Repressionen, hohe Haftstrafen, Unterdrückung – so versucht Alexander Lukaschenko, die belarussische Gesellschaft einzuschüchtern und damit unter Kontrolle zu halten. Ein Szenario wie 2020 soll sich nach dem Willen der Machthaber möglichst nicht wiederholen. Dafür bringt Lukaschenko sein System zusehends auf den Weg des Totalitarismus. Kann dies aber langfristig funktionieren? Vor 2020 hielt ein Gesellschaftsvertrag das autoritäre System mit der Gesellschaft zusammen. Der Deal: Lukaschenko sorgt für eine gewisse wirtschaftliche Stabilität und einen bescheidenen Wohlstand, im Gegenzug verzichten die Menschen weitgehend auf demokratische Freiheiten.
Was aber hat der Staat der Bevölkerung nun zu bieten? Und was bedeutet Lukaschenkos häufig zu vernehmende Beschwörungsformel von der Einheit von Silowiki und dem Volk in dieser Hinsicht? Igor Lenkewitsch macht sich für das Online-Medium Reform.by auf die Suche nach Antworten.
„Sehr wichtig ist jetzt die Einheit von Geheimdiensten, dem Block der Miliz und unserem Volk. Dann werden wir es leichter haben“, erklärte Alexander Lukaschenko bei einem Besuch der Gedenkstätte in Chatyn. Wer ist hier „wir”? Und warum wird es leichter? Und folgt aus dem Gesagten, dem Regime ist bewusst, dass es keine Einigkeit zwischen Miliz und Bevölkerung gibt?
„Die Miliz und das Volk“, diese Parole war bei den Protestaktionen in Belarus oft erklungen. Damals hatte die Gesellschaft noch auf die Silowiki, die Sicherheitskräfte gehofft. Sie hatte geglaubt, dass sie nicht auf friedliche Bürger losgehen werden. Die Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Die Silowiki haben sich entschieden, das wankende Regime zu unterstützen. Und danach fanden sie sich zusammen mit dem Regime in einem sehr engen Korridor wieder: Zum Machterhalt blieben keine anderen Argumente als Repressionen. Die seit ihrem Beginn schon mehrere Jahre anhalten, wobei menschliche Schicksale gebrochen werden und die Gesellschaft gespalten wird. Die Regierung versucht weiterhin, die Situation mit Gewalt zu ihren Gunsten zurechtzubiegen. Nun kann man zwar mit Repressionen aktive Proteste unterdrücken, doch ist es nicht möglich, die Menschen dadurch unter der Flagge zu vereinen. Wozu dann diese Aufrufe zur Einheit?
„Und von welcher Einigkeit spricht Lukaschenko?”
Das Problem der Spaltung wird für die belarussische Gesellschaft immer aktueller. Zu einem Dialog für eine nationale Aussöhnung hatte bereits der Menschenrechtler und Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki in seinem Schlusswort vor Gericht aufgerufen. Von einer notwendigen nationalen Aussöhnung zur Wahrung der Unabhängigkeit von Belarus hatte in einem offenen Brief auch Iossif Sereditsch, der Chefredakteur von Narodnaja Wolja, geschrieben.
Auch Alexander Lukaschenko erinnert oft an die Bedeutung einer Einigung. Allerdings verbergen sich hinter solchen Formulierungen andere Begriffe. Bjaljazki und Sereditsch sagen, dass das Land in eine Sackgasse geraten ist, dass ein gleichberechtigter Dialog zwischen allen politischen Kräften vonnöten ist und eine Amnestie für alle politischen Gefangenen. Und von welcher Einigkeit spricht Lukaschenko? Von einer Einigkeit der Geheimdienste, der Sicherheitskräfte und der Bevölkerung. Da geht es nicht um „Die Miliz und das Volk“. Und der Sinn verkehrt sich hier sofort ins Gegenteil.
Das ist ein ganz grundlegender Unterschied. Während die demokratischen Kräfte von einem Dialog sprechen, meint das Regime Unterwerfung. Eine widerspruchslose Unterwerfung. Einigkeit ist hier eine Art Stockholm-Syndrom, wenn das Opfer anfängt, sich für den Angreifer einzusetzen. Die Bevölkerung soll die Silowiki unterstützen, die eben diese Bevölkerung peinigen.
Die Repressionen im Land werden nicht nur nicht schwächer, sondern es wird im Gegenteil die Schlagzahl erhöht. Experten des Wirtschaftsforschungsinstituts BEROC heben hervor, dass die Zahl der von Menschenrechtlern registrierten politisch motivierten Festnahmen weiter zunimmt. Wenn die Silowiki im Sommer vergangenen Jahres noch im Schnitt 100 bis 120 Personen pro Monat festnahmen, waren es im Herbst dreieinhalb Mal so viel. Auch die Zahl der politisch motivierten Gerichtsverfahren steigt und die Haftstrafen werden härter. Es gibt jetzt die Tendenz zu „Firmenfestnahmen“, bei denen sich die Sicherheitskräfte gleich eine ganze Reihe von Mitarbeitern eines Unternehmens schnappen, und zwar von ganz unterschiedlichem Profil. Die Behörden verfolgen die Verwandten der politischen Gefangenen. Die Repressionen gegen Anwälte und Medien hat ein neues Level erreicht. Das alles lässt sich ohne Übertreibung nur als Massenterror bezeichnen.
„Wir leben in einem waschechten Stalinismus”
Politische Gegner, Experten, Journalisten werden vom Regime zu Gefängnisstrafen von 10, 12, 15 oder mehr Jahren verurteilt. Fehlt nur noch, dass wieder Erschießungen stattfinden. Für Landesverrat wurde schon die Todesstrafe eingeführt. Bislang zwar nur für Staatsdiener, doch wer garantiert uns, dass die Liste derjenigen, die unter dieses Gesetz fallen, nicht länger wird? Schauen wir doch der Wahrheit ins Gesicht: Wir leben in einem waschechten Stalinismus.
Aus Lukaschenkos Erklärung können wir eines schließen: das Regime weiß sehr wohl, dass die Silowiki, auf die es sich stützt, und ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft auf verschiedenen Seiten der Barrikaden stehen. Und die Kluft zwischen ihnen wird immer tiefer. Doch mit den Repressionen aufzuhören, hieße, die Macht zu verlieren.
Und was versteht das Regime eigentlich unter „Einigkeit“? Junge Pioniere, die härteste Strafen für „Verräter“ fordern. Versammlungen der Belegschaften, die glühend für harte Urteile eintreten. Denunziation von „grässlichen Weiß-rot-weiß-lern“. Und Unterstützung für der Repressionen. Das wäre nach Lukaschenkos Verständnis Einigkeit. Und er lügt keineswegs, wenn er sagt, es würde „leichter für uns“. Wenn ein Teil der Gesellschaft aktiv den anderen denunziert, wenn die Saat des Misstrauens und der Angst ausgebracht und aufgegangen ist, einer Angst nicht nur vor den Strafbehörden, sondern auch vor Nachbarn, Kollegen und Freunden, dann ist es für das Regime sehr viel einfacher, an der Macht zu bleiben. „Einigkeit“ ist hier nicht mehr als ein schönes Wort. Es bedeutet, dass man sich den allmächtigen Silowiki beugt. Und die Angst, einen Schritt nach links oder rechts zu machen – weil dann die Wachmannschaften ohne Vorwarnung das Feuer eröffnen.
Keine horizontalen Strukturen, keine Zusammenarbeit. Jeder hat Angst vor jedem. Das ist es, was die Einigkeit mit den Silowiki bedeutet. Also die uralte Maxime „teile und herrsche“, die auf eine weitere Spaltung der Gesellschaft abzielt.
Ausgerechnet am 25. März verkündete Wladimir Putin, noch in diesem Jahr Atomwaffen in Belarus stationieren zu wollen. An diesem Tag begeht die belarussische Opposition traditionell den Dsen Woli, um an die Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik im Jahr 1918 und damit an die Unabhängigkeit des Landes zu erinnern. Diese sehen viele durch den Kreml bedroht, seitdem Alexander Lukaschenko sich nach den Protesten von 2020 in eine unheilvolle Abhängigkeit von Russland manövriert hat. So ließ er in einer höchst umstrittenen Reform den Passus aus der 1994 stammenden Verfassung streichen, der Belarus als „Nuklearwaffen-freie” Zone deklarierte. Zudem hatte Lukaschenko in jüngerer Zeit dem Westen häufiger damit gedroht, Belarus als Standort für russische Atomwaffen zur Verfügung stellen zu wollen.
Ganz unerwartet kommt Putins Ankündigung also nicht. Bedeutet dieser Schritt im russischen Krieg gegen die Ukraine eine weitere Eskalation mit dem Westen und der NATO? Welche Folgen hätte die Stationierung für Belarus und Lukaschenko, der jetzt schon auf verschiedenen Ebenen in den Krieg verstrickt ist? Für das belarussische Medium Zerkalo beantwortet der Politikanalyst Artyom Shraibman diese und weitere Fragen.
Wladimir Putins Entscheidung, taktische Atomwaffen in Belarus zu stationieren, kam nicht völlig unerwartet, schon deshalb, weil Alexander Lukaschenko im vergangenen Jahr mehr als einmal davon gesprochen hatte.
Es ist nicht das erste Mal, dass er Putin präventiv zur Eskalation einlädt, indem er aus „Der Kreml hat entschieden“ ein „Wir haben vereinbart“ macht. Genauso war es im Februar vergangenen Jahres mit den Truppenübungen, aus denen ein Krieg wurde, und im Herbst mit der Einladung russischer Truppen [nach Belarus – dek] zur Formierung einer gemeinsamen Einheit. Diese Truppe wurde schließlich zum Deckmantel für die Ausbildung russischer Mobilisierter auf belarussischen Übungsplätzen.
Interessanterweise formulierte Lukaschenko im September Bedingungen für die Stationierung von Atomwaffen im Land, die aber nicht erfüllt wurden. Damals sagte er, im Falle eines Angriffs auf Belarus oder einer Stationierung von Atomwaffen in Polen durch die USA, sollte es auch in Belarus welche geben. Als Begründung für Putins Entscheidung werden nun tatsächlich Lieferungen von Munition mit abgereichertem Uran an die Ukraine angeführt – dabei handelt es sich allerdings um Geschosse, die mit Nuklearwaffen nichts gemein haben.
Durch die Drohung, in Belarus Atomwaffen zu stationieren, versucht Putin, mit dem Westen zu sprechen
Das ist ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass nicht Lukaschenko festlegt, wann und warum zum ersten Mal seit den 90er Jahren Atomsprengköpfe nach Belarus zurückkehren, seien es auch nur taktische, also von der Kraft her geringere als strategische Raketen, die zu Beginn von Lukaschenkos Regierungszeit abgezogen wurden.
Durch die Drohung, in Belarus Atomwaffen zu stationieren, versucht Putin, mit dem Westen zu sprechen. Ein Vergleich des militärisch-industriellen Potenzials Russlands und seiner Verbündeten auf der einen und der Koalition der Verbündeten der Ukraine auf der anderen Seite ist unmöglich. Eine Niederlage in diesem Krieg kann Putin nur durch die Müdigkeit oder den Unwillen des Westens abwenden, die ukrainischen Streitkräfte mit Waffen zu beliefern. Besondere Bedeutung hätte eine Unterbrechung der Lieferungen vor der nächsten ukrainischen Offensive.
Alle Optionen für eine nichtatomare Eskalation hat Putin ausgeschöpft. Die Mobilisierung hat zu keinem Durchbruch auf dem Schlachtfeld geführt, im Rahmen der russischen Winteroffensive wurden einige wenige zerstörte Kleinstädte und Dörfer bei Awdijiwka und Bachmut eingenommen. Zehntausende Söldner und Soldaten wurden im Fleischwolf vergeudet. Eine zweite Mobilisierungswelle kann nicht so schnell und einfach verlaufen wie die erste. Alle, die kämpfen wollten oder auf das schnelle Geld hofften, sind mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits an der Front. Immer mehr russische Einheiten beklagen einen Mangel an Waffen. Allem Anschein nach gibt es nicht mehr genug Raketen und Drohnen, wie noch im Oktober und November, als massiv und regelmäßig geschossen wurde. Und ihre Effektivität wird von der mit westlichen Systemen gepäppelten ukrainischen Flugabwehr zunichte gemacht.
Die Mobilisierung hat zu keinem Durchbruch geführt. Zehntausende Söldner und Soldaten wurden im Fleischwolf vergeudet
Bleibt also die atomare Drohung. Putin hat nicht zufällig eine klare Deadline formuliert: Die Basis für die taktischen Nuklearsprengköpfe in Belarus wird bis zum 1. Juli fertig sein. Iskander-Marschflugkörper stehen bereit, Piloten bilden wir aus, und dann werden die Nuklearwaffen in 200 bis 300 Kilometer Entfernung von Kyjiw stehen. Voilà, NATO, drei Monate Zeit, denkt euch was aus. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Westen mit der Wimper zuckt, ist minimal. Im Laufe der letzten Monate ist seine Entschlossenheit, die Ukraine mit Waffen und Gerät zu beliefern, nur gewachsen. Und das bedeutet, dass wir zur Jahresmitte hin tatsächlich die demonstrative Stationierung von russischen Nuklearwaffen in Belarus erleben werden.
Für uns wird das Folgen auf mehreren Ebenen haben: militärisch, außen- und innenpolitisch.
Die Belarussen lehnen jegliche Eskalation ab
Stellt man sich einen Ausgang des russisch-ukrainischen Krieges auf der Ebene einer direkten Konfrontation zwischen NATO und Russland vor, dann gibt es aus militärischer Sicht keinen Zweifel, dass Depots, Abschussvorrichtungen und Militärflugplätze auf belarussischem Gebiet zum Ziel (mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem der ersten Ziele) von NATO-Raketenschlägen werden. Die Stationierung von Nuklearwaffen beseitigt die Ungewissheit in dieser Frage: Niemand wird eine solche Bedrohung in der Nähe von Warschau, Vilnius, Kyjiw und Riga zulassen.
Innenpolitisch bedeutet die Stationierung russischer Atomwaffen für Minsk einen Schritt neuer Qualität in Richtung der intensiveren Beteiligung am russischen Krieg. Fast ein halbes Jahr lang hat Lukaschenko sich damit zurückgehalten. Im Oktober waren tausende russische neumobilisierte Soldaten ins Land gekommen, dafür hatte es seitdem keinen bestätigten Beschuss der Ukraine von belarussischem Territorium und Luftraum aus gegeben.
Dadurch, dass das Maß der Kriegsbeteiligung nicht weiter eskalierte, konnte Minsk im westlichen Lager Zweifel säen, ob die Sanktionen gegen Russland und Belarus nicht entsprechend angeglichen werden sollten. Polen und die baltischen Staaten bestehen darauf, doch die Ukraine, viele europäische Staaten und sogar die USA halten eine Differenzierung zwischen Putin und Lukaschenko für sinnvoll. Einige EU-Mitglieder setzen sich gar dafür ein, belarussisches Kali von Sanktionen auszunehmen.
Die Stationierung von Atomwaffen in Belarus wird die Position der prorussischen Hardliner ganz offensichtlich stärken. Denn es ist ein klares Signal an den Westen, dass es nichts gebracht hat, auf neue Sanktionen gegen Belarus zu verzichten – Lukaschenko hat es nicht davon abgehalten, sich Russland militärisch weiter anzunähern. Es ist gut möglich, dass sowohl die EU als auch die USA die drei Monate, die Putin ihnen als Bedenkzeit zugesteht, nutzen werden, um Lukaschenko ebenfalls Bedenkzeit zu geben, ob er weitere Ergänzungen in seinem Paket von Sanktionspaketen haben will. Doch da Minsk in diesen Fragen ganz klar nicht das Entscheidungszentrum darstellt, ist schon jetzt klar, worauf die gegenseitigen Reaktionen abzielen werden..
Genauso vorhersehbar wird die Bewertung dieses Schritts in der belarussischen Bevölkerung sein. Meinungsforscher sind zwar uneinig, inwieweit Umfragen in einer Diktatur zu Kriegszeiten belastbar sind, doch in einigen Fragen zweifelt niemand die Existenz eines nationalen Konsenses (oder etwas, was dem sehr nahekommt) an. Ein Beispiel ist, dass eine erdrückende Mehrheit der Belarussen eine Beteiligung der eigenen Armee am Krieg in der Ukraine ablehnt. Zu diesem Ergebnis kommen absolut alle Umfragen, sowohl telefonisch als auch online, die seit Anfang 2022 durchgeführt wurden, und es bleibt von Monat zu Monat stabil. Es besteht kein Spielraum für Ergebnisverzerrungen.
Bei der Frage der Stationierung von Atomwaffen in Belarus sieht es ähnlich aus. In Umfragen, die Chatham House im Zeitraum von März bis August 2022 durchführte, war nur jeder Fünfte bereit, eine solche Entscheidung zu unterstützen, 80 Prozent sprachen sich dagegen aus. Aktuellere Daten gibt es nicht, doch berücksichtigt man die stabilen Ergebnisse des ersten Kriegshalbjahres, gibt es keinen Grund zur Annahme, dass sich danach eine grundsätzliche Veränderung ergeben haben könnte.
Für die Propaganda wird es extrem schwierig sein, die Stationierung von Atomwaffen als Stärkung der nationalen Sicherheit zu verkaufen
Die Ursachen für diese Einstellung liegen auf der Hand. Selbst viele prorussische Belarussen, die Putins „Spezialoperation“ befürworten (ihr Anteil liegt in diesen Umfragen bei 35 bis 40 Prozent), verstehen, wie riskant es ist, Brückenkopf für Nuklearwaffen zu sein. Diejenigen, die neutraler oder proukrainisch eingestellt sind, begreifen das ohnehin. Für die Propaganda wird es extrem schwierig sein, die Stationierung von Atomwaffen als Stärkung der nationalen Sicherheit zu verkaufen. Selbst wenn man eine maximal effektive Wirkung des Fernsehens annimmt, wird höchstens ein Viertel oder ein Drittel der belarussischen Bevölkerung diese Maßnahme befürworten, was Lukaschenko mit einer Minderheit zurücklässt.
Langsam erodieren wird hingegen die Unterstützung, die die Regierung einigen Umfragen zufolge dank des gestiegenen Interesses der Belarussen an Frieden und Nichtbeteiligung am Krieg gewonnen hatte.
„Jetzt werden sie uns noch mehr fürchten“
Lukaschenko hat bereits eine in der Bevölkerung unpopuläre Entscheidung getroffen, als er das Aufmarschgelände für den Angriff und Beschuss der Ukraine bot (laut Daten von Chatham House unterstützten das nur 10 bis 15 Prozent). Damals entschied die Regierung klugerweise, diese Raketenangriffe zu verschweigen, und die Propaganda fokussierte sich darauf, dass Belarus Vorschläge für Friedensinitiativen einbringt, keine Soldaten an die Front schickt und ukrainische Flüchtlinge aufnimmt.
Über das tatsächliche Maß der belarussischen Beteiligung am Krieg erhielten so nur diejenigen regelmäßig Informationen, die im Süden von Belarus lebten, von wo die Raketenangriffe geführt wurden, und die immer geringer werdende Zahl von Rezipienten unabhängiger Medien. Doch wie soll man vor dem loyalen, politisch uninteressierten Fernsehzuschauer eine solche Nachrichtenbombe wie die Stationierung von Nuklearwaffen im Land verbergen? Vor allem, wenn Putin offen davon spricht und Lukaschenko das Thema schon seit einem Jahr antreibt. Daher wird die Regierung eher versuchen, „aus Gebrechen Großtaten zu machen“, wie es der Oberst im Kultfilm DMB formuliert, und ihren Befürwortern etwas erzählen wie: „Jetzt werden sie uns noch mehr fürchten“, und „denen machen wir die Hölle heiß.“
Lukaschenko schafft selbst die Basis dafür, dass die Belarussen ihn loswerden wollen
Doch Militarismus kann keine Bevölkerung beruhigen, die sich auf die Forderung nach Frieden und Ruhe geeinigt hat. Angst und Sorge sind scheußlich, selbst wenn der Schützengraben, in dem du sitzt, dir moralisch nahesteht – wenn deine Hauptforderung ist, überhaupt nicht in Schützengräben zu sitzen. Je mehr Lukaschenko mit einem Anstieg der Kriegsgefahr für Belarus assoziiert wird, desto größer werden auch die potenziellen Chancen für Politiker – heute oder in der Zukunft – die Vorschläge machen, wie die Gefahren und die dadurch ausgelösten Ängste abnehmen können.
Indem er in einem fremden Krieg den Verbündeten spielt, schafft Lukaschenko selbst die Basis dafür, dass die Belarussen ihn loswerden wollen. Und zwar nicht, weil die Wirtschaft nicht läuft oder die Sicherheitskräfte über die Stränge schlagen, sondern aus demselben Grund, aus dem sie ihn damals gewählt haben. Damit im Land Frieden und Stabilität herrschen.
Die einen würden am liebsten eine gigantische Mauer um Russland bauen, während andere insgeheim darauf hoffen, dass alles möglichst bald wieder so weiter gehen möge wie vor dem russischen Überfall auf die Ukraine vor einem Jahr. Wie kann ein Miteinander in Europa aussehen, wenn nach Putin womöglich der nächste Putin kommt? Wie kann die russische Gesellschaft Angst und Hilflosigkeit überwinden und welche Rolle spielt dabei die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur? Darum geht es im zweiten Teil des großen Meduza-Interviews mit dem Moskauer Soziologen Grigori Judin, der darin auch leise Hoffnungen auf ein „unausweichliches neues Russland“ äußert.
Margarita Ljutowa: Wie hat sich im vergangenen Jahr das Bild von Putin und Russland im Westen verändert? Meinen Sie, man hat jetzt das Ausmaß der Bedrohung begriffen, das bis 2022 wohl unterschätzt wurde?
Grigori Judin: Bisher wurde zugegeben, dass die vormals herrschenden Vorstellungen [über Russland] grundfalsch waren. Was daraus folgt, muss sich erst noch zeigen. Wir müssen bedenken, dass niemand auf diese Entwicklung vorbereitet war und daher noch immer ein reaktives Verhalten überwiegt.
Es gibt eine unübersehbare „Partei des 23. Februar“: Das sind Leute, die die Aggression verurteilen, sich aber wünschen, dass das alles irgendwie vorbeigeht und man dann wieder weitermachen kann wie früher. Das ist in erster Linie das globale Kapital, das nicht versteht, wieso es wegen irgendeiner Ukraine Geld verlieren soll. Ein beachtlicher Teil der westeuropäischen Geschäftswelt macht keinen Hehl daraus, dass das ein optimales Szenario wäre, und erwartet, dass die Ukraine endlich einen Teil ihres Territoriums abgibt.
Aufrufe zu Verhandlungen sind momentan aussichtslos, weil Wladimir Putin der Meinung ist, diesen Krieg zu gewinnen
Die einen versuchen, die Ukraine offen unter Druck zu setzen (solche Initiativen gibt es, wenn auch nicht vorherrschend, in Deutschland), die anderen warten einfach darauf, dass die Widerstandskraft versiegt. Aufrufe zu Verhandlungen sind momentan aussichtslos, weil Wladimir Putin der Meinung ist, diesen Krieg zu gewinnen, und er nicht vorhat, mit jemandem zu reden. Wenn für ihn jedoch die Zeit kommt, seine Eroberungen abzusichern, dann wird die Situation eine andere Wendung nehmen – und er weiß von diesen Stimmungen [im Westen – dek], er weiß, dass er sie bei Bedarf jederzeit für sich nutzen kann.
Putin weiß von diesen Stimmungen, er weiß, dass er sie bei Bedarf jederzeit für sich nutzen kann
Viele Politiker sehen das anders und wissen um die Gefahren eines solchen Szenarios. Um ihm jedoch eine Alternative anzubieten, bräuchte man eine Art Zukunftsvision, nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Russland und den gesamten Kontinent. Und da kommt es zu Schwierigkeiten. Der am stärksten in den Krieg involvierte Teil Europas besteht darauf, dass Russland keine andere Zukunft haben kann – es ist für sie ein „genetisch geschädigtes“ Land, das dazu verdammt ist, eine Gefahr darzustellen. Nach Putin kommt wieder Putin – in dem Punkt stimmen die Vertreter dieser Position mit [dem Sprecher der Staatsduma] Wjatscheslaw Wolodin überein. Die Bilder von der bestialischen Brutalität der russischen Soldaten verstärken solche Sichtweisen.
Aber was folgt daraus? Natürlich könnte man rund um Russland eine Mauer bauen und sie mit Maschinengewehren bewachen. Dann wäre es aber in der gesamten Region vorbei mit der Sicherheit, denn das Ergebnis wäre entweder ein unvermeidlicher Revanchismus oder ein langwieriger Bürgerkrieg, und man kann nicht abschätzen, was davon für alle schlimmer ist.
Natürlich könnte man um Russland eine Mauer bauen. Das Ergebnis wäre entweder ein unvermeidlicher Revanchismus oder ein langwieriger Bürgerkrieg
Rational denkende Menschen wie [der französische Präsident] Emmanuel Macron verstehen, dass man Sicherheit nicht erzielen kann, ohne Russlands Interessen zu berücksichtigen. Weil aber Macron auch davon überzeugt ist, dass Russland immer einen Putin haben wird, kommt er zu dem logischen, aber absolut aussichtslosen Schluss, dass man mit Putin verhandeln muss. Und tatsächlich, solange niemand Russland von der Landkarte tilgen will und zwischen Russland und Putin ein Gleichheitszeichen steht, wird man Putin entgegenkommen müssen. Jene Menschen, die mit Schaum vorm Mund allen einzureden versuchen, dass Russland zum ewigen Putin verdammt ist, bekommen am Ende konsequenterweise Spitzenpolitiker, die Verhandlungen mit Putin anstreben – obwohl sie allem Anschein nach das genaue Gegenteil erreichen wollen.
Diesen Knoten wird man nicht lösen können, solange die Frage nach der Vertretung von Russlands Interessen im Raum steht. Russland hat wie jedes andere Land auch ein Recht auf Sicherheitsgarantien – alles andere führt zu Instabilität. Es ist natürlich sinnlos, dieses Thema mit Putin zu besprechen. Um also zu einer Strategie zu finden, muss man sich ein Russland ohne Putin klar vor Augen führen – ein Russland, mit dem man Gespräche führen kann, wie es Wolodymyr Selensky nüchtern formuliert.
Um zu einer Strategie zu finden, muss man sich ein Russland ohne Putin klar vor Augen führen – ein Russland, mit dem man Gespräche führen kann
Das wird übrigens endlich die Voraussetzung dafür schaffen, dass die feigen russischen Eliten aktiv werden. Gerade die müssen sich vergegenwärtigen, dass ihre Zukunft nicht von einem Menschen allein abhängt, dass Russland irgendwann auch ohne Putin weiterbestehen wird. Solange Russland mit seiner jetzigen Regierung gleichgesetzt wird (oder genauer gesagt, nicht einmal mit der Regierung, sondern mit dem einen Menschen, der seinen Sicherheitsrat mit dem Angriff auf die Ukraine in einen totalen Schock versetzt hat), ist kein Ausweg in Sicht. Im Interesse aller muss man das eine vom anderen trennen. Der einzige Mensch, der ein Interesse an dieser Gleichsetzung hat, ist Wladimir Putin.
Was kann man machen, um diese Gleichsetzung aufzuheben? Man denkt da sofort an Belarus, das nach den Massenprotesten wohl von niemandem mehr mit Lukaschenko gleichgesetzt wird. Braucht es also Massenproteste? Oder irgendeine Exilregierung, die der Welt den Entwurf eines neuen Russland präsentiert?
Diese beiden Dinge schließen einander nicht aus. Sicherlich würde eine ernstzunehmende Bewegung wie in Belarus, die endlich den tyrannischen Charakter dieser Regierung aufdeckt, zweifellos helfen. Eine solche Bewegung kann aber auch angeregt werden, indem man ein alternatives Russland skizziert. Zumal die Voraussetzungen dafür, wie mir scheint, gar nicht so schlecht sind: Wladimir Putin repräsentiert mit seinem absolut weltfremden, seltsamen, paranoiden Blick auf die Geschichte natürlich nicht ganz Russland. Russland ist ein ziemlich großes Land, es verfügt über genügend Ressourcen, junge, aktive Schichten, die die Welt mit ganz anderen Augen sehen. Putin versucht mit aller Kraft, das unausweichliche neue Russland zu verhindern, in dem für ihn kein Platz sein wird.
Wladimir Putin repräsentiert mit seinem absolut weltfremden, seltsamen, paranoiden Blick auf die Geschichte natürlich nicht ganz Russland
Nach zwei Jahrzehnten unter Putin verlieren die Russen natürlich die Fähigkeit, sich etwas anderes vorzustellen. Aber das Leben wird dafür sorgen, dass wir unsere Phantasie ein bisschen mehr anstrengen. Unser Land ist in eine Sackgasse geraten, mit der Zeit werden wir nicht umhinkommen, das zu begreifen. Wir haben einfach noch ein paar Meter vor uns, also bewegen wir uns weiter. Aber es ist eine Sackgasse, sie führt nirgendwohin.
Als wir vor diesem Interview unsere Gesprächsthemen festlegten, sagten Sie zur Frage des aktuellen Zustands der russischen Gesellschaft, zu ihrer Atomisierung, zur kollektiven Handlungsunfähigkeit, dass das Reden über das Gefühl der erlernten Hilflosigkeit nur noch verstärken würde, was Sie aber vermeiden wollen. Gibt es Methoden, zu der Gesellschaft zu sprechen, ohne dieses Ohnmachtsgefühl zu nähren?
Während die primäre Emotion in Russland Kränkung ist, ist der stärkste Affekt, um den sich heute alles dreht, die Angst. Existenzielle Angst – Angst vor dem Zorn eines konkreten Menschen oder Angst vor dem Krieg, und eine abstraktere Angst vor dem Chaos. Angst, multipliziert mit der Gewissheit, dass der Tyrann allmächtig ist und auf jeden Fall bekommt, was er will: Bisher hat er es immer bekommen, also wird es auch weiterhin so sein. Diese mit Hoffnungslosigkeit multiplizierte Angst, die braucht eine Antwort.
Die mit Hoffnungslosigkeit multiplizierte Angst braucht eine Antwort
Angst treibt man mit Hoffnung aus. Das ist der gegenteilige Affekt. Man muss den Menschen Hoffnung geben. Insofern sind die nachvollziehbaren, begründeten Vorwürfe [gegen die Menschen in Russland] politisch perspektivlos. Noch mal: Sie sind verständlich, begründet und legitim, aber politisch aussichtslos. Wir haben es mit Menschen zu tun, die von ihrer eigenen Machtlosigkeit überzeugt und verängstigt sind, und Sie wollen ihnen noch zwei Kilogramm Schuld aufladen. Was soll dabei herauskommen?
Die Frage ist, wie man in dieser Situation Hoffnung gibt. Die Hoffnung besteht gerade darin, zu zeigen, dass die Dinge anders sein, dass Russland anders aussehen könnte. Und die Wahrheit ist: Solange die Menschen in Russland nicht begreifen, dass sie sich in einer Sackgasse befinden, haben sie keine Motivation, etwas darüber zu hören – denn das macht ja Angst, dann müssten sie etwas am Status quo ändern. Und der ist bedrohlich genug, um sich nicht mit ihm anzulegen.
Solange die Menschen in Russland nicht begreifen, dass sie sich in einer Sackgasse befinden, haben sie keine Motivation, etwas darüber zu hören, dass die Dinge anders sein, dass Russland anders aussehen könnte
In Russland ist jeder normative Diskurs längst im Keim erstickt: Es ist schon lange so gut wie unmöglich, danach zu fragen, wie man eine Gesellschaft aufbauen sollte, wie das auf gerechte, ehrliche und gute Weise gelingt. Schon vor Jahren haben mir Menschen [bei Umfragen] auf solche Fragen geantwortet: „In Russland? Gar nicht.“ Das zeigt, dass der normative Diskurs unterdrückt ist, aber die Nachfrage danach wird unweigerlich steigen, je mehr den Menschen diese Sackgasse bewusst wird. Dann ist es wichtig, dass sie Hoffnung haben.
Gibt es in diesem Leben in Angst multipliziert mit Hoffnungslosigkeit einen Point of no Return, einen Moment, nach dem die Hoffnung die Menschen nicht mehr erreicht? Wenn einer, der einen Plan für eine „wundervollen Zukunft“ vorlegt, nicht mehr gehört wird?
Das weiß ich nicht. Wenn wir von Affekten sprechen – die sind nie für die Ewigkeit. Aber können wir uns vorstellen, dass ein Affekt, wenn er auf die absolute Spitze getrieben wird, das soziale Umfeld dermaßen zerstört, dass man daraus nichts mehr bauen kann?
Ich glaube daran, dass die russische Kultur Rezepte enthält, um diese existenzielle Krise zu überwinden
Ich glaube an Russland. Ich glaube an die russische Kultur im konkreten Sinn – ich glaube daran, dass sie Rezepte enthält, um diese existenzielle Krise zu überwinden. Darin liegt ihre Stärke. Nicht darin, dass Puschkin ein großer Dichter war. Sondern darin, dass sie eine Fundgrube für Weisheiten und Ratschläge ist, für Antworten auf die Fragen, die uns heute beschäftigen. Ich glaube, dass die russischen Denker, Schriftsteller, die intellektuellen Ressourcen, die wir haben, unsere Traditionen und Gewohnheiten, Antworten auf diese Herausforderung enthalten.
Sie haben sicher den Diskurs vor Augen, der im Moment in Verbindung mit der russischen Kultur meistens geführt wird: dass sie imperial ist, eine Sklavenmentalität herangezüchtet und genährt hat usw. …
Ich glaube, dass es in der russischen Kultur tatsächlich ein starkes imperiales Element gibt, und dass es an der Zeit ist, sich damit auseinanderzusetzen. Der Zusammenbruch des Imperiums ist ein guter Moment dafür. Erschöpft sich die russische Kultur darin? Nein, das tut sie nicht. Dasselbe gilt auch für [das Werk eines] konkreten Autors. Kann man bei einem konkreten Autor imperiale Ideen finden? Man kann und man sollte. Aber muss man ihn deswegen im Ganzen verschmähen oder gutheißen? Man muss diese Person ja nicht mit all ihren Fehlern heiraten.
Ich glaube, dass es in der russischen Kultur tatsächlich ein starkes imperiales Element gibt, und dass es an der Zeit ist, sich damit auseinanderzusetzen
Kultur entwickelt sich weiter, indem sie sich selbst verarbeitet, auch indem sie sich selbst kritisiert. Aber Kritik darf keine Selbstverleugnung sein. Dann weißt du ja schlichtweg nicht mehr, wer du bist und was du kritisierst: Wenn man sich selbst verleugnet, von welchem Standpunkt aus übt man dann Kritik? Eine Kultur kann nicht ausschließlich imperial sein, sonst gäbe es auch keine Imperialismuskritik – es muss ja etwas vorhanden sein, was diese Kritik hervorbringt.
Die Kultur schafft selbst die Standpunkte für Selbstkritik. Daran ist nichts demütigend, es ist kein Problem, sie [die imperialen Ideen] in der russischen Kultur aufzuspüren, sie herauszustellen und zu analysieren, wie sie mit anderen Elementen zusammenhängen. Nein, sie erschöpft sich nicht darin. Genauso wie sich die deutsche Kultur nicht im deutschen Imperialismus erschöpft oder die britische Kultur im britischen.
Grigori Judin gehört derzeit zu den gefragtesten Stimmen in unabhängigen russischen Medien und das nicht ohne Grund: Nur wenige Experten im dortigen Diskurs haben den russischen Überfall auf die Ukraine so präzise vorhergesagt wie Judin, der zwei Tage vor Beginn des Großangriffs am 24. Februar 2022 in einem Gastbeitrag für openDemocracy schrieb, Putin sei kurz davor, „den sinnlosesten Krieg unserer Geschichte“ zu beginnen.
Ein Jahr später spricht der Moskauer Soziologe mit Margarita Ljutowa von Meduza über seine aktuelle Einschätzung der Lage. Im ersten Teil geht es um das Gefühl der Kränkung in der russischen Gesellschaft als Nährboden für einen „ewigen Krieg“, bei dem es um weit mehr als die Ukraine geht, und warum Putin trotz der Rückschläge glaubt, alles richtig gemacht zu haben.
„Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg weitergehen“ – Soziologe Grigori Judin im Interview mit Meduza / Foto Screenshot aus Skashi Gordejewoi/Youtube
Margarita Ljutowa: Die heutige Politik Russlands wird von vielen so verstanden, dass für Putin der Krieg ein endloses Unternehmen ist. In seiner jüngsten Botschaft an die Föderationsversammlung hat er das wohl wieder bekräftigt: Er verlor kein Wort darüber, wie Russlands Sieg aussehen soll und was danach kommt. Was meinen Sie, ist Putins Plan tatsächlich ein ewiger Krieg?
Grigori Judin: Ja, natürlich, dieser Krieg wird nie aufhören. Er hat keine Ziele, nach deren Erreichen er beendet werden könnte. Er wird einfach immer weitergehen, weil „sie“ [in Putins Vorstellung] Feinde sind und uns töten wollen – und wir sie. Für Putin ist das eine existenzielle Konfrontation mit einem Gegner, der vorhat, ihn zu vernichten.
Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg weitergehen
Wir dürfen uns keine Illusionen machen: Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg weitergehen. Er wird sich immer weiter ausdehnen.
Die russische Armee wird in aller Eile vergrößert, die Wirtschaft auf Kanonen umgestellt, und Bildung wird zum Werkzeug von Propaganda und Wehrerziehung. Das Land wird auf einen großen, schweren Krieg vorbereitet.
Und dann ist ein Sieg für Putin von vornherein unmöglich?
Absolut unmöglich. Den setzt sich auch niemand zum Ziel, es gibt keine Definition, was überhaupt ein Sieg wäre.
Ist das Kriegsziel also einfach Wladimir Putins Machterhalt?
Das ist ungefähr dasselbe: Putin stellt sich seine Regentschaft als Dauerkrieg vor. Putin und sein Umfeld erzählen uns seit Jahren, dass gegen uns Krieg geführt wird. Manche haben das lieber ignoriert, aber [Putin und sein Umfeld] glauben wirklich, dass sie schon lange in einen Krieg verwickelt sind. Nur ist dieser Krieg inzwischen in eine so aggressive Phase eingetreten, dass es offenbar keinen Ausweg mehr gibt. In dieser Weltsicht ist Krieg grundsätzlich die Norm. Hören Sie einfach auf, Frieden für den Normalzustand zu halten – dann sehen Sie die Situation mit deren Augen. Wie [Natalja Komarowa,] die Gouverneurin des Autonomen Kreises der Chanten und Mansen sagte: „Der Krieg ist ein Freund.“
Am 22. Februar 2022, zwei Tage vor dem Einmarsch in der Ukraine, erschien auf der Website von openDemocracy ein Artikel von Ihnen, in dem Sie sowohl den drohenden großen Krieg als auch Putins Gleichgültigkeit gegenüber den Sanktionen beschrieben, mit denen die westlichen Länder auf diesen Krieg reagieren würden. Im zweiten Teil erörterten Sie, dass der Krieg gegen die Ukraine „einer der sinnlosesten Kriege der Geschichte“ werden würde. Was meinen Sie, hat die russische Gesellschaft im vergangenen Jahr begonnen, das zu begreifen?
Nein, ich glaube nicht. Sehr viele haben das sofort deutlich gesehen, diese Gruppe hat jedoch seitdem keinen Zuwachs bekommen. Im heutigen Russland ist eine starke Emotion weit verbreitet, und genau hier befindet sich Wladimir Putin ausnahmsweise in Resonanz mit weiten Teilen der Gesellschaft. Zwar teilt keineswegs die ganze Gesellschaft seine wahnhaften Theorien, aber hier trifft er auf Resonanz und produziert darüber hinaus auch noch selbst diese Emotion. Diese Emotion ist Kränkung, eine ungeheure, grenzenlose Kränkung. Eine Kränkung, die durch nichts gelindert werden kann. An eine produktive Gestaltung internationaler Beziehungen lässt sich unter diesen Umständen nicht einmal denken.
Im heutigen Russland ist eine starke Emotion weit verbreitet: eine ungeheure, grenzenlose Kränkung
Wissen Sie, das ist wie bei einem Kleinkind, das beleidigt ist und den anderen Schaden zufügt. Dieser Schaden wird immer größer und größer, und irgendwann fängt das Kind an, anderen Leuten und gleichzeitig sich selbst das Leben zu zerstören. Aber dem Kind ist das nicht bewusst, es kommt nicht auf die Idee, dass es an den Beziehungen arbeiten muss.
In Russland gibt es ein schönes Sprichwort: „Beleidigte sind gut fürs Wasserschleppen.“ Eines Tages werden wir verstehen, dass sich diese Kränkung gegen uns selbst richtet, dass wir uns selbst damit schaden. Aber noch halten zu viele von uns an ihrer Gekränktheit fest.
Von wem fühlen sich denn Putin und die russische Gesellschaft so gekränkt? Von der ganzen Welt? Vom Westen? Den USA?
Von der Weltordnung insgesamt, die ungerecht erscheint, und folglich von dem, der als Senior-Partner die Verantwortung für diese Welt übernimmt, also von den USA. Das sind Vorwürfe gegen die ganze Welt – in dem Sinn, dass das menschliche Leben einfach schlecht konstruiert ist.
Ich muss immer an eine Aussage von Putin Mitte 2021 denken. Er sagte damals völlig ohne Anlass, es gebe im Leben überhaupt kein Glück. Das ist eine starke Aussage für einen politischen Leader, der ja eigentlich von der Idee her das Leben der Menschen verbessern, ihnen irgendwelche Ideale, Anhaltspunkte vermitteln sollte. Und da sagt dieser Mensch [sinngemäß]: „Im Leben gibt es kein Glück. Die Welt ist generell ein schlechter, ungerechter, schwer erträglicher Ort, an dem die einzige Daseinsform darin besteht, permanent zu kämpfen, sich zu prügeln und im Extremfall zu töten.“
Dieses Beleidigtsein auf die ganze Welt ist in Russland stark verwurzelt, und es wird auf den projiziert, der vermeintlich für diese Welt verantwortlich ist: die USA. Die Vereinigten Staaten haben tatsächlich ab einem gewissen Punkt die weltweite Verantwortung übernommen – was nicht immer von Erfolg gekrönt war. Und wir sehen, dass das Ressentiment, von dem ich jetzt spreche, wahrlich nicht nur in Russland existiert (wo es katastrophale, schauderhafte Formen annimmt).
Regionen, die von diesen Ressentiments erfasst sind, neigen dazu, Wladimir Putin mit mehr Verständnis zu begegnen
In einem großen Teil der Welt gibt es eine durchaus begründete Kritik an der herrschenden Weltordnung, an die Adresse der USA, die die Verantwortung übernommen haben, zum Hegemon wurden und in vielen Aspekten Nutznießer dieser Ordnung sind. Wir sehen, dass jene Regionen, die von diesen Ressentiments erfasst sind, dazu neigen, Wladimir Putin mit mehr Verständnis zu begegnen. Das ist der globale Süden, der seit Jahrzehnten unter einer immer stärkeren Ungleichheit leidet und teilweise auch, zumindest symbolisch, unter den wahnwitzigen außenpolitischen Abenteuern, in die sich die USA gestürzt haben. Dasselbe gilt für Teile der Bevölkerung des globalen Nordens, die sich ebenfalls gekränkt und als Opfer fühlen. Fast überall, wo man diesem Ressentiment begegnet, trifft man auch auf ein größeres Verständnis für Putins Vorgehen.
Ich würde nicht sagen, dass dieses Verständnis in Unterstützung umschlägt – Putin hat nämlich nichts anzubieten. Er reproduziert einfach ständig dieselben Fehler, nur in immer schrecklicheren Dimensionen. Einer meiner Kollegen formulierte mal sehr treffend das Grundprinzip der russischen Außenpolitik: „Was die anderen nicht dürfen, können wir auch.“ Es ist ja kaum zu übersehen, dass Putin genau das anstrebt, wofür er die USA kritisiert. Insofern ist es schwierig, ihn [im Ausland] zu unterstützen, aber viele wollen sich ihm in dieser Gekränktheit anschließen.
Gab es dieses Ressentiment in der russischen Gesellschaft schon vor Putin, also in den 1990ern? Oder wurde es erst unter Putin gezüchtet?
In jeder Gesellschaft gibt es immer die unterschiedlichsten Emotionen. Ein Politiker muss immer herausfinden, auf welche er setzt. Einige Gründe für diese Gekränktheit gab es [in der russischen Gesellschaft] natürlich durchaus. Sie haben mit der belehrenden Rolle zu tun, die die Vereinigten Staaten und teilweise auch Westeuropa einnahmen. Ideologisch verpackt wurde das in der Modernisierungstheorie, der zufolge es entwickelte Länder und Entwicklungsländer gibt. Und die entwickelten belehren – durchaus wohlwollend und unterstützend – die Entwicklungsländer: „Leute, macht das mal lieber so und so.“ Generell mag es niemand gern, belehrt zu werden. Schon gar nicht ein großes Land, das selbst eine imperiale Vergangenheit hat.
Generell mag es niemand gern, belehrt zu werden. Schon gar nicht ein großes Land mit imperialer Vergangenheit
In Wirklichkeit war die Situation, die sich in den 1990er Jahren entwickelte, viel komplexer. Wir dürfen nicht vergessen, dass Russland [nach dem Zerfall der UdSSR] zu einer ganzen Reihe führender internationaler Foren eingeladen wurde und Einfluss auf große globale Entscheidungen hatte. Erinnern wir uns an die Kehrtwende des damaligen Ministerpräsidenten Jewgeni Primakow über dem Atlantik, an die von Jelzin angeordnete Entsendung von Truppen nach Jugoslawien – mit einem Wort, auf Russland musste man hören. Es gab jedenfalls diplomatische Ressourcen, die man hätte ausbauen können und müssen.
Aber diesen belehrenden Ton [Russland gegenüber], den gab es durchaus. Er war das Ergebnis eines schweren ideologischen Fehlers. Angesichts des gescheiterten sozialistischen Projekts glaubten viele, es gäbe nur den einen geraden Weg: die berühmte Theorie vom „Ende der Geschichte“. Insofern ja, die Voraussetzungen für Ressentiments waren vorhanden, aber es gab auch welche für andere Emotionen.
Es gab etliche konkurrierende Narrative über den Zerfall. Eines davon war die Volksrevolution
Außerdem war die Beschreibung und das Erleben des Zusammenbruchs der UdSSR als katastrophale Niederlage ganz bestimmt nicht vorprogrammiert, es gab etliche konkurrierende Narrative [die die Bedeutung des Zerfalls für die Bevölkerung beschrieben]. Eines davon bestand darin, dass es sich um eine Volksrevolution gehandelt habe, ein ruhmreicher Moment in der Geschichte des russischen und anderer Völker, weil es ihnen gelungen ist, ihr verhasstes, tyrannisches Regime zu stürzen. Dieses Konzept hätte natürlich nicht in die Kränkung geführt.
Aber Putin hat sich für die Kränkung entschieden. Er hat dieses Gefühl immer weiter geschürt
Aber Putin hat sich für die Kränkung entschieden, was wohl teilweise mit seiner Persönlichkeit zu tun hat. Wobei es auch kein Zufall ist, dass ausgerechnet ein Mensch an die Spitze kommt, der eine angeborene Gekränktheit mitbringt. In der Folge hat Putin dieses Gefühl immer weiter geschürt. Und Kränkung ist ansteckend. Es ist eine bequeme Emotion: Erstens fühlst du dich die ganze Zeit im Recht, zweitens unverdient niedergemacht.
Sie haben mehrfach geäußert, dass Putin Ihrer Meinung nach in der Ukraine nicht Halt machen wird. Was meinen Sie damit genau? Moldawien, die baltischen Länder oder einen selbstzerstörerischen Krieg gegen die USA?
Diese Art von Weltbild kennt im Grunde keine Grenzen. „Russland hört nirgendwo auf“ ist praktisch die offizielle Formel. Das ist die Standard-Definition eines Imperiums, denn ein Imperium erkennt keine Grenzen an.
Die ersten Grenzen in Europa entstanden 1648, mit dem Westfälischen Frieden, der das Ende der Imperien einleitete. Da kam erstmals der Gedanke auf, zwischen den Ländern Grenzen zu ziehen: „Hier sind wir, da seid ihr.“ Ein Imperium erkennt diesen Gedanken nicht an: „Wir sind da, bis wohin wir gekommen sind. Und ihr seid dort, wo wir noch nicht sind. Sobald wir da sind, seid ihr weg.“
In dieser Logik gibt es prinzipiell keine Grenzen, und es ist kein Zufall, dass wir nie hören, dass Russland irgendwelche Grenzen offiziell anerkennt. Wir bekommen höchstens das unbestimmte Gefühl mit, dass es irgendwo einen Westen gibt, und der ist uns irgendwie fremd. Nicht, dass er so gar nicht zu uns gehören würde, aber doch beginnt dort ein Bereich, den man nur noch sehr schwer einnehmen kann. Der Westen natürlich in dem [ideologischen] Sinn, den er in der Sowjetzeit innehatte.
Putin sagte ganz klar und in vollem Ernst, dass ganz Osteuropa seine Einflusssphäre sei
Ich möchte an das Ultimatum [von Putin gegenüber den USA und der NATO] vom Dezember 2021 erinnern: Damals sagte Wladimir Putin ganz klar und in vollem Ernst, dass ganz Osteuropa seine Einflusssphäre sei. Wie das formell aussehen wird, mit oder ohne Verlust der formellen Souveränität – was spielt das für eine Rolle? Diese Einflusssphäre umfasst zweifellos auch die ehemalige DDR, einfach weil Wladimir Putin damit persönliche Erinnerungen verbindet. Ich kann mir nur sehr schwer vorstellen, dass er dieses Territorium nicht als seines betrachtet. Putin hat definitiv vor, die Zone des Warschauer Paktes wiederherzustellen – und dann mal schauen, wie es läuft.
Ich höre oft: „Das ist doch Unfug, wie soll das funktionieren? Das ist irrational, das ist Wahnsinn, dazu hat er gar nicht die Möglichkeiten!“ Ich erinnere daran, dass das Gleiche vor Kurzem noch über die Ukraine gesagt wurde. Oder über Moldau, und jetzt hören wir, dass die moldauische, die ukrainische und die Regierung der USA Moldau als ernsthaft bedroht einschätzen. Wir haben bereits gesehen, dass Moldau in den Plänen der aktuellen Militäroperation immer wieder vorkam, es hat sich nur noch nicht ergeben.
Wir sollten zwei Dinge unterscheiden: Das eine ist, wie hoch man die Wahrscheinlichkeit einschätzt, dass eine Handlung, die Person X unternimmt, zum Erfolg führt. Etwas anderes ist es, wie hoch man die Wahrscheinlichkeit einschätzt, dass Person X diese Handlung unternimmt. Man mag zu Recht der Meinung sein, dass dieses Handeln zum Scheitern verurteilt ist, aber daraus folgt nicht, dass die Person es nicht tut. Nicht, weil die Person irrational wäre, sondern weil sie zum Beispiel der Meinung ist, keine andere Wahl zu haben.
Die allgemeine [russische] Strategie sieht in etwa so aus: Wir greifen uns ein Stück, das wird für legitim erklärt, und im nächsten Schritt greifen wir uns auf Grundlage dieser Legitimität etwas anderes.
Mithilfe eines Waffenstillstands können die Gewinne gesichert und die Reserven aufgefüllt werden
[In der Logik dieser Strategie] greifen wir uns, grob gesprochen, zuerst die Ostukraine, mithilfe eines wie auch immer gearteten Waffenstillstands. Auf diese Weise können die Gewinne gesichert und die Reserven aufgefüllt werden. Die globale Wirtschaft hat somit einen guten Grund, nach Russland zurückzukehren (das sie größtenteils gar nicht verlassen hat), während im Gegensatz dazu unter solchen Bedingungen niemand in die Ukraine investieren wird. Das schafft die Voraussetzungen für einen weiteren Vorstoß [Russlands] in der Ukraine.
Putin ist überzeugt, dass die NATO auseinanderbrechen wird, sobald die Zeit gekommen ist, Artikel 5 auf die Probe zu stellen
Daraufhin werden in Europa bald Stimmen zu hören sein, die sagen: „Am Ende war es doch ihr Territorium, jetzt haben sie sich geeinigt und gut ist.“ Aber Moment mal, wenn das „ihr“ Territorium ist, russisches Territorium, weil man dort russisch spricht, was ist dann zum Beispiel mit dem Osten Estlands? Man kann antworten: Aber Estland ist in der NATO! Doch wird die NATO um Estland kämpfen? Putin ist überzeugt: Sollte Artikel 5 der NATO zum richtigen Zeitpunkt auf die Probe gestellt werden, dann würde die NATO auseinanderbrechen. Und das aus einem einfachen Grund: Sie wissen im Grunde, dass sie sich etwas genommen haben, das ihnen nicht gehört, und deswegen werden sie kneifen und nicht darum kämpfen, wenn es ernsthaft bedroht wird.
Wenn niemand in Westeuropa bereit ist, für die Gebiete im Osten zu kämpfen (zur Erinnerung: All das geschieht [in diesem Szenario], nachdem Russlands Annexion ukrainischer Gebiete durch unterschriebene Dokumente legitimiert wurde), dann gibt es da natürlich noch die USA. Aber die USA könnten zu diesem Zeitpunkt bereits einen anderen Präsidenten haben, dem Osteuropa nicht so wichtig ist.
Putin wird so viel bekommen, wie man ihm lässt
Lassen Sie mich klarstellen: Ich halte das Gesagte nicht für das wahrscheinlichste Szenario. Es beschreibt Putins Strategie, aber Putin beherrscht nicht die Welt – er wird so viel bekommen, wie man ihm lässt. Aber völlig ausgeschlossen ist das alles nicht. Ich spreche von durchaus realistischen Dingen.
Man kann sich gut vorstellen, dass Putin und sein engster Kreis am 24. Februar 2022 so gedacht haben. Aber es ist ein Jahr vergangen – und der Westen ist nicht zersplittert, mehr noch, er leistet der Ukraine spürbare Unterstützung. Ist es denkbar, dass dieses Jahr und die Ergebnisse der russischen Militärkampagne sich auf die Weltsicht, die Sie gerade beschrieben haben, ausgewirkt haben?
Ja, bestimmt. Ich nehme an, Wladimir Putin ist jetzt überzeugt, alles richtig gemacht zu haben. Selbst wenn er Zweifel hatte, dann [weiß er jetzt, dass sie] unberechtigt [waren]. Dieses letzte Jahr hat ihm gezeigt: Wenn der Westen so sehr an der Ukraine hängt, dann ist sie offenbar doch eine Schlüsselregion, von der aus man ihn angreifen wollte. Außerdem ist es [aus Putins Sicht] gut, dass die aktuellen Probleme sich vor dem echten Krieg offenbart haben, den die russische Führung für unausweichlich hält. Viel schlimmer wäre es [in ihrer Logik], mit dieser Armee in diesen [zukünftigen] großen Krieg zu gehen. Das heißt, alles, was geschieht, bestärkt Putin nur in seinen Ansichten.
Der geplante Blitzkrieg um Kyjiw ist gescheitert. Aber wer sagt, dass das der einzige Plan war?
Es gibt so eine Phrase: „Putin hat sich verkalkuliert“. Aber wir sollten endlich aufhören, Wladimir Putin so geringzuschätzen. Sicher, wir haben gesehen, dass ein Blitzkrieg um Kyjiw geplant war, und der ist gescheitert. Aber wer sagt, dass das der einzige Plan war?
Dieser Krieg wurde jahrelang vorbereitet. Es wäre merkwürdig, wenn es nur einen Plan gäbe. Bei einem Machthaber, der seit Langem an nichts anderes denkt als an die Vorbereitung auf diesen Krieg, funktioniert das so nicht. [In Putins Logik klingt das so:] „Ja, es ist nicht perfekt gelaufen, aber das macht nichts, wir bleiben dran. Wir sind bereit, so viel Blut zu vergießen, wie nötig ist – und sie sind es nicht. [Die Ukraine] gehört uns, und irgendwann werden sie das einsehen und aufhören, ihre wertvollen Ressourcen zu opfern.“
In Putins Logik klingt das so: Wir sind bereit so viel Blut zu vergießen, wie nötig ist – und sie sind es nicht
Ich sage nicht, dass diese Taktik funktionieren wird. Mehr noch, ich denke, dass Putins eigene Logik ihn zur Niederlage verdammt – unbewusst will er verlieren. Die Frage ist, wie viele Menschen sterben werden, bevor es dazu kommt. Aber wenn wir die Situation vorhersehen wollen, müssen wir die Logik verstehen, nach der die Menschen handeln [, die in Russland an der Macht sind].
Gibt es Ihrer Meinung nach etwas, das Putin zwingen würde, sein Weltbild in Zweifel zu ziehen?
Das kürzlich veröffentlichte „offizielle Strategiepapier“, in dem die schrittweise Einverleibung von Belarus bis 2030 durch Russland skizziert wird, scheint weiteres Unheil für Alexander Lukaschenko zu bedeuten. Auch wenn viele der darin enthaltenen Pläne alles andere als neu sind. Die Integration von Belarus in den Unionsstaat wird vor allem seit 2021 auf wirtschaftlicher und militärischer Ebene mit Nachdruck umgesetzt. Entsprechend zurückhaltend äußerte sich der belarussischen Machthaber zu dem bekannt gewordenen Papier: „Russland hat seine eigene Strategie, so auch in Bezug auf Belarus – um mit seinen Brüdern in Frieden und Freundschaft zu leben.“ Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine vor einem Jahr, der gerade am Anfang auch vom belarussischen Territorium aus geführt wurde, sehen nicht wenige Analysten die Souveränität von Belarus ohnehin als höchst gefährdet an. Lukaschenko hat sein Land seit den historischen Protesten von 2020 in eine Situation manövriert, in der es aus dem Zugriff von Russland kaum noch ein Entrinnen zu geben scheint.
Was bedeutet diese Situation und insgesamt der Krieg, in den sich Lukaschenko heillos verstrickt hat, für Belarus und die Zukunft des Landes? Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski zieht ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion für das Online-Medium Pozirk umfassend Bilanz.
Vor einem Jahr hat Russland versucht, von belarussischem Territorium aus Kiew einzunehmen. Der am Morgen des 24. Februar begonnene „Blitzkrieg“ wuchs sich zu einem langwierigen Krieg aus, der zur Gefahr für Russland wurde und in dem Lukaschenkos Regime sich als Unterstützer des Aggressors wiederfand. Trotz allem gelingt es dem belarussischen Präsidenten aber bislang, einer Entsendung eigener Truppen in den Kampf gegen die Ukrainer auszuweichen.
Darüber hinaus hat die belarussische Regierung sogar einigen finanziellen Gewinn aus dem Status des einzigen Verbündeten der Russischen Föderation gezogen. Der Preis dafür ist im Gegenzug jedoch die immer stärkere wirtschaftliche und politische Bindung an den Kreml.
Die Wirtschaft hält stand, doch der Preis ist die immer größere Abhängigkeit von Moskau
Der westliche politische Mainstream neigt zu der Einschätzung, dass Lukaschenko die Eigenständigkeit praktisch verspielt hat und vollständig zur Marionette Moskaus geworden ist. Dem Anführer des belarussischen Regimes selbst ist das unangenehm, er versucht, sich als potentieller Friedensstifter darzustellen.
Heute zeichnet sich ab, dass Belarus dank russischer Unterstützung die Auswirkungen der westlichen Sanktionen für die Kriegsbeteiligung abmildern konnte. Die apokalyptischen Prognosen einer Reihe von Experten sind nicht eingetreten: Das BIP fiel im vergangenen Jahr nur um 4,7 Prozent. Das ist unangenehm, aber längst keine Katastrophe für das Regime, ein wirtschaftlicher Spielraum bleibt erhalten. Staatsbeamte prahlen mit einem „historisch hohen“ Außenhandelsüberschuss von etwa 4,5 Milliarden Dollar.
Minsk erhält von 2023 bis 2025 günstiges Gas (128,52 USD pro 1000 Kubikmeter) – früher mussten in der Weihnachtszeit stets aufs Neue Preiskämpfe geführt werden. Außerdem wurden Steuererleichterungen für die Erdölraffinerien (deren Rentabilität sich dadurch erhöht) sowie ein Aufschub der Schuldenrückzahlungen erwirkt.
Lukaschenko klammerte sich euphorisch an die Idee der Importsubstitution. Belarus erhielt in diesem Kontext einen Kredit in Höhe von 105 Milliarden Russischer Rubel (1,3 Milliarden Euro). Dafür bietet Minsk beispielsweise seine Mikroelektronikprodukte an und ist gar bereit, Kampfflugzeuge vom Typ Su-25 zu produzieren.
Belarussische Mikrochips, das gibt Lukaschenko zu, sind im weltweiten Produktvergleich ziemlich klobig. Doch Moskau ist durch die Sanktionen und den Weggang westlicher Firmen im Moment nicht in der Position, die Nase zu rümpfen. Deshalb nehmen die russischen Nachbarn viele belarussische Waren – sowohl für den militärischen, als auch für den zivilen Bedarf – mit Kusshand.
Dank Moskau konnte Belarus einen Teil seines Exports retten, nachdem ein ordentliches Stück des Handels mit Europa und der gesamte Handel mit der Ukraine weggefallen waren. Kalium geht zum Beispiel nun nach China, auf dem Landweg und per Schiff über Russland. Minsk wurde sogar großzügig ein Liegeplatz im Hafen Bronka bei Sankt Petersburg zugesprochen.
Doch all das geschieht zum Preis einer stärkeren Abhängigkeit von Russland, mit dem bereits mehr als 60 Prozent des Außenhandels laufen. Auch die Abhängigkeit im Transitbereich erhöht sich fatal. Minsk muss 28 Unionsprojekte umsetzen, die auf eine stärkere, auch institutionelle, Anbindung der belarussischen Wirtschaft an die russische abzielen.
Der Krieg hat dem Prozess der „Unionsintegration“ die Sporen gegeben, an dessen Ende die Einverleibung droht. Auch für eine neue belarussische Regierung würde es höchst kompliziert, diese Schlinge zu lösen.
In Belarus walten russische Generäle
Besonders traurig steht es um die militärische Souveränität und die Außenpolitik (von der vielgepriesenen Multivektoralität ist kaum noch etwas geblieben). Lukaschenko bleibt zwar Oberbefehlshaber der Streitkräfte, faktisch walten auf belarussischem Territorium jedoch russische Generäle. Unter dem Vorwand des Aufbaus einer gemeinsamen regionalen Armee-Einheit holen diese russischen Generäle jetzt ihre „Mobilisierten“ nach Belarus, um morgen (vielleicht nicht direkt morgen, die Formation einer Angriffstruppe braucht Zeit) wieder einen Angriff auf die Ukraine von Norden her zu starten.
Unabhängige Analytiker sind sich einig, dass der belarussische Präsident, sollte Wladimir Putin ihm die entscheidende Frage stellen, die eigene Armee in den Krieg schicken würde, ob er will oder nicht. Damit kann man gleichzeitig die gängige These anzweifeln, der Kreml würde Belarus in dieser Frage ohnehin schon in den Schwitzkasten nehmen wollen. Wenn er das wirklich wollte, hätte er es schon längst getan. Putin demonstriert seinen Standpunkt offen: Im Dezember flog er nach Minsk, machte viele teure Geschenke finanzieller und wirtschaftlicher Natur. Das erweckt nicht gerade den Anschein eines weiteren Konflikts zwischen den Erbverbündeten. Zu Konfliktzeiten hat Moskau den Geldhahn zugedreht.
Vermutlich konnte Lukaschenko seinem Moskauer Gegenüber bislang überzeugend vermitteln, dass Belarus besser als Aufmarschgebiet, Truppenübungsplatz und Lieferant dringend nötiger Produkte dienen kann, anstatt die belarussischen Spezialeinsatzkräfte (andere kampfbereite Einheiten gibt es kaum) an der ukrainischen Front in Hackfleisch zu verwandeln. Und außerdem, lieber Wolodja, schützen wir deine Spezialoperation davor, dass das niederträchtige NATO-Messer im Rücken landet! Ein Kriegseintritt, ganz ehrlich, könnte auch die innenpolitische Situation auf unserer kleinen Insel der Stabilität kippen lassen.
Natürlich kann Putin, dessen Rationalismuslevel viele Analytiker bis zum 24. Februar 2022 stark überschätzten, diese Argumente jederzeit vom Tisch wischen und seinem Verbündeten sagen: Nein, Bruder, genug der Umschweife und genug im Hinterland herumgedrückt! Wir gehen gemeinsam in die entscheidende Schlacht! Und Lukaschenko hat immer weniger Ressourcen, sich dem imperialen Draufgänger zu widersetzen.
Der Opposition fehlen starke Hebel, dem Regime die Manövrierfähigkeit
Auch die politische Opposition, die seit den Ereignissen 2020 ihre Geschäfte im Ausland führt, hat kaum Möglichkeiten, einen belarussischen Kriegseintritt abzuwenden. Von den Möglichkeiten, einen Regimewechsel zu bewirken, ganz zu schweigen.
Unter den Bedingungen der irrsinnigen Repressionen, in einer von unmäßiger Angst gezeichneten Gesellschaft, ist es unrealistisch, einen Partisanenkampf zu führen oder den Plan Peramoha [dt. Sieg] umzusetzen. Das gibt auch das Übergangskabinett von Swetlana Tichanowskaja zu. Das belarussische Freiwilligenkorps Kastus Kalinouski, das auf Kiews Seite kämpft, verspricht, später auch das eigene Land von der Diktatur zu befreien. Doch aus heutiger Sicht ist das eine poröse und nebulöse Perspektive.
Dabei ist offensichtlich, dass das Kalinouski-Korps nicht nur die belarussische Ehre auf dem Schlachtfeld gegen das Imperium rettet, sondern bereits zum politischen Phänomen geworden ist. Das Gerangel um die Sympathie des Korps (der politische Veteran Senon Posnjak will im Verbund mit dem Korps ein neues Zentrum der Opposition, den „Sicherheitsrat“, gründen) droht die Spannungen in der politischen Emigration nur zu vergrößern. Kiew seinerseits spielt mit dem Korps und ignoriert Tichanowskaja faktisch. Lukaschenko wiederum versucht diese Realpolitik der ukrainischen Regierung auszunutzen, um sein eigenes Spiel mit ihr zu spielen (vor Kurzem ließ er versehentlich einen geheimen Nichtangriffspakt durchblicken). Doch auch der Kreml überwacht dieses Spiel und ließ dem gerissenen belarussischen Partner aus dem Mund des Außenministers Sergej Lawrow eine verdeckte Notiz zukommen.
Die Knute des Kreml, das Etikett des Ko-Aggressors, aber auch der politische Terror im eigenen Land (den der Führer nicht beenden mag), begrenzen die Manövrierfähigkeit des Minsker Regimes in Richtung Westen. Wenngleich einige in Europa (erwähnt sei hier der kürzliche Besuch des ungarischen Außenministers Péter Szijjártó in Minsk) eine Sondierung des Feldes nicht ablehnen. Doch die Zeiten, in denen Lukaschenko die geopolitische Schaukel flott anschob, sind vorbei. Die Schwelle zum Westen liegt für den toxischen belarussischen Regenten momentan außerordentlich hoch.
Der Kriegsausgang kann ein Fenster für Veränderungen öffnen
Wenngleich dieser Krieg für viele unerwartet hereingebrochen ist, nähert sich Lukaschenkos langjähriges Spiel mit dem Imperium einem vorhersehbaren Finale. Er hat sich im imperialen Casino glattweg verzockt. Der Krieg wurde dabei zu einem mächtigen Katalysator für den zerstörerischen Prozess der schleichenden Einverleibung, vergrößerte die Kluft zwischen dem belarussischen Zarenregime und der demokratischen Welt.
Darüber hinaus hat die Reputation der Belarussen, deren Image durch die starken Proteste 2020 aufgewertet worden war, stark gelitten, das Verhältnis der Ukrainer zu ihnen hat sich verschlechtert, im Ausland ist Diskriminierung zu beobachten. Dank verdienen Tichanowskajas Team und andere demokratische Kräfte, die zeigen, dass Lukaschenkos Regime nicht mit dem belarussischen Volk gleichzusetzen ist.
Der Herrscher aber, auch wenn ihn wohl das Gespenst von Den Haag plagt, beweist auch in der aktuellen Situation der höheren Gewalt virtuosen Einfallsreichtum. Sollte Putins Regime durch eine Niederlage in der Ukraine ins Wanken geraten, wird sein Verbündeter wohl versuchen, sich so weit wie möglich von der leckgeschlagenen russischen Titanic zu entfernen. Ein Sieg der Ukraine würde auch ein Fenster für einen Regimewechsel in Belarus eröffnen. Denn das Regime stützt sich nur auf zwei Dinge – die schrecklichen Repressionen und Moskau. Wird Moskau schwächer, leiden auch die Ressourcen der belarussischen Diktatur.
Doch der Ausgang dieses Krieges ist bislang schwer vorhersehbar. Das erste blutige Jahr hat geendet, das zweite verspricht bislang, nicht weniger blutig zu werden.
Seit einem Jahr versucht Russland, die Ukraine in einem offenen Angriffskrieg zu unterwerfen. Nach einem massiven Truppenaufgebot entlang der ukrainischen Grenze hatte man im Kreml offenbar mit einem eingeschüchterten Gegner und einem schnellen Durchmarsch bis Kyjiw gerechnet. Doch es kam alles anders: Bereits im März 2022 musste sich die russische Armee aus den Gebieten um die ukrainische Hauptstadt zurückziehen, im Herbst konnte die Ukraine – insbesondere mit Hilfe von Waffenlieferungen der westlichen Verbündeten – große Teile der Oblaste Charkiw und Cherson zurückerobern und leistet weiter massiven Widerstand.
Auf Meduza blickt Maxim Trudoljubow zurück auf dieses Jahr des Schreckens und bilanziert, dass sich die Angst als eine außenpolitische Ressource für Moskau weitgehend erschöpft habe, im Inland jedoch nach wie vor die gewünschte Wirkung zeige.
Zu Beginn des Krieges erwarteten Präsident Putin und seine Berater einen schnellen Erfolg mit wenig Krafteinsatz – Widerstand der Ukraine war jedenfalls nicht eingeplant. Die ukrainische Gesellschaft und vor allem die politische Führung der Ukraine, so hoffte man im Kreml, würde sich von der Truppenzusammenziehung an der Grenze einschüchtern lassen – und später dann vom Einmarsch, der gleich aus mehreren Richtungen erfolgte. Immer wieder erklären Militärexperten, die russische Armee sei nicht stark genug, ukrainisches Territorium zu erobern und zu halten. Mittlerweile belegen nicht nur Hinweise, sondern handfeste Fakten, dass Russland keinen langwierigen Krieg geplant und gehofft hatte, die Ukraine in Schockstarre einzunehmen. Der Sieg in der Ukraine hätte ein „moralischer“ werden sollen, errungen nicht durch Gewalt, sondern durch Demonstration von Stärke.
Putin konnte den Widerstandswillen der Ukraine nicht brechen – trotz Tod und Zerstörung
Trotzdem ist die russische Armee fähig, der Ukraine in enormem Ausmaß Tod und Zerstörung beizubringen. Da es Putin nicht gelungen ist, den Widerstandswillen der Ukraine zu brechen, nachdem er also eine moralische Niederlage davongetragen hat, setzt er auf materielle Zerstörung und auf Zermürbung. Daten der UNO zufolge gibt es bereits 18.000 zivile Todesopfer, bis zu 50 Prozent der Energie-Infrastruktur sind zerstört oder beschädigt. An die 40 Prozent der Gesamtbevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Vor dem Hintergrund dieser von Russland verursachten humanitären Katastrophe ist die Furchtlosigkeit der Ukrainer erstaunlich.
Das vergangene Jahr hat gezeigt, wie wichtig es für Russland in seinen internationalen Beziehungen war, einen starken Eindruck zu machen. Russlands Potenzial brachte andere Länder dazu, Russland zumindest in Fragen der Sicherheit und Energieversorgung ernst zu nehmen, ja sogar auf Russland zu zählen. Indem es diesen Eindruck erweckte, verfügte Russland über eine Wirkmacht, die mehr auf einer Erwartung denn auf Tatsachen beruhte. Das ist jene Art von Macht, die nur so lange wirkt, bis sie vor der Wirklichkeit standhalten muss.
Auch in seinem Energiekrieg gegen Europa setzt der Kreml auf Einschüchterung. Die Europäer hätten sich vor dem Zudrehen des Gashahns fürchten, ihre Abhängigkeit einräumen und um Wiederaufnahme der Gaslieferungen bitten sollen. Den Export von Gas nach Europa hat Russland nicht beschränkt, weil es unter Druck stand, nicht wegen der Sanktionen, sondern freiwillig, um etwas in der Hand zu haben, womit es seinerseits eine Aufhebung der Sanktionen erzwingen kann. Ende September wurde der zu diesem Zeitpunkt bereits minimierte Export über die Pipeline Nord Stream 1 aufgrund einer Sprengung der Rohre vollends eingestellt. Der Kreml schiebt den Anschlag auf die Rohre England und Amerika in die Schuhe, die USA – dem Kreml. Europäische Beamte sprechen von einer möglichen Sabotage, mit unausgesprochenem Verweis auf Russland. Bisher konnte keine der Versionen bewiesen werden.
Europa hat nicht gefroren – trotz 88 Prozent weniger Gas aus Russland
Jedenfalls wurde der Export russischen Gases im ersten Kriegsjahr um 45 Prozent verringert, der nach Europa sogar deutlich mehr, nämlich um 88 Prozent. Dabei hat Europa nicht gefroren, sondern hat es geschafft, in Rekordzeit einen Teil durch Flüssiggas zu ersetzen und das, was bereits eingelagert war, effizienter zu nutzen. Begünstigt wurde das durch volle Speicher (unter anderem mit schon früher aus Russland bezogenem Gas) und einen milden Winter. Anfang Januar kehrte der Gaspreis am europäischen Handelspunkt TTF auf Vorkriegsniveau zurück. Außerdem hat Deutschland sich schleunigst in Wilhelmshaven ein eigenes Flüssiggas-Terminal zugelegt, das auch bereits in Betrieb ist. Vor dem Krieg gab es kein solches Terminal, weil Politik und Industrie in Deutschland jahrzehntelang von langfristigen, verlässlichen Lieferungen aus Russland ausgingen.
Eine Rückkehr zum früheren gegenseitigen Vertrauen und einer dementsprechenden Kooperation mit Europa und dem Westen wird es in der Energieversorgung nicht mehr geben, auch nicht, wenn die gesprengten Leitungsrohre repariert werden. Der Energiekrieg ist natürlich noch lange nicht beendet, und der nächste Winter kann für Europa schwieriger werden als der aktuelle, allein schon deswegen, weil die Auffüllung der Speicher mit unvorhersehbar teurem Flüssiggas mehr kosten wird als das billige Erdgas. Aber in welche Richtung es geht, ist entschieden: Laut dem Jahresbericht der Internationalen Energieagentur hat der Krieg den Übergang der größten Länder zu erneuerbaren Energien immens beschleunigt. Obwohl sie noch nicht vorherrschen, werden sie größtenteils den wachsenden Energieverbrauch tragen. Der Anteil Russlands am weltweiten Erdöl- und Erdgasmarkt wird diesen Berechnungen zufolge bis zum Jahr 2030 um 50 Prozent zurückgehen und kaum jemals wieder auf das Vorkriegsniveau zurückkehren. Infolge des eigenen Handelns wird Russland langfristig keine Energie-Supermacht mehr sein.
Drohung mit Atomwaffen – als einseitiger Angriff von seiten Putins
Der Faktor Angst hätte auch nach Russlands Drohung mit Atomwaffen Wirkung zeigen sollen. Die vielen zuweilen mehr, zuweilen weniger kreativen Äußerungen zu diesem Thema lassen sich so zusammenfassen: Einerseits kann Russland gemäß seiner Militärdoktrin Atomwaffen nur einsetzen wenn es als Staat von außen mit einer Aggression und Bedrohung konfrontiert ist; andererseits kann Russland auch selbst damit anfangen. Bei einem Treffen mit dem UN-Menschenrechtsrat erklärte Putin, im Grunde könne auch von Seiten Russlands die nukleare Bedrohung eskalieren:
„Zum Thema, dass Russland auf keinen Fall als erstes [Atomwaffen] einsetzen wird. Wenn es sie tatsächlich unter keinen Umständen als erstes einsetzt, dann wird es sie auch nicht als zweites einsetzen. Denn nach einem nuklearen Angriff auf unser Staatsgebiet werden unsere Einsatzmöglichkeiten stark begrenzt sein.“
Stark verkürzt ist das Putins „Philosophie“, mithilfe derer er sich und anderen erklärt: Wäre Russland nicht in die Ukraine (den Westen) einmarschiert, so hätte der Westen, vertreten durch die Ukraine, Russland angegriffen. Indem Russland den Krieg begonnen hat, versuche es ja nur, ihn zu beenden.
Behalten wir diese Formulierungen im Hinterkopf und sehen uns an, inwieweit sich die jetzige Situation von gefährlichen Scheidewegen in der Geschichte unterscheidet. Das heutige Russland ist in einer anderen Position als die USA 1945, als sie die Atombombe auf Japan warfen. Das Aggressor-Land Japan war am Verlieren, während die USA eine führende Rolle in der siegreichen Anti-Hitler-Koalition innehatten. Später veröffentlichte Dokumente haben gezeigt, dass die Bomben, die über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden, den Ausgang des Krieges kaum beeinflussten und vielmehr eine Machtdemonstration waren, die über 200.000 Zivilisten das Leben kostete.
Auch mit der atomaren Konfrontation des Kalten Krieges hat die heutige Situation keine Ähnlichkeit. Die Nervenduelle während der Kubakrise 1962 und während des Able-Archer-Manövers 1983 entstanden durch die Intransparenz der Handlungen beider Parteien und durch Befürchtungen, das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den beiden Supermächten könnte aus dem Lot geraten. In beiden Fällen hatten die Parteien Angst, der Gegner könnte Oberhand gewinnen oder sogar den „finalen“ Krieg beginnen. 1962 hegte die US-Regierung den Verdacht, die UdSSR bereite von Kuba aus einen Atomschlag gegen Amerika vor. 1983 wiederum glaubte die Sowjetunion, dass die westlichen Staaten unter dem Deckmantel von Militärübungen von westeuropäischem Territorium aus einen Atomschlag gegen die UdSSR vorbereiten.
„2022 versucht Putin nicht, ein ins Wanken geratenes Gleichgewicht des Schreckens mit den USA auszugleichen, denn dieses Gleichgewicht war ja jetzt nicht in Gefahr“, schreibt Fiona Hill, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Brookings Institution und ehemalige Beraterin mehrerer US-Präsidenten. „Stattdessen droht Putin mit einem einseitigen Angriff, weil er einen Krieg verliert, den er selbst begonnen hat.“
Heutzutage sind dank hochentwickelter Technologien, darunter nachrichtendienstlichen, alle Pläne und Truppenbewegungen transparent. Der Versuch der Manipulation mit Ängsten aus der Vergangenheit ist so durchschaubar, dass sie weniger erschaudern lässt als in früheren Situationen. Die westlichen Gegner in Schockstarre zu versetzen, ist dem Kreml nicht gelungen.
Die russische Gesellschaft wird in Angst versetzt – bereits die gesamten Putinjahre hindurch
Die russische Gesellschaft in Angst zu versetzen – das betreibt der Staat bereits die gesamten Putinjahre hindurch, und im vergangenen Jahr hat er seinen Aufwand verdreifacht. OWD-Info nennt die Repressionen, die die russischen Behörden im letzten Jahr angestrengt haben, „präzedenzlos“. Die Zahl der Strafverfahren, die allein im letzten Jahr als Folge von Anti-Kriegs-Aktionen eingeleitet wurden (378), ist vergleichbar mit der Zahl aller Verfahren, die in den zehn Jahren davor im Zusammenhang mit repressiven Maßnahmen eingeleitet wurden, angefangen mit den Bolotnaja-Prozessen.
Diese Verfolgungen wurden durch einen kurzfristig ausgearbeiteten Rechtsrahmen ermöglicht. Im vergangenen Jahr wurde das Strafgesetzbuch der Russischen Föderation (RF) um Paragrafen zur „Verbreitung wissentlicher Falschinformationen über den Einsatz der Streitkräfte der RF“ und zu „öffentlichen Handlungen, die den Einsatz der Streitkräfte der RF diskreditieren sollen“ erweitert. Strafbar sind nun auch die „vertrauliche“ Zusammenarbeit mit ausländischen Staaten und Organisationen, öffentliche Aufrufe zu Handlungen, die gegen die Staatssicherheit gerichtet sind, und die Verletzung der Vorschriften zum Schutz des Staatsgeheimnisses.
Verabschiedet wurden allgemeine Gesetze zur „Kontrolle der Aktivitäten von Personen, die unter ausländischem Einfluss stehen“ (also von allen „ausländischen Agenten“) und Gesetze, die die sogenannte Propaganda „nichttraditioneller sexueller Beziehungen“ gänzlich verbieten.
Ein wichtiges Instrument, um Druck auf die Gesellschaft auszuüben, war auch – zweifellos mit Putins Segen – der Aufstieg des Unternehmers Jewgeni Prigoshin. Wobei Prigoshins Höhenflug kein Beweis dafür ist, dass der Staat sein Gewaltmonopol eingebüßt hat, auch wenn es so aussehen mag. Es deutet eher auf den Versuch hin, dieses Monopol auf offenkundig kriminelle Gewalt auszuweiten und sich Verbrecher dienstbar zu machen. Offensichtlich strebt der russische Staat nicht nach Legitimität, wofür das Gewaltmonopol wichtig wäre, sondern nach einer Unterwerfung der Gesellschaft durch Gewalt, materielle Interessen und – offenbar bereits in geringerem Ausmaß – durch Propaganda.
Die Bemühungen des Kreml haben zu einer Polarisierung der Gesellschaft geführt, zu ihrer Unterteilung in ungleiche Gruppen. Ein Großteil unterstützt den Krieg vielleicht nicht, nimmt ihn aber zumindest als unausweichlich hin und sucht nach Möglichkeiten, unter den neuen Gegebenheiten zu überleben oder sogar daran zu verdienen. Wie der Finanzanalyst Alexander Koljandr bemerkte, ist der Kreml damit beschäftigt, eine ganze Schicht von Staatsbürgern zu erzeugen, die an der Fortsetzung des Krieges interessiert ist.
Der Kreml ist damit beschäftigt, eine Schicht von Staatsbürgern zu erzeugen, die an der Fortsetzung des Krieges interessiert ist
Für hunderttausende Vertragssoldaten und Einberufene ist der Sold höher als jegliche Einkünfte, die sie in Friedenszeiten erzielen konnten. Profitieren können auch die, die auf die eine oder andere Art an den Rüstungssektor, an Industrien zur Importsubstitution und an neue Importnetze zur Umgehung der Sanktionen angebunden sind. Diese Schichten machen vielleicht gerade mal die Hälfte der Bevölkerung aus, sind aber zahlenmäßig größer als jene Gruppen, die im letzten Jahr emigriert sind – und hier bleibt unberücksichtigt, dass die bereits erfolgte Mobilmachungswelle mit ziemlicher Sicherheit nicht die letzte sein wird. Den mangelnden Kampfgeist ersetzt der Kreml konsequent durch materielle Stimuli und indem es keine Alternativen zu dem neuen Wirtschaftsprogramm gibt.
Mit Einschüchterung und Repressionen ist es dem Kreml gelungen, den Widerstand gegen den Krieg zu unterdrücken und einen Teil der Kriegsgegner aus dem Land zu drängen. Bei sinkenden Einkünften aus Energie- und sonstigen Exporten geht es in erster Linie um die Aufteilung des Staatshaushalts, der zunehmend danach ausgerichtet wird, den Krieg weiterzuführen. Dazu müssen die Menschen entweder ihre Ansichten verbergen oder wetteifern, wer die meiste Loyalität bekundet. Die russische Gesellschaft war offenbar leichter mit Angst in den Griff zu kriegen als die Ukraine, Europa und die USA. Die Angst hat sie gelähmt.
Hört man den russischen Leadern zu, dann haben sie diesen seit 80 Jahren größten Krieg auf europäischem Boden angezettelt, um Sicherheit zu gewährleisten. In der russischen Rhetorik, die auf die Rechtfertigung der Invasion abzielt, sind die Begriffe „Sicherheit“ und „Sicherheitsgarantien“ ständig zu hören. Fiona Hill nennt das ein systemimmanentes Paradoxon der russischen Politik: Indem der Staat die Priorität der Sicherheit in allen Sphären betont, ist er in Wirklichkeit permanent damit beschäftigt, die Angst hochzupeitschen.
Es war leichter, die russische Gesellschaft mit Angst in den Griff zu kriegen als die Ukraine, Europa und die USA. Die Angst hat sie gelähmt
Vor unseren Augen haben Millionen Ukrainer, EU-Bürger und Amerikaner demonstriert, wie man auf solche Manipulationen richtig reagiert. Russlands militärische, energetische und ökonomische Aggression gegen seine Nachbarn und langjährigen Handelspartner bringt unvergleichliche Not und Verluste – momentan natürlich vor allem in der Ukraine. Trotzdem schüren Russlands Handlungen heute weniger Angst als in etlichen früheren brenzligen Situationen.
Offensichtlich bleibt Russland unter der jetzigen Regierung einer der gefährlichsten Staaten der Welt. Das weiß heute jeder – aber niemand weiß, ob das im Fall eines Machtwechsels anders wird. Sich von Moskaus Handlungen auf vielfältige Weise abzusichern, wird daher für die Politik sämtlicher Staaten, die mit Russland zu tun haben, auf Jahrzehnte hinaus Pflichtprogramm sein.
Die belarussische Opposition um Swetlana Tichanowskaja genießt eigentlich internationale Anerkennung: Die Politikerin hat sich im Juli 2021 mit US-Präsident Joe Biden im Weißen Haus getroffen, auch zahlreiche europäische Politiker haben die Oppositionelle empfangen. Nur die ukrainische Politik ignoriert demonstrativ sowohl Tichanowskaja als auch die anderen Vertreter der demokratischen Kräfte von Belarus.
Zwar sind belarussische Truppen bislang nicht direkt am russischen Krieg gegen die Ukraine beteiligt, dennoch leistet das Regime Lukaschenko dem Kreml bedeutende Schützenhilfe: Am 24. Februar 2022 wurde Belarus zu einem Durchgangshof für den russischen Überfall auf die Ukraine. Lukaschenko steht fest an der Seite des Kreml und unterstützt die russische Aggression mit Logistik, Militäraufklärung oder Dienstleistungen für die russische Armee.
Wäre es da für die ukrainische Führung nicht opportun, sich mit Tichanowskaja zu verbünden und gemeinsam mit der demokratischen Opposition das Regime Lukaschenko zu schwächen?
Nicht so einfach, meint der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch – und analysiert auf Reform.by denkbare Motive für die Kyjiwer Funkstille.
Waleri Kowalewski, der Beauftragte für Außenpolitik im belarussischen Vereinigten Übergangskabinett, hat zwar indirekt, aber doch bestätigt: Die Ukraine stelle sich gegen eine Teilnahme von Swetlana Tichanowskaja und Vertretern der belarussischen Öffentlichkeit an internationalen Veranstaltungen. Was für eine Strategie verfolgt die ukrainische Führung mit einer solchen Politik?
Wie Waleri Kowalewski auf dem TV-Sender Belsat sagte, wurde der Ablauf des Festakts anlässlich des 160. Jahrestags des Januaraufstands von Kastus Kalinouski in Warschau tatsächlich verändert: „Während der Vorbereitungen auf diese Veranstaltung erreichte uns die Information, dass es Einwände gegen Swetlana Tichanowskajas Auftritt sowie gegen die belarussische Flagge und den belarussischen Kranz gebe. Ganz offensichtlich wurde der ursprünglich geplante Ablauf verändert“, berichtete Kowalewski. Dabei ging Kowalewski nicht ins Detail, wer genau sich gegen eine vollwertige Teilnahme der belarussischen Demokraten an dieser Jubiläumsfeier ausgesprochen hatte. Will man darauf die Antwort wissen, so genügt es, sich an Selenskys Ansprache zu erinnern, die bei der Zeremonie verlesen wurde. Der ukrainische Präsident sprach von vereinten Völkern im Kampf gegen den russischen Imperialismus. Doch die Belarussen wurden nicht erwähnt. Das ist natürlich kein Zufall, sondern bewusste Politik der ukrainischen Regierung.
Ukraine blockiert konsequent die Teilnahme von Swetlana Tichanowskaja und von Vertretern der belarussischen Zivilgesellschaft
Die Feierlichkeiten zum 160-jährigen Jubiläum des Januaraufstands und Kowalewskis Kommentar sind nicht die einzige Gelegenheit, sich die belarussisch-ukrainischen Beziehungen vor Augen zu führen. Mehrere nicht namentlich genannte europäische Diplomaten haben Nasha Niva erzählt, die Ukraine blockiere konsequent die Teilnahme von Swetlana Tichanowskaja, aber auch von Vertretern der belarussischen Zivilgesellschaft an gemeinsamen Veranstaltungen mit europäischen Ländern. Es handelt sich also nicht um einen Einzelfall, sondern um eine Strategie der ukrainischen Führung.
Olexander Mereshko, Vorsitzender des Ausschusses für Außenpolitik und interparlamentarische Zusammenarbeit der Werchowna Rada und Mitglied der Fraktion Sluha narodu, dementiert das: „Ich glaube nicht, dass die Ukraine Tichanowskajas Teilnahme an diplomatischen Veranstaltungen gezielt verhindert. Das ist vielmehr eine Frage des diplomatischen Protokolls. Für die Teilnahme an diplomatischen Veranstaltungen braucht man einen besonderen Status. Und es ist sehr ungewöhnlich, dass andere Personen als Repräsentanten von Staaten dabei sind“, meint er.
Das ist vielmehr eine Frage des diplomatischen Protokolls
Diese Erklärung überzeugt jedoch nicht. Im Juli 2021 hat das litauische Außenministerium die Demokratische Vertretung Belarus anerkannt und Tichanowskajas in Vilnius tätigem Team einen offiziellen Status verliehen. Das diplomatische Protokoll hindert die belarussischen demokratischen Kräfte nicht an Treffen mit US-Präsident Joe Biden und auch nicht an Terminen mit den höchsten Führungsriegen von Deutschland und Polen. Einzig das offizielle Kyjiw fühlt sich gestört und ignoriert schon lange demonstrativ sowohl Tichanowskaja als auch die anderen Vertreter der demokratischen Kräfte von Belarus.
Im ukrainischen Establishment bestehen heute in Bezug auf unser Land unterschiedliche Strömungen. Manche Politiker und Experten, etwa Alexander [sic!) Arestowytsch, sind der Meinung, Swetlana Tichanowskaja sei „die gesetzlich gewählte Präsidentin von Belarus“, und die in der Ukraine vorherrschende Haltung zur „Belarus-Frage“ füge sich in eine „Reihe sehr schwerer Fehler“. Manche Abgeordnete der Werchowna Rada, wie der bereits erwähnte Olexander Mereshko, finden, das legitime belarussische Organ, mit dem Kyjiw einen Dialog führen könnte, wäre am ehesten das Kalinouski-Regiment, das in die ukrainischen Streitkräfte eingegliedert ist. Tichanowskajas Position zu Russland und Putin sei „zu unklar“.
Die ukrainische Regierung mit Präsident Selensky an der Spitze lehnt den Kontakt zu Tichanowskaja genauso ab wie zu allen anderen Vertretern der belarussischen demokratischen Bewegung, die „Kalinouzy“ [Soldaten des Kalinouski-Regiments – dek] eingeschlossen. Zumindest auf offiziellem Parkett. Gleichzeitig setzt die ukrainische Regierung allem Anschein nach bis zu einem gewissen Grad den Dialog mit dem offiziellen Minsk fort. Das lässt sich aus Alexander Lukaschenkos Äußerung ableiten, die Ukraine habe ihm die Schließung eines Nichtangriffspakts vorgeschlagen. Weder Präsident Selensky noch das ukrainische Außenministerium haben diese Erklärung bestätigt, aber auch nicht dementiert.
Will die ukrainische Regierung vermeiden, Lukaschenko zum Kriegseintritt zu provozieren?
Möglicherweise ist einer der Gründe dafür, Tichanowskaja und das Übergangskabinett zu ignorieren, dass die ukrainische Regierung Lukaschenko nicht zum Kriegseintritt provozieren will. Gleichzeitig gibt es aber das Kalinouski-Regiment, das das offizielle Minsk bestimmt nicht weniger, wenn nicht sogar noch mehr ärgert als alle demokratischen Kräfte zusammen.
Worin kann denn nun die Strategie von Selensky und seinem Team bestehen? Ist die Besänftigung des offiziellen Minsk wirklich das Hauptproblem?
Eine Reihe belarussischer Politologen findet diese Position der ukrainischen Führungsriege kurzsichtig, weil ohne unabhängiges Belarus keine Stabilisierung der Region möglich sei. Die Botschaft ist klar. Allerdings würde das Ende des Kriegs und auch ein Sieg der Ukraine nicht unbedingt bedeuten, dass Putins und Lukaschenkos Regime fallen. Ein definitiver Sieg für die Ukraine wäre eine Befreiung der von Russland okkupierten Gebiete. Weiterzugehen, in die Russische Föderation oder gar in Belarus einzumarschieren, Moskau oder Minsk zu stürmen, steht für die ukrainische Staatsmacht nicht zur Debatte. Und deswegen sollte Kyjiw ein Szenario nicht ausschließen, in dem die Ukraine auch in Zukunft mit Putin und Lukaschenko als Nachbarn wird leben müssen, selbst wenn ihre Systeme vielleicht hinter einem „eisernen Vorhang“ verschwinden. Der übrigens nach Kriegsende womöglich gar nicht mehr so undurchlässig sein wird, einen Teil der wirtschaftlichen Sanktionen könnte der Westen dann durchaus aufheben. Selbst wenn diese Regime genauso repressiv, genauso unmenschlich bleiben – das sind eure Probleme, kann es aus Kyjiw dann heißen, und es ist nicht Sache der Ukrainer, sie zu lösen. Zudem wird das Minsker Regime, sollte durch eine Niederlage Moskaus die Unterstützung aus Russland wegfallen, gezwungen sein, zumindest kosmetische Änderungen vorzunehmen.
Das Kriegsende und auch ein Sieg der Ukraine bedeutet nicht unbedingt, dass Putins und Lukaschenkos Regime fallen
Und weil Kyjiw seine Beziehung zu Lukaschenko also sowieso auf die eine oder andere Art wird pflegen müssen – wozu sollten sie es sich schon heute endgültig mit ihm verscherzen? Zumal er Belarus ja irgendwie doch unter Kontrolle hat. Und nicht auszuschließen ist, dass das auch weiterhin so bleibt.
Wenn die Belarussen und die Ukrainer von der Besatzung ihrer Länder durch Russland sprechen, dann haben sie von dieser Okkupation unterschiedliche Vorstellungen. Für die Belarussen ist Lukaschenkos Regime ein Teil des russischen Okkupationskontingents. In den Augen der Ukrainer ist das belarussische Regime einfach nur in seiner Entscheidungsfreiheit eingeschränkt, weil auf seinem Territorium russische Truppen stationiert sind. Folgt man dieser Logik, so wird Lukaschenko, sobald die Russen weg sind, wieder zum politischen Subjekt, mit dem man verhandeln kann. Die ukrainische Interpretation dieses Sachverhalts ist auch für Lukaschenko selbst äußerst günstig, weil es ihn weitgehend aus der Verantwortung für die Beteiligung an der Aggression zieht. Dasselbe Narrativ promoten auch die Abgesandten des offiziellen Minsk in ihren raren Kontakten zum Westen.
Ukraine will das Problem lösen, wenn die Sieger feststehen und Dispositionen klar sind
Wie es aussieht, beabsichtigt die ukrainische Regierung, die Lösung des Belarus-Problems auf „nach dem Krieg“ zu verschieben, wenn dann die Sieger feststehen und die endgültige Disposition klar ist. Und wenn klar ist, wie und zu wem man seine Beziehungen ausbauen muss. Zumindest solange Belarus nicht in diesen großangelegten Krieg eintritt, hat es Kyjiw offenbar nicht eilig, sich für eine der beiden Seiten im innerbelarussischen Konflikt zu entscheiden. In der Hoffnung, sich nach dem Sieg jenen zuzuwenden, die sich als stärker und einflussreicher erweisen. Im Grunde ist es simpel – wenn Lukaschenkos Regime untergeht, dann wird das Oberhaupt des neuen Belarus, egal ob Tichanowskaja oder jemand anders, selbst daran interessiert sein, ein Vertrauensverhältnis zur siegreichen Ukraine aufzubauen. Wenn Lukaschenko nicht untergeht – tja, dann muss man eben auf ihn oder seinen Nachfolger zugehen. Doch sogar in diesem Fall wird das für die Ukraine, so sie denn siegt und nicht verliert, viel einfacher sein als heute. Ob diese Strategie vertretbar ist, ist eine andere Frage. Auch, welchen Einfluss diese Haltung der ukrainischen Regierung auf die belarussische politische Agenda hat. Doch die demonstrative Zurückweisung der belarussischen demokratischen Kräfte durch die ukrainische Regierung drängt einen dazu, genau diese Fragen durchzuspielen.
Im Häuserblock, der einst hunderte Menschen beheimatete, klafft eine gewaltige Lücke voller Trümmer: Die russische Armee hat am 14. Januar mit einem Marschflugkörper vom Typ Ch-22 einen Wohnblock im ostukrainischen Dnipro zerstört und dabei laut ukrainischen Angaben 46 Menschen getötet und Dutzende verletzt.
Woher kommt die Gleichgültigkeit oder gar Zustimmung, mit der viele Menschen in Russland auf die Zerstörung von Wohnhäusern und ziviler Infrastruktur in der Ukraine blicken? Das fragt der politische Analyst Alexander Baunow auf Carnegie politika und sieht imperiale Denkmuster am Werk.
Wladimir Putin hat wiederholt zu verstehen gegeben, dass er die Sowjetunion nicht wiedererrichten, sondern übertreffen will beziehungsweise sie bereits übertroffen hat. Er verkündete stolz, Russland sei flächenmäßig zwar kleiner als die UdSSR, überhole sie dafür jedoch bei der Produktion und Ausfuhr von Getreide sowie beim Seegüterumschlag (gemeint ist selbstverständlich vor dem Krieg). Die russische Armee sei nicht dank sowjetischer Technik stark, wie viele selbst patriotisch gestimmte Bürger glauben, sondern dank moderner Waffen, die ihren westlichen Pendants überlegen seien.
Die Krim-Brücke, die Stalin (für viele Russen der größte Herrscher Russlands) anlässlich der Jalta-Konferenz hat bauen lassen, hielt nicht lange, bevor sie im Winter 1945 vom Packeis fortgerissen wurde. Putins Brücke ist für Jahrhunderte gedacht. Und genauso soll auch Putins Russland ein stabileres, moderneres Gebilde sein als die UdSSR und das Reich der Romanows, die beide zerfielen. Auf der Suche nach diesem neuen, auf Jahrhunderte angelegten Gebilde und nach neuen stabilen Grenzen wurde auch der jetzige Krieg begonnen.
Auf der Suche nach einer neuen Stabilität kommt es zu einer Abkehr von sowjetischen Konstrukten, wie der Freundschaft zwischen dem russischen und dem ukrainischen Volk, die jeweils eine eigene Republik bewohnen (für deren Gründung Putin das sowjetische Projekt unermüdlich kritisiert), und das zu Sowjetzeiten als ur-ukrainisch geltende Saporishshja wird nach einem hastigen „Referendum“ zu einer normalen russischen Region erklärt, ohne den geringsten Unterschied zu anderen zentralrussischen Regionen.
Wo sollen die Grenzen von Putins Russlandprojekt verlaufen?
Wo sollen nach Ansicht derer, die die Bombardierung von Kraftwerken rechtfertigen, die Grenzen von Putins Russlandprojekt verlaufen, das stabiler werden soll als das sowjetische und zaristische Imperium?
Zur Beantwortung dieser Frage wird gewöhnlich die russische Sprache herangezogen: Dort, wo Russisch gesprochen wird oder wurde. Und zweitens: Dort, wo wir „unsere Siege“ errungen haben, in erster Linie während des Großen Vaterländischen Krieges. Dieses Prinzip könnte man folgendermaßen formulieren: Vom Faschismus befreite Gebiete können nicht feindlich sein. In den letzten Monaten verweist Putin vermehrt auf die Siege unter Peter I. und Katharina II., allerdings nicht nur auf die Siege, sondern auch auf die Aneignung dieser Gebiete, als hätte dort erst mit der Ankunft der Russen die Zivilisation Einzug gehalten.
Daraus ergibt sich das dritte Kriterium, womit definiert werden soll, was uns gehört und was nicht: die sowjetische Industrialisierung und ganz allgemein die industrielle Erschließung von Gebieten. Also dort, wo die UdSSR aktiv die Industrie förderte und Staudämme, Kraftwerke, U-Bahnen, Eisenbahnstrecken und Fabriken baute. All das betrachtet die heutige Führung und der überwiegende Teil der russischen Bevölkerung als ihr Eigentum: Wir haben diese Gebiete gestaltet, deshalb gehören sie uns und dürfen nicht gegen uns verwendet werden.
Kraftwerke und Fabriken gab es vor der Sowjetzeit nicht: ‚Wir haben die für euch gebaut‘
Die russischen Normalbürger nehmen es leichtfertig, ja fast freudig hin, dass die russische Armee ukrainische Fabriken und Kraftwerke zerstört, die die Städte mit Strom und Wärme versorgen, weil sie sie als ihr Eigentum betrachten, frei nach dem Motto: „Wir haben die für euch gebaut.“ In ihren Augen handelt Russland rechtmäßig, wenn es sie vernichtet.
Die von Putin verkündete „Entsowjetisierung“ der Ukraine bedeutet paradoxerweise gleichzeitig den Wiederaufbau von Lenin-Denkmälern als Teil des gemeinsamen Erbes (sie stehen in allen russischen Städten, warum sollen sie nicht auch bei euch stehen?) und die Zerstörung von Fabriken, Kraftwerken, Brücken und Straßen (ihr wolltet ohne uns leben, also lebt in der Steinzeit, ohne das, was Russland für euch gebaut hat). Das ist übrigens auch der Grund, warum sich Kasachstan, eines der Zentren der sowjetischen Industrialisierung, akut bedroht fühlt.
Eine solche Haltung wie gegenüber der Ukraine findet eine Entsprechung innerhalb Russlands: Genauso behandelt die politische Führung (mit Unterstützung des Volkes) die russische Wirtschaft. Fabriken, Staudämme, Bergwerke – alles, was der sowjetische Staat aufgebaut hat und das später privatisiert, modernisiert und an das Leben in der Marktwirtschaft angepasst wurde, hat niemals wirklich aufgehört, Staatseigentum zu sein, das heißt einer Führungsclique zu gehören, die im Namen des Staates und des Volkes auftritt.
Eine Haltung wie der Ukraine gegenüber findet sich auch innerhalb Russlands
Seit der Privatisierung sind fast drei Jahrzehnte vergangen, aber in den Augen der Staatsführung sowie der meisten Russen sind die Großunternehmen nicht die Eigentümer, sondern lediglich „Halter“ der Vermögenswerte: Sie benutzen sie, solange man es ihnen erlaubt. Doch sobald der Kreml einen Unternehmer als Feind einschätzt, wird sein Unternehmen genauso vernichtet wie die Kraftwerke in der Ukraine: Was uns gehört, darf nur für uns sein.
In Russland wird die industrielle und infrastrukturelle Entwicklung der ehemaligen Sowjetrepubliken zunehmend als Geschenk an die weniger entwickelten Peripherien betrachtet. Das ist ein weiterer Bruch mit der sowjetischen Identität, die darauf beruhte, dass die Fabriken, Brücken und Straßen im ganzen Land das Ergebnis einer multinationalen Anstrengung aller Völker der Union waren. Die russischen Bürger befürworten die Bombardierung der zivilen Infrastruktur in der Ukraine, weil sie diese als ihr Geschenk an die undankbaren Ukrainer betrachten, die es nicht zu Russlands Wohl verwenden.
Die Russen betrachten die Ukraine, als wäre die Zeit angehalten worden: ‚Ohne uns und nach uns wird es hier nichts geben‘
Die Sowjetregierung manipulierte auf eine ganz ähnliche Weise: In den 70 Jahren ihres Bestehens hat sie ihre Wirtschaftsindikatoren stets mit dem Höhepunkt der wirtschaftlichen Entwicklung im zaristischen Russland im Jahre 1913 verglichen – als ob es ohne die Sowjetunion keine wirtschaftliche Entwicklung gegeben hätte und andere Kennzahlen wie die Alphabetisierungsrate der Bevölkerung nicht gestiegen wären.
Ebenso neigen der Kreml und die russischen Bürger dazu, im Hinblick auf die Ukraine und andere Teile des ehemaligen Imperiums zu vergessen, dass die Entwicklung dort mit oder ohne sie stattgefunden hätte, und dass es unmöglich ist, sich ein europäisches Land wie die Ukraine mit einer Bevölkerung von mehreren zehn Millionen Menschen ohne Kraftwerke, Schulen und Fabriken vorzustellen. In dem Teil der Welt, in dem sich die Ukraine befindet, hätte es Ende des 20. Jahrhunderts in jedem Fall Strom, fließendes warmes und kaltes Wasser in den Häusern der Städte und öffentliche Verkehrsmittel auf den Straßen gegeben.
Die Russen betrachten die Ukraine, als wäre die Zeit angehalten worden – „ohne uns und nach uns würde und wird es hier nichts geben“ –, und begründen damit ihr Recht auf Erbeutung und Zerstörung. Der Übergang vom gemeinsamen sowjetischen „wir“ zu einem neuen „wir und sie“ wird vor unseren Augen vollzogen. Putins Krieg gegen die Ukraine stärkt nicht nur die nationale Identität der Ukrainer, indem er sie von ihren sowjetischen Merkmalen befreit, sondern er verändert auch die postsowjetische Identität einer riesigen Zahl von Bürgern im eigenen Land.
1991 erklärte die Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik ihre Unabhängigkeit. Wie alle anderen Sowjetrepubliken, die seit 1990 begonnen hatten, sich von der Sowjetunion loszusagen. Nur die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik hatte sich nicht unabhängig erklärt, lediglich ihre Souveränität festgestellt. Die neu entstandene Republik Belarus begab sich in das Abenteuer der parlamentarischen Demokratie, was aber schon bald wieder ein jähes Ende fand. 1994 – bei den ersten Präsidentschaftswahlen – wurde Alexander Lukaschenko ins Amt des Präsidenten gewählt. Er brachte das Land zurück auf einen autoritären Kurs.
War dieser Kurs unvermeidlich? Welche Faktoren haben dazu geführt, dass sich die belarussische Bevölkerung von einer demokratischen Entwicklung abgewandt hat? Hat die kurze Zeit der Demokratie dennoch Spuren hinterlassen, die sich beispielsweise im Selbstermächtigungsprozess der Proteste von 2020 gezeigt haben? In einem Bystro beantwortet der belarussische Historiker Viktor Schadurski diese und weitere Fragen.
1. Erlangte Belarus seine staatliche Souveränität 1991 eher durch die glückliche Fügung äußerer Umstände als durch den eigenen Willen zur Unabhängigkeit?
Man darf natürlich die Selbstaufopferung vieler Generationen von Belarussen nicht kleinreden, die über Jahrhunderte hindurch für Freiheit und Unabhängigkeit gekämpft haben. Allerdings muss man zugeben, dass eine deutliche Mehrheit der Einwohner der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik sich keine Zukunft außerhalb des „einen Sechstel der Erdoberfläche“ vorstellen konnte. Laut Umfragen aus dem Jahr 1990 waren damals nur zwölf Prozent der befragten Belarussen für eine staatliche Souveränität der Republik. Bei der Volksbefragung, die am 17. März 1991 in der gesamten Sowjetunion durchgeführt wurde, stimmten 82,7 Prozent der belarussischen Teilnehmer für die Aufrechterhaltung der UdSSR und nur 16,1 Prozent dagegen. Das waren deutlich mehr Pro-UdSSR-Stimmen als in Russland oder der Ukraine. In der „Parade souveräner Staaten“, die 1988 begann, verabschiedete Belarus seine Unabhängigkeitserklärung erst am 27. Juli 1990, also nach der Ukraine und noch weiteren sieben Unionsrepubliken. Auf diese Weise machte sich die belarussische Regierung nicht nur später als die baltischen Länder, sondern auch später als Russland und die Ukraine auf den Weg in die staatliche Souveränität.
Der Behauptung, Belarus habe seine Chance auf Unabhängigkeit in erster Linie günstigen äußeren Umständen zu verdanken gehabt – nämlich der Position seiner Nachbarländer, einschließlich Russland –, ist also durchaus zuzustimmen.
2. Warum waren die Belarussen pro-sowjetischer bzw. pro-russischer als andere Völker der Sowjetunion?
Eine schwere Belastungsprobe für die Entwicklung der belarussischen Nation war vor allem die aktive Politik der Russifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Politik sah nicht nur die Verankerung der russischen Sprache in Bildung, Kultur und Verwaltung vor, sondern auch eine zügige Industrialisierung der Unionsrepublik. Die Gründung neuer Automobilgiganten sorgte für ein rasantes Wachstum von Minsk und anderen belarussischen Städten und schuf die Voraussetzung für eine spürbare Verbesserung der Lebensqualität.
Bei der Unterdrückung des nationalen Selbstbewusstseins in der belarussischen Gesellschaft spielte die zentralisierte Kaderpolitik Moskaus eine wichtige Rolle, bei der alle wichtigen Ämter ausschließlich mit „von oben geprüften“ Beamten besetzt wurden. Die so genannte Partisanenelite, mit der man Namen wie Kirill Masurow und Pjotr Mascherow assoziierte, wurde Ende der 1970er durch Vertreter der Großindustrie ersetzt, für die die nationalen Besonderheiten der Belarussen eher ein Relikt aus der Vergangenheit waren als das geistige Fundament eines Volkes mit langen europäischen Traditionen.
Einer besonders gründlichen Kontrolle durch den sowjetischen Ideologieapparat waren historische Forschungen und der Geschichtsunterricht über Belarus unterworfen. Zur Geschichte der belarussischen Gebiete bis 1917 wurde praktisch geschwiegen, während die Zeit des Großfürstentums Litauen und die Rzeczpospolita als Belagerung des belarussischen Volkes dargestellt wurden, das immer von einer Wiedervereinigung mit Moskau träumte.
3. Allen Hindernissen zum Trotz wurde Belarus jedoch zu einem souveränen Staat. Wie war das möglich?
Wie bereits erwähnt, trugen zur Erlangung der belarussischen Unabhängigkeit äußere Umstände bei. Zugleich können äußere Umstände keine ernsthaften Veränderungen in einem Land herbeiführen, wenn nicht auch die nötigen inneren Faktoren vorliegen. Das große Glück der Belarussen war, dass sie durch ihre ganze Geschichte hindurch immer über eine kleine, aber sehr motivierte, national orientierte Elite verfügten. Diese Leute fanden zur richtigen Zeit und im richtigen Moment das Potenzial und die Möglichkeit, der Gesellschaft einen nationalen Handlungsplan anzubieten. So geschehen in den Jahren 1905 bis 1917 sowie in der Zeit der ersten Belarussifizierung in den 1920er Jahren. 1990 und 1991 gelang es den spärlichen national-demokratischen Kräften, vertreten vor allem durch die Belarussische Volksfront unter der Führung von Senon Posnjak, durch das amorphe, konservative belarussische Parlament – den Obersten Sowjet der XII. Legislaturperiode (1990–1995) –, äußerst wichtige Beschlüsse durchzuboxen, die für Belarus den Weg zur staatlichen Souveränität ebneten und die Bedingungen für Demokratisierungsprozesse und marktwirtschaftliche Reformen schufen.
Aktive Unterstützung bekamen die Demokratisierungsprozesse in Belarus durch die kreative Intelligenzija, durch Bildungspersonal, Kulturschaffende und Unternehmer. Auch in anderen Bevölkerungsschichten fand die Idee der Wiedergeburt der belarussischen Nation Anklang. Der staatlichen Bürokratie hingegen, die nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums bestehen blieb, waren Nationalisierungs- und Demokratisierungsentwicklungen größtenteils fremd.
4. Hätte Belarus eine Chance auf eine weitere Demokratisierung gehabt?
Die Anhänger des Wandels in der ersten Hälfte der 1990er Jahre hatten, wenn auch eine geringe, so doch eine Chance, dem Autoritarismus Einhalt zu gebieten. Eine verpasste Gelegenheit war laut Experten der Verzicht einiger demokratischer Abgeordneter auf außerordentliche Parlamentswahlen, bei denen aktivere und stärker national orientierte Vertreter der Gesellschaft hätten gewählt werden können. Der Oberste Sowjet der XII. Legislaturperiode wurde 1990 gebildet, als die UdSSR noch existierte und die Kommunistische Partei dominierte, weswegen darin vor allem Anhänger der alten Staatsmacht vertreten waren.
Im März 1994 verabschiedete der Oberste Sowjet eine Verfassung, die eine starke Position des Präsidenten in Belarus vorsah, die angesichts der schwach entwickelten politischen Kultur in der Bevölkerung und unreifer demokratischer Institutionen der Diktatur Tür und Tor öffnete. Die Praxis zeigt anschaulich, dass Länder mit einer parlamentarischen Regierung über eine starke Widerstandsfähigkeit gegen Autoritarismus verfügen. Meiner Meinung nach hat Belarus in der Zeit der parlamentarischen Republik nicht ausreichend materielle und moralische Unterstützung durch demokratische Staaten erfahren, die den jungen Staat damals vor allem als traditionelle „Einflusssphäre“ der Russischen Föderation wahrnahmen.
5. Warum konnte Alexander Lukaschenko nicht nur die demokratischen Kandidaten besiegen, sondern auch Vertreter der „Regierungspartei“?
Der Zerfall der UdSSR führte zum Untergang des streng zentralisierten Wirtschaftssystems, die engen Handels- und Produktionsbeziehungen zwischen den Unionsrepubliken rissen ab. Belarus erlebte ein drastisches Waren- und Dienstleistungsdefizit, die Inflation stieg rasant, ebenso die Arbeitslosigkeit. Die Wirtschaftskrise wurde von einer nomenklatorischen Privatisierung begleitet, das heißt, die attraktivsten Objekte aus dem Staatseigentum gingen in den Besitz von Beamten und ihren Verwandten über. Diese negativen Phänomene brachte der Großteil der Bevölkerung mit zwiespältigen Demokratisierungsprozessen in Verbindung. Im gesellschaftlichen Bewusstsein wurden Demokratisierungsprozesse fortan nicht mit einer höheren Lebensqualität assoziiert, sondern eher umgekehrt, man sah in der Demokratisierung die Hauptgründe für die Wirtschaftskrise, für verstärkte Bürokratie und die wachsende Korruption.
6. Wozu führte die Krise am Ende?
Die Krise ließ in der Mehrheit der Gesellschaft den Ruf nach einer „starken Hand“ in Person des Präsidenten laut werden. Das belarussische Volk hatte keine Erfahrung mit den Bedingungen einer stabilen Demokratie und war sehr anfällig für Populismus.
Den Schmerz der Bevölkerung über den Verlust der sowjetischen Vergangenheit und ihre Sehnsucht nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen wurde von einer Gruppierung um den ehrgeizigen Alexander Lukaschenko geschickt aufgegriffen, indem sie sowohl die offizielle Regierung als auch die demokratischen Kandidaten scharf kritisierte. Anstelle eines konkreten, stichhaltigen Wahlprogramms wartete der Populist mit dem Slogan „Zurück in die UdSSR“ auf, der ihm mit 80,34 Prozent der Stimmen einen klaren Sieg einbrachte.
7. Die belarussische Bevölkerung wählte Lukaschenko nicht nur, sondern unterstützte auch seinen Kurs der Rücknahme der Belarussifizierung. Wie kam es dazu?
Im Vergleich zu anderen postsowjetischen autoritären Herrschern geht von Lukaschenko eine zusätzliche Gefahr aus, indem seine Politik auf die Zerstörung der national-kulturellen Grundlagen des belarussischen Staates abzielt. Eine seiner ersten Initiativen war eine Volksabstimmung im Mai 1995, bei der nebst drei anderen diese Frage gestellt wurde: „Sind Sie einverstanden damit, dass der Status der russischen Sprache jenem der belarussischen angeglichen wird?“ [das Belarussische war 1991 in den Rang der alleinigen Staatssprache erhoben worden – Anm. der Red.] 83,3 Prozent der Befragten stimmten der Initiative des Staatsoberhaupts zu. Die Mehrheit (75,1 Prozent ) war auch für die Änderung der Nationalsymbolik und eine stärkere Anbindung an Russland (83,3 Prozent).
Obwohl die Mehrheit der Lukaschenko-Anhänger belarussischer Abstammung war, stellte die belarussische Sprache keinen hohen Wert für sie dar. Viele Landbewohner waren in die russischsprachigen Städte gezogen und hatten möglichst schnell den Stempel des „Kolchosbauern“ und „Dörflers“ loswerden wollen und versucht, Russisch zu sprechen. Viele ehemalige Landbewohner konnten sich jedoch die typische belarussische Aussprache und die gemischte Lexik nicht abgewöhnen und sprachen Trassjanka. Als dann Anfang der 1990er die aktive Belarussifizierung begann, verspürten sie keine Motivation, zur belarussischen Sprache zurückzukehren, weil das ihre langjährigen Bemühungen, sich einer russischsprachigen Umgebung anzupassen, zunichte gemacht und wieder Aufwand bedeutet hätte.
Man muss betonen, dass Lukaschenkos populistischen Kurs auch viele demokratisch gestimmte Wähler unterstützten, die sich in der ersten Zeit von ihm weismachen ließen, dass die Zweisprachigkeit nicht zu einer Benachteiligung der belarussischen Sprache, sondern zur Demokratisierung der Sprachenpolitik führen würde.
8. Welche Rolle spielten demokratische Errungenschaften aus der parlamentarischen Zeit für die weitere Entwicklung von Belarus?
Im November 1996 etablierte Lukaschenko im Zuge einer sogenannten Volksabstimmung, die genau genommen ein Staatsstreich war, eine personengebundene Diktatur. In Belarus wurde ein politischer Kurs eingeschlagen, der ein Erlahmen aller wichtigen Sphären des gesellschaftlichen Lebens mit sich brachte. Gleichzeitig leistete die belarussische Gesellschaft, gestützt auf demokratische Errungenschaften aus der Zeit der parlamentarischen Republik und auf die Hilfe demokratischer Länder, relativ erfolgreich Widerstand gegen die Konsolidierung des Autoritarismus und sein Abgleiten in Richtung Totalitarismus. Dieser Widerstand fand sowohl in der Politik als auch in Wirtschaft, Bildung und Kultur statt. So schritt trotz der Abneigung des Regenten gegen die Privatwirtschaft ein langsamer, aber stetiger Ausbau der Klein- und Mittelbetriebe voran, es wurden weiterhin moderne Technologien aus wirtschaftlich entwickelten Ländern importiert, und aus dem Ausland kam beachtliche humanitäre und technische Hilfe herein.
Als jedoch 2020 die Balance, die zwischen der bröckelnden autoritären Gruppierung und der aufsteigenden belarussischen Gesellschaft bestand, in rasendem Tempo zerstört wurde, musste die Diktatur, um ihr Fortbestehen zu sichern, zu totalitären Methoden greifen.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.