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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Russland als globaler Dissident

    Russland als globaler Dissident

    Seltsame Verkehrungen in Russlands Selbstbild beobachtet Maxim Trudoljubow von den Vedomosti: Die offiziellen Medien stilisieren die Weltgemeinschaft zu einer Art globaler UdSSR und messen Russland selbst in dieser die Rolle des standhaften, von allen drangsalierten Verweigerers an. Also dieselbe Rolle, welche in der echten, tatsächlichen UdSSR die Dissidenten innehatten. Da dasselbe Russland sich wiederum gern als direkten Nachfolger der Sowjetunion betrachtet, ist das nicht nur ein Widerspruch, warnt der Kolumnist, sondern Anzeichen eines bedenklichen Realitätsverlustes.

    Die russische Gesellschaft sieht sich nicht. Wie auch jede andere Gesellschaft und jeder Mensch sich selbst nicht sieht. Um sich selbst zu sehen, braucht man einen Spiegel. Häufig erfüllen die Medien diese Funktion in der Gesellschaft. In Russland spiegeln sie allerdings nicht das Leben der Bewohner Russlands wider, sondern das Leben der Anderen. Die Medien bombardieren die Bevölkerung mit Artikeln über Kriege, Gezänk und Krisen in Griechenland, im Nahen Osten, in Europa und selbstverständlich in der Ukraine. Überall Krisen, in jeder Regierung tummeln sich Politiker, die sich am Staat bereichern, alle Länder befinden sich im Würgegriff von verantwortungslosen Staatsapparaten, von Korruption und Fremdenfeindlichkeit. Doch in Russland geschieht so etwas natürlich nicht, denn es erscheint ja nicht auf den Fernsehbildschirmen.

    Und wenn dann doch in irgendwelchen Zusammenhängen mal negative Themen aufscheinen, so – und das leuchtet jedem sofort ein – liegen die Gründe für Rezession, Inflation, Ärztemangel und polizeiliche Willkür ausnahmslos außerhalb der Landesgrenzen. Die Gründe liegen immer im Außen. Es erstaunt wirklich, dass es in der russischen Geschichte eine Zeit gegeben hat, in der Bürger bei der Betrachtung von Kausalzusammenhängen tatsächlich die Staatsmacht miteinbezogen haben. Wie in den Jahrzehnten und Jahrhunderten davor ist das heute wieder anders. Es ist eine alte Tradition. „Stalins politische Begabung bestand teilweise in seiner Fähigkeit, Bedrohungen von außen mit Misserfolgen in der Innenpolitik derart gleichzusetzen, als wären sie ein und dasselbe und als wäre er persönlich weder für das eine noch für das andere verantwortlich“, schreibt der Historiker Timothy Snyder in seinem Buch Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. „Und 1930, als die Probleme der Kollektivierung offen zu Tage traten, sprach er bereits von einer internationalen Verschwörung der Trotzkisten mit verschiedenen ausländischen Staaten.“

    Demnach ist der Umstand, dass die Menschen in Russland weder sich noch die innenpolitischen Probleme sehen, wohl aber eine Welt da draußen, voller Gefahren und Verrat, also nichts Neues. Doch es wäre interessant zu wissen, was sie eigentlich sehen? Welches Bild eigentlich vor ihrem Auge entsteht, wenn die Erzeuger der medialen Welt ihre Instrumente zur Hand nehmen und mit ihrer schöpferischen Arbeit beginnen?

    Bei einer der wichtigsten Polit-Talkshows hat der bekannte Journalist Witali Tretjakow die Situation der Nicht-Einladung Russlands zum Treffen der G7 wie folgt kommentiert: „Es ist ehrenvoll, ein Dissident zu sein.“ Russland, erklärte Tretjakow, sei die wirklich „intelligente Minderheit“ dieser Welt. Man erklärt uns immer, die Mehrheit, das sei der Mainstream, die dumpfe Masse, und hier haben wir sie, die kluge Minderheit: Russland. Das ist ein tiefsinniger Vergleich. Es lohnt sich, ihn zu ergänzen um die seit Langem im Russischen gebräuchlichen Vergleiche von Washington und Brüssel mit dem seinerzeit sehr einflussreichen, allgegenwärtigen Obkom. Russland führt – wie ein kollektiver Dissident in der großen und autoritären Welt – einen ungleichen Kampf gegen die Kräfte eines Welt-ZK der KPdSU und KGB. Aufeinandertreffen dieser Art gibt es immer weider, sei es bei der FIFA-Affäre, in der Blatter fast schon als Dissident dargestellt wird, sei es in Geschichten über Griechenland, in der Tsipras die Rolle des Verfolgten spielt. Russland, der Bürgerrechtler, schützt selbstverständlich die Verfolgten. Und die „Obkoms“ knurren zurück. Sie sind nicht mehr die, die sie unter Stalin waren. Sie gleichen mehr den Staatsorganen der Breshnew-Zeit, in Maßen blutrünstig, vor allem aber hart und verschlagen. Mit Russland machen sie in etwa das, was die sowjetischen Organe damals mit den Dissidenten innerhalb Russlands gemacht haben. Sie trachten danach zu diffamieren, erheben diverse absurde Vorwürfe, verhängen Sanktionen, kappen Einkommensquellen, verurteilen und schicken in die Verbannung. Russland heute, das ist in der Vorstellungswelt der medialen Propagandisten ein fabelhafter Sacharow, ein Herausgeber der Chronik des Zeitgeschehens (soll heißen jetzt: Russia Today), ein aller Auszeichnungen Beraubter (aus der Gruppe der G8 gejagt) und ein nach Gorki Verbannter (Einreiseverbot für einzelne Regierungsvertreter).

    Das bedeutet, dass die, die das Regime vertreten und verteidigen, sehr gern als hochgeschätzte Figuren angesehen würden – draußen in der Welt. Innerhalb des Landes, dem du die Macht gewaltsam aufdrängst, wird es keine echte Wertschätzung geben, also gehst du ins Außen. Die sowjetische Lebenswelt hat wahrscheinlich jene stark traumatisiert, die sich heute als Elite und politische Klasse bezeichnen. Sie möchten gern ebene jene „kluge Minderheit“ sein, doch innerhalb von Russland ist das nicht möglich, dieser Platz ist besetzt von der Opposition und denkenden Menschen. Die gilt es kaltzustellen, was wiederum heißt, in der höchst unangenehmen Rolle als Vertreter des Pöbels aufzutreten. Allein der Umstand, dass die Welt, die die russischen Propagandamacher malen, ein große weltumspannende UdSSR ist, sagt uns viel über sie.

    Sie malen eine Welt, die der UdSSR ähnelt, und wollen aussehen wie die Mächte des Guten, wobei Dissidententum als das Gute gilt. Dabei muss ihnen doch eigentlich klar sein, dass sie unter Bedingungen eines durchchoreographierten öffentlichen Lebens nicht die Kräfte des Guten sein können. Aber eines ist merkwürdig. Es ist merkwürdig, dass eine derartige Menge ganz normaler und im Grunde genommen nicht schwertraumatisierter Bürger Russlands mit Vergnügen dieses tägliche Theater im Fernsehen mitansehen. Möglicherweise ist es ihnen, wie auch den Kreml-Chefs, einfach zu traurig, sich wirklich umzusehen. Man will sich einfach nicht mit dem beschäftigen, was ansteht, man will es den Nachgeborenen überlassen.

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  • Oktober: Denis Sinjakow

    Oktober: Denis Sinjakow

    Unser Titelbild für den Monat Oktober stammt aus der Serie „Zivilisation der Flüsse” von Denis Sinjakow. Der Fotograf hat unter anderem für AFP und Reuters gearbeitet, viele Auftritte von Pussy Riot im Bild festgehalten sowie die Aktion von Greenpeace auf der Bohrplattform Priraslomnaja im September 2013 dokumentiert, die mit dem Arrest aller Teilnehmer endete, den Fotografen eingeschlossen.

    Im Netz der russischen Transportwege nehmen die Flüsse von jeher eine besondere Stellung ein. Im Mittelalter erlaubten sie, Ladungen von wertvollen Fellen aus dem Norden und Osten des Landes zu den Handelsplätzen zu bringen, an denen sie unter anderem an die Kaufleute der Hanse verkauft wurden. Auch in der Zaren- und später der Sowjetzeit herrschte auf den Flüssen ein reger Lastschiffverkehr. Heute spiegeln sich in ihrem Wasser oft nur noch die verfallenden Holzhäuser verlassener Dörfer wider.

    Die Fotografie zeigt die Figur eines ländlichen Geistlichen, wie er am hohen Ufer des Flusses Wytschegda steht und den Blick über die Wiesen und Wälder im Flusstal schweifen lässt. Sinjakow hat in den Frühsommern 2014 und 2015 gemeinsam mit dem Schriftsteller Sergej Fissenko in einem hölzernen Ruderboot die Routen der mittelalterlichen Pelzhändler vom Onegasee bis in den nördlichen Ural befahren. Die beiden Reisenden haben dabei fotografisch sowie in einem Dokumentarfilm festgehalten, was vom Leben in den Dörfern längs der Flüsse heute übriggeblieben ist.

    Foto © Denis Sinjakow
    Foto © Denis Sinjakow

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  • Ein neues Jalta auf den Trümmern Syriens?

    Ein neues Jalta auf den Trümmern Syriens?

    Die USA konnten bei der Bekämpfung des IS zwar Teilerfolge verbuchen, jedoch keine Lösung des Konflikts herbeiführen. Russland seinerseits bereitet mit ungewöhnlicher Offenheit Militäraktionen in Syrien vor und führt sie inzwischen auch durch. Das deutet auf Strategien hin, die über den lokalen Konflikt hinausreichen. Pawel Felgengauer, ein auf Außenpolitik und Streitkräfte spezialisierter Analytiker der Novaya Gazeta, stellt die Frage: Was steht hinter dem sogenannten Putin-Plan? Hofft der Kreml, auf den Trümmern Syriens und auf dem Rücken derer, die vor dem Chaos fliehen, eine Neudefinition der Einflusssphären durchzusetzen, ähnlich den Ergebnissen der Konferenz von Jalta?

    Der Aufbau eines russischen Truppenkontingents in Syrien ist die erstaunlichste militärische Geheimoperation dieser Art der letzten 60 Jahre. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums waren Russland bzw. die UdSSR zwischen 1945 und 2000 an 46 lokalen Konflikten verschiedener Art beteiligt, was mit wenigen Ausnahmen in aller Stille, ohne jede Verlautbarung abgewickelt wurde. Nach Syrien wurden jetzt den gewagtesten Schätzungen zufolge ein paar hundert Marine-Infanteristen, Vertragssoldaten und Experten, einiges neues Militärgerät und vielleicht an die zehn Flugzeuge und Hubschrauber entsendet, und diesmal hat man allerhand Informationen durchsickern lassen bzw. in die ganze Welt herausposaunt, als würden dort schon kampfbereite Divisionen stehen.

    Ganz anders im Februar und März 2014, als mehrere zehntausend Mann und mehrere hundert Stück Militärgerät auf die Krim gebracht wurden, und es kein ununterbrochenes Durchsickern und keine Enthüllungen gab; die Leute rätselten herum, was das dort für Männchen seien, während Wladimir Putin bestritt, dass es sich um die eigene Armee handelte. Offizielle Personen in Russland leugnen für gewöhnlich jegliche Beteiligung an irgendwelchen regionalen Kriegen und wiederholen mit versteinerten Mienen die Geschichte von den mehreren tausend Fahrzeugen oder anderem Militärgerät und den Hunderten von Waggons voller Munition, die von den Volksmilizen als Trophäen erbeutet worden seien.

    Heute erklären eben jene offiziellen Personen in Bezug auf Syrien ausweichend: Es soll dort wohl tatsächlich Soldaten, Experten und Militärberater geben, aber „bislang“ sind sie nicht im Einsatz, und die Waffen und die Munition – die schicken wir aufgrund früherer Verträge, was wir auch weiterhin tun werden. Zum russischen Luftwaffenstützpunkt in Latakia erklärt man im Generalstab: „Momentan existiert ein solcher nicht, aber in Zukunft ist alles möglich“, und falls die Syrer uns darum bitten, können wir ihnen Truppen schicken.

    Moskau versucht also, mit allen Mitteln den Anschein zu erwecken, es bereite in Syrien einen konzentrierten offensiven Truppeneinsatz vor, der dem für das Regime von Präsident Baschar al-Assad und seine schiitischen Verbündeten unglücklichen Verlauf des Bürgerkriegs eine entscheidende Wende geben soll. Es ist gut möglich, dass einige der zahlreichen Informationslecks, durch die die Nachrichten über die russische Militärpräsenz in Syrien gesickert sind, eigens organisiert oder gesponsert wurden – als Teil des informationellen Versorgungsprogramms eines dreisten strategischen Manövers, das den langjährigen syrischen Verbündeten retten und zugleich im Hinblick auf den Westen das allgemeine Konfrontationsniveau senken soll.

    Konturen einer Koalition

    Seit Juni ist Moskau dabei, für den sogenannten Putin-Plan für den Nahen Osten zu werben: die Bildung einer breiten Koalition zum Kampf gegen den in Russland verbotenen Islamischen Staat (IS). Diese Koalition soll laut Putin die bewaffneten Streitkräfte der Assad-Regierung und die irakische Armee einbeziehen, außerdem „alle, die bereit sind, einen wirklichen Beitrag zum Kampf gegen den Terror zu leisten oder dies bereits tun“, also kurdische Milizen, Kämpfer der radikal-schiitischen libanesischen Hisbollah, die schon seit mehreren Jahren an Assads Seite kämpft, sowie in Syrien und im Irak agierende Gruppierungen der iranischen Wächter der islamischen Revolution.

    Im August versuchte Sergej Lawrow bei einem Gespräch mit dem US-Außenminister John Kerry und seinen arabischen Kollegen in Doha (Katar) für den Plan einer Anti-IS-Koalition zu werben, doch ohne Erfolg. Die sunnitischen Regime einschließlich Saudi-Arabiens und der Türkei wollen keinerlei Beziehungen mit Assad aufnehmen, den sie des Massenmordes an der sunnitischen Bevölkerung in Syrien beschuldigen. Putins Plan drohte zu versanden, und die Rede vor der UN-Vollversammlung am 28. September, auf der eine breite Koalition gegen den IS Hauptthema werden sollte, hätte unbemerkt bleiben können und die amerikanischen Behörden hätten den Besuch ignorieren können – u. U.auch  durch die Ausstellung eines beschränkten Sondervisums wie bei Valentina Matwijenko, zumal der offiziellen Delegation auch Alexej Puschkow angehört, gegen den die USA individuelle Sanktionen verhängt haben.

    Inzwischen hat sich die Situation entscheidend verändert. Die Nachrichten über einen möglichen Ausbau der russischen Militärpräsenz in Syrien haben heftige Meinungsverschiedenheiten innerhalb der US-amerikanischen Regierung ausgelöst, und bislang setzt sich der Standpunkt von Außenminister Kerry durch, den auch Obama unterstützt: Mit den Russen ist dringend Verständigung zu suchen. Nun wird der Putin-Besuch in New York tatsächlich alles andere als eine Routinevisite.

    Amerika in der Sackgasse

    Die US-amerikanische Strategie im Kampf gegen den IS gründet sich seit mehr als einem Jahr auf Luftangriffe der koalierten westlichen und arabischen Luftstreitkräfte, die den zerstreuten Bodentruppen diverser politischer, ethnischer und religiöser Färbung helfen sollen, den Gegner zu stoppen und zu zerschlagen. Die syrischen, irakischen und iranischen Luftstreitkräfte bombardieren den IS zusätzlich, unabhängig von der amerikanischen Koalition. Dem IS mit vereinten Kräften Einhalt zu gebieten ist im Großen und Ganzen geglückt.

    Die intensive Rund-um-die-Uhr-Beobachtung, Luft- und kosmische, optische und Radaraufklärung sowie die ständigen gezielten Angriffe bringen dem IS Verluste bei, die auch die höchste Führung der Terrorgruppe betreffen. War das Kriegführen in den Wüsten des Nahen Ostens bei Luftüberlegenheit des Gegners schon früher, zu Zeiten Erwin Rommels oder Moshe Dajans, nicht einfach, so ist es heute, wo die Angriffe hochpräzise geworden sind, extrem schwierig. Der IS bekommt längst keine bedeutenden Angriffstruppen mehr zusammen, ist nicht mehr in der Lage, Feuermittel zu massieren. Es besteht keine reale Gefahr, dass der IS „bis nach Mekka, Medina oder Jerusalem“ vorrückt, wovon Putin kürzlich in Duschanbe sprach. Die IS-Milizen verteidigen erbittert die bereits eingenommenen Städte, aber ein Angriff hat nur dann Erfolg, wenn die irakischen oder die Assadschen Truppen aus irgendeinem Grund das Weite suchen.

    In den vom IS eroberten Gebieten im Osten Syriens und im Nordwesten des Iraks wird die Terrorgruppe von den dort lebenden arabischen Sunniten unterstützt, zumindest wollen diese nicht von kurdischen Truppen befreit werden und ebenso wenig von iranischen, libanesischen, irakischen oder syrischen Schiiten oder Alawiten. Die kurdischen Einheiten (Peschmerga) halten eine enge operativ-taktische Verbindung zu den amerikanischen bzw. alliierten Luftstreitkräften und haben es geschafft, den IS in Nordsyrien und im Nordirak entscheidend zurückzudrängen, doch vor Gegenden mit überwiegend arabisch-sunnitischer Bevölkerung machten sie Halt. Mit den irakischen schiitischen Volksmilizen kooperieren die amerikanischen Luftstreitkräfte unmittelbar auf dem Gefechtsfeld zwar nicht, da die Iraner mit ihnen zusammen kämpfen, doch im Großen und Ganzen koordinieren sie die Aktionen. Die irakischen Schiiten haben den IS aus Bagdad abgedrängt, doch in die sunnitischen Gebiete des Iraks eindringen konnten sie nicht. Mit den syrischen Regierungstruppen kooperieren die US-Luftstreitkräfte in Syrien überhaupt nicht. Assads Truppen und seine Verbündeten haben sich in den letzten Monaten zurückgezogen und Niederlagen eingesteckt.

    Die US-amerikanische Politik in der Region befindet sich offenkundig in einer Sackgasse, Obama wirft man zu Hause Unentschlossenheit und strategische Unüberlegtheit vor. In dieser Situation war das dreiste Vorgehen der russischen Führung taktisch erfolgreich: Kerry rief mehrfach bei Lawrow an, um herauszufinden, welche Absichten die Russen in Syrien verfolgen, dann telefonierte Pentagon-Chef Ashton Carter beinahe eine Stunde lang mit Sergej Schoigu. Die persönliche Unterredung mit Schoigu war die erste seit seinem Amtsantritt [im Februar – dek] und nach der Ukrainekrise und der allgemeinen Verschlechterung der Beziehungen der erste Kontakt überhaupt zwischen den Verteidigungsministern der beiden Länder seit mehr als einem Jahr. Carter und Schoigu vereinbarten, die Gespräche fortzusetzen, um eventuelle künftige Schläge gegen den IS von russischer und amerikanischer Seite abzustimmen und etwaigen amerikanisch-russischen Streitigkeiten vorzubeugen, die sich aus den russischen Waffenlieferungen samt der Entsendung von Experten und Militärberatern ergeben könnten. Aus dem Verteidigungsministerium verlautete, beide Seiten seien „in den meisten erörterten Fragen der gleichen oder ähnlicher Meinung“.

    Kerry erklärte in London, Amerika sei froh, wenn Russland sich dem Kampf gegen den IS anschließe, Assad müsse gehen, aber über den konkreten Zeitpunkt und die Bedingungen bzw. die „Modalitäten“ seines Abgangs könne man sich verständigen. Obama bestehe, so Kerry, auf einer politischen Lösung des Syrienproblems, und es wäre großartig, wenn das Assad-Regime Verhandlungen aufnehmen würde und wenn Russland oder der Iran „oder sonst jemand“ dabei behilflich wäre. In Moskau trafen sich der US-amerikanische Botschafter John Tefft und der stellvertretende Leiter des russischen Außenministeriums Michail Bogdanow, um das Syrienproblem zu erörtern. Weiteren Informationen zufolge hat in Moskau außerdem ein Treffen zwischen russischen und ausländischen Spionen, also dem CIA und dem russischen Auslandsgeheimdienst SWR, zum Datenaustausch über den IS stattgefunden.

    Der Boden für einen Besuch Putins in den USA scheint bereitet. Dieser Tage in Duschanbe hat Putin auf dem Gipfel der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS), soweit man das beurteilen kann, die Hauptthesen seiner bevorstehenden Rede vor der UN-Vollversammlung vorgetragen: Alle sollten jetzt geopolitische Ambitionen außen vor lassen, sich Doppelmoral sparen, der breiten Koalition gegen den IS beitreten und gemeinsam Assad als natürliche Alternative zum islamistischen Übel unterstützen. Die zukünftige breite Koalition müsse ein Mandat des UN-Sicherheitsrates erhalten, das die Anwendung militärischer Gewalt gegen den IS in Syrien und im Irak gestattet, und dann könne sich auch Russland an den Operationen beteiligen. Auf der Basis dieses frischgebackenen Kampfbündnisses kann man dann auf Beruhigung des mit den USA und dem Westen bestehenden Konflikts wegen der Ukraine hoffen, was die Aufhebung der Sanktionen impliziert. Putin schlägt weiter vor: „eine vollständige Bestandsaufnahme der euroatlantischen Probleme und Differenzen“, die Schaffung eines Systems „gleichberechtigter und unteilbarer Sicherheit“, die Einhaltung der Grundprinzipien des internationalen Rechts sowie „die Verankerung gesetzlicher Bestimmungen, nach denen die Begünstigung staats- und verfassungsfeindlicher Umstürze und die Förderung radikaler und extremistischer Kräfte unzulässig ist“. Das heißt, die verfeindeten Parteien sollen „juristisch bindende Garantien“ geben, friss Vogel oder stirb, damit es nie wieder irgendwelche Maidans oder Farbrevolutionen gibt.

    Ein neues Jalta?

    Hier wird offenbar eine Art neues Abkommen für die zukünftige euroatlantische Ordnung vorgeschlagen, quasi ein neues Jalta: Jalta 2.0. Im Jahr 1945, beim ersten Jalta, Jalta 1.0, legten die Staatschefs der UdSSR, der USA und Großbritanniens die Grundprinzipien der Nachkriegsordnung fest, wobei sie den Kontinent im Wesentlichen in Einflusszonen aufteilten. In den USA und in Europa, vor allem in Mittel- und Osteuropa (der ehemaligen sowjetischen Zone), gilt Jalta 1.0 als eines der Schandkapitel der Geschichte und wird dort in einer Reihe mit der Aufteilung der Tschechoslowakei in München 1938 und dem Ribbentrop-Molotow-Pakt von 1939 gesehen. In der Russischen Föderation fällt die Bewertung anders aus: Im Februar, beim 70. Jahrestag von Jalta 1.0, sprach der Duma-Präsident Sergej Naryschkin vom Gipfel der Diplomatie und von „ehrenhaften Entscheidungen“ und von garantiertem Frieden in Europa „beinahe bis zum Ende des 20. Jahrhunderts“.

    Jalta 2.0 in der einen oder anderen Form, mit klaren Regeln für das zwischenstaatliche Verhalten, mit festgeschriebenen und garantierten Interessenssphären – das ist ein lang gehegter Kremltraum, der heute erreichbar scheint, dank dem IS, dank den Tausenden syrischen Flüchtlingen in Europa, aus denen Millionen werden können, wenn der Konflikt im Nahen Osten sich weiter ausbreitet. Um dem ersehnten Ziel näherzurücken, wurden die Kampfhandlungen im Donbass ohne irgendeine Aussicht auf weitere Offensivaktionen eingefroren. Natürlich ist die Ukraine als solche strategisch ungleich wichtiger als Syrien, doch ausgerechnet dieses scheint nun eine potentielle Brücke zur Beilegung aller Differenzen. Dafür ist Moskau bereit, sich an einem fernen Krieg zu beteiligen, zumal, wenn es gelingt, das Assad-Regime zu retten, und sei es auch ohne Baschar al-Assad selbst.

    Zu Beginn der 80er Jahre wurden sowjetische Kampftruppen nach Syrien gebracht – an die 9000 Militärangehörige. Zahlreiche Militärberater und Experten nahmen im Libanon gemeinsam mit Syrern an Kämpfen gegen Israelis und Amerikaner teil: Mehrere Dutzend Offiziere und drei Generäle kamen ums Leben, Hunderte Menschen wurden verletzt. Eine solche Truppe in Gefechtsbereitschaft zu versetzen wäre heute schwierig, zudem wäre sie nicht zu unterhalten. Es spielt keine Rolle mehr, ob gewollt oder nicht, geheim ist die Aufstellung von russischen Truppen und Material in Syrien nicht, und die Versorgungs- bzw. Nachschubwege können behindert oder gänzlich gesperrt werden. Kerry und Obama wollen heute, wie schon in der Vergangenheit, auf keinen Fall in eine militärische Eskalation im Nahen Osten verwickelt werden und sind bereit, russische Hilfe anzunehmen, jedoch ausschließlich gegen den IS. Etwaige Angriffe auf die syrische Opposition werden dazu führen, dass vom Weißen Haus ein Vergeltungsschlag gefordert wird, und zwar sowohl in Washington als auch in den arabischen Hauptstädten. Selbst wenn die von Putin angestrebte breite Koalition zusammenkommt, werden der Westen, die USA, die Araber und die Türken versuchen, die Aktionen Russlands in diesem Rahmen streng auf die Konfrontation mit dem IS zu beschränken.

    Um das Assad-Regime zu retten, braucht man nicht 6 Flugzeuge und 500 bis 1000 weitere Soldaten, sondern 100.000 – und tausend Stück Militärgerät mit Hunderten Flugzeugen und Hubschraubern. Vor gut zwei Jahren sind an die 5000 hervorragend ausgebildete und bewaffnete Kämpfer der Hisbollah zur Unterstützung Assads nach Syrien und zum Einsatz gekommen, dazu an die 15.000 Freiwillige aus dem Iran und dem Irak. Im April 2014 erklärte der Hisbollahführer Scheich Hassan Nasrallah: „Die Gefahr, dass das syrische Regime fällt, ist vorüber, und auch eine Teilung Syriens droht inzwischen nicht mehr.“ Damit war die Hisbollah allerdings gründlich im Irrtum: Die syrischen Kämpfer haben sie aufgerieben, und die Teilung Syriens ist keine Gefahr mehr, sondern Realität. Die syrischen Alawiten – das ist die schiitische Strömung, zu der Assads Familie gehört und die zusammen mit den syrischen Christen die Spitze der Armee und Geheimdienste bildet – kämpfen weiter, doch sind das weniger als 25 % der Bevölkerung. Die Kurden (9 %) arbeiten mit den Regierungskräften zusammen, aber die Sunniten – das sind 60 % der Bevölkerung – bilden den Grundstock des Widerstands. Das Land und seine Wirtschaft sind durch den seit viereinhalb Jahren andauernden Bürgerkrieg zerstört. Die Regierung Assads hat keinerlei Kontrolle mehr über die Ölförderung. Von 21 Millionen Syrern sind 7,6 Millionen Binnenvertriebene, 4 Millionen sind aus dem Land geflohen, mehr als 300.000 Menschen wurden nach Schätzungen der UNO getötet.

    Einige hundert oder selbst zweitausend russische Soldaten, Militärberater und Experten werden daran nichts Wesentliches ändern, und die Luftangriffe von ein paar russischen Su-25-Kampfjets werden dem Krieg keine entscheidende Wende geben. In der Nähe des neuen russischen Stützpunkts in Latakia werden die Assadschen Truppen von der im März gegründeten Allianz Armee der Eroberung zerschlagen, die sich zum großen Teil aus verschiedenen Islamisten zusammensetzt, aber mit allen Kräften der Opposition zusammenarbeitet und sich dem IS entgegenstellt. Die säkularen Kräfte der Opposition – die Freie Syrische Armee (FSA), die sich aus ehemaligen Assadschen Offizieren und sunnitischen Soldaten gebildet hat, dominiert unter den Oppositionskräften südlich von Damaskus, und in der bevölkerungsmäßig zweitgrößten Stadt Aleppo hat sich in diesem Sommer eine Einheitsfront gebildet, die etwa zur Hälfte aus Islamisten und mit der FSA verbundenen Kämpfern besteht.

    Im Sommer hat die Armee der Eroberung die Stadt Idlib und die gleichnamige, an Latakia angrenzende Provinz eingenommen. Kürzlich tauchten Informationen über möglicherweise mit russischer Hilfe durchgeführte Luftangriffe der Regierungstruppen auf Palmyra auf, wo sich der IS verschanzt hat, außerdem auf die Stadt Idlib. Ein Kommandeur der Eroberungsarmee hatte auf Twitter die „ungläubigen Russen“ eingeladen, nach Syrien zu kommen: „Wir haben hier Tausende Chattabs für euch.“ (Emir Ibn al-Chattab war ein bekannter Feldkommandant arabischer Herkunft in Tschetschenien, der 2002 bei einer Geheimdienstoperation getötet wurde.) Das Vorgehen Russlands in Syrien ist außerordentlich riskant. Bislang läuft alles leidlich, aber aus Jalta 2.0 wird wohl kaum etwas werden, und Syrien wird für das vergleichsweise kleine russische Kontingent bald zu einer glühenden Pfanne: Die Verluste werden schmerzlich, und das Assad-Regime zu retten wird auch nicht gelingen.

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  • Neue Tomographen genügen nicht

    Neue Tomographen genügen nicht

    Russische Mediziner haben einst großes Ansehen genossen. Heute ächzt das Gesundheitsystem unter vielen Lasten: Die Pharmaindustrie kauft Ärzte für zweifelhafte Studien, die Ausbildung ist praxisfern und veraltet, und für gute Mediziner gibt es kaum Karriereperspektiven. Der Autor des Artikels, selbst Kardiologe und in leitender Management-Position in einer großen Krankenhausgruppe tätig, nennt die Missstände beim Namen und fordert einen tiefgreifenden Wandel im Medizinsektor.

    Wollte man das russische Gesundheitssystem in seiner derzeitigen Form durch höhere Geldinvestitionen verbessern, könnte man auch gleich versuchen, Feuer mit Benzin zu löschen. Selbst in dem hypothetischen Fall, dass alle russischen Kliniken von einem Moment auf den anderen auf dem neuesten Stand der Technik wären, über die modernsten Medikamente verfügten und die dort arbeitenden Ärzte genauso viel verdienten wie ihre amerikanischen Kollegen, hätte dies, wie ich vermute, auf die Qualität der Behandlung der meisten Patienten wenig Auswirkungen.

    Zwar würde sich die Behandlung einiger klar umrissener Patientengruppen, die vor allem auf bestimmte Arzneimittel angewiesen sind, spürbar verbessern. Das sind z. B. Kinder mit sogenannten seltenen Krankheiten, Patienten mit Hämoblastosen (Blutkrebs) oder mit Infektionen, die eine moderne intravenöse Antibiotikatherapie erfordern, aber auch einige zehntausend Patienten mit vergleichsweise seltenen schweren Erkrankungen, bei denen die herkömmlichen Behandlungsmethoden nicht angeschlagen haben und die nun auf die Verschreibung extrem kostspieliger Arzneimittel hoffen, z. B. Targetproteine, Biologika. Doch bei Millionen Patienten, die an weit verbreiteten Krankheiten leiden, an koronarer Herzkrankheit, an Bluthochdruck, Magengeschwüren, Asthma, chronisch obstruktiver Lungenerkrankung, Harnsteinen oder operierbaren Krebsformen, um nur einige zu nennen, würde sich wohl selbst dann kaum eine rasche Besserung einstellen, wenn das Gesundheitssystem über unbegrenzte Mittel verfügte.

    Ohne gute Ärzte können Apparate nicht heilen

    Der Krebs, der nicht entdeckt wird, weil der Arzt den Patienten nicht zur Diagnostik schickt, wird weiterhin nicht diagnostiziert werden. Eine Struktur, die bei einem gewöhnlichen Ultraschall oder CT nicht gefunden wird, wird auch dann nicht erkannt werden, wenn man dem untersuchenden Arzt ein Gerät der Extraklasse hinstellt. Ein Notarzt, der heute bei einem Infarkt keine Lyse einleitet (in der Hauptstadtregion gehören die hierfür nötigen Präparate zur Ausstattung), wird dies auch nach einer Gehaltserhöhung nicht tun. Neurologen werden ihre Patienten weiterhin mit den ihnen vertrauten, gänzlich ineffektiven Nootropika und Gefäßpräparaten behandeln, und der Allgemeinmediziner verschreibt bei einer einfachen Erkältung Immunmodulatoren und virenhemmende Mittel, die nicht nur unwirksam, sondern auch nicht ungefährlich sind. Auch wenn Bauchchirurgen bei einer Operation an der Bauchhöhle die besten Endoskop-Modelle verwenden, macht sie das nicht effektiver oder sicherer. Und so weiter und so fort.

    Ich versichere Ihnen, es wird nach wie vor Millionen nicht diagnostizierter Krankheiten und Falschbehandlungen geben, denn der Erfolg einer Behandlung hängt nicht davon ab, ob die Ausstattung und Labors topmodern und die Medikamente die allerneuesten sind; in erster Linie kommt es darauf an, dass der Arzt sein Fach beherrscht, im klinischen Denken erfahren und mit neuen Heilverfahren vertraut ist. Die Anwendung hochwirksamer biologischer Präparate durch einen schlecht ausgebildeten Arzt kann mehr zerstören als die eigentliche Krankheit. Der kritische Zustand der russischen Medizin ist vor allen Dingen bedingt durch die tiefgreifende Krise der medizinischen Ausbildung. Die medizinische Ausbildung in der Sowjetunion galt zu Recht als eine der besten der Welt. In den neunziger Jahren und zu Beginn der 2000er jedoch erlebte dieses System einen Niedergang. Nur wenige blieben in der Medizin, höchstens ein Drittel aus glühender Leidenschaft für den Beruf – für die meisten wurde es ein Tribut ans Überleben zu lernen, irgendwie Geld lockerzumachen.

    Mediziner haben sich von der Pharmaindustrie kaufen lassen

    Zahlreiche Professoren der Medizin, die heute von oben herab auf Kollegen und Patienten blicken, waren jahrelang gezwungen, vor der Regierung und der Pharmaindustrie zu Kreuze zu kriechen. Man kann sie dafür schwerlich verurteilen, konnten mit den Geldern doch Institute und Fakultäten am Leben erhalten werden. Der Nebeneffekt jedoch war furchtbar: Russische Fachzeitschriften quollen über vor tendenziösen, von der Pharmaindustrie bezahlten Artikeln, Vorträge „führender Wissenschaftler“ bei großen Kongressen enthielten unverhüllt Werbung für pharmazeutische Produkte, und zwar keineswegs für die besten. Die angewandte medizinische Wissenschaft, ganz zu schweigen von der Grundlagenforschung, geriet in eine starke Abhängigkeit von der Industrie.

    In den darauffolgenden fetten Jahren vergaßen etliche Professoren, die inzwischen Karriere gemacht hatten, wofür sie unter solch großen Mühen Mittel beschafft hatten, und steckten die Gelder, die mittlerweile flossen, nicht länger in die Forschung und den Unterhalt des Personals. Anstatt junge Ärzte auszubilden und wissenschaftliche Studien durchzuführen, zogen sie es vor, im ganzen Land umherzureisen, um durch Sponsorengelder finanzierte Vorträge zu halten und wissenschaftlich gänzlich wertlose Auftragsstudien über Pharmazeutika durchzuführen. Sie wurden benutzt, um die Medikamente auf dem russischen Markt zu promoten und sie im Register der lebensnotwendigen und wichtigsten Medikamente zu platzieren. Um sich vom Wahrheitsgehalt dieser Aussagen zu überzeugen, können Sie jede beliebige große russische Fachzeitschrift aufschlagen und die Artikelüberschriften und Lobhudelei in den Ergebnissen lesen.

    abgeschnitten vom internationalen know-how, oft mit gefälschten Diplomen

    Die letzten zwanzig Jahre waren die Ärzte dauerhaft mit einem überaus heiklen ethischen Dilemma konfrontiert: Entweder du verkaufst dich, oder du führst ein Leben in Armut. Die Lebensbedingungen der Fakultätsangehörigen und Lehrer der medizinischen Hochschulen, die ihren moralischen Prinzipien treu geblieben sind, haben sich katastrophal verschlechtert. Hier kommt erschwerend hinzu, dass eine qualitativ hochwertige ärztliche Ausbildung sehr teuer ist. Die heutigen Ärzte und Mediziner waren vom Zugang zu akademischem Wissen abgeschnitten: Bibliotheken schafften keine westliche Literatur an, das Abonnement einer Fachzeitschrift (ca. 100–500 $ pro Jahr) oder der Ankauf von wissenschaftlichen Artikeln (5–30 $ pro Stück) galten als Luxus. Die Lektüre neuerer russischer Bücher oder Artikel hatte im Allgemeinen entweder aufgrund der schlechten Qualität oder aufgrund des tendenziösen Inhalts praktisch keinen Sinn.

    Parallel dazu mehrte sich das Phänomen der Pseudowissenschaftler mit gefälschten Dissertationen. Manche von ihnen waren in wissenschaftlichen Kreisen und Medien ausgesprochen aktiv und verbreiteten komplett falsche Informationen unter den Medizinern, die aus Sowjetzeiten noch gewohnt waren, den „Doktoren aus der Hauptstadt“ zu vertrauen. Zudem wurde das System der akademischen Grade und Titel in den Augen der Wissenschaftsgemeinde durch gehäuft auftretende dreiste Titelbetrüger faktisch entwertet. Wobei der Doktortitel oder die Habilitation als unabdingbare Voraussetzung dient für den Erhalt von Fördergeldern, für eine Publikation in einer renommierten Zeitschrift oder für die Möglichkeit, Vorträge vor einem Ärztepublikum zu halten.

    Die Ausbildung junger Ärzte an den medizinischen Hochschulen und Fakultäten stützte sich in vielem noch auf die Lehrer der alten Garde, die auch unter Krisenbedingungen in der Lage gewesen waren, dem Nachwuchs medizinische Kenntnisse zu vermitteln. Doch die medizinische Wissenschaft entwickelt sich in rasantem Tempo (Innovationen erreichen Russland mit einer Verzögerung von 10 bis 20 Jahren), so dass die Kenntnisse der Lehrer der alten Schule schnell veralteten. Und das betrifft nicht nur die Spitzentechnologien, sondern auch das ganz gewöhnliche ärztliche Tagesgeschäft.

    fast keine Praxis mehr in der Ausbildung

    Gegenwärtig wird die Situation noch dadurch verschärft, dass man den Kurs verfolgt, Lehre und Behandlungspraxis stark voneinander zu trennen. Der Kontakt der Studenten mit Patienten ist sehr beschränkt, die Ausbildung erfolgt anhand von Modellen und Lehrbüchern in großen Gruppen. Die Fakultätsangehörigen mit der größten Erfahrung, die jahrzehntelang Krankenhausabteilungen betreut haben, werden massenhaft von der praktischen Behandlung der Patienten und der wissenschaftlichen Forschung abgezogen. All das wird mit juristischen Feinheiten begründet und kommt selbstverständlich den Chefärzten der Kliniken zupass, die so an ihren eigenen kleinen Hierarchien basteln können.

    Die meisten meiner Kollegen, die an staatlichen medizinischen Einrichtungen geblieben sind, müssen ärztliche Praxis, Forschung sowie Organisation unter einen Hut bringen und dazu noch an der Uni lehren. Die Versorgung der Patienten hat Priorität, da bleibt wegen des Zeitdrucks oft der Unterricht auf der Strecke: Für gewöhnlich überträgt man die Ausbildung Assistenzärzten und Doktoranden, so bekommen auch die schwächsten Studenten ihre Testate. Darum sind die Hochschulabsolventen und glücklichen Besitzer eines Arztdiploms – sofern sie für den Erwerb von Kenntnissen nicht außerordentliche Willenskraft aufgewendet haben – überhaupt nicht in der Lage, selbst die einfachsten Fälle zu behandeln.

    Der Mangel an Erfahrung führt bei den Ärzten zu Angst vor neuen Behandlungsmethoden, die man nicht überwinden kann, wenn man keinen Lehrer hat, der einem die Nebenwirkungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung erklärt. In manchen medizinischen Fachgebieten sind Ärzte, die über Expertenwissen zu modernen Technologien verfügen, gänzlich verschwunden. Auch bildet niemand mehr Lehrer aus, geschweige denn die praktischen Ärzte. Die Fortbildungen, die wir alle fünf Jahre besuchen müssen, um unsere Zulassung zu verlängern, sind reine Scheinveranstaltungen. Das Wissen, das man dort vermittelt bekommt, erinnert an das Licht ferner Sterne, das die Erde erst erreicht, nachdem sie längst erloschen sind.

    Telemedizin, writing centers und ein neues Akkreditierungssystem könnten helfen

    Immerhin: Das russische Gesundheitsministerium scheint den Ernst der Lage durchaus zu erkennen. Der Weg vom Abschluss des Medizinstudiums bis zur Facharztprüfung ist wesentlich länger geworden. Um der Verteidigung minderwertiger Dissertationen vorzubeugen, wurden in den letzten Jahren die Anforderungen durch die Höhere Attestierungskommission stark verschärft. Dies betrifft allerdings im Wesentlichen die Einholung aller möglicher Gutachten und Dokumente, was eine Menge bürokratischer Verzögerungen mit sich bringt, jedoch nicht immer effektiv ist.

    Ab 2016 wird statt der bisherigen Abschlüsse für Ärzte ein dem europäischen ähnliches Akkreditierungssystem eingeführt. Es sieht vor, dass sich Ärzte kontinuierlich weiterbilden und durch den Besuch von Lehrgängen und Kongressen sowie durch Publikationen Punkte sammeln können, wodurch sie zu ständiger Wissenserneuerung angeregt werden sollen. Um die Situation grundlegend zu verändern, ist es jedoch notwendig, die medizinische Ausbildung vollkommen umzugestalten. In sie muss investiert werden und nicht in die Anschaffung irgendwelcher Tomographen. Die Gehälter der medizinischen Hochschullehrer sollten mit dem Einkommen eines erfolgreichen Arztes vergleichbar sein. Die Betreuung von Krankenhausstationen und jungen Ärzten in Ausbildung sollte wieder zu einer breiten Praxis werden und zusätzlich entlohnt. 

    Russische Studenten müssten an den besten medizinischen Hochschulen der Welt studieren (mit der vertraglichen Garantie einer anschließenden Anstellung in Russland). Leitende Oberärzte und Professoren sollten zu Fortbildungszwecken in den besten Kliniken der Welt praktizieren, um hinterher diese Kenntnisse an die Ärzte vor Ort weiterzugeben. Zur Unterstützung russischer Mediziner, die ihre Artikel nicht in westlichen Zeitschriften publizieren können, sollten Schreib- und Übersetzungszentren geschaffen werden (nach dem Vorbild der writing centers an US-amerikanischen Universitäten). Forschern, die es geschafft haben, in einschlägigen westlichen Zeitschriften einen Artikel zu veröffentlichen oder für einen Vortrag bei einer internationalen Konferenz eingeladen werden, sollte der gleiche Respekt entgegengebracht werden wie international erfolgreichen Sportlern. Zumindest sollten sie Förderungen erhalten, die die Reisekosten decken. (Geisteswissenschaftler und Techniker staunen nicht schlecht, dass man als Arzt sämtliche Konferenzreisen aus eigener Tasche zahlt).

    An den russischen Universitäten und den großen Kliniken sollten medizinische Fachzeitschriften verfügbar sein, die kostenpflichtige Artikel publizieren. Aktuelle medizinische Kenntnisse an Ärzte, selbst in der entlegensten Provinz, zu „befördern“ ist mittels Telemedizin möglich. Ebenso könnte man auf diese Weise in komplizierten klinischen Situationen schnell und kostengünstig Expertenmeinungen einholen.

    Leider wird infolge der allgegenwärtigen Kommerzialisierung des Gesundheitswesens die Arbeitsleistung der praktischen Ärzte zunehmend nicht nach Qualität bewertet, sondern nach der Höhe der für die Abteilung verdienten Geldbeträge und nach Erfüllung rein formaler Kriterien. Deswegen kann es keine wirksamen Maßnahmen zur Verbesserung geben, solange für die Ärzte kein Anreiz zur Erhöhung der eigenen Qualifikation besteht.

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  • Die unbemerkten Flüchtlinge

    Die unbemerkten Flüchtlinge

    Nur ein kleiner Teil der Menschen, die zur Zeit global auf der Flucht sind, reist nach Russland ein. Die wenigsten von ihnen erhalten Flüchtlingsstatus. Aus Syrien sind über die letzten Jahre ganze drei Flüchtlinge in Russland registriert worden. Tausende Menschen aus verschiedenen Ländern leben jedoch in einer unklaren Rechtslage, wofür auch politische Gründe eine Rolle spielen. Pawel Aptekar von Vedomosti gibt einen Überblick.

    Die mit dem Zustrom von Flüchtlingen nach Europa verbundene Krise zwingt, den Blick auf Russland lenken. Da scheint es zunächst, Russland könnte bei der Aufnahme von Flüchtlingen ruhig Engagement zeigen – es wäre eine Friedensgeste, wir würden unseren Nachbarn helfen, wir würden den Vorwürfen, Konflikte zu unterstützten, konkrete Taten zur Rettung von Konfliktopfern entgegenstellen. Doch dies erweist sich als allzu schwierig.

    Auch nach Russland kommen Flüchtlinge, doch von den Hundertausenden, die wegen Krieg und Verfolgung ihre Heimat verlassen haben, haben nur einige wenige den Flüchtlingsstatus. Tausende Menschen beantragen vergeblich Asyl, viele von ihnen sind gezwungen, über Jahre mit halblegalem Status zu leben oder andere Möglichkeiten aufzutun, ihren Aufenthalt in Russland zu legalisieren.

    Nach Angaben der Föderalen Migrationbehörde (FMS) sind in Russland nur 816 Flüchtlinge registriert, davon 385 Menschen afghanischer und 285 ukrainischer Herkunft. Die Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina erklärt, im ganzen Jahr hätten lediglich 2 Menschen syrischer Herkunft den Flüchtlingsstatus erhalten. Das FMS hat im Laufe mehrerer Jahre 3 syrische Flüchtlinge registriert. Die geringe Zahl der offiziell anerkannten Flüchtlinge ist dem komplizierten Verfahren geschuldet. Der Antragsteller muss den Antrag und weitere Unterlagen selbst oder mit Hilfe eines Übersetzers in russischer Sprache ausfüllen. Für die Sachverhandlung sind zwei Monate angesetzt, doch häufig zieht sich das Verfahren in die Länge. Im Jahr 2013 wurden 1977 Anträge gestellt, 2014 waren es 6976 und in den ersten sieben Monaten des Jahres 2015 850. Als Flüchtlinge anerkannt wurden jeweils lediglich 64, 19 und 81 Menschen.

    Mit dem Zustrom von Flüchtlingen aus der Ukraine wurde ein vereinfachtes Verfahren zum Erhalt eines zeitweiligen Asyls eingeführt. 2014 wurden von der Föderalen Migrationsbehörde 276.764 Anträge geprüft, in den ersten Monaten des Jahres 2015 weitere 112.805. Über 90 Prozent davon wurden bewilligt.

    Der zeitweilige Asylstatus erlaubt es, die ursprüngliche Staatsbürgerschaft zu behalten. Viele Ukrainer wollen später in ihr Land zurückkehren. Doch die Syrer etwa können nirgendwohin zurück. Fachleute und Menschenrechtler gehen davon aus, dass es einen informellen politischen Beschluss gibt, diese Menschen nicht als Flüchtlinge zu legalisieren, um so den Bau neuer Unterbringungszentren zu umgehen. Russland hat die UN-Flüchtlingskonvention und das Zusatzprotokoll unterzeichnet, die die aufnehmenden Staaten verpflichten, den Flüchtlingen Unterkunft und entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen.

    Es bestehen offensichtliche bürokratische Schwierigkeiten. Das an Friedenszeiten gewöhnte System des Föderalen Migrationsamtes ist dem infolge der Konflikte in der Ukraine und in Syrien wachsenden Flüchtlingszustrom offenkundig nicht gewachsen. Es ist fehler- und korruptionsanfällig geworden, man wartet auf Befehle von oben. Die Wirtschaftskrise hat die Chancen der Migranten auf reale Hilfe verringert, insbesondere in den Regionen, wo man sie hinschickt und sie in Obhut der lokalen Behörden stellt. Bei der Unterbringung der Migranten aus der Ukraine wird kaum berücksichtigt, ob sich dort Chancen auf einen Arbeitsplatz finden, oftmals werden sie in heruntergekommenen Wohnungen untergebracht, erklärt die Wirtschaftswissenschaftlerin und Meinungsforscherin der Moskauer Staatlichen Universität Olga Tschudinowskich. Von der einheimischen Bevölkerung werden die Flüchtlinge oft feindselig aufgenommen, da man sie als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt und beim Beziehen staatlicher Hilfen betrachtet.

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  • Gouverneurswahlen 2015: Themen, Methoden, Trends

    Gouverneurswahlen 2015: Themen, Methoden, Trends

    Die Gouverneurswahlen am 13. September 2015 dürften in vielem der Vorbote der Parlamentswahl im nächsten Jahr gewesen sein. Das liberale Wirtschaftsportal slon hat analysiert, wie die Wahlen verlaufen sind und was Russland im Jahr 2016 erwartet. Autor: Alexander Beloussow, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Philosophie und Recht an der Russischen Akademie der Wissenschaften, Sektion Ural.

    Der Wahlkampf des Jahres 2015 unterscheidet sich deutlich von der Kampagne des Vorjahres – allein schon dadurch, dass er nicht vom Geschützdonner im Donbass, sondern vom Anstieg der Lebensmittelpreise und dem Anstieg des Dollarkurses begleitet ist. Bis zu einer Krise und Protestwahlen ist es noch weit, aber eines ist klar: Mit dem totalen Machtmonopol und überbordenden Ergebnissen von über 80 % ist es vorbei.

    Einiges Russland – es wird wieder spannend

    Die diesjährigen Wahlergebnisse von Einiges Russland werden niedriger als die vorhergehenden. Hier um 5 %, da um 10 % und mancherorts um 20 %. In den großen Metropolen (Nowosibirsk, Woronesh, Nishni Nowgorod) werden die mittleren Ergebnisse um die 40 % liegen – im Durchschnitt sind sie innerhalb eines Jahres um 10 % gefallen. Sogar der Parteivorsitzende, Dimitri Medwedew, sprach von guten bis befriedigenden Ergebnissen.

    Die Ergebnisse der Gouverneurswahlen im Gebiet Irkutsk, die zu einem zweiten Wahlgang führten, waren de facto eine Sensation. In den Gebieten Omsk und Amur kamen die regierenden Gouverneure nur knapp über 50 %, wobei die 0,56 Prozentpunkte, die dem Gouverneur von Amur den zweiten Durchgang ersparten, ein zweifelhafter Beitrag sind zu jener von Wjatscheslaw Wolodin proklamierten „Offenheit, Ehrlichkeit und Legitimität“. Im Jahr 2014 gab es ein solches Ergebnis nur bei der Wahl eines Gouverneurs. In dem derzeit geltenden Wahlystem demonstriert der zweite Wahlgang den Regierenden die eigene Impotenz, aber es hilft nichts: 2016 wird – ungeachtet dessen, dass man versucht hat, alle Gouverneure vorzeitig durch Wahlen zu schleusen – der zweite Wahlgang Realität sein. Und das bedeutet, dass es bei den Dumawahlen wieder spannend wird.

    Die Macht: Kraft ist da, Köpfchen fehlt

    Vor Patzern und Dummheiten der Mächtigen strotzte es in diesem Wahlkampf nur so. „Je weniger Einiges Russland tut, desto besser ist sein Ergebnis“ – so eines der in engen Kreisen handlungsweisenden Prinzipien. Und es wurde ironisch angemerkt, dass auch die Partei PARNAS im Gebiet Kostroma horrende Bestechungsgelder an die Polizei zahlte, damit sie Aktivisten festsetzte, sowie an föderale Sender, die bestellte Sendungen fabrizierten. Klar, was Sache ist: Die Mächtigen leisten sich Fehler um Fehler bei dem Versuch, Konkurrenten auszuschalten.

    Fortwährende hysterische Machtdemonstrationen sind der auffälligste Trend in diesem Herbst. Zur Apotheose dessen wurde der berühmte Auftritt des Oberhaupts der Republik Marij El, Leonid Markelow, der seinen Wählern ankündigte, eine schon gebaute Straße wieder aufzureißen.

    Die von den lokalen Oberhäuptern im Kampagnenverlauf vorgebrachten Argumente sind ebenfalls fragwürdig. Z. B. beschimpfte man in eben jenem Omsk den Kommunisten Oleg Denissenko, ein Waräger zu sein – welch eine Freude würde solches Gerede bei den Bewohnern der meisten russischen Regionen auslösen, die von solchen aus dem Zentrum geschickten Waräger-Gouverneuren regiert werden. Die Regierenden in der Provinz sind ratlos, da sie nicht wissen, was sie propagieren sollen: Wandel oder Stabilität. Präzise Antworten auf solche Fragen gibt es nicht, nur in solchen Regionen, die ähnlich astronomisch hohe Ergebnisse für die Regierungspartei haben wie in Tschetschenien: in Kemerowo und Tatarstan.

    Die Vorwahlen: Sieg der Bestechung

    Die Erfahrung von 2015 zeigt: Die Vorwahlen von Einiges Russland könnten zu einer Praxis zu werden, die wenig mit Wahlen zu tun hat. Zu den Vorwahlen in Nishni Nowgorod kamen 10 % der dortigen Bevölkerung. Es ist gesetzlich nicht verboten, bei den Vorwahlen offen Wählerstimmen zu kaufen, und so gab die Parteiführung des Gebiets jedem, der für Einiges Russland kandidieren wollte, eine Carte blanche. Der Preis für eine Stimme betrug 1000 Rubel [ca. € 13]. Die Bestechung wurde auch während der Wahlen fortgesetzt, mancherorts stieg der Preis bis auf 3000 Rubel.

    Man kaufte, soviel wie nur möglich, bezahlt wurde überwiegend mit Geld oder Lebensmitteln, die direkt am Wahltag von einem Wagen neben dem Wahllokal verteilt wurden. Menschen gewöhnen sich schnell an etwas Gutes, und niemand macht sich Gedanken darüber, wie sich ein gekaufter Wähler verhält, wenn man ihn beim nächsten Mal nicht für seine Stimme bezahlt. 2016 wird das nämlich nicht mehr finanzierbar sein: Fünftausend Stimmen für die Wahl eines Stadtparlaments zu kaufen ist die eine Sache, aber Hundertfünfzigtausend Stimmen für die Wahlen der Staatsduma ist etwas ganz anderes. Die Größenordnungen lassen sich nicht vergleichen. Einmal gekauft, beim nächsten Mal fallengelassen: Wer wird eine solche Regierung wählen?

    Ergebnis: hübsch ordentlich

    Von föderaler Ebene gibt es keine Vorgabe, den Zugang zu den Wahlen zu sperren und niemanden zuzulassen. Doch es gibt sie in den Köpfen regionaler Beamter, die es bevorzugen würden, sich aus der Verantwortung zu ziehen und höhere Instanzen anzurufen. Die höheren Instanzen schweigen indes vielsagend, doch zuweilen geben sie Anweisungen, die den ausführenden Kräften ordentlich gegen den Strich gehen. Deswegen wurde bei den Gouverneurswahlen im Gebiet Omsk der Kommunist Oleg Denissenko rehabilitiert. Deswegen wurde im Gebiet Kostroma PARNAS bei den Wahlen zugelassen.

    Ebensowenig verstand man in den Regionen Wolodins Proklamation von „Transparenz, Offenheit, Legitimität“ – was sich wohl auch übersetzen ließe als: Das Ergebnis „hübsch ordentlich und ohne großes Aufheben“ zu erzielen, also ohne Exzesse und ähnliche Themen, die zu den Bolotnaja-Demonstrationen geführt hatten. Wer das verstände, würde, überzeugt vom eigenen Erfolg, nicht hohen Prozentzahlen nachjagen. Z. B. sicherte sich der Gouverneur von Kamtschatka, Wladimir Iljuchin, sein gutes Ergebnis bei einer Wahlbeteiligung von weniger als 30 %. An anderen Orten wie etwa in Nishnij Nowgorod – wo Befragungen am Wahltag zeigten, dass Einiges Russland auf etwas mehr als 40 % kommen würde – wurden in der Nacht nach den Wahlen die Regionalverwaltungen für Kandidaten und Beobachter geschlossen, damit man alles „richtig“ auszählen konnte.

    Die Opposition: der Selbsterhaltungstrieb

    Kurz vor den Wahlen ist die parlamentarische Opposition – bis dato nicht bekannt für Illoyalität – buchstäblich aus dem Winterschlaf erwacht; diesen Herbst waren das die Kommunistische Partei der Russischen Föderation KPRF und die Liberal-demokratische Partei Russlands LDPR. So hat sich die KPRF in kaum einer Region als tauglicher Sparringpartner erwiesen – weder in Omsk noch in Nowosibirsk oder in der Wolga-Republik Udmurtija. Das gleiche gilt für Gerechtes Russland. In dem Maße, wie die Wahlen zur Staatsduma näherrücken, erwacht in den Parteien der Selbsterhaltungstrieb. Gegen einen Bären anzugehen, ist natürlich hart und macht Angst, aber der Selbsterhaltungstrieb ist stärker. So kam es bei den Gouverneurswahlen im Gebiet Irkutsk seit langer Zeit wieder einmal zu einem zweiten Wahlgang: zwischen dem Einigkeitsrussen Sergej Jeroschtschenko und dem Kommunisten Sergej Lewtschenko.

    Die Partei PARNAS wurde überhaupt nur im Gebiet Kostroma zu den Wahlen zugelassen und geriet dort unter beispiellosen administrativen Druck. Das Ergebnis des Wahlkampfs zeigte, dass PARNAS als Partei zwar eine wichtige oppositionelle Funktion ausübt, aber noch keine Volkspartei ist: Bei der Agitation fehlt es an Wissen und Umsetzung, wie öffentliche Meinung funktioniert – im Ergebnis befindet sich die Partei überwiegend in einem Dialog mit sich selbst.

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  • Der russische Frühling

    Der russische Frühling

    Ein Blick zurück auf die Protestbewegung, die nach den zweifelhaften Duma-Wahlen Ende 2011 die großen Städte erfasste: Hunderttausende von Menschen gingen mit der Forderung nach ehrlichen Wahlen und echter Demokratie auf die Straße. In seiner umfassenden Analyse untersucht Andrej Kolesnikow die Beweggründe für die Proteste, ordnet sie in den zeitgeschichtlichen Zusammenhang ein und stellt die Frage: Wie kann es weitergehen?

    Vor drei Jahren [2011 – dek] begann in Russland eine Protestbewegung neuen Typs. Sie wird inzwischen allgemein die Bolotnaja-Bewegung genannt, benannt nach dem Bolotnaja-Platz in der Moskauer Innenstadt, auf dem die ersten großen Proteste stattfanden. Dieser Platz befindet sich – welch Ironie der Geschichte – direkt gegenüber vom Haus an der Uferstraße, auch bekannt als Geisterhaus der Stalinära.

    Als die friedlichen Proteste Fahrt aufnahmen, als die Staatsführung zunächst nicht wusste, ob und wie sie reagieren sollte, als es für einen Augenblick so schien, dass die Ethik der Freiheit einen Klebstoff bilden könnte, der das Volk wieder vereint, wurde auf den Versammlungen der Oppositionsführer und der Intelligenzija nur um eine Frage gestritten: Wie lange wird das Putin-Regime noch durchhalten? Es ist vielen noch im Gedächtnis, wie auf einer dieser Sitzungen die Literaturwissenschaftlerin Marietta Tschudakowa dem Ancien Régime noch zwei Jahre gab … Inzwischen sind drei Jahre vergangen, das ehemalige politische Schlachtfeld bietet einen trostlosen und hoffnungslosen Anblick, wie in den Jahren der Stagnation, als die Zeit „alt und lahm wurde“, der Protest sich fragmentierte und in die Privatwohnungen und Küchen zurückzog. Und das Regime scheint, wie schon damals vor 30 oder 40 Jahren, für die Ewigkeit gemacht.

    Nachholende Revolution

    Heute denkt man nur noch selten daran, aber einer der wichtigsten Gründe für die damaligen politischen Turbulenzen war der Verzicht Medwedews auf eine zweite Präsidentschaftskandidatur. Mit anderen Worten: Die Machtrochade vom September 2011, als verkündet wurde, dass Putin ins Präsidentenamt zurückkehren und Medwedew als eine Art Entschädigung für seine Zeit als Sesselwärmer den Posten des Premierministers erhalten würde. Dies bedeutete zugleich das Aus jeglicher Hoffnung auf Modernisierung.

    Die Rochade nährte damals Kritik und gab den Menschen Anlass zur Empörung. Den eigentlichen Sturm der Entrüstung aber entfesselten die offensichtlichen, dreisten und zynischen Wahlfälschungen bei den Parlamentswahlen am 4. Dezember 2011. Am nächsten Tag wurden während einer Demonstration in Moskau über 300 Personen festgenommen. Am 10. Dezember versammelten sich auf dem Bolotnaja-Platz schon über 150.000 Menschen zu Protesten. Bei diesen Demonstrationen kann man mit Fug und Recht von einem ethisch motivierten Protest sprechen – genau deshalb kamen auf dem Bolotnaja Platz auch Menschen zusammen, die sich vorher nie besonderes für Politik interessiert hatten und die bis dahin mit Putin grundsätzlich sogar zufrieden waren.

    Diese ethische Basismotivation ist Jahrzehnte zuvor von der berühmten sowjetischen Dissidentin Larissa Bogoras beschrieben worden, im Zusammenhang mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei. Sie erklärte damals vor Gericht in ihrem Schlussplädoyer als Angeklagte: „Ich stand vor der Wahl zu protestieren oder zu schweigen. Hätte ich geschwiegen, hätte ich dadurch Vorgängen zugestimmt, denen ich unmöglich zustimmen konnte. Schweigen wäre für mich gleichbedeutend gewesen mit Lügen.“

    Doch neben der ethischen gab es auch – bewusst oder spontan – eine politische Motivation. Der Staat, der einer sozialen und politischen Modernisierung bedurfte, verkündete de facto offen, dass es keine Veränderungen von oben geben würde – der ruhmlose Abgang Medwedews und die gefälschten Wahlen dienten hierfür als Beweis. Die Gesellschaft, oder wenigstens ein wirksamer Teil von ihr, war in seiner Entwicklung dem Staat voraus. Und zeigte daher seinen Anspruch auf Veränderung.

    Der Staat seinerseits war nicht bereit, diese Ansprüche zu befriedigen, denn er verstand nicht, dass Revolutionen nicht auf Straßen und Plätzen stattfinden, sondern in den Köpfen der Menschen.

    Die Proteste der Jahre 2011 und 2012 waren ein (weil das Land nicht modernisiert, sondern immer mehr archaisiert wird, nicht wiederholbarer) Versuch, Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozesse von Politik und Wirtschaft zu vollenden, die während Gorbatschows Perestroika und Gaidars Reformen nicht zu Ende geführt worden waren. Der Philosoph Jürgen Habermas nennt solche Versuche, versäumte Entwicklungsschritte mit Verspätung, dann aber schlagartig zu vollziehen, „nachholende Revolutionen“. Die Farben- und Frühlingsrevolutionen der letzten Jahre fallen allesamt unter diesen Begriff, seien es nun die arabischen oder die russischen.

    Präsident nicht aller Russen

    Die Proteste auf dem Bolotnaja-Platz und die auf sie folgende reaktionäre Kehrtwende der Staatsführung nach den Präsidentschaftswahlen (der sogenannte Antifrühling 2012) haben das Modell des Präsidenten aller Russen endgültig begraben. Putin entschied sich, fortan nur noch die Interessen eines bestimmten Teils der Gesellschaft zu vertreten, aber nicht die aller Russen: Von der sich an demokratischen und markwirtschaftlichen Werten orientierenden Klasse fühlte er sich verraten. Und konnte ihnen die Proteste von 2011-2012 nicht verzeihen. Daher auch seine Besessenheit vom positiven Staatshaushalt: Erst der Überschuss im Budget erlaubt es ihm, sich die nötige Loyalität von Schlüsselfiguren des mittleren Machtgefüges zu erkaufen – und der ihm persönlich nahestehenden sozialen Schichten.

    Diese Schichten, die zahlenmäßig starke Klasse unterhalb der Mittelschicht, sind die Stütze des derzeitigen Systems. Mit ihren Vertretern hat Putin so etwas wie einen separaten Gesellschaftsvertrag geschlossen: Er bewahrt sie vor dem Abgleiten in tatsächliche Armut und verschont sie auch weitgehend in Hinblick auf Anforderungen an ihre ökonomische Leistungsfähigkeit. Als Gegenleistung legen sie gegenüber ihren äußeren Lebensumständen Gleichgültigkeit an den Tag und wählen ihn. (Nach Schätzungen der Wirtschaftsexpertin Tatjana Malewa macht die Klasse unterhalb der Mittelschicht 70 % der Bevölkerung aus, wobei 40 % von ihnen von Armut bedroht sind).

    Einen ähnlichen Fall beschrieb Karl Marx in seinem Achtzehnten Brumaire: „Bonaparte möchte als der patriarchalische Wohltäter aller Klassen erscheinen. Aber er kann keiner geben, ohne der andern zu nehmen.“

    Daraus ergibt sich das Modell einer künstlichen Spaltung der Gesellschaft in Nicht-Richtige und Richtige: Bolotnaja gegen Poklonnaja, die Fünfte Kolonne gegen die ehrlich arbeitende Bevölkerung, Nerze gegen Güterwaggons aus der Uralwagonsawod, das weiße Band gegen die St.-Georgs-Bänder

    Der Kreml fährt derzeit einen sehr harten Kurs gegenüber demjenigen Teil der Bevölkerung, der auf Veränderungen aus ist. Jegliche nicht staatlich abgesegnete Protesttätigkeit wird unterdrückt. Mit „seinem“ Teil der Bevölkerung spricht der Staat mit Hilfe des Budgets, das dank der Entwertung des Rubels erfolgreich weiter gefüllt wird. Und wenn der Staat Proteste befürchtet, dann von dem Teil der Bevölkerung, den er selbst als „seinen“ ansieht.

    Es gibt noch ein wichtiges Detail des Protestwinters 2011–2012 und dieses betrifft die Nationalisten. Ihr Traum, auf der Welle des gesellschaftlichen Protests in Richtung Macht zu reiten, ist nicht in Erfüllung gegangen. Allerdings haben sie es geschafft, der Reputation der Oppositionsbewegung und ihrem Koordinationsrat einigen Schaden zuzufügen. (Bei Alexander Werchowski, Forscher über russischen Nationalismus, heißt es: „Erstens waren die fremdenfeindlichen Losungen ziemlich wirkungslos und unpopulär innerhalb der Protestbewegung. Zweitens hielt die erdrückende Mehrheit der radikalen Nationalisten es nicht für möglich, mit Liberalen und Linken an gemeinsamen Protestmärschen teilzunehmen.“ Zitiert nach: Ethnopolitik föderaler Macht und Aktivierung des russischen Nationalismus, Pro et Contra, 18, S. 24). Neutralisiert wurden sie aber letztlich von den Regierenden selbst, die Patriotismus und Nationalismus in einen staatstragenden Mainstream verwandelt haben und so ein eindrückliches Zeichen setzten, wer denn hier der eigentliche Nationalist ist.

    All dies hat auch dazu beigetragen, dass die russische Bolotnaja-Bewegung sich insgesamt weniger radikalisiert hat als der ukrainische Maidan. 

    Evolution des Protests

    Die Bereitschaft der Bürger, aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen an Protesten teilzunehmen, hat inzwischen nahezu ein historisches Minimum erreicht. Die persönliche Bereitschaft an politischen Protesten teilzunehmen betrug im Oktober 2014 ganze 8 %, an wirtschaftlichen 12 %.

    Einerseits ist das nachvollziehbar: Eine Protestwelle kann nicht beliebig lange auf demselben hohen Niveau bleiben, und auch die harten Maßnahmen der Staatsmacht wirken ohne Zweifel einschüchternd. Nicht jeder geht gern freiwillig ins Gefängnis. Auch der Post-Krim-Triumph des Patriotismus hat die Protestbereitschaft merklich gedämpft. Außerdem zeigte sich, dass die „Furcht vor der Freiheit“, von der Erich Fromm in seinem gleichnamigen Werk von 1941 schreibt, im Vergleich zum Bürgerprotest viel mehr das Zeug zum Massenphänomen hat. Bei Fromm heißt es: „Indem man zum Bestandteil einer Macht wird, die man als unerschütterlich stark, ewig und bezaubernd empfindet, hat man auch Teil an ihrer Stärke und Herrlichkeit. Man liefert ihr sein Selbst aus […], verliert seine Integrität als Individuum und verzichtet auf seine Freiheit. Aber man gewinnt dafür eine neue Sicherheit und einen neuen Stolz durch Teilhabe an der Macht, in der man aufgeht.“

    Über die letzten Monate hat sich der Staat so sehr der Abwendung einer möglichen Farbrevolution gewidmet, dass er dabei andere, neu entstehende Protestformen vollkommen übersehen hat – beispielsweise die Proteste der Ärzte in Moskau, die sich letztlich als überaus radikal erweisen könnten. Ein anderes Protestpotenzial entsteht ausgerechnet in denjenigen sozialen Schichten, die der Kreml eigentlich als sich selbst nahestehend begreift und auf deren Loyalität er bisher stets setzen konnte. Ihr Widerstand würde sich dann eher aus sozialer denn aus ethischer Unzufriedenheit speisen, aber auch er könnte sich schließlich politisieren. Denn allmählich gewinnt die Bevölkerung ein Bewusstsein dafür, dass eine Verbindung besteht zwischen der staatlichen Politik einerseits (Angliederung der Krim, Gegensanktionen, Steuerpressing) und den sozialen Problemen (sinkender Lebensstandard, Inflation) auf der anderen Seite.

    Bolotnaja vs. Maidan

    Gründe dafür, dass die Protestbewegung in Russland nicht zu einem Machtwechsel geführt hat, gibt es mehrere. Zum ersten besitzt die Ukraine kein Öl. Damit fehlt ein wichtiger außenwirtschaftlicher Posten im Budget, und dem Staat bleibt weniger Spielraum, sich die Loyalität der Bevölkerung mit Hilfe von punktuellen Sozialleistungen zu erkaufen. Zweitens ist Russland im Gegensatz zur Ukraine nicht zweigeteilt, sondern besteht aus mehreren Russländern mit ihren jeweiligen Eigenheiten. Laut der Wirtschaftsgeographin Natalja Subarewitsch gibt es Russland ganze vier Mal: Sie unterscheidet das Land der Großstädte, das Land der mittleren Industriestädte, das Land der Dörfer und Kleinstädte sowie die Region Nordkaukaukasus und Südsibirien. Bereits von daher ist es für die russische Protestbewegung schwieriger, sich zu konsolidieren.

    Der dritte Grund besteht darin, dass – im Unterschied zum ukrainischen Maidan – die aggressivsten Bevölkerungsschichten sich den Bolotnaja-Protesten gar nicht angeschlossen haben. Das hat den Staat allerdings nicht davon abgehalten, Schauprozesse gegen vermeintliche Extremisten zu inszenieren, um das Bild von den „unverfrorenen Oppositionellen“ im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. (In insgesamt drei Gerichtsverfahren sind zwölf Personen zu Haftstrafen von 4,6 (Udalzow) bis 2,3 Jahren (Beloussow) verurteilt worden.)

    Zu guter Letzt hat die russische Staatspropagandamaschine alles darangesetzt, den ukrainischen Maidan als ein „faschistisches Lager“ darzustellen, welches er in Wirklichkeit nie war, obwohl dort genug Radikale teilnahmen. Die vom Staatsfernsehen verbreiteten Bilder und noch mehr die Kommentare zu ihnen haben viele in unserem Land dazu bewegt, auf Abstand zu der Protestbewegung zu gehen. Und die Parole „Krim nasch!“ hat auch ihren Teil zur Unterstützung der Machthaber beigetragen.

    Eine Revolution in Russland ist ein langwieriger Prozess, und dieser Prozess ist noch nicht zu Ende. Unser politisches Regime ist von Bonapartismus geprägt – einer „labilen Beständigkeit innerhalb einer langfristigen Instabilität“, wie die Historiker W. Mau und I. Starodubrowskaja es ausdrücken (Große Revolutionen: von Cromwell bis Putin, Moskau, 2010, S. 519–520). Der Dreifuß aus Präsident, Kirche, Armee wird vom Superkleber Krim zusammengehalten. Doch einen zweiter Kleber mit gleicher Bindekraft gibt es nicht. Dabei hat die Politik der Staatsführung uns jetzt schon in die Stagflation gelenkt und führt uns voller Zuversicht weiter in die Rezession. So werden die Bolotnaja-Proteste bestimmt nicht die letzte Herausforderung für die Machthaber gewesen sein.

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    Kontakt der Zivilisationen

    Den für den 1. März 2015 geplanten Anti-Krisen-Marsch nahm der Satiriker, Drehbuchautor und Putin-Kritiker Viktor Schenderowitsch zum Anlass, eine grundlegende Kluft in der jungen Bevölkerung auszuloten: zwischen den Verfechtern oppositioneller Demonstrationen und denen, die den Straßenprotest für unnötig halten. Als sehr erhellend dafür erwies sich eine Unterhaltung auf Facebook.

    Mitja Aleschkowski wurde am Abend der Nawalny-Kundgebung am 30. Dezember 2014 auf dem Manegen-Platz verhaftet, verbrachte die Nacht mit anderen Festgenommenen in einer kalten Zelle des Bullenreviers und berichtete nach seiner Freilassung kurz auf Facebook: „Meine Zellengenossen und ich sind wieder frei. Verhandlung ist am 12. Auf dem Boden geschlafen. Kein Essen, kein Trinken, kein Telefon. Verhaftung ohne jeden Anlass, nicht gebrüllt, keine Sprechchöre, keinen Widerstand geleistet …“

    Schrieb es – und erntete als Kommentar umgehend Unverständnis von Seiten einer freundlichen Elena: „Mitja, warum sind Sie denn dorthin gegangen? Was genau wollten Sie bewirken?“

    Die freundliche Elena, so ist aus ihrem Profil ersichtlich, arbeitet als Produzentin bei der Allrussischen Staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft WGTRK. Sie war früher Korrespondentin des Nachrichten-Fernsehsenders Rossija 24. Ist also eine Art Journalistin. Und weitere Fragen hatte sie nicht: Warum wurde Aleschkowski plötzlich verhaftet, warum sperrte man ihn ein, ohne Essen und Trinken, ohne Erlaubnis, seinen Anwalt anzurufen … Wer verweigerte es ihm? Warum verbrachten die Verhafteten die Nacht auf einem kalten Zellenboden? Tja: Hätte diese Elena ein bisschen auf Facebook herumgeklickt, hätte sie leicht eine Antwort auf all diese leider nicht gestellten Fragen gefunden: Die Bullen erklärten dem bald eintreffenden Anwalt gegenüber arglos, dass sie speziell harte Order von oben hätten … Woher genau „von oben“? Oh, das hätte ein Thema für einen wunderbaren journalistischen Beitrag auf WGTRK sein können.

    Kleiner Scherz.

    Es geht hier nicht um die Pflichten von Journalisten und nicht einmal darum, was aus dem staatlichen Journalismus geworden ist – es geht um einen mentalen Riss. Um ein Verständnisloch, das, so scheint es, durch keinen Dialog mehr zu schließen ist.

    Denn nach allem, was wir wissen, ist Elena kein schlechter Mensch. Nun, zumindest mit Abstand nicht der schlechteste, nicht mal in den Weiten von Mitjas Facebook. Allerdings gelten für sie staatliche Handlungen stillschweigend als Norm, Aleschkowskis Verhalten hingegen erscheint ihr sehr merkwürdig! Sie hat nichts gegen ihn; beschimpft ihn und die anderen, die mit ihm auf den Platz gegangen sind, nicht (das findet man in benachbarten Einträgen des Kommentar-Verlaufs). Elena versucht aufrichtig, ihn und unsere Logik zu verstehen.

    Und kann es nicht!

    Und wir können es nicht erklären (weder ihr noch den Millionen ihrer mentalen Brüder und Schwestern), was uns geritten hat, was uns damals in dieser Hundekälte auf die Manege drängte, nachdem die Richter des Samoskworetschjer Gerichts Oleg Nawalny hinter Gitter geschickt und Alexej Nawalny die soundsovielte Bewährungsstrafe verpasst hatten. Wir bleiben beim Offensichtlichen stecken, besser gesagt bei dem, was offensichtlich scheint, und zwar uns. Und lassen bei den ersten Worten hilflos die Arme hängen.

    Denn das ist so ein Fall, von dem man sagen kann: Wenn es eine Erklärung braucht, braucht man es gar nicht erst zu erklären.

    Und zum hundertsten Mal heißt es, sich an Montaigne zu erinnern: Nicht die Dinge quälen uns, sondern unsere Vorstellung von ihnen. Darin besteht der ganze Kern und das ganze Grauen der Hoffnungslosigkeit. Die Gesetzlosigkeit im eigenen Land quält Mitja Aleschkowski, nicht aber Elena, das war’s! Und Mitjas gibt es weitaus weniger als Elenas.

    Für Aleschkowski (Gandlewski, Bykow, Rubinstein, Tschudakowa und einige Tausend weniger bekannte Menschen, die auf dem Manegen-Platz waren) bedeuteten die Ereignisse im Gericht von Samoskworetschje an jenem Tag eine persönliche Ohrfeige. Für Elena waren sie kein Anlass, sich vom Leben ablenken zu lassen. Und daran ist nichts zu ändern.

    In beiden Fällen ist es zu spät.

    Denn das Verständnis und die Vorstellungen der Menschen von sozialen Verhaltensregeln, von Pflichten und Scham – all das wird in der Kindheit geprägt, und danach, wie bei analogen Fotografien, nur noch entwickelt und allmählich zum Vorschein gebracht. Im Alter von 30–40 wird es in der Lösung der Biographie fixiert.

    Das entstandene Bild zu ändern, ist nicht mehr möglich.

    Deswegen ist es genauso unmöglich, Elena angesichts der willkürlichen Verurteilung ihres Landsmanns ein Empfinden von Scham aufzuzwingen, wie es unmöglich ist, Mitja patriotische Freude angesichts der Angliederung der Krim aufzuzwingen. Das liegt in beiden Fällen jenseits der Grenzen persönlicher mentaler Erfahrung.

    So knallen im engen Kosmos von Facebook zwei einander fremde Zivilisationen aufeinander und senden sich in gegenseitigem Unverständnis Signale: Piep, piep ….

    Vielmehr sendet Mitja nicht einmal ein Piep … er kreist einfach auf seiner merkwürdigen Umlaufbahn. Und Elena, die ach so anständige, normale, vom Allrussischen Sender WGTRK, zeigt sich interessiert: Was macht denn der da bloß?

     

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  • Die Propagandamacher (Teil 2)

    Die Propagandamacher (Teil 2)

    Wie werden Nachrichten in Propaganda verwandelt? Das Kulturportal Colta.ru hat Erfahrungsberichte von Mitarbeitern aus dem Inneren russischer TV-Sender veröffentlicht. Hier nun der zweite Teil dieser Materialien auf dekoder.

    Sergej Semjonow (Name geändert), Producer (REN TV)

    Ich habe bei der Sendung Sonderprojekt gearbeitet und bin dann vor einem Jahr gegangen. Aber den April und Mai habe ich noch mitbekommen – wie sich die Krim abspaltete und die ersten Säuberungen nach dem Maidan anfingen. Wir hatten den Auftrag für den Film Liebling, ich mach grad Revolution! Wir wollten da das aktuelle Thema Ukraine aus einer etwas anderen, persönlichen Perspektive angehen: Wir haben alle Revolutionsführer genommen, unsere guten Jungs von der Krim und die bösen Anführer des Maidan, und wollten zeigen, wie ihre Ehefrauen sich fühlen, wenn der Mann sagt: „Liebling, ich mach grad Revolution!“, wie die Familie das erlebt.

    Natürlich haben wir bei den bösen Figuren nicht nach guten Eigenschaften gesucht – dass sie eine Ehefrau, Kinder und eine Mutter haben – sondern nach einer Geliebten, nach abträglichen Seiten im Privatleben. An die Anführer der antirussischen Revolution heranzukommen war für russische Sender völlig unmöglich. Wir konnten unser Aufnahmeteam nicht dorthin schicken. Eine Akkreditierung hatten nur die Nachrichtenredaktionen. Alle anderen, auch Dokumentarfilmer, wurden damals wie heute nicht in die Ukraine gelassen. Also mussten wir uns was ausdenken. Deshalb wurde alles über Freelancer erledigt, aber kein ukrainischer Freelancer wollte etwas mit russischen Sendern zu tun haben.

    Als wir an einem Beitrag über den mittlerweile toten Musytschko alias Sascha Bilyj arbeiteten, haben wir uns einer jungen Freelancerin nicht als russischer, sondern als amerikanischer Sender vorgestellt. Wir haben gesagt, dass wir ihn als dynamischen Menschen zeigen möchten, der gut ist und Gutes will. Kurz, wir haben sie angelogen.

    Es war schwierig, Leute vom Maidan vor die Kamera zu bekommen. Aber diese Freelancerin kannte Musytschko persönlich und hat einen Termin mit ihm organisiert gekriegt, zwischen zwei Veranstaltungen. Er hat sich natürlich in gutem Licht dargestellt, aber wer sich mit Schnitt auskennt, weiß, dass man alles so zusammenschneiden und montieren kann, wie man es gerade braucht. Eine große Hilfe dabei war sein Background: Auf öffentlich zugänglichen Videos benahm er sich wie ein Verbrecher, mit Maschinenpistole schnappt er sich Beamte und packte sie bei der Krawatte. Das alles haben wir mit den Gesprächsaufnahmen gegengeschnitten, in denen er mit seinem bedrohlichen, vernarbten Kopf zu sehen ist und erzählt, wie nett und puschelig er ist, wie sehr er das Angeln, Eichhörnchen und seine Liebste mag. Außerdem haben wir noch ein Video hervorgeholt (das erstmals einige Tage zuvor auf NTW gezeigt worden war – Anm. Colta), in dem jemand auf dem Boden liegt, der dem armen Musytschko von weitem sehr ähnlich sieht, dahinter ein Mädchen im Sessel, die ihm mit einem schwarzen Stiefelabsatz ins Gesicht tritt – so Sadomaso-Zeug. Diese Bilder haben wir zwischen zwei Aufnahmen gepackt, in denen er besonders eifrig einen auf netter Kuschelbär macht – das Ergebnis war ein Porträt eines kompletten Perverslings.

    Als wir das alles zusammengeklatscht hatten, kriegte ich plötzlich große Angst: Was wird denn jetzt mit dieser armen Freelancerin, die das Ganze organisiert hat? Musytschko war ja knallhart – sein Großvater war Nationalist und Verfolgter [während der stalinschen Repressionen – dek], sein Vater ist da im Norden, im Lager aufgewachsen und hat dann später gesessen. Der Hass auf die Sowjetmacht war bei ihm erblich bedingt, er verband sie mit der russischen Besetzung der Ukraine. Für ihn waren die Russen immer schon Feinde und alle, die gegen sie sind, Freunde. Wir hatten echt Angst: Wenn er sieht, was wir da bringen, schlägt er diese Freelancerin ganz einfach tot, mit einer Eisenstange auf den Kopf und das war's.

    Die Sendung sollte am Mittwoch kommen. Am Montag haben wir angefangen zu überlegen, wie wir die Freelancerin da raushauen, haben einen ausführlichen Plan gemacht, aber in der Nacht auf Dienstag wurde er erschossen. Und so kam es, dass wir das letzte Interview mit ihm hatten – über sein Privatleben und Sexualexzesse.

    Das Einzige, was ich bei seinem Tod spürte, war Erleichterung wegen des Schicksals der Journalistin. Ich bin ein gläubiger Mensch, ich hatte gebetet: „Gott, wie kann ich sie retten? Gott, soll diese Sünde wirklich auf meiner Seele lasten? Für mich ist das einfach nur noch ein Film, aber sie wird erschlagen und Schluss.“ Aber die himmlische Hand hat alles gefügt, obwohl wir danach im Studio noch lange rumgescherzt haben, dass ich den Mord an Musytschko bestellt habe.

    Bei unserer Sendung änderte sich vor allem das Themenspektrum: Vor den aktuellen Ereignissen waren unsere Hauptfeinde solche wie die Rothschilds, Morgans und die ganze übrige Verschwörung des Weltkapitals, das uns mal mit schlechtem Essen vergiftet, mal den Ölpreis erhöht oder senkt. Als die Ereignisse in der Ukraine anfingen, wurde aus dem allgemeinen ein konkreter Feind. Aber das Redaktionsklima bei den Produktionen hat sich nicht verändert. Alles war wie immer, wir haben zur üblichen Zeit Mittagspause gemacht und zur üblichen Zeit die Bahn genommen. Bei uns waren auch Leute beschäftigt, die aus dem Donbass oder der Ukraine stammten, aber sie hatten keinerlei Probleme damit, die Dinge im gewünschten Licht darzustellen. Journalisten und Prostituierte unterscheiden sich nur dadurch, dass die einen es mit dem Körper tun und die anderen mit dem Kopf. Auch unsere finanzielle Lage hat sich nicht verändert. Das gibt es nur in schlechten Propagandafilmen: „Sie werden jetzt besser bezahlt und laufen schneller.“ Warum sollte ein Arbeitgeber das tun? Die Sendezeit bleibt gleich, der Produktionsumfang bleibt gleich. Es gibt einfach nur ein neues Brennpunktthema. Aber natürlich war das viel interessanter zu bearbeiten als die Rothschilds und Rockefellers. Es gab hier weniger Hirngespinste und mehr echten Stoff, emotionaleres Material.

     

    Stanislaw Feofanow, Producer (NTW, REN TV, TWZ)

    Zu Beginn der Ereignisse in der Ukraine habe ich für Die Woche gearbeitet, bei Marianna Maksimowskaja, von der Besetzung des Maidans bis zum Abzug der [ukrainischen – dek] Truppen von der Krim. Die Sendung unterschied sich sehr von dem ganzen Mist, der sonst auf REN TV lief. Wir haben versucht, objektiv zu berichten. Ich weiß noch, als das Regionalverwaltungsgebäude in Donezk besetzt wurde, sprachen wir erst mit den [separatistischen – dek] Milizen und fuhren dann viele Kilometer, um mit den ukrainischen Militärs zu reden. Ich staune immer, wenn erzählt wird, dass man nicht von zwei Seiten aus filmen kann. Alles geht, man muss es nur wollen! Ich erinnere mich, wie Puschilin uns erzählte: „Die Soldaten aus Kiew fressen der hiesigen Bevölkerung die Haare vom Kopf.“ Wir dachten: Ja, interessante Geschichte. Wir fuhren in ein Dorf, sprachen mit den alten Mütterchen dort, und die sagten: „Niemand wird armgefressen, wir kommen gut miteinander aus.“ Dann gingen wir zu den Soldaten, sie gruben gerade einen Panzer ein. Wir dachten, dass die uns auf der Stelle festnehmen, aber sie sagten gleich: „Wir können gern reden, worum geht‘s? Ob wir den Leuten was wegfressen? Ach wo, wir haben doch eine Feldküche.“ Während des Gesprächs kamen zwei Autos vorbei – in einem brachten Einheimische den Soldaten Borschtsch, im anderen wurde leckerer Speck rangekarrt. Wenn du natürlich mit der Vorstellung ankommst, dass hier Strafkommandos sind – mit denen braucht man gar nicht erst zu reden, ihre Gesichter sprechen für sich – dann sehen die Bilder hinterher auch so aus. Aber bei uns wurden die Themen ausgewogen dargestellt, wir haben beide Seiten zu Wort kommen lassen.

    Ich kann mich an keine Fälle von direkter Zensur bei der Woche erinnern. Die Leitung des Senders hat vielleicht bestimmte Fragen mit Marianna diskutiert, aber ich habe so etwas nicht mitbekommen. Trotzdem war klar, dass die Sendung an einem seidenen Faden hing, das Ende der Woche kam nicht unerwartet. Nach dem Abschuss der Boeing wurde es völlig unmöglich, so zu berichten, wie wir es bisher getan hatten. Aus allen Kanälen dröhnte und polterte es über die Junta, die Strafkommandos, die das Flugzeug abgeschossen hätten. Wir waren gerade im Urlaub, als die SMS von Marianna kam: „Liebe alle! Es ist soweit, unsere kleine, stolze Sendung wird abgesetzt. Vor uns liegt eine schöne neue Welt, in der das Leben anders sein wird.“ Heute arbeiten einige aus dem Team als Freelancer, andere gar nicht, wieder andere sind im Nachrichtenbereich von REN TV geblieben. Ich habe einen Kompromiss gefunden.

    Die Sendung Die Verteidigungslinie bei TWZ, bei der ich jetzt arbeite, ist ein Grenzfall. Es gibt bei uns Filme wie Die fünf Versprechen von Poroschenko, aber sie sind eher ironisch als propagandistisch. Ich selbst mache Beiträge zu abseitigeren Themen. Direkte Propaganda zu drehen, wird mir nicht angetragen, und ich würde das auch nicht machen. Ich hab jetzt Angebote vom Film und sollten die mir im Sender sagen: „Du musst das und das tun“, dann werd ich sagen: „Müssen muss ich gar nichts, auf Wiedersehen.“

    Natürlich ist die Verteidigungslinie nach der Woche ein Rückschritt. Aber was soll man machen? Man muss ja irgendwie leben. Ein Haufen talentierter Leute finden für sich beim Fernsehen keinen Platz mehr, wie zum Beispiel Roman Super oder Andrej Loschak, der kürzlich in einem Interview gesagt hat: „Vielen jungen Journalisten sagt mein Name vielleicht nichts mehr, weil ich vom Bildschirm verschwunden bin.“ Und Wadim Kondakow ist zu einem beschissenen Wirtschaftsforum gefahren, um dort Werbung zu drehen. Ich habe Angebote von den Sendern LifeNews und Swesda gekriegt, aber damit will ich gar nichts zu tun haben.

    Bei TWZ muss ich mich nicht verbiegen. Aber mir passt es nicht, dass im Umfeld unserer Arbeit zweifelhafte Sachen ausgestrahlt werden – keine regelrechte Propaganda, aber mit einem deutlichen Beigeschmack. Für mich ist das Fernsehen nicht mehr kreativ. Das betrifft vor allem die Themenwahl. Es gibt eine Zensur unter dem Deckmäntelchen: „Das Thema bringt keine Quote.“ Ich habe vorgeschlagen, darüber zu berichten, wer an den Bändchen und Schirmmützen zum 9. Mai verdient hat. Die haben teilweise 300 Rubel pro Stück gekostet – bei 100.000 Käufern sind das 30 Millionen Rubel. Also lasst uns einen Film darüber machen, wie man mit dem Patriotismus Geschäfte macht. Nein, das bringt keine Quote. Wir machen lieber was über eine russische Wanga, irgendein altes Mütterchen, das Vorhersagen macht. Bei TWZ werden von einem Dutzend Themen, die dich reizen, bestenfalls ein oder zwei genehmigt, ansonsten muss man an Sachen arbeiten, die man nicht mag.

    Vor REN TV war ich zusammen mit Katja Gordejewa und Andrej Loschak bei Beruf – Reporter auf NTW. Wir haben dort aufgehört, als sie nach unserem Film über die Proteste 2011–2012 die Daumenschrauben angezogen haben. Die Sendung ist praktisch gesprengt worden. Geblieben ist nur die Marke – sie wird zwar immer noch gesendet, aber gemacht wird sie von der NTW-Leuten aus der Kriminalabteilung. Wir hatten gehofft, dass die Demonstrationen, die Welle der Empörung den Niedergang aufhalten würde, dass sie den Damm brechen würde und daraus ein freies Fernsehen entsteht. Damals hatten die Leute noch zwischen NTW als Sender und der Sendung Beruf – Reporter unterschieden. Doch einer der letzten Tropfen, die das Fass zum Überlaufen brachten, war ein Gespräch auf der Kundgebung Beerdigung von NTW am Ostankino-Gebäude. Ich wurde gefragt, wie ich mich als anständigen Menschen betrachten kann, wenn ich da arbeite, wo Anatomie des Protests gemacht wird. So ein Gefühl wie „Wem haben wir da nur den Sender überlassen?“ kam gar nicht erst auf – es war schon klar, wem.

    Wer beim Ersten Kanal und bei Rossija 24 richtige Propaganda macht, dem ist alles sonnenklar. Hypotheken, Schulden, Probleme zu Hause. Trotzdem kann ich das nicht nachvollziehen. Ich bin in einer ähnlichen Lage: Ich lebe in einer Mietwohnung, im Herbst werde ich einen Kredit für eine Wohnung aufnehmen, aber ich begreife nicht, wie man den Leuten Scheiße in die Ohren kippen kann. Ich muss in solchen Fällen immer an meine Mutter denken. Sie ist sowieso schon so gehirngewaschen, dass ich manchmal nicht weiß, worüber ich mit ihr reden soll, außer über Haushalt. Bei ihr läuft dauernd der Fernseher, Kisseljow schwadroniert, Mamontow orakelt, und ich denke mir: „Wie kann ich bloß meine eigene Mutter belügen?“ Ich merke, dass ich auch mein Scherflein dazu beitrage.

    Früher haben wir über die Leute gelacht, die die Kriminalsendungen bei NTW machen. Es war widerlich, wenn ein irgendein Korrespondent unter irgendeinem Vorwand in eine Wohnung eindrang und das dann landesweit ausgestrahlt wurde und die Mitkowa allen eine Mail schickte: „Schaut mal, Leute, was für coole Arbeit die Kriminalabteilung abgeliefert hat!“ Wir dachten: Das geht nicht – Sicherungen rausdrehen, damit die Leute dir die Tür aufmachen, und dann alles mit versteckter Kamera aufnehmen. Aber die, die so etwas nicht fertigbrachten, wurden von einer Welle skrupelloser Journalisten schlichtweg verdrängt.

    In dieser Zeit jetzt denkt man nicht so sehr an Status als vielmehr ans Gewissen. Wie kann man sich in die Augen schauen? Wenn man in den Spiegel blickt. Du wachst morgens auf und denkst: „Gestern habe ich ja ganz schön Blabla produziert, was?“ Und kannst du damit weiterleben? Aber die meisten tun das natürlich.


    Diese Gespräche mit Mitarbeitern russischer Fernsehsender wurden aufgezeichnet und für Colta zum Druck vorbereitet von Dimitri Sidorow.

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  • Nach dem Bruderkuss

    Nach dem Bruderkuss

    Im Jahr 1990 malte der Moskauer Künstler Dimitri Vrubel an den Überresten der Berliner Mauer sein historisches Bild: den Kuss von Leonid Breschnew und Erich Honecker. Nun, kurz vor dem 44. Jahrestag der Errichtung der Grenze, die Berlin und ganz Europa in zwei Lager teilte, hat sich „bumaga“ mit dem Künstler über den aktuellen Stand der zeitgenössischen Kunst und Politik unterhalten. Warum er in den 2000er Jahren Russland verlassen hat, ob Künstler zu einer Revolution fähig sind und wozu die Avantgardisten die klassische russische Literatur brauchen: Dimitri Vrubel redet über Pawlenski, Tolstoi, die Biennale in Venedig und Angela Merkel in Gestalt von Anna Karenina.

    Vor fünf Jahren sind wir (Dimitri Vrubel und Viktoria Timofejewa, Frau und Co-Künstlerin Vrubels, Anm. Bumaga) nach Berlin gezogen. Warum? Politisch und gesellschaftlich begannen nach dem Georgienkrieg in Russland Rückschritte, und wo Rückschritt herrscht, ist die aktuelle Kunst gewöhnlich ständigen Angriffen ausgesetzt; Kunst zu machen wird lebensgefährlich. Noch wichtiger war aber etwas anderes: Jeder Künstler in Russland fängt früher oder später an, immer wieder das Gleiche zu machen. In dem Jahr, in dem wir nach Deutschland übersiedelten, hatten wir den Zenit erreicht: Wir hatten in der Gelman-Galerie ausgestellt und in der Tretjakow-Galerie und standen vor der Frage: Was soll jetzt noch kommen?

    Dimitri Vrubel. Fotos von Marija Iwanowa
    Dimitri Vrubel. Fotos von Marija Iwanowa

    Ich glaube, meine Kollegen aus Russland nehmen mir das Wort „Zenit“ vielleicht übel. Wir kennen uns alle, sind in den 1980er Jahren aus denselben Wurzeln erwachsen. Doch unsere abweichende Haltung hier hat mittlerweile dazu geführt, dass wir für die Moskauer Kunstszene quasi inexistent sind. Für uns ist das kein Problem, denn die Moskauer Kunstszene ist hier auch in keiner Form vertreten. Auch in Moskau war ich eher ein Einzelgänger: Als die Perestroika begann und sich die wichtigsten Künstler im besetzten Haus im Furmanny Pereulok betätigten, hatte ich schon meine eigene Wohnungsgalerie.

    Über die russische Kunst im Westen

    In Moskau wird dir keiner sagen, ob du wirklich etwas Neues geschaffen hast oder ob es das schon vor dreißig Jahren in Österreich gab. Sogar mein wunderbarer Kollege Oleg Kulik, der Mensch-Hund – das ist die österreichische Aktionskunst der 1960er Jahre. Russland war jahrelang aus der Weltgeschichte der Gegenwartskunst herausgerissen, und das ist die Antwort auf die Frage, warum es im Westen keine russischen Künstler gibt: Alles ist schon dagewesen. Ein westlicher Künstler muss unbedingt einen eigenen Stil wählen, doch die Wiedererkennbarkeit – ob von Gerhard Richter, Neo Rauch, Keith Haring, Damien Hirst oder wem auch immer – ist das Ergebnis eines sehr langen innerlichen Selektions-Prozesses.

    Ich brauchte drei Jahre in Berlin, um zu verstehen, dass sich die russische visuelle Sprache genauso stark von der westlichen unterscheidet wie Russisch von Deutsch. Versuchen Sie mal, mit einem Deutschen russisch zu sprechen: Man wird Sie nicht verstehen. Und danach werden Sie in Ihr Heimatland zurückkehren und sagen: „Mich versteht dort keiner.“ Genau das aber tun sehr viele unserer Künstler und versuchen ihre Botschaft in russischer narrativer Sprache zu vermitteln. Für einen westlichen Menschen ist aber in erster Linie ein „Schlag ins Auge“ interessant und erst dann das Wesen des Bildes. Deshalb gibt es nur zwei russische Künstler, die im Westen vollkommen adaptiert sind: Malewitsch und Kandinsky. Mit Deutschen deutsch zu reden, und sei es nur schlecht, ist weitaus wirksamer, als mit ihnen gut russisch zu reden.

    Über Pjotr Pawlenski und die aktuelle Kunst

    Keiner meiner Kollegen wagt es, mit aktuellen Nachrichten zu arbeiten. Nirgendwo auf der Welt. Was mich sehr wundert, denn genau das wäre ja aktuelle Kunst!

    Mein großes Idol in dieser Hinsicht ist Pjotr Pawlenski. Er arbeitet zweifelsohne mit aktuellen Themen. Seine Performance, bei der er sich den Mund zugenäht hat, war zwar nichts Neues, hat aber interessanterweise die meisten Schlagzeilen gemacht. Als er sich das Ohrläppchen abgeschnitten und ein andermal seinen Hodensack an den Roten Platz genagelt hat, das waren absolut perfekte Aktionen. Wichtig ist vor allem, dass er direkt reagiert und dass er die unglaubliche Fähigkeit hat, mit seinem eigenen Körper zu arbeiten und ihn als Material zu nutzen. Allerdings macht er das im Rahmen der traditionellen Aktionskunst, wir dagegen arbeiten im Rahmen der totalen Kunst.

    Die Ereignisse, die ich auswähle, sind Teil meiner Biographie: Ich möchte sie geschichtlich festhalten, zumindest in meiner eigenen Geschichte als Künstler. Wenn mich etwas bewegt, versuche ich, auch andere zu bewegen. Und mithilfe des Bruderkusses, der auch nach 25 Jahren immer noch aktuell ist, erforschen wir die Mechanismen: Wie funktioniert die Kunst, die etwas mit Unsterblichmachung zu tun hat?

    Über Anna Karenina, Morphium-Trips und die klassische Literatur

    In mein neues Projekt Anna Karenina News ist alles eingeflossenen, womit ich mich in den letzten 40 Jahren beschäftigt habe. Es ist eine alte Idee, ein altes Vorhaben von uns: Nicht durch ein Medium Kunst zu machen, sondern die Kunst selbst als Medium, Nachricht, Meldung zu verstehen. Wir haben systematisch Reaktionen auf verschiedene Themen erforscht, angefangen mit der Politik: Haben ein Bild von Angela Merkel in der Rolle von Anna Karenina veröffentlicht und anschließend virale Bilder, Sport, Erotik. Jedes Bild wird von einem Zitat aus dem Klassiker in drei Sprachen und einer Audio-Spur begleitet. Zeitungen haben wir schon gemacht, Outdoor-Präsentationen sind geplant.

    Warum wir mit Anna Karenina angefangen haben? Erstens weil alle sie kennen. Zweitens weil dieses Buch ausnahmslos alle Fragen beantwortet, von der Geburt bis zum Tod. Eine Sache darin hat mich besonders verblüfft. Vor zehn Jahren ging meine ziemlich lange Alkoholpraxis zu Ende. Und ich weiß aus eigener Erfahrung, was ein Alkohol-Drogen-Trip ist. Wenn Graf Tolstoi uns die letzten Tage von Anna Karenina schildert, ist mir klar, dass das nichts anderes als eine Insider-Beschreibung eines heftigen Morphium-Trips ist. Es ist eine Art absoluter Text, durch den all diese Bilder, die eine starke Verbindung zu heute haben, erhalten bleiben auf dem Gebiet der unsterblichen Kunst. Das ist stark.

    Projekt Anna Karenina News
    Projekt Anna Karenina News

    Außerdem gibt es so gut wie keine Menschen, die gegen die klassische Literatur wären. Ob Faschisten, Kommunisten, jung, alt, Deutsche, Russen oder Amerikaner – alle sind dafür. Im Unterschied zu einer Zeitung, die morgen schon keiner mehr braucht, existiert hier der Text jenseits der Zeit. Trotzdem ist es kein Evangelium, mit dem wir in unserem Evangelium-Projekt gearbeitet haben. Wir wollen derzeit sehen, inwiefern Anna Karenina News total sein kann, um alle Medien- und Kunsträume für sich zu beanspruchen.

    Über Kunst für Reiche und für alle

    In den 20 Jahren, die Damien Hirst von Andy Warhol trennen, hat sich herausgestellt, dass nicht Dollar (wie Warhol meinte), sondern 100 Millionen ein Kunstwerk sind. Der Höhepunkt der Kommunikation in der aktuellen Kunst ist heute die Biennale von Venedig; Venedig wird im Jahr der Biennale zur teuersten Stadt der Welt. Und das bedeutet, dass die ganze aktuelle Kunst, die in den 1960er Jahren als revolutionäre Kunst geboren wurde, zu einem Spielzeug verkommen ist für die, die das Geld haben, um nach Venedig zu kommen.

    Kunst muss man verkaufen. Aber man muss sie auch so platzieren, dass die Format-Bandbreite von einer handgefertigten Kopie des Bruderkusses für sehr viel Geld bis zu Postkarten für fünf Euro reicht. Wenn Kunst schwer erreichbar ist, dann nennt sie nicht „aktuell“ oder „experimentell“, sondern sagt gleich: „nur für Reiche“. Die ideale Kommunikation in der aktuellen Kunst sollte ganz einfach sein: ein Klick.

    Über das Russland von gestern und heute

    Ich war 29, als ich zum ersten Mal im Ausland landete. Und wo? Gleich in Paris! Aber nach einer Woche dort habe ich begriffen, dass mich dort nichts wundert, dass alles dort so ist, wie es sein soll. So sollen Läden und Straßen aussehen, so sollen Menschen lächeln. Und als ich dann im November nach Moskau zurückgekehrt bin, war das für mich ein furchtbarer Schock. Noch drei Monate war ich völlig durchgedreht wegen dieser absoluten Abnormalität: Alles schnell schnell, gehetzt, auf dem Sprung, und nur ja niemanden wirklich angucken. Warum leben die Menschen so? Heute bemüht sich Russland, Europa zu sein. Es ist auch Europa, aber ein halbfertiges. Im heutigen Moskau spürt man die imperiale Wucht: Alles ist teuer, Staus, riesige Autos. Wenn in Berlin einer einen Geländewagen fährt, dann ist es entweder ein reicher Araber oder ein Zigeunerbaron oder ein Russe.

    Ich besuche Russland nicht öfter als ein Mal im Jahr und nur kurz. Dort leben meine drei älteren Kinder und meine beiden Enkelkinder, dort liegen meine Mutter und meine Großmutter begraben. Ich kann kein Urteil über die Veränderungen im Land abgeben: Ich treffe mich nur mit meinen Kindern. Mit denen, die mich besuchen, reden wir immer weniger darüber, wohin sich Russland bewegt. Es reicht, einen Blick in Facebook zu werfen – und schon wird alles klar. Mir ist aufgefallen, dass man in den letzten fünf Jahren praktisch aufgehört hat, offline über Politik zu reden.

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