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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Russland auf der Flucht vor sich selbst

    Russland auf der Flucht vor sich selbst

    Das neu von Russland zur Schau getragene Selbstbewusstsein, meint der Philosoph Alexander Rubzow, ist im Inneren teuer erkauft: Bildung, Wissenschaft, Kultur, Gesundheitswesen geraten dramatisch ins Hintertreffen. Die Menschen werden in einen radikalen Geisteswandel hineingezwungen, der ihnen selbst kaum zu Bewusstsein kommt. Anstelle wirklicher nationaler Stärke entdeckt der Autor eher Anzeichen von kollektiver Neurose und Gedächtnisverlust. Einen gangbaren Weg in die Zukunft kann er im derzeitigen Aufbruch ins Außen nicht entdecken.

    Rubzow ist Leiter des Zentrums zur Erforschung ideologischer Prozesse am Institut für Philosphie der Russischen Akademie der Wissenschaften.

    Zu Beginn der 90er Jahre, man mag zu diesem Zeitabschnitt stehen wie man will, begann das bis dahin politisch extrovertierte Russland sich seinen eigenen Problemen zuzuwenden. Dies geschah nicht ohne Zutun der Krise, aber es tat dem Land gut und wurde als etwas lang Erwartetes aufgefasst. Die sowjetischen Menschen waren es längst leid, den sozialistischen Block durchzufüttern, dazu fremde Befreiungsbewegungen und eine Weltrevolution, die selbst im nahezu leblosen Zustand enorme Mittel verschlang. Diese Haltung wurde damals auch gegenüber den sowjetischen Bruderrepubliken eingenommen, in denen eine ideenlose Bevölkerung eher eine Last als eine Bereicherung sah. Dazu, dass die Masse den Zerfall der UdSSR als „Katastrophe des Jahrhunderts“ sah, kam es denn auch nicht sofort, sondern erst nach einer entsprechenden propagandistischen Anheizphase.

    Bis vor kurzer Zeit erhielt die Ideologie, die der Macht das programmatische Material liefert, ihre vorrangige Orientierung auf die innenpolitischen Probleme aufrecht. Die beiden Schlüsselbegriffe Stabilität und Modernisierung hatten vor allem mit „uns selbst“ zu tun, mit dem, was bereits getan war, und dem, was angeblich gerade getan wurde. Internationales Ansehen war für die Selbstwahrnehmung von Führern, Eliten und Massen zwar alles andere als unwichtig, es stützte sich jedoch vor allem auf die eigenen Erfolge – egal, in wie weit sie real waren oder von der Propaganda aufgebauscht.

    So sah es auch im Hinblick auf die Zukunft aus: Russland war durchaus um seinen Platz in der neuen Welt besorgt, doch mit Blick auf internationales Standing und Prestige diskutierte man in erster Linie, was sich im Innern verändern und wohin sich das Land entwickeln sollte. Entsprechend suchte man den Grund für die Probleme, welche die Entwicklung hemmten, vor allem im Inneren und konkret in den Unzulänglichkeiten des Staates, der „Machtvertikale“ und der Nomenklatura. Zwar distanzierte sich die politische Führung ebenso kühn wie elegant von den angeprangerten Verfehlungen, als hätte sie nichts zu tun mit der sozialen Spaltung, der Korruption, mit dem Druck auf die Wirtschaft und dem Ersticken von Innovationen, doch niemand versuchte die Sache so darzustellen, als hätten wir es hier nicht in erster Linie mit unseren eigenen Problemen und Aufgaben zu tun. Im Gegenteil, in den Reden über die neue Ausrichtung und das „Aufräumen“ in der sogenannten Machtvertikale wurde immer der Anschein von Ehrlichkeit, politischem Willen, Zuversicht und Entschlossenheit gewahrt – das schon seit Jelzins Zeiten bei unseren Redenschreibern so beliebte Spiel mit dem starken Mann und den starken Worten.

    Um den radikalen Geistesumschwung vollständig zu erfassen, braucht man eigentlich nur zwei, drei Jahre zurückzuschauen. Aber stattdessen leiden wir an einer Art kollektiven Gedächtnisverlustes! Die Menschen erinnern sich nicht, wie anders früher alles war, wie anders sie selbst waren in ihren Vorstellungen und Werten. Solche erdrutschartigen Verschiebungen in den Einstellungen und dem Weltgefühl sind eigentlich nicht normal, man kann sie kaum anders denn als pathologische Störung einordnen. Ein ideenmäßiger Schwenk um 180 Grad, der den Menschen nicht zu Bewusstsein kommt. Sie vergessen nicht einfach nur ihre gestrige Weltsicht, sondern verlieren auch im ganz direkten Sinne die „Erinnerung an sich selbst“ – daran, wer sie waren, was ihnen wichtig war, was sie wollten. In dieser akuten Form ist das, so muss man leider sagen, bereits die aus der Alzheimer-Erkrankung resultierende Demenz (vom lateinischen dementia – Wahnsinn): „eine erworbene Hirnschwäche mit dauerhafter Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten und dem mehr oder weniger schweren Verlust früher erworbener Kenntnisse und praktischer Fähigkeiten“. Das Problem ist nicht nur, dass die Leute durchdrehen, sondern das beängstigende Tempo, in dem sie das tun.

    Die Menschen richten nicht einfach so ihre Aufmerksamkeit aufs Außen – man lässt ihnen überhaupt gar keine andere Möglichkeit. Früher gab es selbst im russischen Fernsehen unterschiedliche Themen und Inhalte, die es einem erlaubten, gelegentlich die Blickrichtung zu ändern. Jetzt kehrt sich der Nachrichtenhorizont nach außen, wird dabei aber immer enger, das Bild wird extrem vereinfacht, und sein Umriss gleicht immer mehr dem einer Schießscharte. Die Fähigkeit selbst, den Blick auf etwas Anderes zu richten, wird unterdrückt, damit er ja nicht auf verbotenes Terrain wandern kann. Das sind keine Scheuklappen mehr, das ist eine Operation, nach der der Patient nicht einmal mehr in der Lage ist, den Kopf zu drehen. Dazu kommt die Neueinstellung der Sehschärfe, und zwar so, dass man in der Ferne alles sieht, aber vor der eigenen Nase nichts. Sogar die Zerrspiegel werden bereits aus dem Königreich hinausgeschafft, sie werden nicht mehr gebraucht – übrig bleiben Periskope und Zielmonitore.

    Schlimmer noch, auch die Wertsachen werden aus dem Haus getragen: die Bildung, die Wissenschaft, die Kultur, das Gesundheitswesen. Der Haushalt für das nächste Jahr zementiert unseren Rückstand in praktisch allem, was zum Zivilleben gehört – und zum Leben überhaupt. Russland „erhebt sich von den Knien“ und steht nackt da, doch für das letzte Geld rasselt es mit dem Säbel, um die Scham angesichts der Gegenwart und die Angst vor der Zukunft zu übertönen. Wieder einmal lebt das Land, scheint es, nicht um des Lebens willen, sondern um einem kranken Ehrgefühl Genüge zu tun und dabei aller Welt Angst und Schrecken einzujagen.

    Ein russischer Imperator, den man den Friedensstifter nannte, sagte: „Russland hat nur zwei Verbündete: seine Armee und seine Flotte“. Unsere Generation geht noch weiter: Nicht mehr lange, und in Russland gibt es überhaupt nichts anderes mehr als die Armee und die Flotte, wobei nicht einmal die gut versorgt sind, weder mit Geld noch mit Wissenschaft und Technik. Diejenigen, die nach dem Motto leben „Was braucht der Starke den Verstand“ vergessen, dass heutzutage sogar nackte Gewalt Köpfchen erfordert.

    All das ist eine Sackgasse, wenngleich eine kurze. Die Zeit der großen Mobilmachungen, als man von den Menschen noch verlangen konnte, Lebensqualität für Machtgewinn und Expansion zu opfern, ist vorbei. Ein Land, das der Welt nichts vorzuweisen hat als die Waffe im Anschlag, beeindruckt lediglich diejenigen mit schwachen Nerven, und auch die nicht für lange. Wer sich verloren hat in seinem Leben und von innen heraus zerfällt, verliert seine Kraft auch nach außen hin (von Achtung und Würde ganz zu schweigen).

    Der Selbstwertkrise versucht man mit der Vergangenheit beizukommen: mit mystischen Werte-Banden und Gerassel mit der großen russischen Kultur, von der Klassik bis zur Avantgarde, wie bei den Zeremonien der Olympiade. Doch auch hier verliert das Land sich selbst, wenn es keine andere Kulturschicht mehr übrig lässt, als eine in hoher Auflage verbreitete Geistlosigkeit und die archäologischen Ablagerungen der Gehwegplatten. Wir sind dabei, genau das zu werden, was die russische Kultur immer gehasst und verachtet hat, wogegen sie, oft opfervoll, gekämpft hat.

    Es ist anzunehmen, dass dies alles nicht aus Versehen oder mit böser Absicht geschieht, sondern aus purer Ausweglosigkeit. Hinter der phänomenalen Unterstützung der Macht und der Einschüchterung der Opposition verbirgt sich eine akute Neurose, ausgelöst durch den drohenden Totaleinbruch in lebenswichtigen Bereichen. Da oben kennt man den Preis für die Liebe des Volkes (und man kennt den Preis, den man für das professionelle Aufrühren dieser Leidenschaft gezahlt hat). Während der außenpolitische Wille Triumphe feiert und das dazugehörige Gejubel erklingt, werden insgeheim die katastrophalsten Szenarien entworfen, und zwar auch für die Staatsmacht selbst – das Regime und sein Personal. Wenigstens etwas hätte man aus der Geschichte lernen sollen, immerhin geht es ja um die eigene Haut. Bisher zeichnet sich allerdings eher die Impulsivstrategie ab, das Ende mit allen Mitteln hinauszuschieben, selbst wenn man die Lage dadurch lediglich verschärft und ganz und gar aussichtslos macht.

    Die Situation ist in vieler Hinsicht einzigartig und ein fertiger Ausweg nach dem Beispiel eines analogen Falls nicht in Sicht. Politische Wetterhähne zeichnen bereits das Bild von einem neuen liberalen Trend und der Aussöhnung mit der Welt, und dieses Mal soll alles ganz richtig und auf unsere eigene Art gemacht werden, denn jetzt handeln wir nicht mehr auf Weisung, sondern aus freiem Willen und aus einer Position der Stärke heraus.

    Falls doch irgendetwas imstande sein sollte, unser Land auf dem Weg in die Katastrophe zu stoppen, brauchte man sich mit derartigem Unsinn gar nicht erst zu befassen.

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  • In stillem Gedenken und …

    In stillem Gedenken und …

    … in Dankbarkeit?

    Mitte September füllte sich das russische Internet auf einmal mit seltsamen Fotos: viele von ihnen schwarz-weiß oder in nicht ganz lebensechten Farben, mit schiefen Bildausschnitten, und ungewohnten – mindestens – Frisuren bei den Dargestellten. Das Kulturportal Colta.ru hatte zu einem Flashmob aufgerufen: Die User sollten Fotos aus den 1990ern ins Netz legen – und zwar alles, was sie finden konnten und für zeigenswert hielten – und Hunderte, vermutlich Tausende, kamen diesem Aufruf nach. 

    Die 1990er Jahre haben bis heute eine besondere Stellung in Russland, es ist ein unübersichtliches Jahrzehnt. Vielen ist es als Zeit der Armut, der Entbehrungen und des Leidens in Erinnerung geblieben, für andere ist es eine Epoche des Aufbruchs, der Hoffnung und der Freiheit gewesen. Von daher war der Foto-Flashmob zu diesem Thema mehr als nur ein nostalgischer Zeitvertreib: Er hat eine Welle von Diskussionen ausgelöst, die oft politischen Charakter hatten. Andrej Archangelski von Colta.ru versucht im Rückblick, die Bilder zu deuten und zu erfassen, an welche Schichten von Erinnerung und Aktualität die Aktion gerührt hat.

    Quelle – Colta.ru
    Quelle – Colta.ru

    Nicht alle Flashmobs in sozialen Netzwerken sind so dynamisch: Die von Colta ins Leben gerufene Facebook-Aktion Erinnern wir uns an die 1990er erlebte einen solchen Zuspruch, dass sie tatsächlich „politisch kalkuliert“ wirkte, und Patrioten witterten in den Aufnahmen eine versteckte Bedrohung. Das war soweit eine verständliche Reaktion. Aber ein Flashmob richtet sich gegen niemanden, es geht dabei in der Regel allein um die Form, es gibt kein Ziel, außer dem, dass alle ungefähr zur gleichen Zeit annähernd das Gleiche tun. „Ein auf den ersten Blick harmloser Flashmob“ – dieser Satz staatstreuer Kolumnisten könnte aus dem Wortschatz sowjetischer Zeitungen stammen: Gerade die Harmlosigkeit, die Ziellosigkeit, ist die größte Gefahr für eine totalitär angelegte Psyche. Ziellosigkeit schreckt machthungrige Menschen mehr als offen gezeigte Feindseligkeit, denn die Verschwendung von Minuten und Stunden des eigenen Lebens – der gemeinschaftliche Potlatch – bedeutet, dass man über sich selbst verfügt, bedeutet Freiheit. Ziellosigkeit ist im Grunde auch ein Merkmal der 1990er. Die allgemeine, allzu verschwenderische Geste, das Teilen dieser herrlich zweckfreien Dinge geradezu mit Opfermut.

    Die Fotos der 1990er Jahre fixieren vor allem die veränderte gesellschaftliche Haltung. Ein typisches Intellektuellenfoto aus den 1970ern oder 1980ern: Man sitzt Seite an Seite, legt die Arme umeinander, alle blicken in die Kamera, zwischen drei und zwanzig Personen, meist am gedeckten Tisch. Hier sind – das ist mit Parfjonows halbironischer Intonation auszusprechen – „vor allem die Augen wichtig, der Blick – weil man noch nicht alles laut sagen darf.“ Wichtig ist, dass man die Gemeinschaftlichkeit zur Schau stellt. Wichtig ist nicht zuletzt auch, dass man sich an die Traditionen hält: Ein Gruppenfoto von Intellektuellen aus Kratowo unterscheidet sich hinsichtlich der Bildkomposition nicht immer von der fotografischen Dokumentation eines Treffens des Politbüros mit einer kommunistischen Bruderpartei.

    Neben dieser Tradition gibt es eine weitere, nicht weniger starke (wenn auch nicht neue). Die Menschen, die in den 1970ern und frühen 1980ern geboren wurden, erinnern sich gut an ihre Kinderfotos. Es war üblich, mit Kindern zwischen ein und sieben Jahren etwa einmal jährlich das Fotoatelier aufzusuchen. Ein abscheuliches Ritual, ein abscheulicher Initiationsritus, wie wir als fleißige Pelewin-Leser heute verstehen. Ein sowjetisches Auge hat euch zum ersten Mal festgehalten, ihr seid sichtbar geworden, auf dem Filmstreifen erschienen. Ihr wart so angezogen, „wie es sich gehörte“, euer Blick war so, „wie er zu sein hatte“ – genau das war das Ziel, ihr wurdet zu einem Teil der Norm. Wenn die Leute später, als Erwachsene, fremde Fotoalben durchblätterten, konnten sie es kaum fassen, dass Millionen von Kinderfotografien voneinander nicht unterscheidbar waren, egal ob sie in Tscherepowez, Batumi oder in Kaliningrad entstanden waren. Die Aufnahmen wurden nicht gemacht, um Individualität festzuhalten, sondern um alle völlig gleich aussehen zu lassen. Besonders die gefalteten Kinderhändchen, mit dem Plüschbär, der schieläugigen Puppe, und der für immer fest in der Erinnerung eingeprägte Ruf „Nicht bewegen jetzt!”, sind ein grelles Kindheitstrauma.

    All diese Aufnahmen erzogen einen dazu, nicht für sich selbst zu leben, sondern für die Gesellschaft, die Eltern, für die Buchführung, für die anderen. Das Foto aus den 1990ern ist vor allem für einen selbst. Oder im Grunde genommen für überhaupt niemanden und nichts. Die Fotos aus den 1990ern, die jetzt ins Netz gestellt werden, kämpften unbewusst gegen die beiden Traditionen an: das freundschaftlich-gesittete Foto bei Tisch und das gnadenlose Kinderfoto aus dem Atelier. Auf den Fotos der 1990er ist der Mensch oft im Moment größter Abweichung von der Norm festgehalten. Es waren Akte symbolischer Rache für die sowjetische Entwürdigung und den Anruf „Stillgesessen!“

    Der Gesichtsausdruck der 1990er ist nicht Lächeln, sondern eine gewisse Verwunderung: Schaut wozu ich fähig bin, das da bin ich. Faktisch bedeutete es eine Selbst-Entdeckung, Offenheit, Hoffnung. Und auch Freiheit. Die Freiheit verstand sich noch nicht als solche: Es war nur Verwirrung darüber, dass nun alles möglich war. Im Grunde genommen findet man genau solche Fotos auch bei den Leuten, die heute auf einem Posten in der Präsidialverwaltung oder bei einem staatlichen Fernsehsender sitzen. Die gleichen benebelten Gesichter mit der ersten Flasche ausländischen Wodkas vor sich oder der erste Irokesenschnitt als Schatten an der Wand. Aber natürlich posten sie diese Bilder nicht. Nach der Tradition, die sich in Russland entwickelt hat, wird Freiheit als Verirrung, als Jugendsünde aufgefasst, eine vorübergehende formale und nicht etwa inhaltliche Erscheinung. Premierminister Dimitri Medwedew hörte in seiner Jugend bekanntlich gern Deep Purple, doch diese ästhetische Erfahrung wurde nicht zur einer Werteerfahrung. Es ist eine Eigenheit des sowjetischen, selbst des hochgebildeten Menschen, die Dinge zu trennen: Die Idee der Freiheit ist das eine, das wahre Leben das andere. Damit trösten sie sich heute, wenn sie eure Bilder aus den 1990ern sehen. Ob sie euch beneiden?

    Die Erinnerung daran, dass Freiheit auch für sie einmal ein Instinkt war, wie die Luft zum Atmen, bevor sie rationalisiert, unterdrückt und in Anzughosen gesteckt wurden, ist es, was Menschen, die ihre Freiheit heutigem „Erfolg“ geopfert haben, an diesen Aufnahmen ärgert. Freiwillig geopfert übrigens. Wenn sie ihre romantischen Lieder über die „wilden Jahre“ anstimmen, wollen sie uns in Tat und Wahrheit weismachen, dass es nur einen Weg zu Reichtum und Fortschritt gab, nämlich den ihren, der über Entwürdigung und den Verkauf der Seele führte. Die Existenz anderer Entwicklungsmöglichkeiten (damals wie heute), die Möglichkeit der Wahl würden sie lieber weiter verheimlichen. Aber diese verfluchten Fotos erinnern sie daran. Dass damals alle frei waren und auf unterschiedliche Weise davon Gebrauch machten.

    Diesen Fotos aus den 1990ern ist eine gewisse ontologische Armut gemeinsam. Man sieht, dass die Leute Bekleidung tragen und noch nicht ein bestimmtes Kleid oder eine spezielle Hose, ebenso wie es Essen, Trinken und „Saufware“ gibt und noch keine bestimmte Sorte oder einen bestimmen Jahrgang. Diese Armut ersetzt die Benjaminsche Aura. Gerade die Not an jedem Eck und End lässt das Gefühl der Unwiederbringlichkeit entstehen. Den Mittelpunkt der Komposition bildet oft irgendein seltenes Kleidungsstück, das das allgemeine Elend merkwürdigerweise nur betont. Es ist kaum mehr nachzuvollziehen, wie arm wir damals im Vergleich zu heute waren, selbst die bereits verhältnismäßig reichen Leute. Gerade der Wunsch, nie wieder arm zu sein, trieb all diese fotografierten Menschen um. Und jeder ging das Problem auf seine Weise an.

    Eigentlich gab es im Russland der 1990er Jahre, anders als zuvor in den 1980er oder danach in den Nullerjahren, kein einheitliches Gefühl für die Zeit. In den 1990ern entstand sozusagen ein Loch, durch das ganz Russland hinabstürzte. Es war ziemlich schauerlich. Das Leben war nicht mehr zyklisch, sondern bestand aus Einzelstücken, alle Uhren gingen zu Bruch. Dieser Flashmob ist – immer noch im Geiste Benjamins – ein Versuch, im Nachhinein, anhand von Fotos, eine in sich geschlossene Zeit herzustellen. Sie im Wäscheschrank zu verstauen, zu stapeln, zu schematisieren. Sie für ein und allemal zwischen die 1980er und die 2000er zu packen und ihnen so den gleichen Status zu geben, wie ihn auch das jetzt hat. Aber faktisch ist das eine Selbsttäuschung. Hätte man die 1990er Jahre richtig verstanden, wären sie zu einem Lebensquell für die Zukunft geworden. Aber sie wurden nicht verstanden und blieben so ein Rätsel – und auf jeden Fall entschwinden sie, die 1990er. So wie in Russland jede Zeit der Freiheit entschwindet.

    Geblieben sind eigentlich nur diese Schnappschüsse.


    Beispiele von Fotos aus dem Flashmob gibt es zum Beispiel bei Snob, sobaka.ru und fishki.net, und – ein Dank an unsere Leser! –  noch eine besonders wilde Sammlung (allerdings nicht aus dem Flashmob) auf yahooeu.

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  • Jenseits der Fotos

    Jenseits der Fotos

    Die 1990er Jahre hatten in Russland zwei Seiten: eine sehr üble und eine sehr hoffnungsvolle. Im Foto-Flashmob, der kürzlich das russische Internet erfasste und es mit Bildern des zwiespältigen, dabei aber so bedeutsamen Jahrzehnts überschwemmte, kamen sie beide zum Ausdruck. Sergej Kusnezow versucht mit seinem Essay auf inliberty.ru, hinter die Oberfläche der Fotos zu schauen. Was sagt diese Art und Weise, mit den 1990ern umzugehen, diese Uneinigkeit in Bezug auf die Vergangenheit, über das heutige Russland aus? Wie kann die Erinnerung vom gesellschaftlichen Spaltkeil zu einer Quelle gemeinsamer Identität und gemeinsamer Zukunft werden?

    Mit einer allgemeingültigen Einordnung der 1990er Jahre tut sich die russische Gesellschaft bis heute schwer. Die beiden existierenden Lesarten konkurrieren nicht einmal miteinander – sie heben sich gegenseitig auf und schließen die Möglichkeit eines Dialogs aus. Für manchen war es „die beste Zeit unseres Lebens“, „ein Jahrzehnt der Freiheit und Hoffnung“, der Mehrheit aber ist die Formel „die üblen 1990er“ [wörtlich „wilden“ – dek] weitaus näher. Emotional sind diese beiden Ansätze so verschieden, dass es nahezu unmöglich scheint, darauf etwas Verbindendes aufzubauen.

    Wenn wir uns nicht miteinander darüber verständigen, wofür dieser Abschnitt in der Geschichte Russlands steht, können wir keinen nationalen Konsens erreichen.

    Dabei sind die 1990er eine Schlüsselphase der jüngsten russischen Geschichte. Alles, womit wir heute zu tun haben, stammt aus dieser Zeit: die Korruption, die rigorose Unterdrückung der Opposition, die Kriege an den Grenzen, die Polittechnologien, der Wirtschaftsliberalismus, die Reisefreiheit, der freie Zugang zu westlicher Technologie, zu Büchern, Filmen und Musik … mit anderen Worten, alles Schlechte und alles Gute. Nicht zufällig entstammt die überwiegende Mehrheit der Politiker und der Medienpersonen den 1990ern.

    Wenn wir uns nicht miteinander darüber verständigen, wofür dieser Abschnitt in der Geschichte Russlands steht, können wir keinen nationalen Konsens erreichen. Und das heißt, wir können uns nicht weiterbewegen. Meines Erachtens muss der Ausgangspunkt die Anerkennung der Tatsache sein, dass die 1990er Jahre für Russland traumatisch gewesen sind, und zwar sogar für diejenigen, die diese Jahre als eine Zeit der Freiheit und Hoffnung in Erinnerung haben. Wer die Freiheit des Wortes, des Glaubens und das Recht auf Freizügigkeit herbeisehnte, rechnete nicht damit, dass es zu diesen Freiheiten diverse Extras dazugeben würde: die Kriminalisierung des Alltags, bettelnde alte Frauen in den Metrounterführungen und Panzerschüsse mitten im Zentrum der Hauptstadt. Diejenigen, die sich über die neuen Freiheiten freuten und über die Gewalt und die Armut hinwegzusehen versuchten, sagen heute: „aber dafür hatten wir damals Hoffnung“. Doch auch diese Haltung ist eine Art und Weise, das „Neunziger-Trauma” zu überwinden.

    (Natürlich gab es unter den heutigen Flashmob-Teilnehmern auch solche, die zu jung waren, um irgendein Trauma zu erleiden: In den 1990ern begannen sie gerade erst auf eigenen Beinen zu stehen und nahmen das Leben, wie es eben war – mit Kriminellen, Flüchtlingen, Bettlern und Drogentoten. Wie zu jeder anderen Zeit auch gab es Leute, die so sehr in ihr inneres und persönliches Leben versunken waren, dass sie überhaupt nicht bemerkten, was sich draußen vor ihrem Fenster abspielte. Für die meisten Menschen in Russland aber war es dennoch eine traumatisierende Erfahrung.)

    Zu einem wesentlichen Teil beruht der ideologische Sieg von Putins Politik darauf, dass sie im Unterschied zu ihren Gegnern dieses Trauma anerkannt hat. Das Modell der „wilden 1990er“ wurde von der Gesellschaft angenommen, weil es das einzige Modell war, in dem das allgemeine Katastrophengefühl Widerhall fand, das diese Jahre begleitet hatte – oder zumindest die Erinnerungen daran begleitet. Natürlich hat dieses Modell Mängel – unter anderem ignoriert es die Tatsache, dass die heutige Zeit das Erbe der 1990er Jahre in sich trägt, aber wie viele Elemente aus der Putinschen Mythologie scheint es für sich allein zu stehen und wirkt recht stabil: Versuche, es frontal anzugreifen, schlagen fehl, sowohl in den Medien als auch im direkten Gespräch.

    Zu einem wesentlichen Teil beruht der ideologische Sieg von Putins Politik darauf, dass sie im Unterschied zu ihren Gegnern dieses Trauma anerkannt hat.

    Aber schließlich kann kein historisches Modell ewig funktionieren – erst recht nicht in Russland mit seiner Tradition der „unvorhersagbaren Vergangenheit“. Vor ein paar Jahren hörte ich in einer russischen Provinzstadt, wie sich die Leute beschwerten, in den 1990ern sei es besser gewesen – damals seien es respekteinflößende junge Burschen gewesen, die alles geregelt hätten, heutzutage seien es „die Bullen“, die sich alles untertan machten. Mir persönlich leuchtet nicht ein, was an Banditenwillkür so viel besser sein soll als an Polizeischikane – doch damals begann ich zu ahnen, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Neunziger-Nostalgie in Mode kommen würde.

    So war es auch mit der Sowjetzeit. In den 1990er Jahren behauptete kein Mensch, unter Breshnew sei das Essen gesünder und die Filme besser gemacht gewesen oder hätten mehr Seele gehabt: Die Mehrheit hatte es auf die an den Verkaufstresen neu aufgetauchten Snickers abgesehen und schaute auf Video Raubkopien der neuesten Hollywoodfilme. Für die Rehabilitierung des Sowjetischen brauchte es die nostalgische Einstimmung durch die „Alten Lieder über das Wesentliche“ und die ewigen Erinnerungen an die „Elektronika“-Spiele, den Tee mit dem Elefanten und weitere Wahrzeichen einer für immer vergangenen Zeit. Eine Zeitlang existierte diese Nostalgie in friedlichem Auskommen mit den Erinnerungen an den Mangel, die Schlangen und die miese Qualität der sowjetischen Konsumgüter. Und nach nur etwa zehn Jahren begann die junge Generation ernsthaft zu glauben, es sei tatsächlich ein „großes Land“ zerstört worden und nicht ein Reich der Armseligkeit.

    Die Nostalgie streitet nicht mit der Ideologie: Sie ignoriert sie. Darin liegt auch die einende Bedeutung des heutigen Flashmobs – ein Kindheits- oder Jugendfoto von sich kann jeder posten, ob er nun an die üblen 1990er glaubt oder sich an diese Zeit als Jahre der „Freiheit und Hoffnung“ erinnert.

    Die Geschichte, und zwar die der Mode vor allem, zeugt davon, dass Nostalgiewellen so unvermeidlich kommen und gehen wie Ebbe und Flut. Anscheinend setzt jetzt eine Phase der Neunziger-Nostalgie ein – und das eröffnet die Chance, diese Periode realistisch einzuordnen.

    Die Frage ist, wie wir das Modell der „wilden 1990er“ ergänzen können. Wie wir es so verändern können, dass es nicht länger für die Negation der Freiheit und die Stärkung des staatlichen Paternalismus arbeitet. Ich denke, man muss anerkennen, dass das Land damals nicht von den Politikern, den neuen Businessmen oder den Ökonomen gerettet wurde: Die ganz normalen Leute waren es, die es gerettet haben.

    Sie waren es, die für ein jämmerliches Gehalt als Lehrer oder Ärzte gearbeitet haben, sie waren es, die nicht in den Westen gegangen sind und weiter in Russland Wissenschaft betrieben haben. Die in karierten Reisetaschen Konsumgüter aus dem Ausland angeschleppt, in den Gärten Kartoffeln angebaut und in den Stadtwohnungen Kaninchen gehalten haben. Sie waren es, die sich als Kleinunternehmer versuchten und Reifendienste und Servicestationen, Cafés und Kioske eröffneten und dabei beim Gedanken an die neuen Banditen und das Gesundheitsamt zitterten. Sie waren es, die nach Wegen suchten, ihre Familien zu ernähren und für sich ganz neue Berufe entdeckten, die in dem Land, das gerade in die Brüche gegangen war, keiner je gelernt hatte.

    Wir sollten anerkennen: Diese Menschen hatten große Angst und es war für sie alles andere als ein Vergnügen – aber sie waren es, und nicht die Politiker und Oligarchen, die unser Land gerettet haben.

    Man muss anerkennen, dass das Land damals nicht von den Politikern, den neuen Businessmen oder den Ökonomen gerettet wurde: Die ganz normalen Leute waren es, die es gerettet haben.

    Nur wenige dieser Menschen haben es damals zu wirtschaftlichem Erfolg gebracht – es haben nicht einmal alle überlebt. Viele nahmen notgedrungen eine Beschäftigung an, die sie nicht froh machte, und denken heute nicht gerne daran zurück. Das verbindet die Veteranen der 1990er Jahre mit den Veteranen eines jeden Krieges – die ganz normalen Leute wollen lieber ihr Leben leben und nicht das Land retten: viel lieber wollen sie einfach nur zur Arbeit gehen und ihre Kinder großziehen.

    Den Kriegsveteranen wird als Entschädigung wenigstens noch Dankbarkeit entgegengebracht. Wer die 1990er mitgemacht hatte, wurde nicht einmal des Dankes für würdig befunden. Es wundert nicht, dass die Leute diese Zeit als „chaotisch” bezeichnen. Sie haben schließlich auch das Recht dazu – genau wie sie das Recht dazu haben, ihre empörten Kommentare unter die Fotos von Schülern und Studenten, die Bilder einer unbeschwerten Jugend zu setzen.

    Aber ich bin froh, dass ich, ausgehend von den Flashmob-Fotos, an dieser Stelle Gelegenheit gefunden habe, diesen Menschen danke zu sagen –  all denen danke zu sagen, für die die Erinnerung an die 1990er Jahre bis heute traumatisch ist.

    Ich glaube, die Überwindung dieses Traumas steht uns noch bevor.

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  • Presseschau № 3

    Presseschau № 3

    Schwerpunkt diese Woche: der Zustand der russischen Wirtschaft. Welche Diagnosen werden in Russland selbst erstellt, wie verlässlich sind sie, und wie wirkt sich die ökonomische Lage auf das alltägliche Leben der Bürger aus? Außerdem: Assad in Moskau, syrische Flüchtlinge am Moskauer Flughafen Scheremetjewo, die Intransparenz der Entscheidungsfindung im Kreml und eine Bemerkung zu westlichen Experten, die von russischen Quellen zitiert werden.

    Krise, was für eine Krise? Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew spricht lieber von hohen Preisen, unter denen die Menschen in Russland im Moment zu leiden haben oder davon, dass den Produzenten derzeit halt schlicht ein Vertrieb für ihre Produkte fehlt. Aber noch immer stöhnt Russland unter der Wirtschaftskrise und den Sanktionen. Mit seiner Wortwahl ist der Minister aber nicht allein, wie die Zeitung „Vedomosti“ feststellt. Zeitweise sei gar das Wort Krise in den Staatsmedien verpönt gewesen. Auch Präsident Wladimir Putin verbreitet regelmäßig optimistische Nachrichten: Der Höhepunkt der Krise sei erreicht, die Wirtschaft passe sich den neuen Umständen an, behauptete er zuletzt vergangene Woche beim Wirtschaftsforum „Russia calling“ in Moskau. Nun wächst die Hoffnung, die Talsohle könnte bereits durchschritten sein. Im September gab es bereits wieder ein Wachstum von 0,3 Prozent. Auch die Zentralbank spricht von einer Stabilisierung der Wirtschaft. Ende 2015 soll die Inflation bei 12 bis 13 Prozent liegen, bis 2017 möchte die Bank die Teuerung auf vier Prozent begrenzen. Russische Experten, wie etwa der renommierte Wirtschaftsexperte Jewgeni Gontmacher sehen solche Prognosen allerdings kritisch. Trotzdem rief das Wirtschaftsministerium diese Woche bereits das Ende der Krise aus. Nach einem Wirtschaftsrückgang von 3,9 Prozent in diesem Jahr wird für 2016 schon wieder ein geringes Wachstum von 0,7 Prozent erwartet, schenkt man den jüngsten Prognosen des Ministeriums Glauben.

    Der verbreitete Optimismus könnte aber verfrüht sein. Auch in den nächsten Jahren stellen die außenpolitische Lage und der tiefe Ölpreis für die Erholung der russischen Wirtschaft noch Risiken dar, wie gazeta.ru schreibt. Auch halten sich die Folgen der Krise im Alltag hartnäckig. Die Preise für Lebensmittel sind im vergangenen Jahr gestiegen, bei Früchten zwischen 30 und 50 Prozent, wie RBK Daily schreibt. Die Teuerung ist zum Teil auch den Sanktionen geschuldet. Da man plötzlich keine Lebensmittel mehr aus den EU-Ländern importieren konnte, hat sich das Angebot verringert und die Preise dafür sind gestiegen. Auch sind die Reallöhne in diesem Jahr um neun Prozent gesunken. 21,7 Millionen Menschen (15,1 Prozent) lebten im ersten Halbjahr 2015 in Russland in Armut. Das heißt unter dem Existenzminimum von monatlich 10.017 Rubel [140 Euro]. Im Vorjahreszeitraum waren es noch 18,9 Millionen Menschen.

    Belastet wird das russische Budget auch durch die Militärintervention in Syrien. Vier Millionen Dollar pro Tag soll der Einsatz laut der Moscow Times kosten. Seit Beginn des Einsatzes am 30. September belaufen sich die Kosten auf schon insgesamt 80 bis 115 Millionen US-Dollar. Doch davon berichten die staatlichen Medien kaum. Mehr Platz bekam da schon der Überraschungsbesuch des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad am Dienstagabend bei Wladimir Putin im Moskauer Kreml, inklusive einem Bericht über das servierte Menu. Höflich bedankte sich der russische Präsident dafür, dass al-Assad trotz der dramatischen Situation in seinem Land auf seine Einladung reagiert habe. Ohne russische Hilfe hätte sich der Terror bereits überall in Syrien ausgebreitet, revanchierte sich Assad. Das wichtigste sei allerdings, dass der Einsatz im Rahmen der internationalen Gesetze erfolge, so Assad weiter. Angesichts der Kollateralschäden unter der zivilen Bevölkerung durch die russischen Luftschläge eine zumindest fragwürdige Argumentation. Schutz und Unterstützung für syrische Flüchtlinge ist in Russland kein Thema, der Flüchtlingsstatus wird nur ganz selten erteilt. Wer ohne Visum einreist und nach Europa weiter will, muss damit rechnen, deportiert zu werden. Moskau sieht Flüchtlinge aus Syrien als Sicherheitsrisiko. Und die Novaya Gazeta hat diese Woche eine syrische Familie besucht, die bereits einen ganzen Monat im Terminal E am Flughafen Scheremetjewo lebt, nachdem ihnen die Einreise verwehrt wurde.

    Der Chef der Präsidialadministration suchte derweil diese Woche die Bedenken über die Operation in Syrien zu zerstreuen. In einem großen Interview mit der staatlichen Nachrichtenagentur Tass erzählte Sergej Iwanow von einem wohlüberlegten, nicht hastigen Entscheid zur Militärintervention. Mit dem Interview will der Kreml im Inland auch Stimmen entgegenwirken, welche ihm eine chaotische und einzig nach kurzfristigen Überlegungen ausgerichtete Entscheidungsfindung unterstellen, meint die Politologin Ekaterina Schulmann. Unklar ist jedoch auch nach dem Iwanow-Interview, wer denn am Ursprung der Entscheidung für den Syrien-Einsatz steht. Berichte und Gerüchte westlicher Medien, ein Trio bestehend aus Verteidigungsminister Sergej Schoigu, dem Sekretär des Sicherheitsrates Nikolaj Patruschew und ihm selbst habe Putin von der Militäroperation überzeugt, wehrt der Chef der Präsidialabteilung ab. Der Journalist Oleg Kaschin kritisiert die Aussagen Iwanows: Man habe überhaupt keine Möglichkeit herauszufinden, wie denn die Entscheidungen innerhalb der russischen Regierung getroffen würden.

    Noch ein Nachtrag zu einem der Themen von vergangener Woche: Die russischen Staatsmedien warfen dem niederländischen Bericht zur MH-17 Katastrophe durchweg mangelnde Objektivität vor. Einige westliche Medien hätten nun aber damit begonnen, auf die russische Position umzuschwenken. Illustriert wurde diese Behauptung mit einem Artikel der Seite globalresearch.ca. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Zeitung oder ein etabliertes Internetportal, wie der Journalist und Medienexperte Alexej Kowaljow auf seinem Blog schreibt, sondern um eine Sammelseite für Verschwörungstheorien aller Art. Dass russische Medien sich auf westliche Experten berufen, die man schwerlich als solche bezeichnen kann, kommt häufiger vor: Etwa auch im Fall Lorenz Haag. Der deutsche Professor war lange Zeit ein begehrter Gesprächspartner für viele russische Medien. Die Geschichte hatte nur einen Schönheitsfehler: Titel und angebliches Institut waren frei erfunden.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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    Presseschau № 1

    Presseschau № 2

  • Blindlings strategisch

    Blindlings strategisch

    Dank des Staatsfernsehens ist heute jeder in Russland auf dem Laufenden darüber, wieviele Raketen während der letzten 24 Stunden in Syrien abgefeuert worden sind. Geopolitik ist zum Partygespräch geworden, schafft nationale Identität und hebt das Selbstwertgefühl. Jedenfalls kurzfristig, sagt Juri Saprykin in seinem Kommentar. Denn die globale Machtverteilung wird längst nicht mehr von den Schachzügen der Militärs bestimmt: Wer sich in strategische Planspiele verrennt, stellt sich schnell selbst ins Abseits.

    In Zeiten wie diesen sind wir alle ein bisschen Geopolitiker. Noch vor einem Monat sah es so aus, als ob unsere Kenntnisse über Syrien sich auf dem Niveau der sprichwörtlichen Blondine bewegen, die fragt, wie man denn richtig schreibt: Iran oder Irak. Jetzt hingegen kann man jeden Schüler nachts um drei aus dem Bett holen, und wenn er vor dem Schlafengehen die Nachrichtensendung Wremja gesehen hat, wird er munter drauflosreden: über Hama und Homs, die Militärbasen in Latakia und Tartus, was die Saudis damit zu tun haben und was der Iran darüber denkt, und vor allem – welche Bedeutung das alles im Kontext des Großen Kriegs der Kontinente hat. Natürlich sind die Militärschläge auf die Stellungen des IS aus Sicht dieser schülerhaften Geopolitik nicht etwa deshalb wichtig, weil sie den Stellungen des IS schaden, sondern vielmehr, weil wir es denen gezeigt haben, weil man uns deshalb wieder beachtet, weil jetzt ohne uns nichts mehr geht. Und die Beachtung steigt nach dieser Logik mit der Anzahl der Bombardements: So hat etwa der Schriftsteller German Sadulajew bereits verkündet, dass der Nobelpreis für Swetlana Alexijewitsch den Schiffen der Kaspischen Flottille zu verdanken sei – „nur 26 Marschflugkörper – und schon interessierte sich die ganze Welt wieder dafür, was sich in der Welt der russischen Sprache und der russischen Literatur tut.“ (Ich sehe direkt vor mir, wie die Mitglieder der Schwedischen Akademie in einer außerordentlichen Sitzung panikartig slawische Namen in die Kandidatenliste eintragen und dabei aus den Augenwinkeln die Nachrichten im CNN verfolgen).

    Die schon rein rechnerischen Unstimmigkeiten dieser Interpretation (wie etwa der Umstand, dass die Kräfte der Anti-IS-Koalition im Laufe des letzten Jahres hundertmal mehr Angriffe gegen den IS unternommen hat als dies Russland bisher gelungen ist) brauchen unseren Geopolitiker nicht weiter zu kümmern – schließlich gilt: Wer im Besitz der Wahrheit ist, ist auch der Stärkere. Und er muss sich auch nicht daran erinnern, dass wir noch vor ein paar Monaten die gleichen geopolitischen Ziele (dass man uns beachten, mit uns rechnen, sich mit uns verständigen soll) in den Regionen Donezk und Lugansk verfolgt haben: Geopolitiker, auch wenn sie in die Tiefe der Jahrhunderte blicken, haben heute ein kurzes Gedächtnis. Aber stellen wir uns einmal auf den von unseren Protagonisten schmerzvoll erkämpften weltanschaulichen Standpunkt, zumal dieser ja richtig ist: Russland ist in der Tat ein zu großer und bedeutender Faktor auf der Weltkarte, als dass Fragen der globalen Weltordnung ohne seine Beteiligung entschieden werden könnten. Bringen Bombensalven auf Hama und Homs das Land diesem Status näher?

    Wer die Mitte der 80er Jahre bewusst miterlebt hat, wird es bezeugen: Gegen Ende der Sowjetzeit wurden ähnliche Ziele verfolgt (allerdings von einer ungleich eindrucksvolleren Ausgangsposition aus) – dass man uns respektieren, uns nicht bedrohen, unsere vitalen Interessen nicht verletzen, sich mit uns verständigen soll. Und in den Jahren vor der Perestroika war sehr klar, wie man diese Ziele erreichen kann: Wenn die Amerikaner anfangen, in einer für uns wichtigen Region Unruhe zu stiften, werden Waffen, im Notfall auch Truppen, dorthin geschickt; wenn Europa auf unerfreuliche Ideen verfällt, werden die Atomraketen an die äußersten Grenzen verlegt; wenn plötzlich Waffen in den Weltraum geschafft werden sollen, muss eine asymmetrische, aber gleich starke Reaktion im interstellaren Raum gefunden werden. In letzter Zeit herrscht die Ansicht vor, dass der Fall des Ölpreises der Wirtschaftskraft der UdSSR den entscheidenden Schlag versetzt hat. Dabei ist ein anderer Faktor in Vergessenheit geraten, der in dieser Zeit eine Rolle spielte: das Wettrüsten, dem die zunehmend schwächere Sowjetunion weder finanziell noch technologisch standhalten konnte. Die Erinnerung daran ist peinlich, weil das Programm „Star Wars“ ein grandioser Bluff war – die Reagan-Regierung zwang die Sowjetunion zum Wettbewerb auf einem Feld, auf dem sie gar nicht erst vorhatte, selbst anzutreten. Man hat auch deshalb keine große Lust, die Vergangenheit wieder hervorzukramen, weil unsere bereits eingetretene Zukunft zeigt: Im Wettbewerb zwischen den beiden Systemen waren letztlich nicht mehr die Pläne entscheidend, die im Generalstab oder im Pentagon entworfen wurden, sondern die Mikrochips, die bärtige junge Männer im Silicon Valley zusammenlöten. Der Gedanke, dass ausgerechnet diese leicht verpeilte Division die maßgebliche geopolitische Vormacht sichern würde, lag jenseits der Vorstellungskraft der Patriarchen im Kreml.

    Auch Sofa-Geopolitik hat ihre Zyklen, die so unerbittlich sind wie der Wechsel der Jahreszeiten: Der Begeisterungsrausch über die Stärke, die das Land plötzlich zeigt, die Überzeugung, dass Marschflugkörper absolut alle Probleme lösen, die in den sozialen Netzwerken geteilten Agitationsberichte darüber, wie Tausende von IS-Kämpfern schon beim Anblick eines russischen Flugzeugs entsetzt auseinanderrennen – all dies ist nur das erste Stadium. Am Ende wird zwangsläufig das Gefühl stehen, dass wir global übertölpelt worden sind, dass man uns in eine Sackgasse gelockt hat, aus der es keinen Ausweg gibt und uns veranlasst hat, Zeit und Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Und das wäre im Prinzip noch in Ordnung und man könnte es ruhig abwarten, wenn der Preis für diesen Weg sich nicht, wie immer in der Geschichte, in Hunderten von Leben nichtsahnender Menschen bemessen würde.

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  • Wer lebt glücklich in Russland?

    Wer lebt glücklich in Russland?

    Dem Dichter und Publizisten Nikolaj Nekrassow ging es gut, er hätte glücklich sein können. Aber er lebte im 19. Jahrhundert und er lebte in Russland und so füllte er seine persönlichen goldenen Jahre mit der Arbeit an einem Poem über die Unentrinnbarkeit des irdischen Leidens. Glücklich sein im Hier und Jetzt, das können Russen nicht, analysiert der Historiker und Chefredakteur des Portals Snob Nikolai Uskow, selbst eine schillernde Figur des modernen intellektuellen Russland. In seinem kulturhistorischen Essay jedenfalls geht er dem russischen Leiden zunächst einmal an die Wurzeln. Erst wenn alles vorbei ist, sagt er, dann wird es bei uns schön! Beerdigungen sind in Russland der Höhepunkt der Glückseligkeit. Wie kann das sein? Uskow ruft dazu auf, es anders zu machen, auch einmal Russland Russland sein zu lassen, und Erfüllung im individuellen Leben zu suchen.

    Können Sie sich diese Frage in einem anderen Land vorstellen, etwa in Frankreich? Wer lebt in Frankreich glücklich? Na, alle doch. Und über den existenziellen Abgrund legen sich augenblicklich die Seerosen von Claude Monet. Platanen, der Duft von Kaffee und frischem Gebäck, Vögelchen in den Tuilerien – in Frankreich gibt und kann es keine Hölle geben, höchstens eine unglückliche Liebe, aber die ist etwas Wunderbares. Selbst der Clochard, der eben unter der Brücke Pont Alexandre III aufwacht, erfreut sich an der lieben Sonne und lächelt den frühmorgendlichen Joggern zu. „Bonjour, M’sieur!“

    Nekrassow stellte seine verzwickte Frage in jener Epoche unserer Geschichte, die man heute beinahe als ihr Goldenes Zeitalter ansieht. Urteilen Sie selbst: Er arbeitete zwischen 1863 und 1878 an seinem Poem. Die Großen Reformen Alexanders II., Dostojewski, Tolstoi, Turgenjew, Ostrowski, Gontscharow, Tschaikowski, Mussorgski, die Akademiemitglieder und Peredwishniki – faktisch entstand das, was später in beträchtlichem Maß den Begriff Russland ausmachen würde. Doch nein, bei Nekrassow finden wir keine Begeisterung über die Epoche. „Schon ärmre Zeiten sah das Land, bösartigere nicht“ – diese Worte lieh er sich bei der damals höchst angesagten Schriftstellerin Nadeshda Chwoschtschinskaja und bewaffnete damit auf ewig alle Russland-Nörgler: Nur so sprach man meiner Erinnerung nach über die Siebzigerjahre und über die Achtziger- und über die Neunziger– und über die 2000er Jahre, von der Gegenwart ganz zu schweigen.

    Wenn wir das Poem Wer lebt glücklich in Russland? aufschlagen, stoßen wir umgehend auf die Quetschprovinz, den Kummerleider-Amtsbezirk, das Kirchspiel Ödendorf. Da ist sie, die Geografie des Goldenen Zeitalters: die Dörfer Flickdorf, Lochdorf, Barfußdorf, Frierdorf, Branddorf und auch Hungerdorf. Nekrassows Absicht zufolge hätte das Poem zu einem Panorama des menschlichen Leidens werden sollen. Bauern, Popen, Gutsbesitzer, Beamte, Handelsleute und sogar der Zar – aus Nekrassows Sicht sind hier alle unglücklich. Unglücklich ist anscheinend auch der Dichter selbst.

    Und das, obwohl der Adlige Nekrassow eine glänzende Karriere machte und der womöglich erfolgreichste Verleger und Redakteur der Geschichte des russischen Zeitschriftenwesens war. Er lebte mit einer Frau zusammen, der Schönheit Awdotja Panajewa, aber in der Wohnung ihres Gatten Iwan Panajew. Diese merkwürdige Konstellation sorgte beim Publikum für die unglaublichsten erotischen Fantasien. Als das gewagte Verhältnis mit den Panajews endete, erlebte Nekrassow weitere aufregende Leidenschaften. Und dazu hatte Nikolai Alexejewitsch auch unglaubliches Kartenglück und gewann Hunderttausende von Rubeln. Dank dem finanziellen Wohlstand konnte sich der Dichter einer weiteren seiner aristokratischen Passionen hingeben, der Hetzjagd. Sein mit Eigenmitteln gekauftes Gut Karabicha im Gebiet Jaroslawl zeugt durchaus anschaulich von den beträchtlichen materiellen Möglichkeiten des Dichters. Und dann erwarb sich dieser vom Schicksal zweifellos verwöhnte Mann plötzlich den Ruf, der größte Leidende der russischen Literatur zu sein. Das Sein bestimmte in keiner Weise sein Bewusstsein.

    Der russische Mensch lebt nie im Frieden mit seiner Zeit. Widerstrebend erträgt er sie, mit aufeinandergepressten Lippen und zusammengezogenen Augenbrauen, ist immer irgendwo abseits, am Rand. Unzufrieden brummt er in den Bart, fantasiert entweder von der Vergangenheit oder von der Zukunft. Dort war oder wird alles anders sein als in der verzwickten Gegenwart.

    Die Nekrassow vorausgegangene Generation adliger Gutsbesitzer hatte von der Aufhebung der Leibeigenschaft geträumt. Nicht etwa deswegen, weil ihnen das in irgendeiner Hinsicht, zum Beispiel für die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft, nützlich gewesen wäre. Im Gegenteil, die Aufhebung der Leibeigenschaft bedeutete ihren Ruin. Doch der Besitz von Leuten war für die adligen Revolutionäre etwas Beschämendes, Schändliches. 1861 hob Zar Alexander II. die Leibeigenschaft dann endlich auf. Die Schande, könnte man meinen, hatte ein Ende gefunden. Doch nein. Nekrassow schreibt:

    Fürwahr, die große Kette brach
    Und sprang in Stücke ganz:
    Das eine Ende traf den Herrn,
    Das andre Ende uns!

    Die „Schande der Leibeigenschaft“ verwandelt sich unerwartet in eine „große Kette“. Alles ist jetzt schlechter als zuvor. Und so wird es in Russland offenbar immer sein: Mit Stalin wurde das Land zu einem Imperium. In der Sowjetunion waren Bildung und medizinische Versorgung kostenlos, und die Kühlschränke quollen über vor Lebensmitteln. Wenn Putin dereinst abtritt, wird man auch über seine Zeit Legenden erfinden und Lieder darüber singen. Daran zweifle ich nicht im Geringsten.

    Glücklich leben in Russland nur die Toten. „Sie haben ausgelitten“, pflegt das hiesige Volk über sie zu sagen. Nekrassow starb an Magenkrebs, es vergingen einige wenige Jahre, und schon begann man sein Jahrhundert als absolut goldenes anzusehen.

    Für Tote gibt es bei uns überall einen Weg, für Tote gibt es bei uns überall Ehren. Endlich sagt man über dich nur noch Gutes. Man begräbt dich mit herzzerreißendem Enthusiasmus. In Russland war Suworow der erste glückliche Leichnam: „In allen Straßen, durch die sie ihn fuhren, standen die Leute dicht an dicht. Alle Balkone und sogar die Hausdächer waren voller bekümmerter, weinender Zuschauer“, erinnert sich Schischkow. Später würde Puschkins und Tolstois Begräbnis folgen. Lenins und Stalins Begräbnis. Wyssozkis Begräbnis, Sacharows Begräbnis. Jelzins Begräbnis. Begräbnis, Begräbnis, Begräbnis. In Russland sind Hochzeiten immer missraten, versoffen und vulgär. Hochzeit – das bedeutet Schlägereien und protzige Uhren wie die von Peskow. Dafür sind die Begräbnisse majestätisch.

    Der Tod ist der Übergang zur Unsterblichkeit, ist der Sieg über das verhasste Leben. Stalin muss etwas in der Art in Bezug auf den nationalen Charakter gefühlt haben. Denn er war es, der das Feiern von Todestagen initiierte. 1937 feierte das Land im großen Stil den 100. Todestag Puschkins. Pioniere salutierten ihm, Bauern brachten Gaben dar und Stachanow-Arbeiter nahmen aus Anlass des Festes erhöhte sozialistische Verpflichtungen auf sich. 1952 feierte die jubelnde Volksmenge den 100. Todestag Gogols. Auf einem Boulevard wurde ein lebensfroher, breitschultriger Bursche aufgestellt, während man Andrejews depressive Jammergestalt den Blicken entzog. Gogol quälen bei seinem Eintritt in die Ewigkeit keine Koliken und Zweifel mehr, er ist selbstbewusst, gesund und fröhlich.

    Übrigens heißt das eindringlichste Poem über unsere Heimat ja Die toten Seelen. Schon seit siebzig Jahren sind wir stolz darauf, der Gefallenen zu gedenken, und scheren uns dabei kein bisschen um die am Leben Gebliebenen. Das wichtigste Ereignis in der Geschichte des Landes ist ein mörderischer Krieg. Mit einem unguten Leuchten in den Augen kämpfen Historiker und die Gesellschaft dafür, dass die Opfer dieses Kriegs so furchtbar wie möglich aussehen: nicht sieben Millionen, sondern zwanzig, nicht zwanzig, sondern siebenundzwanzig, und wenn man auch die Ungeborenen dazuzählt, ganze fünfzig Millionen. Nein, hundert! Der wichtigste Politiker des Landes ist auch sein wichtigster Henker, Josef Stalin. Das wichtigste Heiligtum ist das Grabmal des unbekannten Soldaten. Das Land unterdrückt, quält, mordet, plündert, vertreibt und fordert dann die Asche der glücklich am Leben Gebliebenen zurück, um sie hier zu begraben. Mit allen Ehren. Welch erbitterte Grabenkämpfe führte man wegen der sterblichen Überreste Brodskys und jetzt Rachmaninows.

    „Die Toten haben keine Schande“, sagte Fürst Swjatoslaw Igorewitsch, der Vater des heiligen Wladimir. Letzterem will man übrigens, natürlich zum 1000. Todestag, ein Denkmal aufstellen. Die Toten haben keine Schande, dafür haben die Lebenden so viel, wie sie nur können, die Lebenden leben in Kommunalkas und Baracken, schuften und saufen, verblöden und verrohen. Die Lebenden beneiden die Toten.

    Eine hübsche Erklärung für diese nationale Nekrophilie könnte der spontane Platonismus der russischen Weltanschauung sein, den wir zusammen mit dem orthodoxen Glauben von den Griechen übernommen haben sollen. Die wahre Welt ist ein Jammertal, hier gilt es zu leiden und zu darben, das echte Leben kommt danach, beispielsweise jenseits des Grabs. Der Katholizismus stand tatsächlich unter geringerem Einfluss von Seiten Platons, orientierte sich vornehmlich an den Stoikern und Aristoteles und vermochte deshalb eine Generation glücklicher Menschen zu erziehen, die im Heute leben und sich an Monets Seerosen, der Sonne und dem Wein erfreuen. Denn diesen trinkt man wirklich, um sich zu erfreuen. Den Wodka, um zu vergessen.

    Aus der platonistischen Philosophie lässt sich nach Belieben die Ärmlichkeit russischer Wohnungen ableiten, die schiefen Zäune, verwilderten Gärten, Hoftoiletten, die Müllberge am Straßenrand, die himmelschreiende Vernachlässigung von Ästhetik, Hygiene und guten Manieren. Aber hübsche Erklärungen sind selten zutreffend. Wo elementare Armut und Düsternis vieles bestimmen, darf man nicht nach Philosophie suchen.

    Ich vermute den Grund für unsere ewige Fixierung auf das Jenseits eher in den Eigenheiten des nationalen Staatswesens. Die erdrückende Mehrheit der hiesigen Menschen ist nicht nur von der Macht entfremdet, sondern hat auch das Gefühl, nicht einmal über ihr eigenes Leben bestimmen zu können. Nikolai Alexejewitsch Nekrassow selbst hätte, wenn er in England geboren wäre und dort so einflussreiche Zeitschriften herausgegeben hätte, wie es Sowremennik und Otetschestwennye sapiski waren, nicht traurige Poeme geschrieben, sondern Gesetze, und zwar im Unterhaus. Zur Fuchsjagd auf seinem Gut in der Grafschaft Surrey hätten die einflussreichsten Mitglieder der Whigs, Herzöge und Abgeordnete um sich versammelt, nicht progressive Rasnotschinzy.

    Die denkenden Menschen, die in ganz Europa zur Lokomotive der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft wurden, verdrängte man unsere gesamte Geschichte hindurch von jeglichen Entscheidungsbefugnissen. Im Endeffekt suchte sich ihre Sorge um das Gemeinwohl ein Ventil in harter Kritik am Geschehen, im Gram und in der Verachtung der Gegenwart.

    Glücklich lebten in Russland wohl nur diejenigen, die sich nicht mit verzwickten Fragen quälten, sondern die Dinge anpackten und die Gegenwart als beste aller möglichen Welten ansahen. Solche Macher gab es zu jeder Zeit reichlich und doch waren es lächerlich wenige. Mein Ratschlag zur Krise: Lasst Russland in Ruhe, ihr könnt das Land nicht verändern, aber so habt ihr immer noch die Chance auf ein interessantes und bequemes Leben. Puschkin, dem das Schicksal viel weniger Erfolg schenkte als Nekrassow, wusste das:

    „… Ich murre nicht deswegen, weil die Götter mir versagten,
    In zärtlicher Beschwernis die Steuern zu beklagen
    Oder Zarn zu störn, einander zu bekriegen;
    Ob es der Presse freisteht, Idioten zu betrügen
    Oder ob Zensoren, empfindlich, dumme Schwätzer
    Am Spaltenfüllen hindern, kann mich kaum verletzen.
    Das sind nur Worte, Worte, Worte weiter nichts,
    Auf andre, bessre Rechte leg ich mehr Gewicht;
    Die andre, bessre Freiheit ist mir mehr vonnöten;
    Vom Zaren abzuhängen oder von Proleten –
    Ist das nicht völlig gleich? Gott mit euch!
    Aber keinem
    Je Rechenschaft zu geben, sich selber nur zu meinen
    Beim Schaffen und im Dienst; für Macht und für Livreen –
    Gewissen und Gedanken, den Hals nicht zu verdrehen;
    Zu schlendern hier und dort, nach eigner Lust und Laune
    Die gottgegebne Schönheit der Natur bestaunen,
    Und durch die Schöpfungen von Geist und Kunst verführt,
    In freudiger Entzückung zu zittern tief gerührt.
    – Das nenn ich Glück! Hier liegen Rechte …“

    (Deutsch von Eric Boerner)


    Pushkin zitiert mit freundlicher Genehmigung des Übersetzers.

    Nekrassow zitiert nach: Gedichte und Poeme: Nikolai Alexejewitsch Nekrassow, Nachdichtung von Martin Remané und Rudolf Seuberlich, Berlin [u.a.] 1965 (Aufbau-Verl.)

     

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  • Presseschau № 2

    Presseschau № 2

    Die russische Medienwelt war diese Woche von militärischen Themen bestimmt. Hauptgegenstand war die Untersuchung zum Abschuss der niederländischen Linienmaschine MH-17 über der Ukraine. Berichte werden mit Gegenberichten gekontert, eine Suche nach Objektivität ist nicht zu erkennen. Auch die Medienunterstützung für die Syrien-Kampagne hat an Intensität zugelegt. Sogar in der Diskussion um den Literaturnobelpreis für Swetlana Alexijewitsch wird der militärische Faktor geltend gemacht. 

    Politisches Taktieren, Ungereimtheiten, Verschwörungstheorien bis hin zu schlichten Lügen begleiten seit dem Absturz des Fluges MH-17 in der Ostukraine im Juli 2014 die Aufklärung der Katastrophe mit 298 Todesopfern. Besonders russische Medien und Behörden setzen Theorien in die Welt, die sich schon mehrmals als plumpe Fälschung erwiesen haben.

    Und auch die in dieser Woche vom russischen Rüstungskonzern Almaz-Antey präsentierten Berichte stifteten eher noch mehr Verwirrung, als dass sie zur Klärung des Unglücks beitrügen. Auf meduza.io findet sich eine Auflistung der bisherigen Berichte. Der Konzern veröffentlichte seinen Bericht quasi zeitgleich mit den Ermittlungen der niederländischen Untersuchungskommission. Nach aufwändigen Experimenten kommt Almaz-Antey in einigen Punkten zwar zu einer Übereinstimmung mit den Niederländern, etwa dass die Passagiermaschine wohl von einer Buk-Rakete zum Absturz gebracht wurde. Beim vermuteten Abschussort der Rakete und dem verwendeten Gefechtskopf gehen die Ergebnisse aber auseinander. Damit widerspricht der Staatskonzern allerdings eigenen Untersuchungen, war man doch noch im Juni beim Typ des Gefechtskopf zum gleichen Schluss gekommen wie nun die Niederländer. Jetzt sollen jedoch die charakteristischen Einschusslöcher am Wrack wieder fehlen. Für die Staatsmedien war das Verdikt klar: Russland werde durch die neuen Berichte entlastet, auch weil der laut Almaz-Antey verwendete Raketentyp längst von der russischen Armee ausgemustert worden sei. Zudem habe Kiew fahrlässig gehandelt, da der Luftraum nicht gesperrt wurde. Überhaupt wüsste doch wohl Almaz-Antey als BUK-Hersteller am besten über die Eigenschaften der Rakete Bescheid, höhnte etwa die Komsomolskaja Prawda. Kein gutes Haar ließ auch die russische Luftfahrtagentur Rosaviatsia am niederländischen Bericht: Die Niederländer hätten schlampig gearbeitet und Ermittlungen voller himmelschreiender Unlogik publiziert. Auch der Kreml spricht dem Team Objektivität ab.

    Vedomosti plädierte dagegen für internationale Kooperation. Um seine Unschuld zu beweisen, müsste Moskau eigentlich mehr als jeder andere Akteur daran interessiert sein, die Katastrophe aufzuklären, schrieb die Zeitung. Kritisch analysiert wurde der neue Bericht jedoch fast nur im Runet. Slon listete die unterschiedlichen Abschussorte der Rakete auf, die bisher genannt wurden. Die Behauptung Moskaus, die Rakete sei aus einem Gebiet abgeschossen worden, welches damals von ukrainischen Regierungstruppen gehalten wurde sei falsch, folgert Slon. Der Ort hätte unter Kontrolle der prorussischen Separatisten gestanden. Der Journalist Sergej Parchomenko machte darauf aufmerksam, dass Almaz-Antey  zu ganz unterschiedlichen Ermittlungsergebnissen kommt, je nachdem ob diese für die russische Propaganda oder für den internationalen Gebrauch gedacht sei.

    Die Auslandsberichterstattung wird nach wie vor von Syrien dominiert. Täglich erläutern in den TV-Nachrichten Militärs in Hightech-Kommandozentralen vor riesigen Bildschirmen die Einsätze und loben erfolgreiche Zerstörungen ausgewählter Ziele. Der Kampf gegen den Terrorismus gilt als wichtig und richtig, wie der Kreml nicht müde wird zu betonen. Dazu passend hat das Verteidigungsministerium bereits neue T-Shirts herausgebracht: „Unterstützung für Assad“, ist darauf zu lesen. Internationale Kritik am Einsatz wird mit der neuen TV-Sendung Propaganda auf dem für seine Schmutzkampagnen berüchtigten Sender NTW gekontert. Zu Eilmeldungen von CNN und Fox News, russische Raketen seien fälschlicherweise im Iran eingeschlagen, heißt es nur: Moskau und Teheran hätten dies dementiert. Alles, was die Zuschauer über diese TV-Stationen wissen müssten, ist, dass sie sehr viele Lügen verbreiten.

    Gefeiert wurde diese Woche der Nobelpreis für Swetlana Alexijewitsch. Die weißrussische Autorin habe das schwierige Kunststück vollbracht, den postsowjetischen Menschen für sich selbst sprechen zu lassen, heißt es im Magazin Snob. Aus nationalistischen Kreisen wurde die Auszeichnung allerdings kritisiert: Der TV-Sender Dozhd fasst einige der Reaktionen zusammen und zitiert den Chefredakteur der Literaturnaja Gaseta, der behauptet, ohne die russische Miliärkampagne in Syrien hätte Alexijewitsch den Nobelpreis nie erhalten. In einer weiteren Meldung wird ihr gar Russlandhass unterstellt. Richtig ist, dass Alexijewitsch immer wieder politisch klar Stellung zugunsten der einfachen Leute bezieht und sich Kritik an Präsident Putin, am autoritären System in Weißrussland und zuletzt auch an der russischen Aggression in der Ukraine und der Intervention Moskaus in Syrien nicht verbieten lässt. Zu einer neuen Diskussion der eigenen Vergangenheit im postsowjetischen Raum wird der Preis wohl aber nicht führen. In Russland etwa genießen nach wie vor die Geschichtsbücher von Kulturminister Wladimir Medinski große Popularität, der mit angeblichen Mythen der russischen Geschichte aufräumen will. Dies bedeutet wohl in erster Linie eine staatsgetreue Historiografie denn eine wissenschaftlichen Kriterien genügende Darstellung. Anfang Oktober verlieh sein Verlag dem Minister gar eine Auszeichnung für eine Million gedruckter Exemplare. Nun stellt Medinski seine Bücher auch auf der Frankfurter Buchmesse vor. Der Titel der Diskussion: „Russland und Europa. Gemeinsame Geschichte. Unterschiedliche Aufarbeitung“.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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    „Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt“

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    Kontakt der Zivilisationen

    Banja, Jagd und Angeln …

  • Mit den Renten wird die Zukunft des Landes konfisziert

    Mit den Renten wird die Zukunft des Landes konfisziert

    Wirtschaftsexperte Jewgeni Gontmacher, stellvertretender Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen an der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN) und Mitglied beim Komitee für Bürgerinitiativen, sprach mit der Novaya Gazeta über die drohende Krise beim Rentensystem und Russlands Verortung in der modernen Welt. Seine Diagnose: Russland versäumt dringend notwendige Reformen und könnte so hinter das wirtschaftliche Niveau von anderen Regionalmächten wie Indien oder Brasilien zurückfallen. Die Senkung des Rentenanpassungssatzes ist bereits aufgrund von Sparmaßnahmen im Haushalt nicht mehr zu verhindern, nur die konkreten Zahlen sind noch fraglich. 

    Bei einer faktischen Inflationsrate von 11,9 % wird innerhalb der Regierung gestritten: Soll man die Renten um 4,5 % erhöhen oder doch um 7 %, dann aber den vermögensbildenden Anteil erneut konfiszieren. Was könnte ein derartiger Schlag gegen die Rentner nach sich ziehen – einer für die Regierung nach wie vor wichtigen Wählerschaft?

    Bereits in diesem Jahr sinkt das reale Rentenniveau, obwohl im Februar eine Anhebung in Höhe der Inflation des vergangenen Jahres durchgeführt wurde – 11,4 %. Wobei die Rentner in gewisser Hinsicht eine eigene Inflation haben: Ihr Warenkorb sieht anders aus als der, nach dem die offizielle Inflation berechnet wird. In diesem Warenkorb finden sich naturgemäß mehr Lebensmittel, in der Regel einfachste Grundnahrungsmittel, höher ist der Anteil der Ausgaben für Medikamente. Die Preissteigerungen bei diesen Waren lagen sowohl in diesem wie im letzten Jahr über dem Durchschnitt. Der Warenkorb des russischen Amtes für Statistik Rosstat bezieht sich gesellschaftlich gesehen auf die gehobene Mittelklasse: Es finden sich darin Fleisch- und Fischdelikatessen, relativ teure Kleidung und Dienstleistungen, die viele Rentner nicht in Anspruch nehmen.

    Nun zum nächsten Jahr. Ich denke, die Sache ist so gut wie entschieden – die Rentenerhöhung zu Beginn des Jahres 2016 wird unterhalb der faktischen Inflation liegen. Wir gehen zu einer Rentenanpassung über, die sich nach der prognostizierten Inflation richtet. So war das bereits Ende der 90er Jahre, als die wirtschaftliche Lage sehr kritisch war. Das ist übrigens interessant, weil die Regierung damit indirekt gesteht, dass wir, was die Wirtschaftslage betrifft, in die damaligen Zeiten zurückgekehrt sind. Wobei die Regierung sehr optimistisch in die Zukunft blickt: Für das nächste Jahr wird uns eine Inflationsrate von 7 % vorausgesagt, für das Jahr 2017 sogar nur 4 %. Doch bislang geht die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung.

    Unter den Rentnern gibt es verschiedene Gruppen: Zum Beispiel gibt es Arbeitnehmer, die neben der Rente ein Einkommen haben. Dies sinkt real zwar auch, aber immerhin haben diese Rentner zusätzliche Einkünfte. In Russland allein von der Rente zu leben ist, gelinde gesagt, sehr schwierig. Zu dieser Gruppe zählt etwa ein Drittel aller Menschen im Ruhestand – ihr Lebensstandard verschlechtert sich ebenfalls, aber sie gelangen nicht an den Punkt, wo das Leben zum Überlebenskampf wird. Außerdem lebt ein beträchtlicher Teil der Rentner bei der Familie, das hat sich in Russland historisch so entwickelt. In den USA und in Europa leben die Generationen nicht zusammen und wirtschaften getrennt. In Russland ist das wegen des Mangels an erschwinglichem Wohnraum für junge Menschen und dank bestimmter kultureller Traditionen anders. Das mildert die Situation teilweise etwas. Am schlimmsten wird es alleinstehende Rentner und Rentner-Ehepaare treffen – das sind etwa 15–20 % aller alten Menschen.

    Die heutigen Rentner gehören in ihrer Mehrheit zu den ersten Nachkriegsgenerationen. Sie haben sich eine noch aus der Sowjetzeit stammende Widerstandskraft angeeignet: Immer das Schlimmste zu erwarten. In den Genuss eines mehr oder weniger guten Lebens sind nur die jüngeren Generationen gekommen, die in den 90er Jahren irgendwie den Wechsel geschafft, ein Geschäft gegründet haben und dann in den 2000ern auf der Welle des Wirtschaftswachstums mitgeschwommen sind. Es entstand  eine Mittelschicht. Deren Angehörige sind bisher nicht an eine konstant sinkende Lebensqualität gewöhnt. Die älteren Generationen erinnern sich noch allzu gut und reagieren in diesem Sinne weitaus flexibler auf die Krise.

    Sind die anhaltenden Debatten über das Schicksal der Rentenrücklagen und seit einiger Zeit auch über die Rentenanpassung gewöhnliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den Behörden mit unterschiedlichen Funktionen oder ein Zeichen für die Hilflosigkeit der Regierung angesichts der Haushaltskrise?

    Sie sind eine direkte Folge der Krise, die bereits 2008 begonnen hat. Nach einer kurzen regenerativen Wachstumsphase geht es bei uns wieder bergab. Das Problem ist sehr einfach: Unser Rentenfonds geht ohne die Unterstützung aus föderalen Haushaltsmitteln am Stock. Der föderale Transfer in den Rentenfonds beträgt mehr als eine Billion Rubel [14,3 Milliarden Euro], und er wächst von Jahr zu Jahr. Für das Staatsbudget ist das eine gewaltige Last, besonders angesichts des ausbleibenden Wirtschaftswachstums.

    2012–2013 wurde deutlich, dass das bestehende Wirtschaftsmodell ausgereizt ist, aber Reformen durchführen wollte niemand, also war die Regierung meines Erachtens vor eine rein pragmatische Aufgabe gestellt: Die Sozialleistungen mussten leicht gedrückt werden. Denn dem Staatshaushalt geht es ja schlecht, er muss Geld für die Verteidigung und andere wichtige Dinge ausgeben. Da hat man sich dann ein Punkte-Modell ausgedacht: Rein formal wird der Rentenfonds in zwei bis drei Jahren zur Selbstfinanzierung übergehen. Der Gegenwert der Punkte wird ausgehend von den Gesamteinnahmen des Fonds berechnet. Der fetteste Happen ist unter diesen Bedingungen der vermögensbildende Anteil mit 6 Prozentpunkten des Rentenbeitrags, die aus dem Solidaranteil unseres Rentensystems abgezogen werden, wenn die Auszahlung der Renten aus den laufenden Beiträgen der Arbeitnehmer erfolgt. Paradoxerweise kamen gerade die Ministerien mit sozialem Portfolio in Versuchung, diesen Anteil aus dem Solidarsystem zu entnehmen. Für gewöhnlich kennt man einen derartigen Appetit vom Finanzministerium, das sich um das Haushaltsgleichgewicht zu kümmern hat. In diesem Fall entschied sich das Finanzministerium aber für ein vor allem strategisches Vorgehen. Und legte Protest ein, als die Idee aufkam, den vermögensbildenden Anteil zu liquidieren, indem man ihn sozusagen in die laufenden Ausgaben des Rentenfonds einfließen lässt. Zumindest im Moment sieht es so aus, als würden die Zentralbank und das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung sowie die Mehrheit der unabhängigen Experten diese Position des Finanzministeriums teilen.

    Der vermögensbildende Anteil bleibt also fürs Erste erhalten, aber im föderalen Haushalt gibt es schon jetzt kein Geld mehr für nichts, deshalb werden wieder Stimmen lauter, ihn das dritte Jahr in Folge einzufrieren. So gesehen hat das Finanzministerium also keinen endgültigen Sieg eingefahren, denn alleine die Tatsache des Einfrierens diskreditiert das gesamte Rentensystem in höchstem Maße. Es bedeutet, dass es keinerlei Spielregeln gibt. Menschen, die 1966 und später geboren wurden, wissen schlicht nicht, was sie tun sollen, denn das Vertrauen in die Renteninstitute war ohnehin nicht sehr stark. Aber das Ersparte ist ja nicht einfach irgendwo auf den Konten eingefroren – es existiert gar nicht mehr. Und diese zig hundert Milliarden Rubel müssen irgendwie wieder her.

    Der Erhalt des vermögensbildenden Anteils wurde offenbar aus dem Grund durchgesetzt, dass man auf ein Wirtschaftswachstum im Jahr 2016 setzte – damals waren die Prognosen noch entsprechend. Heute wird von Seiten der Makroökonomie auf der Idee des vermögensbildenden Anteils ziemlich herumgehackt. Die aktuellen Zahlen für den August zeigen: Die Produktivität der Wirtschaft sinkt, und es geht weiter abwärts. Selbst die offizielle Prognose verspricht einen Anstieg des BIP erst für 2017 – und das ist ein sehr optimistisches Szenario. Übrigens, 1–2 % Wirtschaftswachstum ändern rein gar nichts.

    Das Finanzministerium ist in eine schwierige Lage geraten: Ein weiteres Einfrieren des vermögensbildenden Anteils wird das Vertrauen der Menschen in das Einlagesystem endgültig zerstören, und dann wird man im Arbeits-, Gesundheits- und Bildungsministerium wieder davon sprechen, dass es ratsam wäre, ihn komplett abzuschaffen. Man wird entweder anstelle dieses Anteils staatliche Verpflichtungen erbringen müssen – zum Beispiel Anleihescheine erstellen, sie den Leuten geben und ihnen sagen, dass sie ihr Geld in 20 Jahren wiederbekommen. Genau wie damals bei den Abgaben für die Sanierung von Wohnungen wird das Schicksal dieser Mittel absolut ungewiss sein.

    Sehen Sie, in einem Land, in dem es keine vernünftigen Institutionen gibt, in dem die Wirtschaft absolut archaisch ist, kann man unmöglich einen einzelnen Bereich nehmen und dort effektive Reformen durchführen.

    Wie stehen die Chancen, dass zur Senkung des Rentenanpassungssatzes und einer erneuten Konfiszierung des vermögenswirksamen Anteils im nächsten Jahr auch noch eine Anhebung des Renteneintrittsalters hinzukommt?

    Das Rentenalter erhöhen wird ganz offensichtlich im nächsten Jahr niemand. Das Finanzministerium sondiert nur die Lage und bringt die Diskussion innerhalb der Regierungskreise wieder in Gang, wenn auch diesmal öffentlich. Aber alle wissen sehr gut, dass ein Anheben des Renteneintrittsalters einer enormen Vorbereitung bedarf. Früher oder später wird das in Russland natürlich geschehen, aber vorher müsste man das Frühberentungssystem umstrukturieren. Wenn man das Rentenalter anhebt, werden die Menschen mit 60 (Männer) und 55 (Frauen) einfach Erwerbsunfähigkeit anmelden und so weiterhin dieselbe Rente bekommen. Auch mit dem Arbeitsmarkt muss etwas geschehen, denn wir haben viele arbeitende Rentner. Im Moment kann man mit einer kleinen Rente plus einem kleinen Einkommen im Rentenalter wenigstens irgendwie existieren, ohne täglich einen Überlebenskampf zu führen. Aber wenn wir das Rentenalter anheben und diesen Menschen ihre Rente auch nur für 2–3 Jahre wegnehmen, dann erschaffen wir schlicht eine neue Gruppe von Armen. Schließlich rein pragmatisch gesehen: Die Machthaber im Land, jedenfalls die Politiker unter ihnen, agieren im Rahmen von Wahlperioden. 2016 gibt es wieder Dumawahlen, die die Partei Einiges Russland unbedingt gewinnen will, und 2018 Präsidentschaftswahlen, an denen Wladimir Putin sehr wahrscheinlich teilnehmen wird. Deshalb wäre ein Beschluss über die Anhebung des Renteneintrittsalters zum 1. Januar 2016 ein Schlag in die Magengrube der Regierung. Solch eine Maßnahme würde äußersten Unmut in der Bevölkerung auslösen.

    Die gesamte aktuelle Sozialstatistik – angefangen bei der Zahl von Russen, die unter der Armutsgrenze leben, bis hin zur Sterblichkeitsrate – sieht ziemlich düster aus. Wie weit ist Russland hinsichtlich der Lebensqualität in die Vergangenheit zurückgeworfen?

    Es gibt den Begriff des Lebensstandards – das sind konkrete Parameter von Einkommen und Konsum. Und es gibt den Begriff der Lebensqualität – das ist ein bisschen was anderes. Manchmal ist alles eigentlich ganz gut, aber glücklich ist man nicht. Bei uns haben die Menschen intuitiv schlechte Erwartungen an die Zukunft. Momentan leben 16 % der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, und doch sind soziale Notstände nicht einmal in der Provinz offenbar: Auf den Straßen laufen keine hungernden Menschen herum. Aber eine erdrückende Mehrheit der Bevölkerung hat eine pessimistische Einstellung. Alle erwarten eine Verschlechterung der Situation, Arbeitslosigkeit rangiert ganz vorne auf der Liste der negativen Erwartungen.

    Ein sehr beunruhigendes Syndrom ist der Selbstwert-Verfall in der Bevölkerung. Wenn die Menschen anfangen, sich selbst in ihren Ansprüchen an dieses Leben zu beschränken, dann hören sie faktisch auf, sich selbst wertzuschätzen. Dann laufen sie eben in Wattejacken herum, ernähren sich von Kartoffeln und Wodka, ist doch schnurz. Das ist eine Form der Zerrüttung, die in Russland sehr weit verbreitet ist, besonders in der Provinz. Diese Menschen werden von sich aus bestimmt nichts in Gang setzen. Da muss erstmal jemand anders anfangen und alles rundum demolieren, dann rennen sie vielleicht in die Läden und schleppen Lebensmittel raus, aber es muss eben erstmal jemand anfangen. Dieser Selbstwert-Verfall, die Verschlechterung der Lebensqualität – das bedeutet für und in unserem Land die Konfiszierung der Zukunft.

    Welche Handlungsmöglichkeiten hat die Regierung? Vor progressiven Reformen hat sie pathologische Angst. Andererseits heißt es, ein reaktionäres Szenario, eine Glasjewschtschina mit staatlicher Regulierung der Preise und totaler Isolation würde vorerst „nicht der offiziellen Position des Kreml entsprechen“ [Zitat Dimitri Peskow – dek] …

    Die Regierung fürchtet alle Reformen – sowohl glasjewsche als auch ansatzweise liberale. Reformen sind Risiken. Wenn man sie anstößt, begibt man sich stets in ein Meer von Ungewissheit. Und zum Umschiffen der Riffs in diesem Meer braucht es ein relativ hohes Maß an Professionalität, die unserer Regierung fehlt. Zur Zerrüttung der Menschen, von der ich sprach, kommt es ja nicht nur im Volk, sondern auch in Regierungskreisen. Die Qualität der Staatsführung ist heute sogar auf föderaler Ebene unter aller Kanone. Von Diebstahl und Korruption spreche ich erst gar nicht.

    Nehmen Sie zum Beispiel die Einführung des einjährigen Haushaltsplans. Damit haben sie doch ihre eigene Hilflosigkeit unterzeichnet: Sie sind nicht in der Lage, wirtschaftliche Prozesse zu steuern, haben keinen Einfluss auf sie. Das einzige, was sie können, ist dazwischenfunken, sich drei Kopeken krallen und wieder abhauen. Die Regierung wird die Situation bis zum Letzten bewahren, wie sie ist, und sich dabei auf das große Geduldspotential der Menschen stützen. Ändern kann sich die Situation nur durch höhere Gewalt.

    Wenn die höhere Gewalt ausbleibt, werden wir dann einen schleichenden Übergang Russlands in die Reihen der Außenseiterstaaten beobachten?

    Im Moment gibt es in der Welt drei Supermächte: USA, China und die EU. Sie haben globale Interessen und können auf Vorgänge an jedem beliebigen Ort der Welt Einfluss nehmen. Dann gibt es Regionalmächte: Indien, Brasilien, Nigeria, Indonesien, Japan und nach wie vor Russland. Es gibt auch Länder mit einem niedrigeren, dritten Status: zum Beispiel Argentinien, Venezuela, Ägypten. Trotz ihrer Größe und ihres Potentials befinden sie sich in einer permanenten sozio-ökonomischen Krise und haben selbst in ihrer Region keinerlei ernsthaften Einfluss auf das Geschehen. Und dann gibt es failed-states wie Somalia oder Syrien, wo es überhaupt keinen Staat gibt. Wir laufen Gefahr auf die dritte Ebene zu rutschen und dann, wenn es so weitergeht, auch noch tiefer. Das Einzige, was uns noch im jetzigen Status hält, sind die nuklearen Waffen und das Veto-Recht beim UNO-Sicherheitsrat. Aber der Abstieg in der Welthierarchie läuft dennoch und die Prognosen sind bisher negativ. Nicht einmal, was die Zahlen betrifft, sondern in Bezug auf die Lebensqualität, die Qualität des menschlichen Kapitals.

    Eine derartige Situation braucht systemische, tiefgreifende Veränderungen. Ich bin nicht sicher, ob das Land im Moment die Ressourcen dafür hat. Das Volk bleibt stumm, alles liegt bei den Eliten. Aber auch da sind die Menschen in erster Linie daran interessiert, Kontrolle über die Finanzströme zu behalten. Das ist eine sehr schwierige historische Falle, aus der ich momentan keinen Ausweg sehe.

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    Presseschau № 1

    Militärisches und Außenpolitik standen diese Woche in den russischen Medien im Mittelpunkt. Das beherrschende Thema war Syrien, zahlreiche Beiträge verbreiten Kriegsbegeisterung, sogar die Kirche trägt ihren Teil dazu bei. Die Berichterstattung über die Ukraine, in der die Waffen derzeit weitgehend schweigen, ist stark in den Hintergrund getreten. Aufmerksamkeit haben noch zwei weitere Themen erregt: der offene Brief des liberalen Journalisten Oleg Kaschin, der die Brutalität des Regimes anprangert, der er selbst beinahe zum Opfer gefallen wäre. Außerdem: der Geburtstag des Kreml-Chefs. 

    „Die Syrer schauen mit Hoffnung in den Himmel“, titelte die Komsomolskaja Prawda, eine der auflagenstärksten Boulevardzeitungen zum Auftakt der russischen Luftschläge am 30. September in Syrien. Für die Kommentatoren steht fest, Russland agiert in Übereinstimmung mit internationalem Recht. Ein Hilfsgesuch des syrischen Präsidenten al-Assad liege vor. Im Gegensatz dazu würde die von den USA angeführte Koalition rechtswidrig handeln, da weder ein Hilfsbegehren an Washington, noch ein UNO-Mandat existiere. Ein Erfolg der Militärintervention scheint außer Frage, zumindest für den staatlichen Mediensektor: Mehr als 3000 Terroristen seien bereits nach Jordanien geflohen.

    Der Kampf gegen den islamischen Terrorismus ist der neue Blockbuster. Nüchterne Berichterstattung und Propaganda gehen fließend ineinander über. Die Rede ist von „höflichen Piloten“, in Anlehnung an die russischen Soldaten, die ohne Hoheitszeichen im Februar 2014 auf der Krim auftauchten. Russische Journalisten inszenieren sich mit nacktem Oberkörper und umgehängtem orthodoxen Kreuz vor den Kampfjets, loben das Kriegsgerät und die Reichweite der Bomben. Eine Wetteransagerin im staatlichen TV prognostiziert den russischen Bomberpiloten ideale Bedingungen, wenig Wind und gute Sicht. Bereits bei Offensiven der prorussischen Separatisten in der Ostukraine orakelten russische Meteorologen über atmosphärische Einflüsse auf das Kampfgeschehen.

    Auch die Russisch-Orthodoxe Kirche erteilt der Militärkampagne ihren Segen. Laut Patriarch Kirill habe die politische Konfliktlösung der Zivilbevölkerung zu wenig geholfen, nun brauche es militärischen Schutz: Gar ein „heiliges Land“ und „unsere Erde“ nannte der Dumaabgeordnete Semen Bagdasarow Syrien. Ohne Syrien gäbe es keine orthodoxe Kirche und kein Russland. Bagdasarow versucht damit, die Militärintervention in die gleiche Argumentationslinie zu stellen wie die Angliederung der Krim. Präsident Wladimir Putin schreibt der ukrainischen Halbinsel große zivilisatorische und sakrale Bedeutung für Russland zu.

    Gemäßigte Stimmen, wie der Journalist Alexander Baunow, sehen im syrischen Militäreinsatz Russlands auch den Versuche des Kremls, die internationale Isolation zu durchbrechen und wieder in einen Dialog mit dem Westen zu treten. Offene Kritik wird nur vereinzelt laut. Vor einem langen und sinnlosen Krieg warnt der Analyst Alexander Golts in der Moscow Times. Die Zeitung Vedomosti glaubt den offiziellen Verlautbarungen nicht und sieht neben dem Verlust des Prestiges Moskaus in der muslimischen Welt eine Vorbereitung der öffentlichen Meinung für den Einsatz russischer Bodentruppen voraus. Vor allem Aussagen von Admiral Wladimir Komojedow, Chef des Verteidigungskomittees in der Staatsduma, der zu verstehen gab, dass Freiwillige aus der Ukraine schon bald in Syrien kämpfen könnten, lassen Vedomosti solches vermuten.

    In der Ukraine hält die Waffenruhe noch immer weitgehend an. Im Zeichen einer Normalisierung bewerteten die Medien auch den Gipfel in Paris, wo sich die Staatschefs des Normandie-Formats trafen, um über die Ukraine zu beraten. Der Ukraine-Krieg sei beendet, ließen gar die prorussischen Separatisten verlauten, die ihre angekündigten Lokalwahlen auf Anfang 2016 verschoben. Die mediale Aufmerksamkeit sinkt. Noch 250 Nachrichtenbeiträge gab es im September zur Ukraine, im Februar 2015 waren es laut der Medienbeobachtungsstelle Medialogia mehr als 1250.

    Innenpolitisch gab der offene Brief von Oleg Kaschin zu reden – hier in der englischen Übersetzung. Der prominente Journalist berief sich dabei explizit auf den Offenen Brief an die Sowjetführung Alexander Solschenizyns (1973), in dem dieser die herrschende Sowjetideologie denunzierte. Kaschin, der 2010 nach einem Angriff unbekannter Täter ins Koma fiel und kürzlich nach eigenen Ermittlungen deren Namen veröffentlichte, kritisiert die russische Führung aufs Heftigste. Seine Anklage gegen deren Untätigkeit bei der Aufklärung der Attacke auf ihn weitet er zu einer polemischen Kritik der vergangenen 15 Jahre aus. Putin und Medwedew seien durch den Aufbau eines durch und durch korrupten Systems persönlich für die „moralische Katastrophe“ einer ganzen Generation verantwortlich. Während kremltreue Medien einzig die Frage interessierte, ob Putin auch auf den Brief reagiert, diskutieren kremlkritische Medien vor allem, ob sich Kaschin mit der Veröffentlichung den Vorwurf der Naivität gefallen lassen muss oder ob der Brief tatsächlich etwas bewegen kann. So sieht der Chefredakteur des Radiosenders Echo Moskau, Alexej Wenediktow, den Text als wichtiges Manifest eines Politikers, der Internetpionier und Blogger Anton Nossik hingegen bewertet den Brief als naiv. Putin wie Medwedew und Kaschin seien in einem System aufgewachsen, in dem Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit immer Worthülsen gewesen seien. Maximal amüsieren würde sich die politische Elite über einen solchen Brief. Beantwortet hat Putin den Brief übrigens nicht. Der Autor habe es wohl nicht wirklich auf eine Antwort angelegt, wird Putins Sprecher Dimitri Peskow zitiert.

    Der Kreml-Chef selbst feierte am 7. Oktober seinen 63. Geburtstag. Für seine Anhänger stets ein willkommener Anlass, um Putin mit Geschenken zu huldigen. Über Geschmack lässt sich ja bekanntlich nicht streiten, aber die Ausstellung Putin Universe vereinigt doch einige eher skurrile Gemälde. Zu sehen ist Putin etwa als Mahatma Gandhi, Che Guevara oder der deutsche Kanzler Bismarck.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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    Kontrovers diskutiert im russischen Internet wird derzeit dieses Interview mit Alexander Baunow zum Thema Syrien. Baunow schreibt als Journalist in verschiedenen unabhängigen Medien vor allem über außenpolitische Themen, zuvor war er mehrere Jahre im diplomatischen Dienst der Russischen Föderation tätig. Seit 2015 ist er zudem senior associate des Carnegie Center Moskau, eines international aufgestellten Thinktanks. Die Fragen an Alexander Baunow stellte für Colta.ru Arnold Chatschaturow.

    Das Interview hat vor allem in regierungskritischen Kreisen skeptische Reaktionen hervorgerufen, da Baunow aus einer relativ regierungsnahen Perspektive argumentiert. Insbesondere wurde eine Tendenz zur Verharmlosung der Repressionen und Menschenrechtsverletzungen durch das Regime Assad schon in der Zeit vor dem Bürgerkrieg beklagt sowie ein ungenügendes Hinterfragen der tatsächlichen Ziele der russischen Luftschläge. Andererseits hat das Material Beifall erhalten dafür, dass es nicht der Versuchung erliegt, jegliches außenpolitische Handeln des Kreml reflexhaft zu verurteilen: Baunow sieht in Russlands Syrien-Einsatz einen durchaus sinnvollen Versuch, nach der Ukraine-Krise wieder einen Dialog mit dem Westen anzubahnen – der seinerseits zunächst abwartend beobachte, ob man Russland diesmal vertrauen könne.

        Keine zwei Tage nach Wladimir Putins Rede vor der UN-Generalversammlung [am 28. September – dek] hat Russland die ersten Luftschläge in Syrien ausgeführt. Die Frage ist allerdings, gegen wen?

        Die russische wie die syrische Führung versichern, dass die Luftschläge sich gegen den Islamischen Staat richten. Die syrische Opposition erklärt, sie selbst und die Zivilbevölkerung seien das Ziel der Angriffe. Allerdings ist für die Opposition ein Szenario, in dem Russland Assad hilft, in jedem Fall ein Alptraum: Selbst wenn die Intervention sich tatsächlich nur gegen den IS richtet und die Opposition in keiner Weise tangiert, stärkt das indirekt Assad, weil es ihn an einer der Fronten entlastet, und nimmt der Opposition die Chance auf einen klaren Sieg. Deshalb ist sie daran interessiert, die Sache von Anfang an so darzustellen, als würde Russland sie bekämpfen. Jede Seite verfolgt ihre eigenen Interessen, man kann also niemandem ohne weiteres glauben, sondern muss abwarten, bis Beweise vorliegen. Wären die Informationen über diese Luftschläge von OSZE-Beobachtern gekommen – die es in Syrien natürlich nicht gibt –, oder auch, sagen wir, von Frankreich, dann könnte man ihnen viel eher vertrauen.

        Der zweite Punkt ist, dass der IS kein Staat mit festen Grenzen ist, sondern eine Organisation, die sich selbst zum Kalifat erklärt hat. Auf den Karten, die wir in den Medien sehen, sind die Gebiete, die Russland am Mittwoch bombardiert hat, nicht in den IS-Farben dargestellt. Die Lage vor Ort ist viel komplizierter, und eine einzelne Einheit von Kämpfern in irgendeinem Dorf ist in diesen Karten nicht zwangsläufig erfasst. Um das zu wissen, braucht man kein Syrien-Spezialist zu sein, es genügt, sich an den russischen Bürgerkrieg zu erinnern: Auch damals gab es bis auf wenige Ausnahmen keine geschlossenen Territorien.

        Jede Seite verfolgt ihre eigenen Interessen, man kann also niemandem ohne weiteres glauben, sondern muss abwarten, bis Beweise vorliegen.

        Die dritte Frage ist, wen außer dem IS es in Syrien noch gibt und ob alle übrigen Kräfte tatsächlich der vielzitierten demokratischen Opposition angehören, die in Wirklichkeit weniger eine demokratische als eine sunnitische Opposition ist. Die New York Times zum Beispiel schreibt, die russischen Luftschläge hätten Stellungen der Al-Nusra-Front zum Ziel gehabt. Aber diese Al-Nusra-Front ist ein Ableger von Al Qaida, und sie hat schon zu einer Zeit, als der IS noch nicht in Syrien agierte, in der christlichen Stadt Maalula im Südwesten des Landes – einem einzigartigen Ort, wo bis heute Aramäisch gesprochen wird – ein Massaker angerichtet. So eine Gräueltat steht denen des IS in nichts nach. Sollten Stellungen der Al-Nusra von den Luftschlägen getroffen worden sein, muss man also sagen, das haben sie verdient.

        Warum hat man für die Luftschläge keine eindeutig zuzuordnenden Gebiete gewählt?

        Hätte man sich vor allem aus Imagegründen oder zu diplomatischen Zwecken zu bombardieren entschlossen, dann hätte man sich andere Ziele suchen müssen, in einem homogeneren Teil der Karte. Es gibt dort ja Wüsten, Oasen, Flusstäler, und die detaillierten Karten zeigen ein wesentlich komplexeres Bild. Ich denke, bei der tatsächlichen Auswahl der Ziele haben drei Überlegungen den Ausschlag gegeben. Zum einen bombardieren die amerikanischen Bündnispartner den IS schon seit einem Jahr, sie haben schon tausende Einsätze geflogen, insofern wäre es gar nicht so einfach, hier noch ein eigenes Ziel zu finden. Zweitens war natürlich klar, dass die sonderbare Warnung an die Amerikaner, sie sollten ihre Flüge einstellen, keine Wirkung haben würde, so dass die russische Luftwaffe womöglich gleichzeitig mit der amerikanischen, britischen oder türkischen über IS-Gebiet geflogen wäre. Und da Russland sein Vorgehen auf taktischer Ebene bisher nicht abgestimmt hat (auch wenn sich das bald ändern dürfte), wäre das nicht ungefährlich gewesen.

        Wenn ein Land nicht frei ist, folgt daraus, dass wir schleunigst für den Sturz des dortigen Regimes sorgen müssen? Oder sollten wir erst einmal sehen, wer dieses Regime ablösen könnte?

        Drittens schließlich gab es eine Gruppe von Zielen, die die westliche Koalition grundsätzlich nicht angegriffen hat. Das von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiet beschränkt sich ja zum einen auf Damaskus und Umgebung, zum anderen auf die Küste mit den Ausläufern des Libanon-Gebirges, von Tartus über Latakia in Richtung des türkischen Antakya. Die wichtigste Straße dazwischen führt durch sunnitisches Gebiet, an ihr liegen die Städte Homs und Hama, und zwischen diesen Städten wiederum lagen die Ziele der gestrigen Luftschläge. Wir reden hier also von der einzigen Straße, die die beiden von der Regierung kontrollierten Landesteile verbindet. Wenn diese Verbindung abgeschnitten wird, zerfällt das Gebiet in zwei Teile. Das würde Assad schwächen, er wäre viel leichter zu besiegen. Die Ziele, die die syrische Armee Russland gegenüber benannt hat, sind folglich lebenswichtige Punkte.

        Über die syrische Opposition herrscht viel Unklarheit. Gibt es überhaupt neutrale Gruppen in ihren Reihen, oder ist sie durchweg islamistisch?

        Was und wer die syrische Opposition ist, das ist ein Thema für sich. Die Revolution im Iran wurde von Kommunisten, liberalen Demokraten, antiwestlicher Intelligenzia, Studenten und Islamisten gemeinsam gemacht. Die stärkste Gruppe waren am Ende die Islamisten. Ähnlich verhält es sich auch in Syrien: Der Teil der Bevölkerung, der Assad sein Vertrauen entzogen hat, setzt sich aus ganz verschiedenen Gruppen zusammen, aber die stärkste Kraft unter ihnen sind die Islamisten. Und auch diese Gruppe ist in sich wieder sehr heterogen – das Spektrum reicht von relativ gemäßigten Organisationen wie der Muslimbruderschaft bis zur Al-Nusra-Front, die schon ganze Städte abgeschlachtet hat. Natürlich sind die gebildeten Männer in westlichen Anzügen, die vor die Fernsehkameras treten und die Losungen der Opposition proklamieren, nur die mediale Seite des Widerstands – vor Ort laufen Männer in ganz anderen Anzügen und mit Maschinenpistolen herum. Andererseits sind ja auch die Vertreter der Assad-Regierung europäisch gekleidete, weltliche Männer und Frauen ohne Kopftuch – vergessen wir nicht, dass Syrien schon seit einem halben Jahrhundert eine säkulare Diktatur ist.

        Die gesamte westliche Welt wendet sich heute gegen die syrische Staatsführung. Welche politischen Perspektiven hat Assad Ihrer Meinung nach, genießt er im Volk noch Vertrauen?

        Ich bin selbst weniger als ein Jahr vor Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien gewesen, und ich kann sagen, dass die Entwicklung damals nicht vorherzusehen war. Von einer maroden Diktatur, die kurz vor dem Fall steht, von einem beim Volk verhassten Schreckensregime war nichts zu spüren, diese Stimmung gab es nicht. Es gab sie in Libyen, und es gibt sie heute im Iran, aber in Syrien gab es einen damals noch jungen Diktator (er ist auch heute noch ziemlich jung), an den sich Hoffnungen knüpften – und er hat ja auch wirklich eine gewisse Liberalisierung in Angriff genommen, vor allem im Bereich der Wirtschaft. Er hatte in London gelebt, dort studiert und als Arzt gearbeitet. Er war kein Isolationist, im Gegenteil: Die Regierungszeit des jüngeren Assad verbindet man mit einem vorsichtigen Umbau des arabischen Sozialismus zu einer zunehmend weltoffenen Marktwirtschaft. Damaskus Anfang der 2000er und Anfang der 2010er Jahre, das waren zwei völlig verschiedene Städte, und auch das Land insgesamt hatte sich verändert. Auf einmal gab es private Initiativen, es gab westliche Hotels, Restaurants, Handel – noch kein Starbucks Café, aber weit weg war auch das nicht mehr.

        Im Bezug auf die Ukraine wurde eine Unmenge von Mythen in die Welt gesetzt – in Bezug auf Syrien ist das anders. Hier konstruieren beide Seiten ihre Realität etwa im selben Maß.

        Das Wesen eines Regimes ist ja nicht das einzige, was zählt, man muss auch sehen, in welche Richtung es sich entwickelt. Das syrische Regime war vor dem arabischen Frühling dabei, sich zu liberalisieren, und eben deshalb hat es sich als so stabil erwiesen. Ben Ali war innerhalb von zwei Wochen weg vom Fenster, bei Mubarak dauerte es gerade einmal sechs Wochen, Gaddafi konnte sich vier Monate halten, und das auch nur, weil er die Hauptstadt verließ und sich ins Gebiet seines Clans zurückzog. In Syrien geht der Bürgerkrieg in sein fünftes Jahr. Ein blutiger Tyrann, der in einem Bürgerkrieg fünf Jahre lang die Hauptstadt kontrolliert, wird offensichtlich nicht nur von seinem eigenen Geheimdienst unterstützt, sondern auch noch von anderen Kräften. Hinter ihm stehen zumindest die 30 Prozent der Bevölkerung, die religiösen Minderheiten angehören: Sie sehen durch Assads Herrschaft ihr Überleben gesichert. Dazu kommt ein Teil der Sunniten, die ja auch nicht alle unter der Scharia leben wollen. Die Entscheidung zwischen der Scharia und einer säkularen Diktatur fällt nicht zwangsläufig zugunsten der ersteren aus. Es gab schließlich auch Afghanen, die die sowjetische Herrschaft der der Taliban vorzogen. Mich wundert das überhaupt nicht. Umfragen zufolge (wie genau deren Ergebnisse in Syrien derzeit sein können, ist natürlich schwer zu sagen) unterstützt etwa ein Viertel der syrischen Bevölkerung den IS.

        Warum hat sich die westliche Koalition dann so auf Assad eingeschossen?

        Das ist sehr die Frage. Ich vermute, die Vorgeschichte war in etwa die: Als erstes wurde Ben Ali abgesetzt – ein säkularer Diktator und prowestlicher Politiker, dann Mubarak, ebenfalls ein Partner des Westens, dann Gaddafi, der dem Westen verhasst war, aber gerade in seinen letzten Jahren angefangen hatte, die Beziehungen zum Westen zu normalisieren und westliche Ölfirmen ins Land zu lassen. Damals hatte man das Gefühl, auch Assad würde nicht mehr lang im Amt bleiben. Warum sollte man ihn also nicht stürzen? Syrien hatte ja fünfzig Jahre lang zum antiwestlichen Lager gehört, es war eher mit der Sowjetunion und dem Iran verbündet, der dem Westen gleichfalls eher unangenehm war. Aber die Wette auf den friedlichen Wandel ging nicht auf. Und im nächsten Schritt setzte die Dynamik der Verstrickung ein: Nachdem es nicht gelungen war, Assad mit Hilfe friedlicher Demonstrationen zu stürzen, nachdem Assad diese Demonstrationen gewaltsam niederzuschlagen begonnen hatten, musste man eben auf anderen Wegen helfen. Wenn man ständig in eine Partei eines Konflikts investiert, diese Seite aber nicht siegt, kann man ab irgendeinem Punkt, wenn die Investition zu groß geworden ist, trotzdem praktisch nicht mehr zurück. Natürlich ist Assad in den Jahren des Bürgerkriegs wirklich ein blutiger Tyrann geworden, seine Armee hat viele Menschen getötet. Andererseits haben die, die gegen ihn kämpften, ungefähr genauso viele Menschen getötet – oder zumindest so viele, wie sie konnten. Aber was die Zeit vor dem Bürgerkrieg angeht, können Sie die komplette westliche Presse durchforsten: Zwischen 2004 und 2011, grob gesagt, werden Sie nicht einen Hinweis auf Assad als Geschwür am Leib der Menschheit finden, selbst in den kritischsten Menschenrechtsberichten nicht. Assad wird dort in etwa derselben Weise kritisiert wie die Diktatoren der Nachbarländer auch.

        Eine massenhafte Unterstützung für das syrische Brudervolk zeichnet sich – anders als beim Thema Ukraine – in Russland nicht ab.

        Die Welt besteht ungefähr zur Hälfte aus illiberalen Regimen. Innerhalb dieser Gruppe gibt es aber verschiedene Entwicklungstendenzen, die man beobachten muss. Wenn ein Land nicht frei ist, folgt daraus, dass wir schleunigst für den Sturz des dortigen Regimes sorgen müssen? Oder sollten wir erst einmal sehen, wer dieses Regime ablösen könnte? In Syrien geht es ja nicht nur um einen Regimewechsel. Der Preis dafür sind 250.000 Menschenleben und 4 Millionen Flüchtlinge. Ob die Sache diesen Preis wert ist, ist sehr die Frage – zumal die Lage vorher nicht so schrecklich war. Es gab die regional üblichen Repressionen. Ich verstehe, dass man bei dem Wort „Repressionen“ gerechten Zorn empfindet, aber im Grunde sah es in jedem anderen unfreien Land ganz genauso aus. Zu Beginn des arabischen Frühlings war Syrien ein wesentlich angenehmerer Ort als Saudi-Arabien oder auch die Vereinigten Arabischen Emirate oder Katar, vom Jemen ganz zu schweigen. Die ganze Region wird autoritär regiert; mit Ausnahme von Israel, dem Libanon und der Türkei, die fast schon zu Europa gehört, gibt es dort keine Demokratien.

        Wer trägt die Hauptschuld an dem, was heute in Syrien geschieht?

        Der Westen sagt: Assad hätte gleich abtreten müssen, dann wäre es nicht zum Bürgerkrieg gekommen. Ben Ali und Mubarak sind gegangen, und es gab keinen Bürgerkrieg. Nur, warum sind sie gegangen? Nicht aus freien Stücken, sondern weil der Machtapparat und die Bevölkerung ihrer Hauptstädte nicht mehr hinter ihnen standen. In Damaskus gab es keine großen Demonstrationen, alles fing in kleineren Provinzstädten in der sunnitischen Zone an. Es war nicht so, dass die örtlichen Liberalen und Demokraten auf die Straßen der Hauptstadt gegangen wären und den Rücktritt des Diktators gefordert hätten. Wenn Sunniten in einem überwiegend sunnitischen Gebiet gegen die gottlose Hauptstadt demonstrieren, dann kann man diesen Vorgang nicht guten Gewissens als Demokratiebewegung beschreiben. Insofern unterschied sich der Fall Syrien schon vom Beginn des arabischen Frühlings an stark von den anderen Fällen – eine kritische Masse von Demonstranten in der Hauptstadt gab es dort nicht. Und dann, wer hat überhaupt eine Vorstellung von den Namen und Gesichtern, die die syrische Demokratiebewegung ausmachen? Der Krieg dauert schon über vier Jahre, aber diese Leute sind im Grunde nicht vorhanden, oder nur sehr schemenhaft. Es gibt Sprecher, es gibt eine Leitung, aber Führer der Demokratiebewegung, bekannte Gesichter, Identifikationsfiguren, gibt es nicht. Wir haben also auf der einen Seite eine säkulare Diktatur, und auf der anderen etwas ziemlich Undefinierbares.

        Der Westen sieht sich das derzeit an und überlegt, inwieweit das zutrifft und ob man Russland vertrauen kann.

        Wäre es auch zu einem Bürgerkrieg gekommen, wenn Assad zurückgetreten wäre? Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten. Für einen Zerfall des Staates gab es in Syrien, wie auch in Libyen, durchaus eine Menge Voraussetzungen. Es gibt dort eine kurdische Zone, eine schiitische, eine alawitische und eine sunnitische. Die Leute hätten sich auch ohne Assad einfach gegenseitig abschlachten können, so wie man es im benachbarten Libanon zwanzig Jahre lang getan hat. Dafür braucht man keinen Diktator.

        Die offizielle Position Russlands im Syrienkonflikt ist also ganz angemessen?

        Wenn wir Syrien mit der Ukraine vergleichen, dann ist Russlands Position im ersten Fall wesentlich angemessener. Im Bezug auf die Ukraine wurde eine Unmenge von Mythen in die Welt gesetzt – in Bezug auf Syrien ist das anders. Hier konstruieren beide Seiten ihre Realität etwa im selben Maß. Der furchtbare, bei allen verhasste Assad ist ungefähr genauso eine Konstruktion wie eine Opposition, die ausschließlich aus Al-Qaida-Anhängern besteht. Aus dem, was man von russischen Regierungssprechern und Diplomaten hört, spricht nicht weniger vernünftige Einschätzung der Situation als aus den Reden von John Kerry.

        Mit der Intervention in Syrien hat Russland sich aus einem Land, das Krieg gegen die Ukraine führt, in eines verwandelt, das die Islamisten bekriegt – ein wesentlich ehrenhafterer Status. Ein Ende des Krieges in der Ukraine würde an den Sanktionen natürlich nichts ändern und an der Rhetorik ebensowenig, aber bis dahin wird das alles schon Schnee von gestern sein. Man wird Russland nicht daran hindern, den IS zu bekämpfen, man wird nur verlangen, dass es die von der Opposition kontrollierten Gebiete nicht anfasst. Idealerweise werden auch die USA ihren Juniorpartnern das Signal geben, Assad in Ruhe zu lassen und sich auf den IS zu konzentrieren. Das Problem der Staatsführung muss man später lösen: Assad jetzt zu stürzen, wo der IS in den Vororten von Damaskus steht, wäre reiner Wahnsinn und völlig unverantwortlich, es würde nur zu noch mehr Blutvergießen führen. Dass man allerdings nach dem Ende des Konflikts nicht zum Vorkriegszustand zurückkehren kann, dem stimme ich absolut zu. Nach einem Bürgerkrieg kann nicht eine der Konfliktparteien friedlich regieren. Verantwortliches Handeln bestünde in meinen Augen jetzt darin, die Opposition und die Regierung daran zu hindern, sich gegenseitig auszuradieren. Beide Koalitionen – der Westen, die Opposition und die Kurden auf der einen Seite, und Assad, Russland und der Iran auf der anderen – müssen den IS zerschlagen und sich dann auf eine Übergangsregierung einigen, die verschiedene Kräfte einschließt. Und wahrscheinlich auch auf einen Rücktritt Assads, der das Land immerhin auch schon 15 Jahre regiert – lang genug. Aber bevor man die Haut der Hydra aufteilt, muss man sie erst einmal erlegen – und davon sind wir weit entfernt.

        Welche Ziele verfolgt Russlands Führung in Syrien, und wie wird ihr Vorgehen im Inland wahrgenommen?

        Eine massenhafte Unterstützung für das syrische Brudervolk zeichnet sich – anders als beim Thema Ukraine – in Russland nicht ab. Eine Ausnahme sind allenfalls die Patrioten unter den Politologen, die am liebsten ständig die Seekriegsflotte irgendwohin entsenden würden, weil wir schließlich eine Großmacht sind. In der Bevölkerung allgemein ist die Unterstützung dagegen ziemlich gering. Den Amerikanern zeigen, wo der Hammer hängt – ja, aber unsere Jungs nach Syrien schicken – damit erreicht man keine 86 Prozent Zustimmung. Wir haben es hier also nicht mit einem Versuch zu tun, die Umfragewerte [des Präsidenten – dek] zu verbessern und das Land zusammenzuschweißen. Das Ziel ist vielmehr ein diplomatisches: Es geht darum, die Isolation zu überwinden, in die Russland nach der Krim, dem Donbass und der Boeing geraten ist. Man versucht, ein neues Kapitel anzufangen, und wie wir sehen, durchaus mit Erfolg. Dahinter steht der Wunsch, sich mit dem Westen zu versöhnen, aber nicht, indem man auf Knien angekrochen kommt, sondern indem man seinen Einfluss und seine Unentbehrlichkeit demonstriert. Der Westen sieht sich das derzeit an und überlegt, inwieweit das zutrifft und ob man Russland vertrauen kann. Haben die Russen sich wieder einmal wie Leute verhalten, die nicht nach den Regeln spielen – oder wie eine eigenständige Macht, die sich dem amerikanischen Führungsanspruch zwar entzieht, mit der man aber trotzdem etwas zu tun haben kann? Wenn es keinerlei Chance einer Verständigung gäbe, dann hätten sich wohl weder Putin und Obama noch Lawrow und Kerry getroffen.

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