgendwie verlaufen, inzwischen wurde es hell und es waren mehr Leute unterwegs. Ich sagte, wir müssten das ein andermal machen, dann eben ohne Fonarjow“, führt Sawwin aus. Fonarjows Zug nach Moskau fuhr bereits in ein paar Stunden. Sie waren schon auf dem Weg zur Bushaltestelle, da fielen dem Moskauer leere Flaggenhalter an einem einstöckigen Gebäude mit einem Garageneinfahrtstor ins Auge. Er nahm Feldman die Stange mit der Flagge aus der Hand und sprang, mit einem Fuß auf den Mauervorsprung gestützt, in die Höhe und steckte sie in den Flaggenhalter. Seine Freunde wussten nicht, wie ihnen geschah. Fonarjow sei gekränkt gewesen, dass die Aktion ohne ihn durchgeführt werden sollte, so erzählt Sawwin. Der Moskauer wusste nicht, dass diese Garage ohne Schild oder sonstige Erkennungszeichen dem FSB gehörte.

    In der ersten Version der Anklageschrift hieß es, die drei hätten „die politischen Grundfesten aller Bürger Russlands beleidigt“. Diese Formulierung war offenbar sogar der Staatsanwaltschaft seltsam erschienen, sie schickte den Fall zweimal zur Nachermittlung. Im Endeffekt werden die Aktivisten nun beschuldigt, Veteranen des Großen Vaterländischen Kriegs beleidigt zu haben – ungeachtet dessen, dass es nicht die Flagge des Dritten Reichs, sondern die der Bundesrepublik Deutschland war, die an der Garage gehisst wurde, und das morgens um sieben für ungefähr drei Minuten.

    Es gibt auch einen Betroffenen in der Sache: den gekränkten Vorsitzenden des örtlichen Veteranenrats (geboren übrigens 1947, also nach Kriegsende). Der Vorsitzende will sich gegenüber der Presse nicht äußern und war auch schon zur ersten Sitzung nicht erschienen.

    Im März 2014 war der Strafrechtsparagraf zum Separatismus noch nicht in Kraft getreten. Also drückte man ihnen den Paragrafen Rowdytum aufs Auge: Der Artikel 213 ist einer der dehnbarsten Artikel des russischen Strafgesetzbuchs, deshalb wird er gern bei politischen Prozessen verwendet. Pussy Riot wurden nach ihm verurteilt, die Greenpeace-Leute wurden für ihre Aktion auf der Arktis-Plattform Priraslomnaja auf seiner Grundlage verfolgt. Feldman, Sawwin und Fonarjow droht nun ein siebenjähriger Freiheitsentzug.

    Wer wurde eigentlich beleidigt, die kämpfenden Frontsoldaten oder die an der Heimatfront?

    Die Anklage schreibt den drei Angeklagten Hass und Feindseligkeit gegenüber der sozialen Gruppe der Veteranen des Großen Vaterländischen Kriegs zu. Die Angeklagten erwidern, auch ihre eigenen Großväter hätten im Krieg gekämpft und seien gefallen, von welchem Hass denn hier eigentlich die Rede sein könne. „Was soll das heißen, ‚soziale Gruppe der Veteranen’? Wer ist denn damit gemeint, die Frontsoldaten oder die an der Heimatfront? Nur diejenigen, die in der Kaliningrader Oblast leben, diejenigen in ganz Russland oder alle Veteranen in allen Ländern des postsowjetischen Raumes? Sicher haben sie alle unterschiedliche Blickwinkel auf die Sowjetmacht: Der eine ist vielleicht Kommunist geblieben, ein anderer, wie z. B. Solschenizyn, geht hin und schreibt Archipelag GULAG“, sagt Sawwin vor Gericht. Immer wieder hört die Sekretärin auf zu tippen und blickt vorwurfsvoll in Richtung des Angeklagten. Oleg Sawwin ist 27, er ist ein wenig beleibt und sehr pedantisch. Seine detaillierten Ausführungen zum Geschehen dauern zwei Stunden. Genauso hatte er kurz nach seiner Festnahme über den Rechtsanwalt seinem Vater eine akribische Nachricht zukommen lassen, in der er genaueste Anweisungen gab, wie seine Spinnen, die er als Haustiere hielt, versorgt werden müssten. Auf keinen Fall dürften sie tote Fliegen bekommen, er solle auf jeden Fall die Spezialnahrung kaufen!  „Die kleinen Spinnlein sind wohl inzwischen ohne mich groß geworden“, schreibt Sawwin in Briefen aus dem Gefängnis.

    Die rätselhaften „politischen Grundfesten“ stehen jedenfalls nach wie vor in der Akte. Der Anwalt Dimitri Dinse, den die Organisation Agora stellte, befragt die Angeklagten: „Wissen Sie, was das bedeutet: ‚politische Grundfesten’? Hat der Ermittler Ihnen erklärt, wen oder was Sie beleidigt haben?“

    „Ich verstehe nicht, wie Bürger in einer demokratischen Gesellschaft überhaupt einheitliche politische Grundfesten haben können“, erwidert der hochaufgeschossene, magere Michail Feldman leicht stotternd. Die Ermittlungen schreiben ihm die führende Rolle bei dieser Aktion zu: In den Akten wird angeführt, dass es Feldman gewesen sei, der die Flagge gehisst habe, nachdem er auf die zur Räuberleiter ineinander verschränkten Hände seiner Mitstreiter gestiegen sei. Den Ermittlern war es dabei egal, dass Feldman durch die Bewegungsstörung ICP nur über eine eingeschränkte Koordinationsfähigkeit verfügt, so dass es mehr als unwahrscheinlich erscheint, dass er dieses Kunststück hätte ausführen können.

    Die Sache ist die, dass Feldman als Erster gefasst wurde. In dem Moment, als er am Morgen des 11. März die Flagge an der Garage fotografieren wollte, wurde er von Männern in Zivil mit dem Gesicht nach unten auf den Asphalt gestreckt, seine persönlichen Gegenstände wurden ihm abgenommen. In seinem Rucksack wurde später Hexogen gefunden, somit sind es bereits zwei Paragrafen, die Feldman gegen sich hat, da nun auch noch der Besitz von Sprengstoff hinzukommt. Sawwin und Fonarjow gelang es zu flüchten, doch den Zug nach Moskau schaffte Fonarjow nicht mehr: Sie wurden am Bahnhof festgenommen. Es folgten lange Tage im Untersuchungsgefängnis, angeblich wegen obszönen Fluchens in der Öffentlichkeit. Anschließend waren sie 20 Tage auf freiem Fuß. Danach folgte die Inhaftierung, diesmal bereits in einer Strafsache.

    „Lernen Sie öfter Männer über das Internet kennen?“

    „Sawwin redet sich heraus und schwärzt Fonarjow an. Ich beantrage daher, Rechtsanwältin Bonzler von der Verteidigung eines der beiden Angeklagten zu entheben“, fordert plötzlich der Staatsanwalt. Feldman und Sawwin beharren schon den ganzen Prozess über darauf, dass es Fonarjow gewesen sei, der die Flagge aufgehängt habe, zudem aus eigener Initiative. Und Fonarjow selbst, ein hübscher blasser Junge von 24 Jahren, sitzt die ganze Zeit mit abwesendem Blick da und schaut aus dem Fenster, als ob ihn all das überhaupt nichts anginge. Aber jetzt steht er auf und erklärt ganz ruhig, er habe der Rechtsanwältin nichts vorzuwerfen, im Übrigen stimmten seine Aussagen mit denen Sawwins überein. Damit wird klar, dass er wissentlich alles auf sich nimmt. Im Unterschied zu seinen Mitstreitern gesteht er seine Schuld teilweise ein. Dass er den Arm zu einem „Sieg Heil“, erhoben habe, leugnet er jedoch. Die Anklage bleibt hartnäckig dabei, der Aktivist habe Hitler unter der Flagge des heutigen Deutschland, wo die Nazi-Symbolik verboten ist, die Ehre erwiesen. Fonarjow war früher einmal Nationalist (aber niemals Nazi). Im Gegensatz dazu bezeichnet er sich jetzt als Weltbürger, als Kosmopoliten im Sinne Kants. Im Gefängnis ist es einsam, an Verwandten hat er nur seine Mutter (der Bruder starb, während er im Untersuchungsgefängnis saß), und die wohnt in Moskau und konnte bisher nur einmal zu Besuch kommen, es fehlt an Geld. Sie schickt dem Sohn Päckchen mit dem von ihm geliebten Tee, Halwa und Zucker. Fonarjow ist, was Essen angeht, sehr wählerisch und isst von dem, was es im Gefängnis gibt, fast nichts. Die Rolle der Mutter übernimmt vor Ort die geschäftige Anna Marjass1ina. Im Gerichtssaal erkundigt sie sich hastig bei den Angeklagten, wem sie was bringen soll, bis der Gerichtsvorsteher sie laut brüllend unterbricht: „Sprechen verboten!“

     „Lernen Sie öfter Männer über das Internet kennen?“, wird Fonarjow spöttisch vom Staatsanwalt gefragt. Tatsächlich hatten er und Sawwin sich in Vkontakte, dem russischen Facebook, kennengelernt: aufgrund gemeinsamer politischer Interessen. Fonarjow war dann einige Male nach Kaliningrad gekommen. Beim letzten Besuch hatte ihn Sawwin in Feldmans geräumiger Wohnung einquartiert, dort entstand auch die Idee zu der Aktion, von dort waren sie im Morgengrauen zu dem Verwaltungsgebäude aufgebrochen.

    Feldman ist 43 Jahre alt, er ist deutlich älter als seine Tatgenossen, dennoch fanden sie zusammen. Er ist Meeresbiologe, hat 11 Jahre lang im Institut für Ozeanographie AtlantNIRO gearbeitet und war auf die Buchten und Küsten des Baltikums spezialisiert. Aber später verließ er die Wissenschaft und jobbte als Journalist, verfasste Werbeartikel, getreu dem Motto: Wenn die Politik deine Arbeit behindert, schmeiß sie hin. Während Sawwin darüber klagt, dass er schlecht schlafe, da er sich über den Krieg in der Ukraine Sorgen mache, wobei er nicht die geringste Möglichkeit habe, irgendwie auf das Geschehen einzuwirken, betrachtet Feldman sogar seinen eigenen Strafprozess ironisch. „Wann hat man schonmal die Chance, mehrere Bände eines Fantasy-Romans auf einmal zu lesen, und dann noch über sich selbst, den liebsten aller Helden“, scherzt er in Briefen. Feldman schreibt selbst und hatte bereits im Untersuchungsgefängnis einen Auftrag für eine Serie von Fantasy-Erzählungen erhalten, worüber er sich diebisch freut: „Die Möglichkeit, im Gefängnis Geld zu verdienen, verschafft einem ein ungeahntes Gefühl von Freiheit.“ Es war der umtriebige Feldman, der Sawwin mit dem historischen Wikingerkram ansteckte. In Kaliningrad waren sie zu dritt, drei Wikinger, Feldmann, Sawwin und die schwarzhaarige Wika. Sie fuhren zusammen auf Festivals, bastelten skandinavische Schwerter, Äxte und Bögen. Nun ist die Bogenschützin Wika auf sich allein gestellt und kommt ins Gericht, um den Freunden von der anderen Seite des Gitters aus zuzulächeln. Für Politik interessiert sich Wika gar nicht, aber im Gericht fasst sie sich besorgt an ihren Sonnenrad-Anhänger: „Wer weiß, vielleicht gilt das bei denen auch schon als Verbrechen." Als Sawwin zum zweiten Mal in der Strafsache festgenommen wurde, war sie dabei: Die Freunde waren auf dem Weg zu einem Bekannten, als neben ihnen ein Auto anhielt, aus dem Männer in Zivil heraussprangen, die nichts sagten außer: „Sie kommen mit.“ Sawwin konnte gerade noch Wika darum bitten, seinen Freunden Bescheid zu sagen, dann war es aus mit der Freiheit.

    Die Fäuste des Antimaidan und der Mandarinen-Jahrmarkt

    Das Komitee für öffentliche Selbstverteidigung (KÖS), das jetzt eigene politische Gefangene hat, kann nun nicht mehr ruhig an Flaggen anderer Länder in der Stadt vorbeigehen: vor Hotels, auf Schildern, an Bars. Man fotografiert alles und stellt es ins Internet, nach dem Motto: Schaut her, ihr Leute, Verbrechen am helllichten Tage! Über ihre Aktion mit der Flagge hatten die drei sich mit ihren Kollegen nicht abgesprochen, darüber ist man dort verstimmt. „Man hätte zum Beispiel in der ganzen Stadt Flyer kleben können, sodass viele Leute sie hätten lesen und etwas erfahren können. Aber das wäre wohl keine solche Heldentat gewesen“, meint Anna Marjassina dazu.

    Unabgestimmte Aktionen, so etwas macht das KÖS nicht, Flaggen aufhängen oder Leuchtraketen anzünden, das ist nicht sein Stil. Sie agieren nur innerhalb des rechtlichen Rahmens, ihre Aktivisten wurden schon oft auf Versammlungen festgenommen, nur dass eben das Gericht bisher stets zu ihren Gunsten entschieden hatte. Die Leute vom KÖS hatten zäh und hartnäckig jedes Mal Anzeige wegen unrechtmäßiger Festnahme erstattet. Innerhalb einiger Jahre erstritten sie sich so vom Innenministerium eine Summe von 302.000 Rubeln [etwa 5000 Euro]. Aber dennoch war diesmal dem an Festnahmen gewöhnten Feldman das Versäumnis unterlaufen, die Stückliste der Dinge aus seinem Rucksack zu unterschreiben, ohne sie vorher durchgelesen zu haben. Nun ist das Gericht nur noch schwer davon zu überzeugen, dass das Hexogen in seinem Rucksack nicht von ihm stammte.

    Das KÖS versammelt sich allwöchentlich auf einem der zentralen Plätze. Man steht im Kreis auf dem Platz, Anna Marjassina spielt auf der Flöte die ukrainische Hymne als Zeichen ihrer Solidarität mit dem Brudervolk – das ist das Einzige, was man sich noch traut. Früher organisierte man Mahnwachen und Demonstrationen, zur Unterstützung der Demos auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau, für Pussy Riot, gegen den Fall vom 6. Mai, gegen den Krieg in der Ukraine … Aber am 21. September wurde der örtliche kleine Friedensmarsch von kompakten Burschen mit Georgsbändern umringt. Der Antimaidan begann in Kalinigrad früher als im übrigen Russland: Diese Leute überschrien die Demonstration und bewarfen und bespritzten die Oppositionellen mit Eiern und Brilliantgrün, aber das war noch nicht alles. Nach der Demonstration lauerte jemand zwei Teilnehmern, Alexander Gorbunow und Andrej Bogdanow, auf und verprügelte sie. Das waren die ersten Schwalben. Zwei Monate später wurden nach dieser allwöchentlichen Mahnwache des KÖS Wassili Adrianow und Jewgeni Grischin überfallen, letzterer verlor infolgedessen auf dem einen Auge fast das ganze Sehvermögen. Wiederum einige Tage später wurde Dimitri Irkitow zusammengeschlagen. Der aufgrund eines schweren Lungenleidens ohnehin bereits Schwerbehinderte erlitt derartige Schläge im Brustbereich, dass er operiert und ihm Teile des einen Lungenflügels entfernt werden mussten. Jetzt demonstriert das KÖS nicht mehr. Zeit und Ort der allwöchentlichen Versammlungen werden vorsichtshalber ständig geändert. Schweigend lauschen die Aktivisten der ukrainischen Hymne, danach gehen sie auf den Markt, um Lebensmittel für die Gefangenen zu kaufen. Gleich neben dem Markt sammeln unter der Flagge Neurusslands andere, feindliche, Aktivisten materielle Unterstützung für die Lugansker Separatisten. Übrigens halten selbst die ideologischen Gegner den Strafprozess für Unfug: Ein Mitglied der Bewegung Neurussland, Jewgeni Labudin, stand dem Kaliningrader Friedensmarsch mit einem Plakat zur Fünften Kolonne gegenüber, aber sogar er hat schon einmal ein Päckchen zu Fonarjow gebracht: „Die Fünfte Kolonne heizt die Lage an, aber die müssen es ausbaden!“

     „Sie brauchen Obst, es ist Frühling, Vitaminmangel“ Alexander Schidenkow, ein Mitaktivist, kauft Granatäpfel – er scherzt, es seien ja keine explosiven Granaten – und Orangen auf dem Markt. Im Winter brachte man den Gefangenen der Flagge immer Mandarinen mit, diese Frucht hat zudem eine ideologische Bedeutung. Im Jahr 2010 gab es die zahlenmäßig größte Demonstration in der jüngsten Geschichte der Stadt: den Mandarinen-Jahrmarkt, einen Protest gegen den Kaliningrader Gouverneur Boos (und seine Partei Einiges Russland). Das, was für Moskau die Bolotnaja-Proteste im Jahr 2011 bedeuten, ist für Kaliningrad der Mandarinen-Jahrmarkt. Die örtlichen Behörden verweigerten die Genehmigung einer Protestdemonstration unter dem Vorwand, der Platz sei bereits belegt, dort fände der allwinterliche Mandarinen-Jahrmarkt statt. Aber die Leute kamen dennoch: Viertausend Menschen hielten Mandarinen in die Höhe als Zeichen ihres Protests. Gerade an diesem Tag waren Feldman und Sawwin zum ersten Mal bei einer Demonstration dabei, bald wurden sie Mitglieder des KÖS und vier Jahre später politische Gefangene.

    gekürzt – dekoder

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  • „Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt“

    „Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt“

    Welche Rolle spielt das Fernsehen derzeit in Russland? Ist das Internet immer ein Garant für Informationsfreiheit? Wie hängen Patriotismus, Medien und Politik zusammen? Wie populär ist Putin wirklich, und bei wem? Diese Fragen verfolgen Yevgenia Albats und Iwan Dawydow von The New Times im Interview mit dem profilierten Ökonomen Konstantin Sonin, HSE Moskau und seit September 2015 auch University of Chicago.

    Internet versus Fernsehen

    Bekanntermaßen hängen Demokratisierungsprozesse unmittelbar mit dem Zugang zu Informationen zusammen und damit, ob Menschen die Möglichkeit haben, Alternativen abzuwägen. Eben darum schien mit dem Aufkommen und der weiten Verbreitung des Internets in Russland keine ernstzunehmende Rückwärtsbewegung mehr möglich: Solange die Behörden das Netz nicht einfach dichtmachen, würden die Menschen wachgerüttelt und die Aussicht, erneut hinter einem eisernen Vorhang zu landen, ließe sie schaudern. Doch was in unserem geliebten Vaterland geschehen ist, scheint ganz und gar unerklärlich. Zugang zum Internet, zu alternativer Information ist da, doch das Land klebt an den Fernsehgeräten, die Leute schlucken, was vom Bildschirm auf sie einströmt, und unternehmen nicht einmal den Versuch, den Inhalt auf seine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu prüfen. Das Internet ist der Fernsehpropaganda unterlegen. Welche Erklärung haben Sie dafür?

    Gerade das letzte Jahr gibt uns in dieser Hinsicht zu denken, offenbar sind Informationen kein so einfacher Gegenstand, wie es scheint. Die Erfahrung von 2014 hat gezeigt: Die Tatsache, dass Informationen zugänglich sind, bedeutet noch nicht, dass sie in irgendeiner Form genutzt würden. Zum einen hat ein und dieselbe Information für verschiendene Menschen unterschiedliche Bedeutung, je nach dem Weltbild, das in den Köpfen bereits vorhanden ist. Zum anderen bauen die Menschen jede neue Information so in ihr Bild der Gegenwart und der Zukunft ein, wie es ihren Vorlieben entspricht: Die passenden Bausteine nehmen wir uns, den Rest lassen wir liegen.

    Das heißt aber nicht, dass über das Fernsehen jeder beliebige Inhalt lanciert werden könnte. Nehmen wir doch einmal folgendes Szenario, als Gedankenspiel: Stellen Sie sich vor, die Ressourcen, die auf die Propaganda für den Ukrainekrieg und die Annexion der Krim verwendet wurden, wären stattdessen darauf gerichtet gewesen, dass die Oblast Rostow an die Ukraine abgetreten werden soll. Hätten wir die Oblast Rostow dann tatsächlich der Ukraine gegeben? Ich bin überzeugt, dass das nicht geschehen wäre. Das bedeutet, dass die Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt oder auf gewisse zuvor nicht realisierte, aber doch lebendige Vorlieben trifft.

    Die Propaganda funktioniert, wenn sie das innerste Wesen des kollektiven Bewusstseins anspricht. Ich glaube, in jedem Land kann sich ein Politiker, wenn er das will, des aggressiven Wesens des Menschen bedienen. Aber längst nicht alle setzen zur Erhaltung ihrer Macht auf diesen Weg.

    Ich denke, wir müssen einsehen, dass der mögliche Zugang zu Quellen unzensierter Informationen, zur freien Presse nicht so entscheidend ist, wie wir angenommen haben. Wir sehen heute, dass es Dinge gibt, die tiefer liegen. Das hätten wir allerdings auch schon früher begreifen können. Als zum Beispiel in Deutschland die Nazis an die Macht kamen, ging dies zwar mit Gewalt einher, es existierte aber dennoch eine verhältnismäßig freie Presse. Was die Mehrheit allerdings nicht daran hinderte, dem Irrsinn zu verfallen und mit Hitler zu sympathisieren.

    Die Büchse der Pandora

    Denken Sie an den arabischen Frühling. Die Medien schrieben: Am Anfang war ein Wort, und dieses Wort war ein Tweet.

    Massenkundgebungen und spontane Aufstände gab es lange vor der Erfindung des Internets und sogar vor der Erfindung der Schriftsprache. Twitter hat die Versammlung auf dem Tahrir-Platz leichter gemacht, aber es ist nicht gesagt, dass sich dort nicht auch sonst Massen von Menschen zusammengefunden hätten. Ich würde die Rolle der sozialen Netzwerke auch im Fall der Mobilisierung für den Bolotnaja-Platz und Sacharow-Prospekt nicht überbewerten. Auch ohne die Internet-Aufrufe wären nicht weniger Demonstranten gekommen. Man braucht nur an die riesigen Kundgebungen Ende der 1980er Jahre zu denken: Damals wurde jedes Flugblatt, das mit Durchschlag auf der Schreibmaschine getippt wurde, einzeln in einen Briefkasten gesteckt, und es kamen mehrere hunderttausend Menschen zusammen – wesentlich mehr als heute mit Hilfe des Internets.

    Wir haben die kühne Hypothese aufgestellt, Glasnost hätte nichts mit dem Niedergang des sowjetischen Regimes zu tun. Die Perestroika – ja, das Gesetz über die Kooperativen und die missglückten Wirtschaftsreformen – ja, die wirtschaftliche Stagnation – ja, aber Glasnost – nein.

    Mir kommt es vor, als hätte das Volk Sehnsucht nach Propaganda. Die gigantischen Feierlichkeiten zum siebzigsten Jubiläum des Tags des Sieges haben eine Explosion der Begeisterung ausgelöst, alle schauten die alten Filme, hörten die alten Lieder. Was hatte die Leute vorher davon abgehalten? Sie hätten sich jederzeit eine DVD oder eine CD kaufen und für sich alleine feiern könen! Aber nein. Im Fernsehen sollte das alles kommen. So ist es auch mit der Propaganda. Unterschwellig entsprach ihre gegenwärtige Thematik den Erwartungen: Keiner mag uns und wir mögen die anderen auch nicht – besonders die Ukrainer und die Amerikaner. Und schuld an allem sind die Juden und die Liberalen. Das passte bestens zu den politischen Zielen der Führung unseres Landes.

    Ich glaube, wenn beispielsweise Alexej Nawalny oder Wladimir Ryshkow freien Zugang zum Fernsehen hätten, würden die mit Äußerungen wie „Jakunin mit seinen Pelzdepots soll verurteilt werden und hinter Gitter kommen“ allgemeine Zustimmung erreichen. Wenn man aber die gesamte Prime-Time darauf verwendet zu begründen, dass wir eine rechtsstaatliche Gesellschaft brauchen, also ein faires und unabhängiges Gericht mit Einhaltung parlamentarischer Verfahren bei der Annahme von Gesetzen und der Gewährleistung freier Konkurrenz auf dem Markt – dann geht all das ins Leere, und da hilft auch keinerlei propagandistische Ressource.

    Überdies hat das heutige Regime mit seiner Hetzpropaganda eine Pandorabüchse so voller Hass geöffnet, dass es auch einer nachfolgenden Regierung kaum gelingen wird, sie wieder zu schließen. Zu dem Thema habe ich mich einmal mit Michail Chodorkowski unterhalten. Ich frage ihn: „Stellen Sie sich vor, Sie kommen an die Macht und haben sich, sagen wir, den Kampf gegen die Korruption auf die Fahnen geschrieben. Das Volk fordert von Ihnen, alle korrupten Beamten und Politiker hinter Gitter zu bringen. Werden Sie sie hinter Gitter bringen?“ „Nein, das kann ausschließlich ein von mir unabhängiges Gericht“, antwortet Chodorkowski. „Aber das Volk verlangt trotzdem, dass Sie persönlich darüber entscheiden, wer wie lange hinter Gitter kommt“, wende ich ein. „Ihre Argumente für ein Gerichtsverfahren werden als Schwäche aufgefasst: Das Volk will umgehende Bestrafung, und Sie schlagen ein kontradiktorisches Verfahren vor.“ Es ist eine fatale Situation, in der wir uns befinden: Wer auch immer als nächstes an die Macht kommt, wird gewissermaßen Geisel der heutigen Vorlieben und Erwartungen sein.

    Trügerische Zahlen

    Sehr wichtig ist zu verstehen, dass es nichts bringt darüber zu lamentieren, ob das Volk nun gut oder schlecht ist, aufgeklärt oder ungebildet – man muss an die gebildeten Schichten, an die Elite appellieren. Aber eines ist doch bemerkenswert: Unter den Putinanhängern, den Befürwortern von Krymnasch und dem Krieg in der Ukraine, findet sich eine große Zahl von Leuten, die keine Steuern zahlen und denen ihr Salär einfach im Umschlag ausgehändigt wird. Man sollte meinen: Eine starke Armee erfordert eine Menge Geld, also unterstütze die Macht, welche auch immer, und zahl Steuern. Die Antwort: „Wozu? Die stecken sich doch sowieso alles in die eigene Tasche.“

    Das ist eines dieser mystischen Dinge – die ständig auftauchenden Zahlen zu Putins großer Popularität, und dabei ist es gar nicht so einfach, diese uneigennützigen Fans seiner Politik im wirklichen Leben zu Gesicht zu bekommen. Auch in meinem Umfeld gibt es Leute, die Putin unterstützen, allerdings – für Geld. Ich habe überhaupt den Eindruck, dass diese Unterstützung eine Scheinunterstützung ist. Wie viele Menschen bekommt Putin denn zusammen für eine Kundgebung, wenn er sie nur über das Fernsehen anspricht, ohne Administrative Ressource, ohne die ganzen Busse, die angeblich seine glühenden Anhänger herankarren! Ich vermute, gerade mal tausend.

    Aber was bezeichnen wir dann als Popularität? Bei uns ist die Popularität des Präsidenten eine sehr spezielle Popularität. Wenn die Soziologen bei uns einen Menschen fragen, ob er für den Präsidenten ist, dann antwortet er: Ja. Ansonsten ist er in den meisten Fällen gar nicht für ihn. Er beklagt sich über sein schweres Los. Schimpft auf die Beamten. Kann die Abgeordneten nicht leiden. Er ist der Ansicht, dass an der Macht sowieso alle stehlen. Kurz, im täglichen Leben sagt er durchweg „nein“, aber bei der Umfrage „ja“.

    Ich möchte aber noch etwas anderes zu bedenken geben. Die sehr wichtige Entscheidung über den Beitritt der Krim wurde ja in engen Kreis getroffen, ohne Beteiligung von Vertretern des Wirtschafts- und Finanzblocks. Das ist ein Merkmal einer Dysfunktion, eines Versagens im System der Staatsverwaltung. Infolge dieses Funktionsversagens befinden wir uns heute in einer äußerst schwierigen Situation mit einer fatalen inneren Entwicklungslogik.

    Wir haben faktisch eine Armee, die Kriegshandlungen durchführt, und dazu haben wir offenkundig noch einen Super-Überbau, der damit beschäftigt ist, diese Armee so aussehen zu lassen, als sei sie keine Armee. Eine gewaltige Menge von Menschen und eine noch gewaltigere Menge an Geld ist involviert in das, was sich im Osten der Ukraine abspielt. Und noch mehr sind mit der Vorbereitung auf irgendeinen fantastischen großen Krieg beschäftigt. Und wie wir aus diesem Schlamassel wieder herauskommen, ist völlig unklar.

    Nutznießer der Verhältnisse

    Es gab also ein Versagen im System der Staatsverwaltung. Warum hat man die Sache danach noch weitergetrieben? Ging es den Profiteuren des Regimes nicht auch ohne Krieg in der Ukraine bestens?

    Kurzfristig ziehen alle Leute, die in der Kriegsindustrie sitzen, Vorteile aus dieser Situation. Heute werden, so weit ich sehe, alle wesentlichen Entscheidungen von einer ganz kleinen Gruppe getroffen, in der die Silowiki und die Militärs absolut überproportional vertreten sind. Das heißt, anstelle eines Gremiums, in dem das größte Gewicht bei den Ministern für Wirtschaft und Finanzen liegt, wird heute alles von den Silowiki entschieden. Aber für einen Hammer sieht alles um ihn herum aus wie ein Nagel. So auch für die Silowiki – ihre Prioritäten bestehen einzig darin, dass der Krieg weiter finanziert wird. Und heute zu erwarten, dass von den Silowiki einer aufsteht und sagt: Nein, Leute, wir können nicht so viel für den Krieg ausgeben und die ganzen Mittel vom Konsum abziehen – das ist naiv.

    Die Militärausgaben führen unvermeidlich zu Abstrichen bei den sozialen Haushaltsposten, mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen – auch für die, die jetzt Putin applaudieren.

    Wenn wir in dieser Weise über den Haushalt sprechen, haben wir es mit Metaphern zu tun, aber in Wirklichkeit ist der Haushalt zum Teil ein Gummihaushalt, entscheidend sind die Prioritäten. Man kann noch mehr Panzer fabrizieren, noch weniger für Bildung und Gesundheit ausgeben und noch mehr für Propaganda, und die Militärausgaben noch einmal verdoppeln. Das Material wird sich widersetzen, aber es wird Rogosin nicht zwingen, den Weg freizumachen. Rogosin wird Druck machen. Zumal er die Folgen nicht ausbaden muss. So wie zum Beispiel der sowjetische Verteidigungsminister Ustinow. Er machte Druck und blieb stur, und die Folgen musste das ganze Land ausbaden, das dann in der Folge auch zusammenbrach. Heute kann man unseren Haushalt so straffen, Investitionsprojekte und die Ausgaben für Gesundheit und Bildung so sehr zusammenkürzen, dass man den Militärhaushalt verdoppeln kann. Verdreifacht man ihn, gehen die Lehrer auf die Straße, und in den Krankenhäusern geht das Licht aus – aber auch das ist möglich. Vervierfachen geht wahrscheinlich nicht. Aber diese Richtung kann man jedenfalls noch lange weiterverfolgen.

    Und dazu braucht man dann auch die Propaganda: der Feind steht vor den Toren.

    Genau. Darum liebe ich das Beispiel von Slobodan Milošević. Während er Präsident von Serbien war, schrumpfte das Land auf die Hälfte zusammen, der Lebensstandard der Serben halbierte sich, krasser als bei uns in den schlimmsten Momenten der 1990er Jahre. Bei seinen letzten Wahlen erhielt er fast 36 Prozent der Stimmen. Die Propaganda hatte ihr Werk getan. Die Ausbeutung nationalistischer Ambitionen kann Menschen dazu bringen, große Probleme zu beschönigen und gravierende Opfer zu rechtfertigen.

    Die Krim-Hysterie hat sich gelegt, das Projekt Noworossija wird offenbar langsam eingestellt …

    Das würde ich nicht sagen. Es gibt eine Menge Leute, die ein Interesse an der Fortführung des Projekts Noworossija haben. Seine Nutznießer sind die Militärs und der militärisch-industrielle Komplex, außerdem gibt es Leute, die damit ihre Popularität aufrechterhalten. Es ist ja unverkennbar, dass viele die Fortsetzung des Banketts wollen.

    Und trotzdem muss man nachlegen, damit das patriotische Feuer weiter brennt?

    Ich glaube, Sie überschätzen die Dimension der Absichten. Ich gehe davon aus, dass es innerhalb der Macht keinerlei Gedanken daran gibt, die Bevölkerung zu betrügen. Putin und seine Entourage glauben selbst daran, dass Russland von Feinden umzingelt ist und die NATO vor den Toren steht. Und nicht nur das, die Leute, die diesen Glauben nicht teilen, werden aus den höheren Machtetagen verdrängt. 

    Dazu kommt, je mehr sie sehen, dass sie von Feinden umgeben sind, desto mehr rechtfertigt dies den eigenen Verbleib an der Macht. Angeblich sitzen wir im Schützengraben, wir kämpfen gegen den Feind, und wenn wir den Schützengraben verlassen, werden die Feinde unser Territorium besetzen. Eben dieses Motiv rechtfertigt auch zehn Jahre Führung durch Staatskorporation. Es wird im großen Stil geplündert, alles ist entsetzlich ineffektiv, aber die Hauptsache ist, ich sitze im Schützengraben. Mit einer derartigen Argumentation kann ich alles rechtfertigen, was mit mir passiert, und hinsichtlich dessen, was ich über mich höre, eine kognitive Dissonanz zulassen. Und wenn ich gehe, bricht überhaupt alles zusammen. Das ist das Modell, das heute in Kraft ist.

    Wie wird das weitere Szenario aussehen?

    Wenn es nicht zu irgendwelchen außerordentlichen politischen Entscheidungen kommt, etwa Mariupol, Charkow und Kiew anzugehen, was vor zwei Jahren ausgeschlossen und heute bloß noch eher unwahrscheinlich erscheint, kann die Wirtschaft im heutigen Zustand noch fünf bis zehn Jahre so weiterbestehen – und zwar ohne besondere Probleme. Aber dann wird es erneut zu einer Krise wie 1991 kommen, d. h. einer Haushaltskrise und einer politischen Krise. Allerdings ein paar Nummern kleiner. Ich sehe keine besonderen Anhaltspunkte für einen Zerfall des Landes oder so etwas. Aber die ganze Sache wird mit Stagnation und dem Verfall des politischen Regimes einhergehen.

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  • September: Olga Ludvig

    September: Olga Ludvig

    Unser Titelbild für diesen Monat stammt von der Moskauer Fotografin Olga Ludvig. Es zeigt die Metrostation Nowojassenewskaja, die Endstation der Metrolinie 6 im Süden Moskaus. Der auf der Fotografie abgebildete neue Pavillon des nördlichen Eingangsbereichs, eine Konstruktion aus Edelstahl und Glas, wurde 2014 eröffnet.

    Die Moskauer Metro ist als Verkehrsmittel für die Stadt von lebenswichtiger Bedeutung, sie befördert pro Tag 6,7 Millionen Passagiere (zum Vergleich die Berliner U-Bahn: 1,4 Millionen). Zugleich ist sie ein prägendes architektonisches und urbanes Kulturgut. Die stille Atmosphäre einer Winternacht, wie hier von der Fotografin eingefangen, erlebt der Metro-Reisende nur selten, zur Zeit der ersten und der allerletzten Züge. Die Metro verbindet Menschen, indem sie sie in einem Tunnel in Bewegung versetzt, der dekoder, indem er ihre Worte und Gedanken durch Sprachbarrieren hindurchtunnelt.

    Foto © Olga Ludvig
    Foto © Olga Ludvig

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    November: Arnold Veber

    Oktober: Denis Sinjakow

  • Das Woronesh-Syndrom

    Das Woronesh-Syndrom

    Als Reaktion auf die europäisch-amerikanischen Sanktionen gegen die russische Führungselite wurden Maßnahmen ergriffen, unter denen die eigene Bevölkerung zu leiden hat, sagt der Journalist Juri Saprykin. Und sie treffen gerade die schwächsten Glieder der Bevölkerung und die schutzwürdigsten Initiativen. Dieser scheinbar paradoxe Mechanismus ist an mehreren Stellen zu beobachten, und das Internet hat sogar einen Namen für ihn.

    Der Ausdruck Bomben auf Woronesh tauchte im Netz unmittelbar nach der Verabschiedung des Dima-Jakowlew-Gesetzes auf. Ein Facebook-Spaßvogel schrieb damals: Wenn die Amerikaner mit ihren Sanktionen gegen russische Staatsbeamte fortfahren, lasst uns doch einfach einen draufsetzen und selber anfangen, unsere Städte zu bombardieren.

    Begreift man das Antiwaisengesetz als Reaktion auf die amerikanischen Sanktionen gegen die russischen Bürger, die auf der Magnitski-Liste stehen, so ist es ein wahres Grauen: Die Duma reagiert auf die Beschneidung von Handlungsfreiheiten der Führungselite mit einem Gesetz, das die Zukunft, die Gesundheit, ja sogar das Leben der am meisten benachteiligten russischen Staatsbürger gefährdet, nämlich das der Waisenkinder, darunter kranker und behinderter. Und all das wurde noch mit einer dicken Schicht Lügen bedeckt: dass man in den USA vorsätzlich russische Kinder quäle und wir sie nun selbst adoptieren und aufpäppeln würden. Genau das nennt man Bomben auf Woronesh: Als Antwort auf einen Schaden, den die Führungsklasse erlitten hat, schlägt man auf die eigenen Leute ein, noch dazu auf die schwächsten. Bei der Geschichte mit den Lebensmittel-Sanktionen gab es weniger offensichtlichen Schaden, dafür aber mehr Lügen: Bald schon ein Jahr lang will man uns weismachen, dass unter den Sanktionen nur die polnischen Bauern leiden würden sowie russophobe Kreativlinge, die vom Leben nur Serrano-Schinken und Parmesan wollen. In Wirklichkeit waren das wieder Bomben auf Woronesh: Als Reaktion auf die europäisch-amerikanischen Sanktionen gegen die Datschen-Kooperative Osero und die staatlichen Banken wurden Maßnahmen ergriffen, unter denen die eigenen Leute zu leiden haben, und wieder die schutzlosen – die, die jetzt gezwungen sind, qualitativ minderwertige Waren zu überhöhten Preisen zu kaufen.

    Auch gibt sich niemand große Mühe zu verbergen, dass die momentanen Probleme der gemeinnützigen Stiftung Dinastija gar nichts mit ihrer eigentlichen Stiftungsarbeit, sondern mit darüber hinausgehenden gesellschaftlich-politischen Aktivitäten ihres Gründers Dimitri Simin zu tun haben. Simin setzt den Verkaufserlös seines Anteils am Telekommunikationsunternehmen VimpelCom nicht so ein, wie es ihm höherstehende Kuratoren aufgetragen bzw. erlaubt hatten: Er bezuschusst die Arbeit unabhängiger Medien, sponsert Vorträge und Bildungsprogramme nicht ganz linientreuer Färbung, und vor allem verheimlicht er seine liberalen Überzeugungen nicht und auch nicht die Absicht, seine privaten Mittel weiterhin für die Stärkung dieser Überzeugungen einzusetzen. Solche Absichten im rechtlichen Rahmen zu bekämpfen, ist unmöglich. Folglich nehmen die Bombenflieger Kurs auf Woronesh. Die Aufnahme der Stiftung Dinastija in die Liste der „ausländischen Agenten“, was für sie das Aus bedeuten könnte, wird Simin sicher nicht davon abhalten, sein Geld in politiknahe Projekte zu stecken, doch die Förderung von exakten und Naturwissenschaften, von aufklärerischen Publikationen sowie die Finanzierung von Preisen und Vorträgen ihrer Autoren wird er aufgeben müssen. Als Reaktion auf Gefahren, die der Führungsklasse drohen – in unserem Fall sind sie sehr vage und vielleicht gar nicht existent –, werden somit wieder einmal Maßnahmen ergriffen, unter denen die Schwachen und Schutzlosen leiden werden.

    Die Vorkommnisse um Dinastija sind zweifelsohne ein Signal – in erster Linie für den Teil der Elite, der seine Entscheidungen immer noch relativ selbstbestimmt trifft (zumindest wenn es darum geht, in welche gesellschaftlich relevanten Projekte es sich lohnt, Geld zu investieren). Deuten kann man das unterschiedlich, und jede Lesart wird teilweise richtig sein. Dass die Finanzierung von oben missbilligter gemeinnütziger und politischer Projekte den direkten Weg in die Verbannung und Emigration bedeutet, weiß man seit dem ersten Yukos-Prozess nur allzu gut. Aber es kommen neue Bedeutungsnuancen hinzu: Die finanzielle Förderung von Wissenschaft und Bildung, die Publikation von Büchern darüber, was die Welt zusammenhält – das heißt doch der Freigeisterei Tür und Tor zu öffnen! Nach dem Motto: Ihr veröffentlicht hier Bücher von Richard Dawkins, da steht drin, dass es keinen Gott gibt, dass Natur und Evolution auch ganz gut ohne auskommen – wollt ihr etwa auch behaupten, wir bräuchten keinen Putin? Spendet euer Geld lieber für die Errichtung eines Fürst-Wladimir-Denkmals – und das Glück wird über euch kommen. Doch auch diese Interpretation ist am Ende vielleicht zu oberflächlich: Es geht gar nicht darum, dass das Justizministerium (oder die, die dem Justizministerium den entsprechenden Befehl gaben) der Wissenschaft schaden wollte, sie war einfach nur im Weg. Es ist vielmehr so: Wenn du einer von oben nicht sanktionierten gesellschaftlichen Tätigkeit nachgehst, dann ist nicht so sehr diese Tätigkeit in Gefahr, sondern das Selbstlose, Gute und Ungeschützte in deinem Leben. Diejenigen, die von dir abhängen, die dich brauchen. Nicht Kapital, Vermögen und Geldanlagen, sondern Verwandte, gegen die ein Strafverfahren in Gang gesetzt wird, Kinder, die man für eine Krankenhausbehandlung nicht ausreisen lässt, Wissenschaftler, die nicht mehr forschen dürfen, Bücher, die nicht gedruckt werden. Jeder – er muss nicht einmal gegen das Regime kämpfen, sondern sich einfach nur gesellschaftlich für etwas vom Staat nicht Sanktioniertes einsetzen wollen – muss darauf gefasst sein: Woronesh ist ins Visier geraten, seine Einwohner in Geiselhaft. Der Pilot zu allem bereit.

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  • Leviathan gegen Leviathan

    Leviathan gegen Leviathan

    Andrej Swjaginzews Film Leviathan, der als erster in der jüngsten russischen Geschichte mit dem zweitwichtigsten Hollywood-Preis, dem Golden Globe, ausgezeichnet und tatsächlich danach auch noch für den Oscar nominiert wurde, war diese Woche [Anfang 2015 – Anm. dekoder] Ziel einer regelrechten Hetzkampagne im eigenen Land. Der Kolumnist von The New Times glaubt, diese Kampagne war sorgfältig geplant.

    Schon möglich, dass die folgenden Ausführungen nur Vermutungen oder gar Verschwörungstheorien sind. Jedoch klingen diese Vermutungen ziemlich glaubwürdig. Es geht dabei um eine minutiös durchdachte Intrige der Machthaber nicht nur mit dem Ziel, Swjaginzews Werk in Verruf zu bringen (und Leviathan ist wirklich der beste russische Film seit Jahren), sondern auch die lang erwartete neue sozialkritische Richtung im russischen Film.

    Von Liebe zu Hass

    Nach der Nummer 1 aller Filmfestivals in Cannes letzten Mai, wo Leviathan den Preis für das beste Drehbuch bekommen hatte, schien es, der Film würde uns allen gefallen. Der Einzige, der ihn aktiv missbilligte, war der eigens zur Vorführung angereiste Kulturminister Medinski. Zum Teufel mit ihm! Welchen normalen Menschen interessiert schon Medinskis Meinung? Und so rutschten wir gut ins Neue Jahr: Leviathan als großes Kino! Und gleichzeitig für den Westen nicht in voller Breite und Tiefe verständlich. Lächerlich, dass unterdessen sogar echte Auskenner behaupten, Leviathan sei speziell für den Westen gemacht. Keineswegs! Der Westen, und ganz konkret Europa, hat das Wichtigste nicht verstanden: dass Leviathan nicht einfach nur eine persönliche Geschichte über himmelschreiende Ungerechtigkeit ist, sondern auch ein politisches Statement über den Wesenskern des modernen Russland. Über den schrecklichen Leviathan, den korrupten Staat bar jeglicher Ehre und jeglichen Gewissens, in dem die Kirche den Staat deckt und Jesus de facto von Kriminellen privatisiert wird. In Europa wurde Leviathan nicht ausreichend wertgeschätzt. Die Auszeichnung in Cannes für das beste Drehbuch ist natürlich toll, aber sie ist kein Hauptpreis. Im Dezember hat der in Europa für einige wichtige oscarartige Filmpreise nominierte Leviathan den Kampf gegen die polnische Ida klar verloren. Wladimir Medinskis besorgte Gedanken galten jedoch vor allem der englischsprachigen Welt, vor allem den USA. Wer in Russland kennt die europäischen „Oskars“? Nicht mehr als ein paar Tausend. Wer kennt den Golden Globe und den Oscar? Oh, das ist schon eine ganz andere Geschichte. Der derzeitige Kulturminister ist kein Dummkopf und er hat einen ganzen Trupp von Zuträgern. Und höchstwahrscheinlich hat er selbst aktiv den entsprechenden Stellen zugetragen, dass es – sollte Leviathan nun kurz vor dem offiziellen Kinostart am 5. Februar amerikanische Preise gewinnen und große Popularität beim breiten Publikum in der Heimat erlangen – ein herber Schlag wäre. Jedenfalls was das primitive russische Patriotismus-Verständnis eines Medinski angeht. Und den russischen Staat und die orthodoxe Kirche. Medinski wusste nicht ohne die Hilfe eben jener Zuträger, dass der Produzent des Films Alexander Rodnjanski, der seine hochkarätig besetzten Filme sowohl in Russland als auch in Amerika produziert, bei den Organisatoren des Golden Globe viel bessere Karten hat als bei der Europäische Filmakademie. Also hätte Leviathan den Globus durchaus gewinnen können. Offenbar wurde eben deshalb beschlossen, den Film kurz vor der Verleihung des Golden Globe, in den Augen der russischen Öffentlichkeit niederzumachen. Für die konzertierte Aktion brauchte es eine Woche. Und man darf annehmen, nicht ohne Beteiligung des Geheimdiensts.

    Russland, zurück – marsch, marsch!

    Am vorigen Wochenende wurde Leviathan nun illegal im Netz veröffentlicht. Es gibt die Vermutung, die Filmemacher hätten das selber getan, doch das widerspricht jeglicher Logik. Wozu sollte Rodnjanski den Film im Netz veröffentlichen, wenn er am 5. Februar ohnehin offiziell in die Kinos gekommen wäre und schon viele den Kinostart ungeduldig erwarteten? Ist ihm dafür nicht sein Geld zu schade? Und was hätte er davon? Swjaginzew ist Perfektionist. Er macht Filme für die große Leinwand. Leviathan besticht durch die fantastische Kameraarbeit des Großmeisters Michail Kritschman. Wozu hätte Swjaginzew seinen bis dato besten Film heimlich ins Netz stellen sollen, wo man ihn auf winzigen Bildschirmen, halbverdeckt von englischen Untertiteln, ansehen würde? Viel plausibler scheint die Annahme, dass der Film von unserem Geheimdienst ins Netz gestellt wurde. Erstens, um die Wirkung zu verderben (denn ausgerechnet die besten Filme rufen bei Zuschauern oft genau die gegensätzliche Reaktion hervor, wenn sie in schlechter Qualität gezeigt werden). Und zweitens, damit seine Agentenschaft in den sozialen Netzen sofort damit beginnen konnte, die öffentliche Wahrnehmung von Leviathan negativ zu beeinflussen. Wäre der Film dort nicht erschienen, hätten sowohl die Filmemacher als auch ich, der ich diese Zeilen schreibe, sagen können: „Was redet ihr Hohlköpfe da? Ihr habt den Film doch nicht mal gesehen!“ Und was bitteschön kann man jetzt erwidern? All die vom Geheimdienst engagierten Leute, die im Internet unter zwei- bis fünfhundert erfundenen Namen ihre Arbeit machen, verkündeten just am Vorabend des Golden-Globe-Triumphs von Leviathan in den sozialen Netzwerken: Der Film ist scheiße, Russlandschmäh und Schwarzmalerei. Das Unangenehmste ist, dass es funktioniert hat. Ich sage es noch einmal: Nach der Premiere in Cannes, wo der Film in guter Qualität gezeigt wurde, waren alle Russen dort begeistert. Mittlerweile aber schreiben sogar viele kluge Menschen, die etwas vom Film verstehen, im Internet: „Den Quatsch seh ich mir erst gar nicht erst an.“ So effektiv erweist sich die KGB-Propaganda eben nach wie vor! So ein Leichtes ist es ihr, sogar angeblich intelligente Leute aus dem Konzept zu bringen! Die Kampagne war angelaufen. Mit dabei die beiden wichtigsten offiziellen Fernsehsender, die besondere Instruktionen erhalten hatten. Als am Montag die Nachricht kam, dass Leviathan tatsächlich einen Golden Globe gewonnen hat, was eine nationale Sensation ist (der einzige russische Film, der den Preis bis dahin gewonnen hatte, war 1969 Bondartschuks Krieg und Frieden), präsentierten die beiden Fernsehsender das nicht nur nicht als Nachricht des Tages, es wurde nur knapp am Ende der Nachrichtensendungen erwähnt. Dabei listeten sie zunächst die anderen Golden-Globe-Gewinner auf, um dann in einem Nebensatz kurz zu sagen, dass Leviathan den Preis als bester fremdsprachiger Film bekommen hat. Das war‘s! Den Höhepunkt erreichte der Irrsinn am 15. Januar, als bekannt wurde, dass Leviathan auch noch für den Oscar nominiert ist. Das ist doch wohl ein großer „Sieg der russischen Waffe“, was denken Sie? Das ist die Nachricht des Tages! Nix da. In den Abendnachrichten des Ersten Kanals wurde die Nachricht ignoriert. Als gäbe es keinen Oscar und keinen Leviathan. Stattdessen wurde uns in allen Nachrichtensendungen freudig verkündet, dass unsere Biathlon-Männer bei einer Weltcup-Etappe Bronze geholt hätten. Schimpf und Schande.

    Wohin es führt

    Wohin wollen sie uns bekommen? Ins Ghetto. In ein politisches und kulturelles Ghetto, in dem es ein Leichtes sein wird, uns die Gehirne zu waschen und kein Platz sein wird für Filme wie Leviathan, in denen offen über die Verschmelzung von Staat und Kirche gesprochen wird. Erstaunlich ist ein Gedanke, der gerade durch eindeutig bezahlte Einflussagenten in den sozialen Netzwerken verbreitet wird: Medinski habe das Recht, von Leviathan politische Loyalität zu fordern, denn der Film sei mit Unterstützung des Kulturministeriums gedreht. Aber so gut wie alle russischen Filme in den letzten Jahren wurden mit Unterstützung des Kulturministeriums gedreht, warum sollte man da an Leviathan besondere Anforderungen stellen? Besonders, wenn man bedenkt, dass die Unterstützung mickrig ist und das Gros der Finanzierung aus anderen Quellen stammt. Ideale Verhältnisse bestehen in dieser Hinsicht in Frankreich, dessen Herangehensweise von unseren Entscheidungsträgern so gerne als Vorbild zitiert wird. (Dort wird gern davon gesprochen, dass es in Frankreich Verleihquoten für amerikanische Filme gäbe. Fakt ist: Es gibt in Frankreich keinerlei Quoten, es gab sie nie und es wird sie nie geben. Man verscheißert euch.) In Frankreich wird auf jedes Kino-Ticket eine Steuer von 11 Prozent erhoben, die in den Fonds des Centre National de la Cinématographie fließen, das dann wie unser Kulturministerium Zuschüsse an Produzenten vergibt. Dabei geht es um weit größere Summen als die, die unser Kulturministerium für diese Zwecke vergibt, doch keiner würde je auf die Idee kommen, die geförderten Filme einer ideologischen Kontrolle zu unterwerfen. Womöglich weil Frankreich – im Gegensatz zu Russland – ein freies Land ist. Vor dem Hintergrund der Geschichte mit Leviathan hat das Kulturministerium neulich einen Gesetzentwurf eingebracht, demzufolge kein Film eine Verleih-Lizenz bekommt, der „die nationale Kultur verleumdet, die nationale Einheit bedroht und die Grundlagen der Verfassungsordnung zerrüttet“. Man bereitet uns darauf vor, dass in den Kinos keine Filme mehr laufen werden, die die herrschende Macht in Russland kritisieren, und sei es nur indirekt. Man darf gespannt sein, wie lange sie mit ihren Restriktionsgesetzen durchhalten und ob ihnen bald Nürnberger Prozesse bevorstehen. Was Swjaginzew betrifft, tut unser Staat offenbar alles dafür, ihn aus dem Land zu bekommen. Wenn Abschaum an der Macht ist, wählt er sich immer freie, ehrliche, talentierte Menschen als Angriffsziel.

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  • Produktion von Ungerechtigkeit

    Produktion von Ungerechtigkeit

    Olga Romanowa ist eine bekannte Journalistin, die sowohl im Fernsehen wie auch in Printmedien gearbeitet hat. Außerdem ist sie Direktorin einer Organisation zur Strafgefangenenhilfe. Sie berichtet, wie einer ihrer Besuche im hohen Norden sie in eine Welt entführt, in der die Haft selbst nur eine Nebenrolle spielt.

    „Sagen Sie mal, Iwan Stepanowitsch, Pekinesen … Gibt es die hier wirklich?“
    „Klaro.“
    „Diese kleinen wuscheligen mit Palmen auf dem Kopf. Und Stupsnasen …“
    „Klaro.“
    „Was machen die denn hier und woher kommen sie?“
    „Aus dem Wald. Die leben hier seit eh und je.“

    Mir scheint, einer von uns spinnt. Ich fahre seit vielen Jahren in diese Gegend, in die entlegenen Gefangenengebiete des russischen Nordens, wo die Taiga in den Bergen endet und erste Anzeichen der Tundra zu sehen sind. Etwas weiter weg gehen die Berge in Hügel über, und dort beginnt die Tundra. Hier aber ist noch Wald, bevölkert von Bären, Wildschweinen, Wölfen und anderen niedlichen Pelztieren. Und schon seit vielen Jahren reibe ich mir die Augen, wenn aus diesem Wald, in den man sich nicht einmal zum Pinkeln hineintraut, eine Meute wilder Pekinesen, angeführt von einem kessen Alpha-Männchen, herauskommt, die kleine Siedlung durchquert, die Schuppen umschnüffelt, sich mit den ansässigen riesigen Hofhunden anbellt, die versuchen sich der Meute anzuschließen, aber verscheucht werden – und dann stolz im Kiefernwald verschwindet.

    Iwan Stepanowitsch hat extra für mich einen Bären wecken lassen – fast in jedem Lager hier leben Bären / Fotos © Olga Romanowa
    Iwan Stepanowitsch hat extra für mich einen Bären wecken lassen – fast in jedem Lager hier leben Bären / Fotos © Olga Romanowa

    Ich kenne mich mit Hunden aus, ich sehe, dass das erstklassige, gezüchtete Rassehunde sind. Die können hier nicht überleben: Ich komme im Sommer in Sandalen aus Moskau in die Gebietshauptstadt geflogen und ziehe mir im Taxi Filzstiefel an, die nächste Stadt ist 400 km von hier entfernt. Ich kenne den Unterschied zwischen Winterfilzstiefeln und Sommerfilzstiefeln.

    In Sommerfilzstiefeln bin ich einmal zum von der Straße abgelegenen Ende der Siedlung gegangen, um zu sehen, warum die Schafe und der Bock dorthin laufen. Jetzt in Winterfilzstiefeln schafft man es nicht dorthin, im Winter schafft man es hier überhaupt nirgendwohin, wenn kein Pfad freigehauen ist, durch den man wie durch einen Korridor geht, dessen Schneewände links und rechts bis zu den Schultern reichen.

    Im Winter schafft man es hier überhaupt nirgendwohin, wenn kein Pfad freigehauen ist, durch den man wie durch einen Korridor geht, dessen Schneewände links und rechts bis zu den Schultern reichen

    Jedenfalls laufen die Schafe und der Bock zu einem Ding, das von weitem aussieht wie ein weißer Stein, sie scharen sich um ihn, und dann treten die älteren Tiere näher und berühren den Stein mit der Stirn, doch das ist gar kein Stein, sondern ein alter Schafsbockschädel.

    „Iwan Stepanowitsch, da ist doch so ein Schafsbockschädel, zu dem die hinlaufen, kennen Sie den?“
    „Klaro. So’n Schädel eben.“
    „Iwan Stepanowitsch, und warum fliegen die Bienen hier immer im Kreis um den Bienenstock?“
    „Olga, du Dummchen. Wohin sollen die denn sonst fliegen?“

    Ich frage, er antwortet. Was ist daran bitte nicht zu verstehen? Ich bin das Moskauer Dummchen und er der Oberst der Föderalen Strafvollzugsbehörde, ein hohes Tier, Herr über die hiesigen Ländereien mit all ihren Lagern und Strafkolonien. Er versteht nicht, warum ich wieder hergekommen bin, obwohl er sich anscheinend schon dran gewöhnt hat.

    Ich kenne seine beiden Frauen und die meisten seiner Kinder, sie begegnen mir so offen und freundschaftlich wie man, sagen wir, einer Katze überhaupt begegnen kann – einem rätselhaften, aber insgesamt harmlosen Wesen, solange es die Pfoten von der Smetana lässt. Ich versuche zu erklären, warum ich gekommen bin:

    „Ich habe so eine Art Patenschaft für hiesige Häftlinge übernommen.“
    „Was bitteschön für eine Patenschaft bei welchen Häftlingen? Dein Mann hat seine Strafe doch schon lange abgesessen. Übrigens ein guter Kerl, vom Lande, dass er zwei Hochschulabschlüsse hat, da würde man nicht drauf kommen, eher ein Einfaltspinsel, aber mit einem eigenen Kopf, auf jeden Fall: Alle erinnern sich hier noch, wie er mal mitten im Winter Rosen für dich aufgetrieben hat, als du zu Besuch kamst. Und was soll das jetzt, was für Häftlinge?“
    Hundertneunundfünfziger.“
    „Hättst du das doch gleich gesagt.“

    Und dann fährt er mich zu dem abgelegenen Lager, wo meine Hundertneunundfünfziger einsitzen, Unternehmer, einer davon ziemlich bekannt, ich kenne seine alte Mutter gut, eine verdienstvolle Lehrerin, und seine junge Frau, die ihn im Lager geheiratet hat – einen völlig ruinierten, nicht mehr jungen, recht fülligen Mann mit sehr langer Haftstrafe.

    Im Winter schafft man es nirgendwohin, wenn kein Pfad freigehauen ist
    Im Winter schafft man es nirgendwohin, wenn kein Pfad freigehauen ist

    Die junge Frau ist ein gutes Mädchen, eine ganz rechtschaffene, ich kenne die Geschichte, wie sie sich kennengelernt und verliebt haben – zu einem Zeitpunkt, als niemand überhaupt an so etwas wie Liebe dachte und schon gegen ihn ermittelt wurde. Jetzt lerne ich ihn also kennen, wir wissen schon viel voneinander, haben nur noch nicht miteinander gesprochen, aber nach dem ersten „Tagchen!“ wird alles einfach und klar: Er ist ein selten kluger und bezaubernder Mensch, und so lausche ich ihm mit offenem Mund.

    Mein zweiter Schützling ist Philosoph, Absolvent der Moskauer Universität, promoviert, Tätigkeit in der Präsidialverwaltung, 14 Jahre Haft – die sitzt er für jemand anders ab. Seine Frau hat ihn sofort verlassen, aber er hat über einen Briefwechsel ein Mädchen aus Tschita kennengelernt, sie haben geheiratet, jetzt ist sie schwanger.

    Ich verlasse das Lager ganz beseelt: Was für Menschen! Und damit meine ich nicht einmal so sehr die Verurteilten, sondern die, die dort arbeiten. Bis zum Anschlag rechtschaffene und gute Leute, die haben nichts Böses. Verständnisvoll, alle miteinander. Einer bringt mich noch ein Stück und zeigt auf die Überreste einiger Holzhäuser:

    „Sieh mal, hier stand im Herbst noch ein solides Haus.“
    „Und wo ist es hin?“
    „Der Besitzer kam für zwei Wochen ins Krankenhaus, da haben wir sein Häuschen zerlegt, Balken für Balken. Siehst du den Hund dort? Der hat da in der Hütte gelebt, jetzt kriegt er bei uns zu fressen.“
    „Ist der Besitzer gestorben?“
    „Wieso gestorben? Ausgenüchtert haben sie ihn, unseren guten Wirtschafter. Was haben wir gelacht! Er kommt raus, und sein Haus ist weg, hat sich einfach so in Brennholz verwandelt.“
    „Und wo wohnt er jetzt?“
    „Drüben im Wohnheim. Aber er soll bald ein Zimmer in der Stadt bekommen, heißt es.“

    Oh je. Von Gut und Böse habe ich wohl wirklich keine Ahnung. Nehmen wir zum Beispiel unseren Oberst Iwan Stepanowitsch, der hat drei Familien, eine von früher und zwei aktuelle

    Oh je. Von Gut und Böse habe ich wohl wirklich keine Ahnung. Nehmen wir zum Beispiel unseren Oberst Iwan Stepanowitsch, der hat drei Familien, eine von früher und zwei aktuelle. Seine alte hat er für gleichzeitig zwei neue verlassen, eine mit Irka und eine mit Nataschka, die beiden Frauen arbeiten auch in den Lagern, die eine als Inspektorin, die andere als Hausmeisterin. Sie sind ein bisschen eifersüchtig aufeinander, aber er lebt abwechselnd in beiden Familien, versucht keine zu benachteiligen – immerhin sechs Kinder sind dabei rausgekommen. Die älteren Söhne arbeiten auch in den Lagern, einer sitzt, wegen Drogen.

    Wodka trinkt man hier im Grunde erst mit über vierzig. Was heißt Wodka, das ist ein Witz. Selbstgebrannter Fusel und Methylalkohol.

    „Olja, komm, wir schauen uns den Bären an.“ Iwan Stepanowitsch holt mich mit dem Auto ab, er hat extra für mich einen Bären wecken lassen.

    Fast in jedem Lager leben hier Bären. Die Jäger (also die Häftlinge oder Arbeiter) töten eine Bärin, und wenn sie Junge hat, nehmen sie die mit ins Lager. Ist natürlich schade, dass sie den armen Bären jetzt wecken, der dämmert schon in den Winterschlaf hinüber, aber sie sind nicht davon abzuhalten. Füttern ihn grade mit einem leckeren Apfel. Ich frage, was er sonst noch zu fressen bekommt – doch wohl nicht nur Äpfel, ja und Schweinefleisch werden sie ihm wohl auch nicht kaufen, das wäre übertrieben.

    Ein Bär frisst kein Entrecôte aus dem Feinkostladen, ein Bär frisst lebendes Fleisch mit Schwanz

    Der gute Iwan Stepanowitsch sagt mir, was er frisst. Besser gesagt, wen. Nein, das schreibe ich nicht auf, das brauchen Sie nicht zu wissen. Sie würden sonst noch anfangen, die ganze Menschheit zu hassen. Weil Sie dort in Ihren Hauptstädten und Ihrer Zivilisation hinter Ihren schicken Laptops sitzen und über Humanismus, Umwelt und Schädlichkeit von Margarine philosophieren – und die wird hier von Häftlingshänden aus Palmöl produziert.

    Die Menschen hier erleben Blut, Schmerz und Ungerechtigkeit genauso, wie sie all das im 16. Jahrhundert erlebt haben, sie selber produzieren Blut, Schmerz und Ungerechtigkeit und verstehen, dass das nicht anders sein kann, so ist die Welt beschaffen, so und nicht anders. Ein Bär frisst kein Entrecôte aus dem Feinkostladen, ein Bär frisst lebendes Fleisch mit Schwanz.

    Ich verlasse das Lager ganz beseelt – was für Menschen!
    Ich verlasse das Lager ganz beseelt – was für Menschen!

    Stepanytsch und ich setzen uns in den UAZik, seinen russischen Geländewagen, und fahren in ein anderes Lager, nicht weit weg, rund 50 Kilometer. Auf einmal läuft vor uns eine Kuh auf die Straße, hinter ihr noch eine. Ohne auf das Auto zu achten, überqueren sie gemächlich die Straße und verschwinden im Gestrüpp.

    „Iwan Stepanowitsch, Kühe! Aus dem Wald! Hier gibt es doch nichts als Wald, kein Dorf, kein Lager, keinen Stall und im Wald sind Bären!“
    „Olja, du kleines Dummchen. Mal sind’s Pekinesen, mal Kühe … Die leben nun mal hier. Muss dich nicht kümmern. Maljawka, mein Kätzchen, weißt du, gestern hat sie einen Luchs abgemurkst. Soll ich jetzt einen Brief an Im Reich der Tiere schreiben?

    Ich schweige. Wir fahren weiter, vor uns taucht ein Bahnübergang auf. Auf den schneeverwehten Gleisen der Schmalspurbahn steht ein neues Paar eleganter Herrenschuhe. Lackleder mit Absatz. Keine Seele weit und breit. Ich schweige. Iwan Stepanowitsch schaut sich die Schuhe an und wirft sie in den Kofferraum.

    „Na, das ist ein Ding … Hast du die Sohle gesehen?“
    „Welche?“
    „Olja, du bist echt so ein Dummchen? Die haben dünne Sohlen! Ganz dünne! Völlig rutschig. Solche Sohlen eignen sich nur für den Sommer in Orenburg.“
    „Warum in Orenburg?“
    „Da machen wir immer Urlaub, im Schwarzen Delfin.“
    „Das ist doch ein Lager für Lebenslängliche.“
    „Na, in eurem Scheiß-Moskau werden wir ja nun nicht gerade Urlaub machen! Im Delfin ist es im Sommer schön, Seen in der Nähe, ich nehm die Kinder mit, oh ja, ihnen gefällt es da, schön warm, nur ziemlich weit weg, die Fahrt find ich echt anstrengend.“

    … Jaja, im Schwarzen Delfin ist es schön, was sonst. Mir fällt wieder ein, dass auf Stepanytschs jüngere Kinder statt eines Kindermädchens zwei Häftlinge aufpassen, zwei Hundertfünfer, ich weiß, dass der eine 23 Jahre aufgebrummt bekommen hat, wegen besonderer Grausamkeit. Stepanytsch mag ihn sehr, sagt, er ist ein guter Mensch. Denn im Suff kann sowas ja schnell mal passieren.

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    „Der Kommissar ist ein sehr netter Mensch.“

  • Albrights Un-Worte

    Albrights Un-Worte

    Das Internet wimmelt vor Gerüchten und Legenden, Halbwahrheiten und kruden Theorien – auch und gerade in Russland. Manche von ihnen werden zum regelrechten Politikum: etwa, dass die ehemalige Außenministerin der USA, Madeleine Albright, gesagt haben soll, Russland besitze Sibiriens Bodenschätze zu Unrecht. Die Journalistin Julija Latynina geht der Frage nach, wie es zu der beeindruckenden Karriere dieses Zitats kam, durch die es in eine der wichtigsten Fernsehsendungen des Landes gelangte. Wenn es denn eines war.

    Yes! Lange habe ich darauf gewartet, dass sie das auch offiziell sagen – und jetzt ist es passiert.

    Der Sekretär des Sicherheitsrats der Russischen Föderation Nikolaj Patruschew erklärte in einem Interview mit der Zeitung Kommersant, die USA „hätten es sehr gerne, wenn Russland überhaupt nicht existierte“, „weil wir über sehr große Reichtümer verfügen. Und die Amerikaner glauben, dass sie illegal und unverdient in unserem Besitz seien, da wir sie, ihrer Meinung nach, nicht so verwenden, wie wir sie verwenden sollten. Sie erinnern sich sicherlich an die Äußerung der ehemaligen Außenministerin der USA, Madeleine Albright, dass weder der Ferne Osten noch Sibirien Russland gehöre.“

    Die Entstehungsgeschichte dieser Äußerung ist überaus interessant. Das erste Mal taucht sie, soweit ich das recherchieren konnte, im Juni 2005 als Zitat in einem Internetforum auf. Damals schrieb eine gewisse Nataly1001 im Blog „Seltsame politische Situation“ vom 07.06.05 des Forums forum.germany.ru Folgendes:

    „Da meine Arbeit mit dem Internet zu tun hat, lese ich regelmäßig die aktuellen Nachrichten und dort habe ich in der letzten Zeit eine sonderbare politische Tendenz beobachtet. Von den russischen Medien wurde recht oft das Thema der nationalen Sicherheit aufgekocht … Zu hören war die Äußerung der früheren US-Außenministerin Frau Albright: 'Solange ein Territorium wie Sibirien von diesem einem Land beherrscht wird, kann von einer weltweiten Gerechtigkeit keine Rede sein. Wäre es ein anderes Land, sähe die Sache freilich anders aus! …' Ehrlich gesagt, auch wenn diese Äußerung die Meinung einer Privatperson und ehemaligen amerikanischen Politikerin wiedergibt, sie gibt zu denken….“

    Nataly1001 trug alle Merkmale eines Kreml-Trolls. Nach der Veröffentlichung dieses Artikels entbrannte eine heftige Diskussion. Die Skeptiker forderten Quellenangaben, ihnen wurde entgegnet: „Lest bitte Zbigniew Brzeziński.“

    Die Skeptiker gaben sich damit nicht zufrieden. „Wenn besonders betont wird, dass ein bedeutender Politiker so etwas gesagt hat, lässt das Zweifel daran aufkommen, dass er es tatsächlich so gesagt hat, und deshalb fordern wir einen Beleg, na, und aus dem können dann Schlüsse gezogen werden.“

    Die Trolle antworteten: „Beweise wofür? Es ist doch klar, dass sich die westlichen Politiker allesamt von Äußerungen dieser Art distanzieren werden!“

    Kurz gesagt: Zwei Dutzend Seiten des Forums wurden gefüllt mit Verwünschungen an die Adresse von Albright, Quellenangaben existierten allerdings auch danach nicht.

    Damit war die Sache in der Welt. Die Äußerung von „Madeleine Albright“ war nun eingeführt, jetzt konnte man den Prozess zu ihrer Legitimierung auf eine neue Ebene bringen.

    Am 14. Juli 2005, einen Monat nach ihrem unbelegten, durch den Fleiß anonymer Trolle ermöglichten Auftauchen, wurde die Äußerung von Alexej Puschkow, dem Chef der Fernsehsendung Postskriptum, zitiert.

    „Bekanntlich werden Madeleine Albright“, erklärte Puschkow, „die Worte zugeschrieben, dass 'Sibirien ein zu großes Territorium sei, um einem Staat allein zu gehören.' Selbst wenn sie es nicht genau so gesagt haben sollte, so haben sie oder einer der gar nicht dummen Leute in Amerika doch etwas Derartiges gemeint.“

    Danach bezogen sich alle Quellenangaben bereits auf die Sendung von Puschkow. „Wie Madeleine Albright in der Sendung von Puschkow gesagt hat …“ In Wahrheit hat nicht sie etwas gesagt, sondern Puschkow. Und vielleicht auch gar nicht gesagt, sondern nur gemeint. Und vielleicht auch nicht Albright, sondern „irgendjemand dort drüben“.

    Ein Jahr später sollte sich allerdings herausstellen, was Madeleine Albright tatsächlich gemeint hatte. Am 22. Dezember 2006 gab Generalmajor Boris Ratnikow ein Interview in der Rossijskaja Gaseta. Das Interview trug wirklich die Überschrift: „Die Tschekisten haben die Gedanken Albrights gescannt“.

    Nun ist es so, dass Generalmajor Boris Ratnikow vom russischen Schutzdienst FSO eine Spezialabteilung beaufsichtigte, die sich mit den Geheimnissen des Unbewussten beschäftigte. Und so hatte der Generalmajor am Vorabend des Jugoslawienkriegs im Verlauf seiner astralen Schlachten eine „Sitzung zum Anschluss an das Unterbewusste der Außenministerin Albright“ organisiert.

    „In den Gedanken von Frau Albright konnten wir einen pathologischen Slawenhass entdecken“, erklärt der Generalmajor. „Darüber hinaus hat sie die Tatsache verärgert, dass Russland über die weltweit größten Vorkommen an Bodenschätzen verfügt. Ihrer Meinung nach sollte über die russischen Bodenschätze in der Zukunft kein Land allein, sondern die gesamte Menschheit verfügen können, natürlich unter Führung der USA.“

    Weniger als ein halbes Jahr nach dieser Veröffentlichung, am 18. Oktober 2007, gab es im Fernsehen eine Fragestunde mit Präsident Putin. Bei der bat ein einfacher Mechaniker aus Nowosibirsk den Präsidenten, die Äußerung der ehemaligen Außenministerin der USA Madeleine Albright darüber, dass Russland „ungerechterweise allein über die natürlichen Ressourcen Sibiriens verfüge“, zu kommentieren.

    Putin erklärte, dass ihm diese Äußerungen Albrights nicht bekannt seien, allerdings „wisse er, dass solche Ideen in den Köpfen einiger Politiker vor sich hin gärten“. „Das ist, meiner Meinung nach, so eine Art politische Erotik, und vielleicht verschafft sie sogar irgendjemandem Befriedigung, sie wird aber kaum zu positiven Ergebnissen führen“, bemerkte der Präsident.

    Diese Frage und Antwort während der Liveschaltung, für die einfache Mechaniker sorgfältig ausgewählt und herbeigeschafft wurden, waren ganz offensichtlich ein weiterer Baustein zur Legitimierung der Äußerung und alles war außerordentlich fein konstruiert. Einerseits war diese Äußerung nun im ganzen Land zu hören gewesen, und ja, sogar in einer Livesendung mit dem Präsidenten. Andererseits – siehe Putins Antwort.

    In Patruschews Interview mit der Zeitung Kommersant schloss sich der Kreis. Das nicht existierende Zitat, das durch die Kreml-Trolle in die Internetforen geschleust und durch den sich zu den Sternen erhebenden General Ratnikow zitiert worden war, verwandelte sich in ein Glaubensbekenntnis und in ein Axiom jener nichteuklidischen Politgeometrie, in der der kollektive Kremlverstand zu Hause ist.

    Das Mittelalter war bekanntlich eine Zeit des fanatischen, aufrichtigen und ekstatischen Glaubens. Und gleichzeitig war es eine Zeit, in der gefälschte Reliquien – die Nägel, mit denen man Jesus Christus ans Kreuz geschlagen hatte, die Knochen von Johannes dem Täufer und anderes – als Massenware im Umlauf waren, so dass allein aus den Nägeln ein ganzes Schiff hätte zusammengenagelt werden können. Mich hat immer interessiert, ob eigentlich die Lieferanten der falschen Knochen selbst an die Echtheit ihrer Knochen glaubten?

    Nach dem Interview mit dem Sekretär des Sicherheitsrats der Russischen Föderation Nikolaj Patruschew kann man sicher sagen: sie glaubten daran.

    Und diese wunderbaren Menschen haben das Sagen in Russlands Politik und Strategie. Wieso eigentlich nicht? Sie können ja sogar Gedanken lesen.

     

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