Rund ein Drittel der belarussischen Armee – die offiziell rund 65.000 Soldaten umfasst – soll die belarussische Staatsführung an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen haben. Das ukrainische Außenministerium warnte Lukaschenko vor einem „tragischen Fehler" und forderte, die Truppen wieder abzuziehen. Erst im Juli hatte Belarus seine Soldaten von der Grenze zur Ukraine abgezogen. Belarussische Beobachter halten das Manöver für psychologische Kriegsführung. Das Drohszenario, das möglicherweise auf Geheiß des Kreml inszeniert wurde, solle zusätzlichen Druck auf die Ukraine ausüben und Unruhe stiften. Die Frage aber, die sich alle stellen, ist: Ist es vorstellbar, dass Lukaschenko doch noch mit eigenen Truppen in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eingreift?
Igor Lenkewitsch vom belarussischen Online-Medium Reform hat dazu eine klare Meinung.
Eine vollständige Invasion in die Ukraine
Solch ein Szenario wäre Lukaschenkos Selbstmord. Selbst nach konservativen Berechnungen übersteigt die Zahl der ukrainischen Truppen an der Grenze zu Belarus die gesamte belarussische Armee um ein Vielfaches. Überhaupt die ganze Armee, inklusive Verwaltungsangestellter und Militärausbildern. Selbst wenn das belarussische Regime 30.000 Soldaten für einen Angriff zusammenziehen könnte, würde die kampferprobte ukrainische Armee diese in wenigen Tagen aufreiben. Darüber, dass die Grenze massiv befestigt und vermint ist, spreche ich schon gar nicht.
Experten haben wiederholt auf die unterschiedlichen Szenarien hingewiesen, unter denen Lukaschenko gezwungen wäre, aktiv in den Krieg einzutreten. Zum Beispiel könnte Putin im Falle eines katastrophalen Scheiterns der russischen Armee seinen Partner zwingen, sich einzubringen. Andererseits wäre aber auch ein Verrat nicht abwegig: Bei einer Niederlage Russlands wäre Lukaschenko der erste, der seinem „großen Bruder“ einen Dolch in den Rücken stößt.
Tatsächlich aber wäre das einzig plausible Szenario, in dem der belarussische Machthaber persönlich einer Teilnahme am Krieg zustimmen würde, der Einzug in Kyjiw als Triumphator auf den Schultern eines überwältigenden Sieges der russischen Truppen. Sozusagen, um rechtzeitig seinen Teil des Kuchens abzubekommen. Aber diese Fantasien wurden schon in den ersten Tagen des Krieges zerstört. Und nichts spricht dafür, dass sie jemals Realität werden könnten.
Belarus ist mal wieder in den Nachrichten: Staatsführer Aljaxandr Lukaschenka hat bekanntgegeben, dass fast ein Drittel der belarussischen Armee an die Grenze zur Ukraine verlegt wurde. Laut Geheimdiensten wurden auch russische Söldner der Wagner-Gruppe an der Grenze im Gebiet Homel zusammengezogen. Warum dieses Manöver von Lukaschenkas Seite?
Zudem wurden für den 23. Februar 2025 sogenannte Präsidentschaftswahlen angekündigt, die weder frei noch fair werden, weil im Land keine Opposition mehr möglich ist. Diese muss aus dem Exil heraus agieren. Wie tut sie das? Wie hat sich die Opposition insgesamt entwickelt? Und welche Strategien hat sie für die anstehende Wahlinszenierung?
Auf diese und andere Fragen antwortet die belarussische Politologin Victoria Leukavets vom Stockholm Centre for Eastern European Studies (SCEEUS).
dekoder: Anscheinend hat Lukaschenka Truppen an der belarussisch-ukrainischen Grenze aufmarschieren lassen. Warum?
Victoria Leukavets: Die Spannungen zwischen Belarus und der Ukraine haben sich nach dem Einmarsch der Ukraine in die russische Region Kursk verschärft. Letzte Woche erklärte Lukaschenka, dass Belarus etwa ein Drittel seiner Streitkräfte an die Grenze zur Ukraine verlegt habe. Er warf der Ukraine eine aggressive Politik vor: unter anderem die Verletzung des belarussischen Luftraums bei ihrem Angriff auf die russische Region Kursk und die angebliche Entsendung von mehr als 120.000 ukrainischen Soldaten an die Grenze zu Belarus. Verteidigungsminister Viktor Chrenin erklärte, Belarus sei bereit, Vergeltung zu üben, falls ukrainische Soldaten in das Hoheitsgebiet des Landes eindringen sollten. Die Ukraine hat die belarussischen Anschuldigungen zurückgewiesen und erklärt, sie habe keine 120.000 Soldaten an die Grenze geschickt.
Alles nur ein Psychospiel oder besteht tatsächlich die Gefahr, dass Lukaschenka in den Krieg eingreifen könnte?
Das Vorgehen Lukaschenkas kann auf verschiedene Weise interpretiert werden. Erstens ist ihm bewusst, dass belarussische Freiwillige eine aktive Rolle beim Einmarsch der Ukraine in die russische Region Kursk gespielt haben. Das Hauptziel der Freiwilligen ist es, nicht nur die Ukraine, sondern auch Belarus zu befreien. Daher versucht Lukaschenka, ein deutliches Signal zu senden, dass er die Lage an der belarussischen Grenze unter Kontrolle hält, falls die ukrainische Offensive auf belarussisches Gebiet übergreift. Zweitens könnte er durch die zunehmenden Spannungen an der belarussisch-ukrainischen Grenze Russland helfen, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit von dem Rückschlag abzulenken, den Russland beim Einmarsch in die Region Kursk erlitten hat. Dies erklärt die aktive Präsenz russischer Streitkräfte und russischer Söldner wie Wagner an der ukrainisch-belarussischen Grenze. Insgesamt ist es unwahrscheinlich, dass Belarus eigene Truppen in den Krieg schicken wird, da das Land für Moskau als Ausgangspunkt für militärische Operationen viel wertvoller ist als aktiver Teilnehmer an militärischen Aktionen. Letzteres könnte das Risiko der Instabilität in Minsk erhöhen und eine harte internationale Reaktion auslösen, die der Kreml nicht unbedingt gebrauchen kann.
Eigentlich war die sogenannte Präsidentschaftswahl für den Sommer 2025 in Belarus angekündigt. Nun wurde bekannt, dass sie am 23. Februar 2025 stattfindet. Hat Lukaschenka Angst, dass der Sommer den Protestwillen der Belarussen beflügeln könnte?
Lukaschenka versucht tatsächlich, die Risiken einer Wiederholung des Szenarios von 2020 zu minimieren. Damals wurde Belarus von einer Welle noch nie dagewesener Proteste erfasst. Diese Erfahrung war ein Schock für das politische System, das Lukaschenka seit Mitte der 1990er Jahre aufgebaut hat. Es gelang ihm, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Der Preis dafür allerdings war sehr hoch. Der Westen verhängte umfassende Sanktionen. Auf internationaler Bühne geriet er in die völlige politische Isolation. Rückblickend auf das Jahr 2020 könnte Lukaschenka also denken: Wenn er damals vorsichtiger gewesen wäre, wenn er weniger Risiken eingegangen wäre, hätte er diese Krise vermeiden können. Und deshalb wird er dieses Mal keinerlei Risiken eingehen und alle noch so kleinen Schritte unternehmen, die Situation vollständig unter Kontrolle zu halten. Dazu gehört auch das Kalkül, dass die Menschen im Winter möglicherweise nicht so protestwillig sind wie im Sommer.
Alle oppositionellen Parteien wurden verboten, die Repressionswelle rollt weiterhin. Warum braucht Lukaschenka solche Wahlinszenierungen überhaupt noch?
Wahlen in nicht-demokratischen Umgebungen sind Instrumente und Rituale, mit denen sich Diktatoren an der Macht halten. Autokratien mit Wahlen gelten in der Wissenschaft tatsächlich als beständiger als solche ohne Wahlen. Bei Belarus sehe ich drei wesentliche Funktionen, die solche Wahlen haben: Das Regime will damit seine Unbesiegbarkeit signalisieren. Allein durch das Abhalten der Wahl sendet das Regime eine starke Botschaft sowohl an die Bevölkerung als auch an die politische Opposition. Und die besagt: Wir sind stark genug, diesen Stresstest durchzustehen, und wir haben die Lage vollständig unter Kontrolle.
Zudem nutzt das System solche Wahlen sicher, um Informationen über die Opposition zu sammeln?
Richtig. Das Regime sammelt Informationen zur Loyalität in der Bevölkerung und vor allem unter den eigenen Anhängern. Die Wahlen geben dem Regime die Möglichkeit, die Taktiken der Opposition zu studieren, daraus zu lernen und so die eigenen Taktiken zu testen, anzupassen und infolgedessen insgesamt widerstandsfähiger zu werden. Außerdem helfen solche Wahlen Lukaschenka, sich im In- und Ausland zu legitimieren: Sie stärken die Verbindung zum loyalen Teil seiner Wählerschaft, aber übermitteln auch den internationalen Partnern wie Russland und China die Botschaft, dass das Regime stark ist, dass es die völlige Kontrolle hat und dass die vertrauensvolle Zusammenarbeit fortgesetzt werden kann.
Seit Juli wurden zahlreiche politische Gefangene entlassen. Muss man dies auch in Zusammenhang mit dem bevorstehenden Wahlereignis sehen?
Es gibt Gerüchte, dass es eine dritte Welle von Freilassungen geben wird. Zum Tag der nationalen Einheit am 17. September. Lukaschenka verfolgt damit zwei Hauptziele. Er versucht, die Spannungen in der Gesellschaft ein wenig abzubauen und den Boden für die Wahl zu bereiten. Aber ein wahrscheinlicheres, vielleicht ein realistischeres Ziel ist dieses: Er ist bestrebt, die Kommunikationskanäle mit dem Westen wieder zu öffnen. Es ist seine Art, dem Westen zu signalisieren, dass er zu Verhandlungen bereit ist, um den Sanktionsdruck zu verringern. Dazu gehört auch, dass er sehr genau beobachtet, was auf dem Schlachtfeld zwischen Russland und der Ukraine passiert. Vor dem Hintergrund der mutigen Offensive der Ukrainer in Kursk kalkuliert er seine eigenen Schritte. Wenn Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland unvermeidlich werden, würde dies die geopolitische Konfiguration in der ganzen Region beeinflussen, was sich wiederum auf Lukaschenka auswirken würde. Er sendet deswegen im Voraus Botschaften an den Westen. Als ernsthafte Schritte zur Einleitung eines tiefgreifenden Öffnungsprozesses würde ich diese aber nicht interpretieren. Er will ja keinen politischen Selbstmord begehen. Vielmehr hat er kleinere, pragmatische Ziele im Blick.
Bevor wir über die Taktik der Opposition sprechen – wer oder was ist die belarussische Opposition eigentlich?
Die Opposition ist kein homogener Körper, sondern besteht aus verschiedenen Strukturen und Organen. Zum einen ist da das Team von Swjatlana Zichanouskaja, der anerkannten nationalen Führungsfigur der Opposition. Dann gibt es ihr Vereinigtes Übergangskabinett, eine Art Exilregierung, deren Mitglieder wie Minister zu unterschiedlichen Fachbereichen agieren. Dazu kommt der Koordinationsrat, der sich quasi zu einem Exilparlament entwickelt, in dem Gruppierungen und Fraktionen mit unterschiedlichen politischen Interessen vertreten sind. Im Mai wurden erstmals Wahlen zu diesem Koordinationsrat abgehalten. Die Wahlbeteiligung war sehr gering, aber nichtsdestotrotz ist dies eine spannende demokratische Übung, die sich weiterentwickeln wird und die den hohen Organisationsgrad der Opposition zeigt. Weitere Gravitationszentren sind das Nationale Anti-Krisen-Management, das sich in Warschau befindet und das von Pawel Latuschka geleitet wird, das Kalinouski-Regiment, das auf Seiten der Ukraine kämpft und das auch im Koordinationsrat vertreten ist, und Sjanon Pasnjak, ein prominenter Vertreter der alten Opposition. Er ist einer der lautesten Kritiker von Zichanouskaja, wird aber von der Mehrheit in der Demokratiebewegung nicht ernst genommen.
Wie sieht also die Strategie der Opposition in Bezug auf die Wahlinszenierung aus?
Wenn es keine neuen Entwicklungen geben wird und die Situation so bleibt, wie sie ist, wären die Wahlen im Grunde eine One Man-Show. Die Opposition hätte so nur ein sehr begrenztes Instrumentarium, um die Situation vor Ort zu beeinflussen. Eine Strategie, die aktuell diskutiert wird, ist daher die Entwicklung einer effizienten Kommunikationskampagne, die sich an die belarussische Bevölkerung innerhalb des Landes, aber auch an das externe Publikum richtet. Das Hauptziel dieser Kampagne wäre es, Lukaschenka weiter zu delegitimieren, indem man die ganze Welt daran erinnert, wie repressiv dieses Regime ist, wie viele politische Gefangene es immer noch gibt, welche Rolle Lukaschenka beim Angriffskrieg gegen die Ukraine spielt und so weiter.
Wie stark ist eigentlich die Anhängerschaft von Lukaschenka? Es gibt Zahlen, die sie auf 20 bis 30 Prozent bemisst.
Wir können keine eindeutige Antwort auf diese Frage geben, und zwar aus dem einfachen Grund, weil Belarus wie jedes andere autoritäre Land eine Blackbox ist. Unter den gegenwärtigen Bedingungen der Unterdrückung kann man die Stimmung in der Gesellschaft einfach nicht genau messen, Die Leute haben Angst, ihre Meinung zu sagen. Meinungsumfragen werden nur online durchgeführt. Und das bedeutet bereits, dass sie nicht vollständig repräsentativ sind. Die Zahlen, die Sie nennen, stammten aus Umfragen von 2021, die von Chatham House durchgeführt wurden. Präzise werden dort 27 Prozent auf Seiten der Lukaschenka-Unterstützer genannt.
Einige in der Opposition fordern, dass sich auch Swjatlana Zichanouskaja als Oppositionsführerin zur Wahl stellen müsse. Wäre das nicht kontraproduktiv?
Es gibt diese Stimmen. Aber viel wichtiger ist, dass am Ende der Konferenz Neues Belarus, die im August in Vilnius stattfand, von den Teilnehmern ein sehr wichtiges Dokument verschiedet wurde, mit dem Zichanouskaja als Anführerin bestätigt wurde. Und zwar bis zu dem Zeitpunkt, wenn wirklich demokratische Wahlen in Belarus abgehalten werden können oder wenn sie selbst das Amt niederlegt. Die Mehrheit ist also der Ansicht, dass solch eine Wahl unter den derzeitigen Umständen riskant wäre. Sie könnte den inneren Zusammenhalt der demokratischen Bewegung untergraben.
In den vergangenen Jahren gab es immer Kritik am Team Zichanouskaja. Was sind die wesentlichen Kritikpunkte?
Bei der Kritik geht es um die angeblich intransparente Verwaltung der von westlichen Gebern bereitgestellten Mittel, um die angeblich mangelnde Koordination zwischen all den Institutionen der Opposition, über die wir vorhin gesprochen haben. Zudem wird vor allem die nicht gleichberechtigte Vertretung oppositioneller Stimmen auf internationaler Ebene bemängelt. Der Druck auf das Team von Zichanouskaja ist sehr hoch, die Erwartungen sind groß, die Exilsituation ist für alle sehr schwierig. Ich will die Kritikpunkte nicht abmildern, aber Kritik ist unter diesen Umständen normal, und sie ist ein Zeichen für die Vitalität und Diversität der Opposition. Wenn wir über den Erfolg oder Misserfolg der Opposition sprechen, müssen wir andere Kriterien heranziehen.
Und die wären?
Kriterium Nummer eins: Die belarussische Oppositionsbewegung wird von einem starken Zusammenhalt getragen und hat eine effektive Koordination entwickelt. Nummer zwei ist die hohe Anerkennung im Ausland und erfolgreiche Lobbyarbeit auf internationaler Ebene. Tatsächlich ist Swjatlana Zichanouskaja ständig unterwegs, wird sogar auf höchster politischer Ebene von politischen Amtsträgern und Vertretern empfangen. Es ist gelungen, stetige Kommunikationskanäle mit Regierungen aufzubauen. Das dritte Kriterium: Die Oppositionsbewegung ist bemüht, regierungsähnliche Strukturen zu schaffen, die auf Grundlage demokratischer Prinzipien funktionieren. Auch hier sehen wir, dass die Oppositionsbewegung mit demokratischen Aushandlungsprozessen und Vertretungsformen experimentiert. Die russische Oppositionsbewegung beispielsweise macht keinen einzigen Schritt in diese Richtung. Und das letzte Kriterium, das wohl fundamentalste und schwierigste: Jede Oppositionsbewegung kann als erfolgreich angesehen werden, wenn sie effektive Mechanismen entwickelt, um die Verbindung zur Bevölkerung im Heimatland aufrechtzuerhalten.
Kritiker bemängeln, dass die Opposition immer mehr zu einer Interessensvertretung der Exilbelarussen wird und den Kontakt zur Bevölkerung verliert.
An dieser Kritik ist natürlich etwas Wahres dran. Aber die Aufrechterhaltung der Kommunikation mit den Menschen im Land und deren Unterstützung hatte immer hohe Priorität. Es werden ständig neue Mechanismen entwickelt und getestet, um neue Kommunikationskanäle zu schaffen. Als die russische Vollinvasion begann, wurden verschiedene Antikriegs-Initiativen unterstützt, einschließlich der Eisenbahn-Partisanen und der Cyber-Partisanen. Diese Aktivitäten wurden in enger Abstimmung mit dem Büro von Zichanouskaja umgesetzt. Zudem werden ständig finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt, um politischen Gefangenen und deren Familien zu unterstützen. Es wird auch mit neuen Plattformen und Kanälen experimentiert, um die Menschen im Land mit Informationen abseits von Propaganda zu versorgen. Ich würde also nicht sagen, dass die Kommunikation mit den Menschen im Land ein völlig weißer Fleck ist. Ja, sie hat ihre Grenzen, weil das Regime derart repressiv ist. Aber die Opposition ist bemüht, diese Grenzen zu verschieben und aufzuweichen.
Lukaschenka hat in letzter Zeit häufiger gesagt, dass sich die Belarussen an einen neuen Anführer gewöhnen müssten. Er will doch nicht etwa zurücktreten?
Diesen Aussagen sollte man nicht ernst nehmen. Er hat in der Vergangenheit ähnliche Aussagen getätigt. Er versteht, dass Belarus eine sehr entscheidende Phase durchläuft. Und dies ist kein guter Zeitpunkt für einen Machtwechsel. Ich würde sagen, dass der Zweck solcher Aussagen im Grunde nur darin besteht, einen sehr ehrgeizigen Teil seiner Eliten in Schach zu halten. Indem er ihnen vermittelt, dass er zwar kein ewiger Anführer ist, dass er aber irgendwann für eine stabile Nachfolge sorgen wird, dass er die Kontrolle hat. Ein Rücktritt oder eine Machtübergabe werden ganz sicher nicht im Rahmen der Wahlen oder in baldiger Zukunft geschehen. Lukaschenka hat Angst, dass, wenn er loslässt, etwas Unvorhergesehenes passieren könnte.
Beim größten Gefangenenaustausch seit dem Kalten Krieg kamen Ende Juli 2024 insgesamt 16 Personen aus russischer Haft frei (einer davon – der Deutsche Rico Krieger – saß in Belarus im Gefängnis). Die Angaben darüber, wie viele politische Gefangene noch in Zellen und Straflagern festgehalten werden, gehen auseinander: Die belarussische Menschenrechtsorganisation Wjasna zählt gegenwärtig fast 1400 politische Gefangene in Belarus. Das Zentrum zum Schutz der Menschenrechte von Memorial zählt nur Fälle, die von den eigenen Experten untersucht und nach den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention bewertet wurden. Demnach sind gegenwärtig mehr als 340 Menschen in Russland aus politischen Gründen in Haft und mehr als 430 Personen wegen ihrer religiösen Überzeugung,
Die Organisation OWD-Info, die eng mit Memorial zusammenarbeitet, dokumentiert Festnahmen und Strafverfahren mit politischem Hintergrund. Ihrer Zählung nach laufen Stand August 2024 in Russland fast dreitausend solcher Verfahren.
Von den Repressionen betroffen sind aber nicht nur die Angeklagten und Verurteilten selbst. Auf dem Portal Bereg schildern Angehörige politischer Häftlinge, wie sie die Trennung erleben, wie sich ihr Leben veränderte und wie sie auf ein Wiedersehen warten:
Jegor Balasejkin, 18 Jahre alt, sechs Jahre Lagerhaft. Der damals 16 Jahre alte Gymnasiast wurde am Abend des 28. Februar 2023 bei dem Versuch festgenommen, ein Rekrutierungsbüro in Brand zu stecken.
Dmitri Skurichin, 49 Jahre alt, anderthalb Jahre Lagerhaft. Der Betreiber eines Einkaufsladens in einem kleinen Ort in der Leningrader Oblast hatte sich am 24. Februar 2023, dem Jahrestag des Überfalls auf die Ukraine, vor seinem Geschäft niedergekniet und ein Plakat gehalten: „Vergib uns, Ukraine!“. Das deutete das Gericht als „Diskreditierung der Streitkräfte“. Skurichin war seit vielen Jahren politisch aktiv, unter anderem als Abgeordneter im regionalen Parlament. Seit der Krim-Annexion protestierte er immer wieder gegen den Krieg gegen das Nachbarland. Ende Juli 2024 wurde er aus der Haft entlassen, nachdem er seine Strafe vollständig abgesessen hatte.
Boris Kagarlizki, 65 Jahre alt, fünf Jahre Lagerhaft. Der linke Soziologe betrieb einen beliebten YouTube-Kanal. Dort hatte er nach einer Explosion auf der Krim-Brücke im Oktober 2022 ein Video mit dem Titel „Explosive Grüße an den Brücken-Kater“ veröffentlicht. Ein Kater, der den Bauarbeitern zugelaufen war, wurde zuvor von russischen Staatssendern als Maskottchen der Brücke gefeiert. Kargalizki wurde am 12. Dezember 2023 zunächst zu einer Geldstrafe verurteilt. In der Berufungsverhandlung im Februar 2024 verwandelte das Gericht die Geldstrafe in Lagerhaft.
Tatjana Balasejkina
Mutter von Jegor Balasejkin
Jegor war immer ein sehr guter Junge. Wahrscheinlich denken viele, wenn ich das sage: „Natürlich, die Mama. Was soll sie sonst auch sagen?“ Aber es ist wirklich so. Er hat nie Ärger gemacht, hat nie gequengelt. Ich habe ihm vorgelesen, seit er auf der Welt ist, und er hat sich so sehr daran gewöhnt, dass wir, wenn er im Kindergarten oder in der Schule krank wurde, uns dann zuhause mit Büchern hinsetzten. Man konnte sich mit ihm immer einigen: Wollte er zum Beispiel im Geschäft ein Auto, habe ich ihm immer erklärt, dass wir das kaufen können, wenn mein Gehalt ausbezahlt wird, und er hat deswegen nie einen Aufstand gemacht.
Wir haben es geschafft, ein sehr warmherziges und vertrauensvolles Verhältnis zu unserem Sohn aufzubauen. Er hat uns nie hintergangen. Immer war er offen und ehrlich, wohl, weil er wusste, dass er von niemandem wegen einer Fünf oder wegen eines Energydrinks nach der Schule mit den Kumpels bestraft würde. Wir haben ihn nie physisch bestraft, er hat nie in der Ecke gestanden. Ich denke, er hatte das Gefühl, dass seine Eltern zu ihm stehen, und das hat zu einem vertrauensvollen Verhältnis geführt. Er hat mir immer alles erzählt, selbst intime Dinge, als er körperlich erwachsen wurde. Wir haben über seine erste Verliebtheit geredet, darüber, mit wem er im Gymnasium gut klarkommt und mit wem nicht. Wenn Jegor aus der Schule kam, zog er seinen Mantel aus, und setzte sich immer gleich an den Küchentisch und erzählte, wie sein Tag war.
Als Jegor geboren wurde, verstand ich, dass er keine Erweiterung von mir ist, sondern ein eigenständiger kleiner Mensch mit seinen Wünschen, Interessen, mit guter oder schlechter Laune. Diese Wahrnehmung unseres Kindes half uns, das Verhältnis aufzubauen, das wir jetzt [wo er in Haft ist] haben. Obwohl er seit 15 Monaten von uns getrennt und nicht erreichbar ist, scheint mir, dass unsere Beziehung noch stärker geworden ist. Wir vertrauen einander jetzt noch mehr.
Bei der ersten Sitzung vor Gericht, als die Untersuchungshaft festgelegt wurde, das war am 2. März 2023, hat Jegor uns kein einziges Mal angeschaut. Unsere Blicke ließen nicht von ihm ab, und er schaute kein einziges Mal her. Auch beim ersten Besuch in der Untersuchungshaft war er irgendwie vorsichtig. Erst einige Zeit später haben wir darüber gesprochen. Er sagte da, es sei ihm so vorgekommen, als würden wir ihn nicht unterstützen: „Ich werde jetzt allein sein in meinem Kampf.“ Mein Mann und ich waren perplex: „Wie können wir dich nicht unterstützen, wo wir dich doch dein ganzes Leben lang unterstützt haben? Wir haben alle deine Entscheidungen immer akzeptiert.“ Jegor meinte, er habe befürchtet, dass wir uns ja von ihm abwenden und ihn nicht weiter begleiten würden. Aber nach dem Gespräch war ihm dann sehr viel leichter ums Herz und froh zumute. Er hatte verstanden, dass wir diesen Weg gemeinsam bis zum Ende gehen. Unser Verhältnis wurde noch enger, nun vertraut er uns blind.
Wir können jetzt sogar über mehr Themen reden als in der Zeit, als er noch in Freiheit war. Er hat keinen Zugang zu Informationen, außer über den Fernseher. Jetzt sind wir seine Informationsquellen. Wir informieren uns über alles Mögliche: Literatur, Geschichte, Geografie, die Geschichte militärischer Konflikte. Alles, was wir erfahren, schicken wir ihm per Brief. Militärische Konflikte haben mich nie interessiert. Ich habe mich immer mehr für Sprachen interessiert – ich bin Englischlehrerin. Jetzt müssen wir die unterschiedlichsten Themen studieren, kurze Exzerpte schreiben und sie ins Gefängnis schicken. Und die Themen, über die wir sprechen, sind noch zahlreicher geworden.
* * *
Jegor wurde am 28. Februar 2023 unweit einer Rekrutierungsbehörde in Kirowsk festgenommen. Erst nach zwei Stunden wurden mein Mann und ich informiert. Zuerst dachten wir, dass wir jetzt irgendwelche Erklärungen unterschreiben, ihn dann mitnehmen und nach Hause fahren. Der Ermittler sagte uns aber, dass Jegor nicht nach Hause kann. Alle seine Sachen seien jetzt Beweisstücke, weswegen wir ihm neue bringen müssten. Dann folgten Durchsuchungen und Verhöre. Alles ging sehr schnell. Nach dem Verhör wurden die Ermittlungen neu eingestuft, es ging nicht mehr um § 167 des Strafgesetzbuches [„Vorsätzliche Sachbeschädigung“ – dek.], sondern um § 205 [„Terroristischer Akt“ – dek.].
Bis er hinter Gitter wanderte, hatte ich noch Hoffnung: Ich ging zu Hause auf und ab und fragte mich immer wieder: „Wie können wir dich da rausholen?“ Vom Gericht kehrte ich dann mit anderen Gedanken zurück: „Wir können dich da nicht rausholen. Wir müssen etwas unternehmen.“ Wir suchten im Internet nach Informationen, nach Menschenrechtsorganisationen und so weiter. Beim ersten Besuch sagte Jegor, wir sollten nicht mal daran denken, auf etwas zu hoffen, und dass es keinen Sinn hat, Geld für Anwälte auszugeben: „Ist doch völlig klar, wie es weitergeht. Ihr versteht ja, dass sie mir den 205er nicht deshalb anhängen, weil ich Flaschen geworfen habe, sondern wegen dem, was ich gesagt habe.“
* * *
Unser Leben hat sich in diesen 15 Monaten um 180 Grad gewendet. Aus naiven Erwachsenen, die an Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Anständigkeit glaubten, haben wir uns in komplette Realisten verwandelt.
Die erste Zeit nach der Verhaftung war am schmerzlichsten und schrecklichsten. Als ob man mich von einem Planeten auf einen anderen geworfen hätte, wo alles ringsum für mich fremd ist. Die Hoffnung und der Glaube an das Gute schwand mit jedem Prozesstag. Uns war klar, dass er nicht mit einer Bewährungsstrafe davonkommen wird. Wir hatten ja gehört, wie der Staatsanwalt und der Sekretär des Richters miteinander flüsterten und Jegor einen politischen Verbrecher nannten. Und obwohl einem all das bewusst ist – auf die Urteilsverkündung bist du dann doch nicht vorbereitet. Emotional kannst du damit unmöglich zurechtkommen. Als ich von den sechs Jahren hörte, wurde ich hysterisch, obwohl ich mich darauf eingestellt hatte. Am 15. Mai wurde Jegor auf die Liste der „Terroristen und Extremisten“ gesetzt: Wir wussten, dass das passieren würde. Aber wenn du ihn dann auf den Listen siehst, bist du doch wieder erschüttert. Zwei Tage stand ich total neben mir, das war wirklich ein Schlag für mich.
Mein Mann wurde einen Monat nach Jegors Verhaftung von seinem Arbeitgeber entlassen. Er kann nirgendwo mehr Arbeit finden, weil es überall, wo er sich bewirbt, eine Überprüfung durch die Staatssicherheit gibt. Und überall leuchtet knallrot, dass unser Sohn ein Terrorist ist.
Ich habe versucht in die ONK (Gesellschaftliche Beobachtungskommission) der Leningrader Oblast zu kommen. Die suchten zusätzliche Mitglieder. Ich schickte meine Papiere hin und machte sofort klar, wegen welches Paragrafen mein Sohn einsitzt. Sie sagten mir, dass sei gar kein Problem. Einige Wochen später rief man mich an und erklärte: „Wir haben die Bewerberlisten zur Prüfung an den FSB geschickt. Leider steht neben ihrem Familiennamen „Aufnahme kategorisch nicht empfohlen“.
Unser Freundes- und Bekanntenkreis hat sich von Grund auf verändert: Wir haben praktisch mit niemandem mehr Kontakt, der vor dem 28. Februar Teil unseres Lebens war. Überhaupt versuchen wir, uns mit niemandem zu treffen. Weil es uninteressant ist, über aufgeblühte Blumen und die Preise im Supermarkt zu reden. Früher war es für mich wichtig, dass ich leckeres Essen koche, dass die Wohnung aufgeräumt ist, dass alle Handtücher so hängen, wie ich es möchte. Jetzt weiß ich, dass mir völlig egal ist, wie die Handtücher hängen und was ich zu Essen koche. Ich nutze die Zeit lieber für Sachen, die jetzt wichtig für mich sind: Ich werde die Strafprozessordnung studieren. Die Werte haben sich für mich vollkommen verschoben.
Unsere Freunde und Verwandten sind geteilter Meinung: Einer hat Jegor des Verrats beschuldigt. Andere meinten, dass er ein dummer Junge sei und jetzt dafür büßen wird. Aber unsere Gerichte seien gerecht, und er werde natürlich freigesprochen und nach Hause kommen. Als dieses „gerechte“ Gericht dann sein Urteil fällte, war das ein Schock für diese Leute. Es gab niemanden, der sich vollkommen auf die Seite von Jegor stellte. Solche gab es nur unter denen, die wir nach seiner Verhaftung kennenlernten: seine Abonnenten, Menschen, die zu den Gerichtsprozessen gehen, die ihm Briefe schreiben.
Wir haben immer zu unserem Sohn gehalten und wir werden weiter zu ihm halten. Die Art und Weise, mit der er seine Überzeugung deutlich gemacht hat, war vielleicht nicht ganz korrekt. Aber er hat ein Recht auf diese Überzeugung.
* * *
Eine Zeit lang hörte ich Lieder, die mich aufmunterten. Dann begriff ich, dass sie keinen Trost mehr spenden: Wenn ich ein Lied abspiele, beginne ich sofort zu weinen. Das ist nicht gut, denn so werde ich immer trauriger. Zu Hause hängen die beiden T-Shirts, die wir beim Berufungsverfahren anhatten, mit Fotos von Jegor. Jeden Tag wache ich auf und sehe das Gesicht meines Sohnes. Ich gehe hin, küsse es, grüße ihn, spreche mit ihm, während ich durchs Zimmer gehe. Das gibt mir das Gefühl, dass er bei mir ist.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich es schaffe, und dann wieder nicht. Ich wünsche mir, dass ich in den kommenden fünf Jahren nicht vollkommen den Verstand verliere, dass ich geistig gesund bleibe.
Ich bin übervoll mit Hass, und das macht mir Angst. Ich wäre gern wie Jegor, weil er keinen Hass gegen die Menschen hegt, die ihn hinter Gitter gebracht haben und diesen Irrsinn in unserem Land veranstalten. Ich würde mich gern von diesem Hass befreien, weil Hass schlecht ist.
* * *
Ich denke, wenn Jegor 2029 freikommt, wird sich im Leben des Landes nichts verändert haben, und es wird kein wirklich demokratisches Land sein. Für Jegor wird hier kein Platz sein. Ihm wird der Weg in eine Zukunft versperrt sein. Uns ist er jetzt schon verbaut.
Nach seiner Freilassung wird Jegors Name noch acht oder zehn Jahre auf der Liste der Terroristen und Extremisten stehen. Ist Ihnen klar, was das heißt? Ihm werden Rechte vorenthalten: keine Uni, keine Arbeit. Mit 22 Jahren werden ihm hier alle Wege verschlossen sein, wenn sich nichts ändert. Als wir darüber redeten, sagte er: „Ich werde das Land keinesfalls verlassen, wenn ich freikomme. Ich werde es in dieser Lage nicht hängenlassen. Wenn ich rauskomme und alles gut ist, dann denke ich vielleicht über Emigration nach.“
Das ist seine Entscheidung, und er hat ein Recht darauf. Wenn er diesen Weg wählt, werden auch wir hierbleiben. Wir können natürlich unsere Meinung sagen, doch die Entscheidung wird allein er treffen. Wir werden jede seiner Entscheidungen unterstützen.
Hoffnung, dass Jegor früher freikommt, haben wir nicht. Wir sind in Berufung gegangen und sammeln jetzt die Papiere für die nächste Instanz. Erstens tun wir das, weil wir das Recht dazu haben. Und zweitens zeigen wir damit, dass wir mit der Entscheidung des Gerichts nicht einverstanden sind. Drittens können wir nur darauf hoffen, dass all diese Verfahren revidiert und die betroffenen Menschen rehabilitiert werden. Und dafür müssen wir alle Wege beschreiten, die das Gesetz vorsieht. Obwohl wir keine Hoffnung haben, dass das Verfahren jetzt revidiert wird.
* * *
Das letzte Mal haben wir uns am 5. Juni gesehen. Er sah aus wie immer, erzählte nur, er habe sich gewogen und habe vier Kilo abgenommen, obwohl er sich wie immer ernährt und wie immer trainiert.
Emotional ist es natürlich schwieriger, weil 15 Monate in einer kleinen Zelle mit fünf Leuten schwer zu ertragen sind. Sie haben nur selten Hofgang. Meistens findet der auf dem Dach statt. Der Ort unterscheidet sich kaum von einer gewöhnlichen Gefängniszelle: die gleichen gemauerten Wände, nur anstelle einer Decke ist oben ein Gitter.
Jegor ist ein gebildeter, reifer, intellektueller Junge. Ihm fällt es nicht leicht, 24 Stunden am Tag mit Jungs zusammen zu sein, die von nichts eine Ahnung haben. Denen ist schwer begreiflich zu machen, warum man sich wäscht, die Zähne putzt, die Füße wäscht. Er hat jetzt die Funktion eines Erwachsenen, eines Erziehers, der diesen Jungs (die meisten von ihnen sind aus einem Heim oder aus schwierigen Familienverhältnissen) ganz einfache Dinge beibringen soll. Er führt sie ein bisschen ans Lesen heran. Wenn er ein Buch ausgelesen hat, gibt er es weiter.
* * *
Die Häftlinge brauchen unsere Unterstützung. Sonst lebt man hinter Gittern mit dem Gefühl, dass man alleingelassen wurde. Als Jegor dann Briefe bekam, hat ihn das seelisch unglaublich gestärkt! Er sagte mir: „Du kannst dir nicht vorstellen, was für Leute mir schreiben. Die sind so stark und mutig, dass mein Glaube an die Menschen wiederkommt. Und daran, dass es mit der Zeit wieder gut wird im Land.“
Die Briefe helfen dabei, den Kontakt zur Realität nicht zu verlieren. Die Leute schicken Nachrichten, und man hat mehr oder weniger einen Überblick, was so vor sich geht. Sie schreiben aus aller Welt, aus Montenegro, Deutschland, der Schweiz, Kanada … Sie erzählen etwas über ihre Städte. Das erweitert seinen Horizont. Ich bin in einigen Chatgruppen, in denen sich die Leute austauschen, die Briefe an politische Gefangene schreiben. Und ich bin begeistert, wie viel Energie die da hineinstecken. Die Leute schreiben mitunter 20 Briefe am Tag. Und wieviel Kraft sie haben, dass sie für jeden politischen Gefangenen, mit dem sie im Briefwechsel stehen, Nachrichten zusammenstellen und Geschichten erzählen.
Finanzielle Unterstützung ist ebenfalls sehr wichtig: Anwaltskosten, Versorgungspakete, wenn etwas auf dem Konto des politischen Gefangenen ankommt, kann er sich wenigstens ein bisschen was davon kaufen. Mit den Paketen muss man übrigens vorsichtig sein: Für Minderjährige ist deren Gewicht nicht begrenzt. Bei Volljährigen ist alles streng reglementiert, und jedes Paket, das nicht mit der Unterstützergruppe abgesprochen ist, kann den Plan durcheinanderbringen.
Auch vom Ausland aus können die politischen Gefangenen unterstützt werden: Man kann Aktionen organisieren, ihre Geschichten bekannt machen und Menschen für sie interessieren. Ich verfolge die Mahnwachen zur Unterstützung für Jegor, auch wenn es nicht viele sind. Vor kurzem fand in Berlin ein Briefeschreibabend für politische Gefangene statt. Wir waren per Video zugeschaltet. Ich berichtete von Jegor, und die Teilnehmer schrieben ihm dann Briefe. Man kann alles Mögliche unternehmen, nur eines darf man gewiss nicht tun – schweigen.
Tajana Skurichina
Ehefrau von Dmitri Skurichin
Wir sind beide im Dorf Russko-Wyssozkoje geboren, das liegt hinter Krasnoje Selo, einem Vorort von Petersburg. Ich ging auf die Hochschule für Handel und Wirtschaft, fuhr mit dem Bus zu den Vorlesungen. Er studierte am Wojenmech [Staatliche technische Ostseeuniversität]. Wir haben uns im Bus kennengelernt. Ich musste in dieser Zeit lernen, wie man Integrale berechnet. Und ich versuchte, seine Bekanntschaft zu machen: Er lernte mit mir, wir machten Übungsaufgaben. So wurden wir ein paar und heirateten schließlich.
1998 wurde unsere erste Tochter geboren. Das Jahr war ziemlich schwierig: die Rubelkrise, alles. Wir mussten ein Gläschen Babybrei buchstäblich auf mehrere Tage strecken. Nach fünf Jahren kam unsere zweite Tochter. Vor ein paar Tagen haben wir ihren Geburtstag gefeiert. Ich habe meinem Mann ein Festtagspäckchen ins Lager geschickt.
Wir haben insgesamt fünf Töchter. Die Älteste lebt schon seit anderthalb Jahren mit ihrem Mann in Montenegro. Die Zweitälteste studiert an der Polytechnischen Universität Sankt Petersburg Werbewirtschaft und Öffentlichkeitsarbeit. Dann kommen die Zwillinge, 13 Jahre alt. Als ihr Papa verhaftet wurde, rief mich jemand an und sagte, dass es im Moskauer Umland ein gutes Internat gebe, wo man sie unterbringen könnte [was ich auch tat]. Ich besuche sie natürlich, packe Päckchen, schicke Leckereien. Die Jüngste geht hier [in Russko-Wyssokoje] zur Schule.
Natürlich ist es schwer für mich allein. Als die beiden Mädels ins Internat kamen, konnte ich etwas durchatmen. Jetzt sind aber Ferien, und alle sind zu Hause. Ich habe vor kurzem eine Woche Urlaub genommen. Mir ist klar geworden, wie erschöpft ich bin, selbst im Urlaub. Alle sind zu Hause, alle wollen was essen, alle wollen versorgt werden, damit sie beschäftigt sind, von den Handys loskommen, Bücher lesen, sich bewegen. Manchmal rufe ich meinen Mann an und klage.
Wir hatten neulich ein längeres Treffen. Die Besuchszeiten fielen auf Werktage, und das ließ sich auch nicht ändern. Ich musste mich ganz schön ins Zeug legen, um diese drei Tage freizubekommen. Als ich wiederkam, musste ich sofort zur Arbeit. Nach Feierabend begrüßten mich die Mädels mit „Mama, wir haben Hunger!“ Sie hatten den Schokoladevorrat gefunden, den ich zu Hause versteckt hatte, auch die, die für ein Päckchen an Dima vorgesehen war. Die Buletten im Kühlschrank hatten sie „übersehen“. Ich schmiss schnell Nudeln in die Pfanne, versorgte alle und machte mich wieder schnell auf zur Arbeit, um dort alles aufzuholen. So strampele ich mich seit über einem Jahr ab.
Jeder Tag ist ein Kampf. Es müssen Alltagsfragen geklärt werden. Und ich reiße mich in Stücke. Wir leben vor der Stadt, im eigenen Haus, und man muss sich um alles selbst kümmern: Die Kinder, das Auto, der Garten. Wer wird bei der Reparatur helfen? Wer bringt das Gewächshaus in Ordnung? Fast immer winde ich mich alleine heraus. Dima ruft aus der Strafkolonie manchmal Verwandte an und bittet sie, mir zu helfen. Es ist gut, dass wir wenigstens per Telefon Kontakt zu meinem Mann halten können.
* * *
Ende der 1990er Jahre [hatten wir] die Möglichkeit, in unserer Siedlung ein Gebäude zu kaufen. Dima beschloss, daraus einen Laden zu machen. Der gleiche Raum, unser Raum, an den er seine Parolen geschrieben und wo er die Plakate aufgehängt hat. Und als die Kioske von Supermarkt-Filialen abgelöst wurden, baute er das Gebäude ein bisschen um und vermietete es. Ich bin von der Ausbildung her Buchhalterin und habe ihm immer geholfen.
Sein Interesse für Politik ging ziemlich an mir vorbei. Es gab ja die fünf Kinder, immer wieder Arbeit, die Buchhaltung [im Geschäft]. Und in den 2000er Jahren kandidierte er für den Kommunalrat. Das hat ihn sehr interessiert. Er wurde in den Kommunalrat gewählt. Es gab zwölf Abgeordnete, elf von Einiges Russland und er allein [als Unabhängiger].
Das war kein Zuckerschlecken: Immer waren elf dafür und er dagegen. Bei jeder Erhöhung der Gebühren für kommunale Dienstleistungen zum Beispiel, die von der Regierung der Oblast aufgedrückt wurden, hoben alle zustimmend die Hand, nur er stimmte dagegen. Es war schwierig für ihn. Psychisch ist das kaum zu ertragen. Er befasste sich mit Fragen der kommunalen Versorgung: Die Leute kamen ja und berichteten von ihren Problemen, dass nicht geheizt wird und es kalt ist in den Wohnungen, dass die Gebühren hoch sind. Und Dima versuchte sich in all das einzuarbeiten. Es gab eine Zeit, da wurde ihm gedroht. Sie sagten: „Schau mal, du hast Familie, Kinder … Wenn du dich weiterhin einmischst, dann müssen wir da was unternehmen.“ Der Kommunalverwaltung war er ein Dorn im Auge, deswegen waren seine Jahre als Abgeordneter [von 2009 bis 2014] sehr schwer für uns.
Dima war es wichtig, sich in das öffentliche Leben einzubringen und das Leben in seinem Dorf zu verbessern. Ich belästigte ihn nie mit Fragen, etwa, warum hast du dich bloß darauf eingelassen? Ich habe ihn nicht behelligt. Nur einmal sagte ich: „Besser nicht, lass das lieber“, das war, als er sich mit dem Plakat hinstellte „Vergib uns, Ukraine“ [24. Februar 2023]. Zu dem Zeitpunkt lief bereits ein Strafverfahren gegen ihn, bestimmte Sachen waren ihm verboten (er durfte kein Telefon oder Gadgets verwenden). Ich bat ihn nur, es nicht zu tun, ich hatte ein ungutes Gefühl. Aber er sagte, da wird nichts Schlimmes geschehen – am Abend kamen sie dann, um ihn abzuholen.
Es war der Hochzeitstag seiner Eltern. Mehrere Autos fuhren vor, Dima ging raus, um mit ihnen zu sprechen. Sie erlaubten allen Gästen, heimzufahren – übrig blieben ich und die zwei Kinder. Wir stiegen ins Auto, fuhren los und realisierten, dass man uns folgte. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir schon zwei Hausdurchsuchungen hinter uns, ich konnte das nicht mehr ertragen: Sie führen sich bei dir im Hof auf wie die Schweine, rauchen, trinken Kaffee, schauen dir nicht ins Gesicht und fluchen heftig rum… unerträglich. Fiese Visagen, eine Meute, die deine Tür kaputt macht, die Fenster, ohne irgendwelche Dokumente vorzuzeigen. Sie führen sich auf wie eine Horde Banditen. Sie nehmen alles mit. Nach der ersten Hausdurchsuchung war nicht einmal mehr Geld da, um das Auto zu betanken. Sie hatten es mitgenommen, sagten, sie „müssen es überprüfen“. Am Morgen nach der ersten Hausdurchsuchung blieb ich mit kaputter Tür zurück und hatte nicht eine Kopeke in der Tasche. Ich hatte nichts, was ich den Kindern zu essen geben konnte. Nur gut, dass schnell eine Sammelaktion organisiert wurde, sonst hätte ich nicht gewusst, was aus uns geworden wäre.
Ich sagte meinem Mann, lass uns nicht nach Hause fahren, ich will keine weiteren Hausdurchsuchungen. Wir fuhren bis Krasnoje Selo, Dima gab mir den Schlüssel und sagte, er fahre nach Petersburg; er wolle ein wenig „spazieren gehen“. Ich fuhr allein mit den Kindern nach Hause, merkte, dass uns ein Wagen folgte, und dachte: „Verdammt, ich bin 46 Jahre alt, Mutter von 5 Kindern, und die treiben mit uns solche Agentenspielchen“.
Gegen Abend kam Dima zurück, er kletterte durchs Fenster, und wir blieben in der Dunkelheit sitzen, weil wir wussten, dass das Haus unter Beobachtung stand. Am Morgen nahmen sie ihn mit. Ich war schockiert von diesem Verhalten [der Behörden]. Dass man so mit dir umspringt, obwohl du kein Bandit bist, kein Mörder und mit Drogen nichts zu tun hast. Ich dachte: Wir haben vielleicht einen Staat, toll, wie der sich aufführt.
Meine zweite Tochter ist dieses Mal schon wählen gegangen [bei den Präsidentschaftswahlen im März 2024], die kleineren Töchter ahnen angesichts der letzten Ereignisse auch schon was, sie beginnen sich für Politik und das, was im Land passiert zu interessieren. Ich agitiere sie nicht, aber die Umstände beeinflussen sie. Sie sehen, wie schwer das alles für mich ist, wie ich allein am Rotieren bin, und sie verstehen, dass ihr Papa wegen seiner Überzeugung im Gefängnis sitzt. Wenn dich der Staat mal dermaßen erschüttert hat, gehen gewisse Chakren auf, du beginnst, viele Dinge in einem anderen Licht zu betrachten
Ich begreife nicht, wofür Dima jetzt seine Gesundheit ruiniert. Wenn sie einen jetzt für seine Meinung ins Gefängnis stecken, dann wäre es besser, das Land zu verlassen. Vielleicht wäre das auch besser für die Kinder. Wir haben viele Kinder. Ich mache mir Gedanken darüber, wie wir das bewältigen, was wir tun können. Ich bin ratlos. Ich bin in Panik, wie sollen wir hier weiterleben, wenn Dima rauskommt Ende Sommer 2024? – ich habe keine Ahnung. Wir stehen schon auf der schwarzen Liste: Wie sollen wir jetzt unser Geschäft weiterführen? Wenn man bedenkt, dass sie einen jederzeit wieder verurteilen können.
Über das, was war, beklage ich mich nicht. Aber wie sollen wir damit weiterleben? Ins Ausland gehen will Dima natürlich nicht. Doch ich sage ihm immer wieder, dass wir bereits am Boden sind. Ich weiß nicht, wie es uns ergehen würde, wenn wir ins Ausland gingen, aber ich würde diese Erfahrung gern machen. Denn hier habe ich schon viel gesehen – und mehr davon möchte ich nicht erleben. Dima sagt immer: „Wir beide haben doch gut gelebt“. Doch ich sage ihm, dass wir noch nicht am Ende unseres Lebens sind, dass wir noch die Kinder großziehen müssen. Und ich möchte sie zu normalen Menschen erziehen.
* * *
Als Dima noch in Untersuchungshaft war, haben wir uns Briefe geschrieben; drei Briefe durften wir einander pro Woche schreiben. Das war natürlich ungewohnt: Wir haben unser ganzes Leben zusammen verbracht, deswegen habe ich nie Briefe geschrieben. Mir war wichtig, sie mit der Hand zu schreiben, das Handgeschriebene vermittelt etwas Persönliches. Ich wusste, dass handschriftliche Briefe länger brauchen, aber ich wollte es genau so – Dima sagte dann, es habe ihn gefreut, meine Handschrift zu sehen, das wärme die Seele. Doch zum Straflager sind Briefe sehr lange unterwegs. Ich versuche ihm Bücher mitzubringen, aber es gibt Probleme: Sie lassen nicht alle Bücher durch. Beim ersten Treffen nahm ich ein Büchlein mit: Fahrenheit 451. Ich hatte es eingewickelt, niemand merkte etwas.
Seit er im Straflager ist, telefonieren wir miteinander. Das kostet zwar Geld, aber dafür unterhalten wir uns zehn Minuten täglich, tauschen aus, was es Neues gibt. Letzte Woche war die Verbindung schlecht: Mal verstand ich kaum etwas, mal er. Aber diese täglichen Gespräche sind wichtig. Dima fragt viel nach den Kindern, er fürchtet, wenn er rauskommt, werden sie sich verändert haben.
Jetzt kämpfen wir dafür, dass er früher rauskommt, und seien es nur zehn Tage. Er will endlich wieder bei den Kindern sein und ans Meer fahren, das wäre ein Traum.
* * *
Ich denke nicht, dass Dimas Festnahme besonders starken Einfluss auf die Kinder hatte. Aber ich kriege mit, dass sie neuerdings andere Leute fragen, was sie wählen. Ich habe sie gebeten, vorsichtiger zu sein und nicht solche Fragen zu stellen. Ich hatte die Befürchtung, dass sie das [Dmitris Haft] in der Schule nicht verstehen würden, aber alles ist gut – die Lehrer fragen [die Mädchen]: „Und wann kommt der Papa raus?“
Am heftigsten waren für mich die Hausdurchsuchungen. Die erste Zeit saß ich im Dunkeln, damit niemand sehen konnte, dass ich zuhause bin. Wann immer ich konnte, ging ich arbeiten, nur um nicht zu Hause zu sein. Ich hoffe, dass die Mädchen keinen Schaden genommen haben; sie sind noch klein, sie werden zurechtkommen.
Seitdem Dima fort ist, habe ich völlig verlernt zu planen. Ich plane nicht weiter als eine Woche im Voraus, aber ich weiß genau, dass ich auf lange Sicht dazu bereit bin, von hier fortzugehen. Früher hatte ich davor Angst, aber jetzt nicht mehr. Ich weiß jetzt, was Gefängnis bedeutet; mehr brauche ich nicht zu wissen. Ich warte sehnlichst auf Dima. Was dann sein wird, weiß ich nicht.
Xenia Kagarlizkaja
Die Tochter von Boris Kagarlizki
Es gibt Eltern, die sehr viel zu tun haben, viel Zeit auf der Arbeit verbringen und den Kindern wenig Aufmerksamkeit schenken. Das ist bei mir nicht der Fall. Papa und ich waren immer zusammen. Wir sind zum Beispiel in verschiedene Länder gefahren. Wir waren in Syrien, 2013, noch vor dem Krieg, drei Mal in Kuba, Papa hatte die Idee, dass ich Kuba noch vor dem Tod von Fidel Castro sehen sollte (Castro starb 2016 – Anm. Meduza). Urlaub mit Papa war immer interessant, weil er ein Wikipedia-Mensch ist: Er weiß zu allem etwas zu sagen, zu jedem Thema, jedem Gebäude. Ich kam immer mit viel neuem Wissen von diesen Reisen zurück. Meine ganze Kindheit habe ich in ständigem Austausch mit meinem Vater verbracht.
Für kleine Kinder ist es wichtig, zu verstehen, was gut und was böse ist, wo die Grenze zwischen Schwarz und Weiß verläuft. Für Kinder ist es schwer, die Zwischentöne zu verstehen. Aber Papa war da ganz anders: Er hat mir immer alle möglichen Varianten und Sichtweisen beschrieben, und dann gesagt: „Die Schlussfolgerungen ziehst du selbst“. Einerseits entwickelt sich so kritisches Denken, andererseits ist das etwas schwierig zu akzeptieren, wenn du fünf Jahre alt bist.
Mit Papas Sicht auf die Welt im Hintergrund wuchs ich zu einem sehr resoluten Menschen heran. Beispielsweise bin ich bereit, jemandem zu kündigen, wenn er sich einmal voll daneben benommen hat – bei Papa würde er noch 1000 Chancen bekommen.
Wenn ich irgendwo Unterstützung bekommen kann, dann bei Papa. Ich habe sogar ein T-Shirt mit der Aufschrift „Ganz der Vater“, seit seiner Verhaftung trage ich es ständig. Wir konnten uns immer blind vertrauen. Wir telefonierten täglich, seit ich volljährig und ausgezogen bin. Wir haben zusammen Fargo, Breaking Bad, Game of Thrones gesehen. Das war unser allabendliches Ritual.
Als Teenager bekam ich genauer mit, was Papa macht, weil ich begann, mich auch für YouTube zu interessieren. Mit der Zeit wurde aus dem Zeitvertreib Arbeit. Damals war der Kanal Rabkor nicht besonders aktiv, aber irgendwann brachte ein Bekannter Papa auf die Idee, zu streamen: „Die Menschen könnten euch ihre Fragen schicken und dafür spenden sie“. Papa kam zu mir und fragte: „Kannst du einen Stream einrichten?“ Ich sagte, nein. Also fanden wir es gemeinsam heraus.
Wir streamten das erste Mal, als ich 15 war. Der Stream brach dauernd ab, von Zeit zu Zeit waren wir nicht sicher, ob die Verbindung zu den Zuschauern steht oder nicht. Ich musste immer wieder ins Bild laufen, um etwas auszubügeln. Wir streamten ja mit einer normalen Webcam vom Computer. Und den Leuten gefiel es, dass mal ich im Bild auftauchte, mal unser prächtiger Kater Stepan. Gleich beim ersten Stream spendeten die Menschen.
Daraus entstand allmählich das Genre unserer häuslichen Streams: Ich verlas zu Beginn die Fragen aus dem Off und erschien dann immer mal wieder im Bild. Dann nahm ich einen Job bei einer größeren Firma an, die auch mit YouTube arbeitet. Ich trennte mich von Rabkor, aber seit Papa 2023 verhaftet wurde, helfe ich dem Team wieder.
* * *
Wie gefährlich das ist, was Papa macht, wurde mir klar, als ich in der achten Klasse war. Es gab eine Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz [6. Mai 2012], und Papa bestand darauf, dass ich mit ihm hinging. Warum auch immer, ich wollte nicht, obwohl ich schon zuvor auf Demonstrationen gewesen war. Seit der fünften Klasse hatte Papa mich ins Schlepptau genommen.
Eine Woche nach dieser Aktion lud man ihn zum Verhör ins Ermittlungskomitee. Er sagte, er fahre in einer Woche nach Deutschland und wenn sie bei ihm eine Hausdurchsuchung durchführen wollen, sollten sie nicht in diesem Zeitraum kommen. Natürlich taten sie genau das. Um sieben Uhr früh kamen komische Typen zu uns nach Hause, Mama stand ihnen Rede und Antwort, in dieser Situation spürte ich zum ersten Mal, wie gefährlich das wirklich war. Danach machte ich mir keine Illusionen mehr.
Aber so richtig Angst um Papa hatte ich erst nach seiner Verhaftung [im Jahr 2023]. Eine Hausdurchsuchung ist nur eine Hausdurchsuchung: Sie kommen und gehen wieder. Selbstverständlich belastet einen das, aber man kommt darüber hinweg. Nachdem er das erste Mal wieder freigekommen war [Mitte Dezember 2023], kam mir der Gedanke, dass ich mir wünsche, er würde das Land verlassen. Er würde unterrichten, einer ganz anderen Tätigkeit nachgehen, auch auf seinem Gebiet. Aber er würde sich keiner Gefahr mehr aussetzen. Er ist aber nicht ins Ausland gegangen. Und er ist nicht ich, er ist anderer Ansicht. Was ich will oder nicht will, das beeinflusst ihn nicht im Geringsten.
* * *
Am Tag seiner Verhaftung [26. Juli 2023] kehrte Mama [die Dozentin Irina Gluschtschenko] aus Argentinien zurück, Papa sollte sie am Flughafen abholen. Aber er kam nicht. Für uns gab es zwei Möglichkeiten: Entweder liegt er irgendwo und atmet nicht mehr oder die Staatsmacht steckt dahinter. Als wir erfuhren, dass die Behörden der Grund sind, beruhigten wir uns, denn das ließe sich irgendwie wieder in Ordnung bringen. Ich öffnete den [Telegram-Kanal] Avtozak LIVE und sah, dass bei einem Mitarbeiter von Rabkor eine Hausdurchsuchung läuft. Im ganzen Land gab es Hausdurchsuchungen.
Alle waren in Panik, in Angst und Schrecken, wussten nicht, was tun. Aber sie rauften sich irgendwie zusammen, initiierten einen Stream zu seiner Unterstützung und starteten eine Sammelaktion. Rabkor hat seine Übertragung nicht einen Tag ausgesetzt – ich denke, das ist ein großer Erfolg angesichts dessen, dass sie bei den wichtigsten Mitarbeitern die ganze Technik mitgenommen haben, für die wir über Jahre Spenden gesammelt hatten. Zur gleichen Zeit starteten wir eine internationale Kampagne [um Papa und Rabkor zu unterstützen], die enorm viel einbrachte: Ein offener Brief, unterschrieben von vielen bekannten Leuten wie zum Beispiel [dem slowenischen Philosophen] Slavoj Žižek, [dem britischen Politiker] Jeremy Corbyn, [dem französischen Politiker und Journalisten Jean-Luc] Mélenchon.
Im Endeffekt wurde Papa [am 12. Dezember 2023] mit einer Geldstrafe [609.000 Rubel; 6500 Euro] entlassen. Wir waren überglücklich, versuchten sofort, ihn davon zu überzeugen, das Land zu verlassen. Er weigerte sich. Er war der Meinung, wenn er ausreisen würde, würde er seine Ideen verraten.
Die Staatsanwaltschaft fand allerdings mit der Zeit, dass diese Geldstrafe nicht Strafe genug sei für solche „Taten“, wie ein [aus Sicht der Ermittler] verfehlter Titel eines kurzen Films auf YouTube (im Augenblick der ersten Verhaftung war der Clip über zehn Monate auf dem Kanal zu sehen gewesen). Und so wurden aus der Geldstrafe fünf Jahre wegen „Rechtfertigung von Terrorismus“.
Dieser Titel war das Einzige, was sie gegen Papa vorbringen konnten. Papa war immer imstande gewesen, subtile Formulierungen zu finden, hatte sich immer an alle russischen Gesetze gehalten und nie dagegen verstoßen. Offensichtlich hatten sie [die Ermittler] einfach die Aufgabe, irgendetwas gegen ihn zu finden, und dieser Titel erwies sich als das Einzige, was sie auftreiben konnten.
Einen Tag vor seiner zweiten Festnahme [am 13. Februar 2024] telefonierten Papa und ich. Ich spürte, dass sie ihn einbuchten würden, sprach mit ihm darüber. Doch er antwortete, das werde nicht passieren.
* * *
Das letzte Mal haben wir uns vor zwei Jahren gesehen – wie schrecklich, schon zwei Jahre sind seitdem vergangen! Es war im Herbst, nach der Mobilmachung. Wir sprachen über meinen Umzug [von Russland nach Montenegro], aßen gemeinsam zu Abend. Danach haben wir über Video telefoniert. Wir hatten den Termin wie echte Profis in unseren Kalender eingetragen. Wir haben immer alles genau reglementiert. Doch jetzt geht das leider nicht mehr. Jetzt läuft unsere Briefkorrespondenz über den Föderalen Strafvollzugsdienst.
Inzwischen nehme ich kein Blatt mehr vor den Mund, schreibe alles, was ich denke, Zensur hin, Zensur her. Ich mache mir da gar keinen Kopf. Was mich beunruhigt, ist etwas anderes: Was wird, wenn er wieder frei ist? Er ist 65 Jahre alt, und er hat es dort sehr schwer. Das Leben im Straflager ist kein Erholungsaufenthalt im Sanatorium. Ich verfolge die Nachrichten über andere politische Gefangene, und das macht mir Angst. Ich will nicht, dass sie meinen Vater in die Strafzelle stecken. Und außerdem denke ich an den Kater Stepan. Der ist jetzt 11, er liebt Papa, vermisst ihn. Wer weiß, ob er noch so lange leben wird, bis Papa zurück kommt.
Und außerdem ärgern mich die Anfeindungen gegenüber Papa wegen seiner Anschauungen oder wegen Äußerungen von vor 100 Jahren. Im Internet schreiben sie häufig abschätzig, er sei Kommunist, sie bringen uralte Äußerungen von ihm aufs Tapet. Darum geht es jetzt überhaupt nicht. Wenn ein Mensch auf freiem Fuß ist, kann man mit ihm diskutieren, wenn er im Gefängnis ist, dann nicht, dann muss man ihn einfach nur unterstützen.
Früher war ich ihm böse, weil er beschlossen hat zu bleiben. Sind denn diese Ideen tatsächlich wichtiger als wir? Aber so ist er nun mal, für ihn ist das eben wichtig. Das ist sein Leben und er weiß, wenn du dich mit Politik befasst, besteht die Gefahr, dass du im Gefängnis landest. Wenn du Feuerwehrmann bist, kannst du bei der Arbeit verbrennen, und wenn du in der Politik bist, können sie dich einbuchten oder umbringen.
Dass Papa seine Überzeugungen voranstellt, ist für mich nichts Neues. Es war immer so: Erst kommt der politische Kampf, dann die Familie. Die Familie ist sehr wichtig, aber der Kampf ist wichtiger. Die Familie ist sein persönliches Interesse, der politische Kampf aber ist im allgemeinen Interesse. Wie kann da sein persönliches Interesse wichtiger sein als das allgemeine Interesse? Aber wie soll ich damit leben und das akzeptieren? Ich bin daran gewöhnt, bin schon abgehärtet. Ich habe, wie mir scheint, aufgehört, irgendetwas zu fühlen.
Ich würde mir wünschen, dass Papa Dozent für Geschichte wäre. Aber sich vorzustellen, wie alles hätte anders kommen können, hieße, ihn nicht zu respektieren. Er will der sein, der er ist. Wenn ich ihn liebe, muss ich das akzeptieren. Ich habe wirklich gute Eltern. Wir sind eben nur in eine sehr ungerechte Lage geraten. Nicht nur wir, sondern das ganze Land.
* * *
Die Arbeit hilft mir, mit der Angst zurecht zu kommen: Ich habe viele Projekte. Neben meiner Hauptarbeit in einem großen Unternehmen, veranstalte ich das Festival Zone der Freiheit zur Unterstützung politischer Gefangener [in Montenegro, Armenien, Litauen, Israel und anderen Ländern], ich fahre zu Abendveranstaltungen, bei denen die Teilnehmer Briefe an politische Gefangene schreiben, helfe bei Rabkor. Ich schlafe wenig, die meiste Zeit arbeite ich. Wenn ich mit meinen Gedanken ganz allein bin, verlässt mich der Mut. Doch solange man Probleme lösen muss, ist der Kopf abgelenkt.
Mama hat es schwerer. Nach der zweiten Inhaftierung setzte bei ihr das Gefühl einer Kränkung ein: Warum gerade er? Warum haben sie ihn mitgenommen, wieder freigelassen und dann wieder mitgenommen? Mein Bruder [Georgi Kagarlizki] und ich sind ins Ausland gegangen, und sie ist allein in Russland und ohne Papa. Ich hoffe, sie kommt bald zu uns zu einem langen Wiedersehen.
Meine Mama ist ein wunderbarer Mensch. Wir sprechen heute mehr miteinander als früher, sie kommt mich regelmäßig besuchen. So ist sie immerhin öfter am Meer. Man muss ja auch versuchen, irgendetwas Positives zu finden.
* * *
Papa sagt, er freue sich sehr, wenn er Briefe bekomme [von den Briefschreibabenden für politische Gefangene]. An den Abenden verlese ich seine Briefe, zeige den Menschen, dass er sein Gesicht nicht verloren hat, den Kopf nicht hängen lässt. Und seine Unterstützung durch mich hilft auch anderen Menschen, unter anderem mir.
Das Berufungsverfahren war die letzte juristische Möglichkeit, um auf den Staat einzuwirken. Zum jetzigen Augenblick haben wir getan, was wir konnten. Ich weiß nicht, was passieren müsste, um etwas zu verändern. Außer globalen Veränderungen.
Ich hoffe, dass das alles für uns nicht erst in fünf Jahren zu Ende sein wird, sondern so bald wie möglich. Ich wünsche uns allen Freiheit. Ich wünsche nicht nur Papa Freiheit, sondern auch mir selbst. Ich will die Möglichkeit haben, nach Russland zurückzukehren, ich will keine Angst mehr haben. Ich will spüren, dass auch ich und mein Papa in unserem Land leben können und das tun können, was wir wollen.
Anfang August trafen sich Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher demokratischer Organisationen zu einer Konferenz in der litauischen Hauptstadt Vilnius, um zwei Tage lang über Perspektiven für ein demokratisches Belarus zu sprechen. In einem Vortrag stellte Leonid Sudalenko von der Menschenrechts-Organisation Wjasna Zahlen über das Ausmaß politischer Repressionen seit Beginn des Wahlkampfes im Jahr 2020 vor. Als Reaktion auf die gefälschte Wiederwahl von Alexander Lukaschenko hatten Wellen des Protests das ganze Land erfasst. Mit großer Brutalität gelang es dem Regime schließlich, den Protest niederzuschlagen. Viele zentrale Figuren der Demokratiebewegung flohen ins Ausland. Andere verschwanden in Gefängnissen und Lagern.
Das belarussische Online-Medium Zerkalo hat die wichtigsten Zahlen und Entwicklungen in Sudalenkos Ausführungen zusammengefasst.
Den Beobachtungen von Wjasna zufolge wurden seit Beginn des Präsidentschaftswahlkampfes mehr als 50.000 Menschen aus politischen Motiven festgenommen.
Im selben Zeitraum wurden mehr als 3.380 Menschen als politische Häftlinge anerkannt.
Davon kamen fast 2.000 Menschen wieder frei, sind also jetzt ehemalige politische Häftlinge.
Von diesen 2.000 Menschen haben etwa 1.134 ihre Strafe vollständig verbüßt und wurden entlassen (der Rest befand sich in Untersuchungshaft und/oder verließ das Land ohne die Strafe zu verbüßen.)
Leonid Sudalenko berichtete weiterhin, dass die Menschenrechtsaktivisten von Wjasna zum jetzigen Zeitpunkt von mindestens 5.472 Personen wissen, die in politisch motivierten Strafverfahren verurteilt wurden.
„Dabei handelt es sich sowohl um politische Häftlinge als auch um Personen, die sich bis zum Gerichtsverfahren nicht in Hafteinrichtungen befanden oder eine Strafe erhielten, die nicht mit Freiheitsentzug verbunden war“, sagte der Menschenrechtler.
Sudalenko nannte auch die Anzahl politischer Urteile in Strafverfahren in Belarus aufgeteilt nach Jahren:
2020: 900 Personen
2021: 1.225 Personen
2022: 1.242 Personen
2023: 1.603 Personen
„Wie man sieht, steigt die Zahl derer, die aus aus politischen Gründen verurteilt werden, in den letzten drei Jahren an“, schloss Sudalenko: „Die Repressionen lassen nicht nach, und es spricht auch nichts dafür, dass sie in nächster Zeit aufhören könnten.“
Am gestrigen Donnerstag kam es zu einem großangelegten Gefangenenaustausch zwischen Russland, den USA, Deutschland und anderen Ländern. Insgesamt 24 Personen wurden dabei aus der Haft entlassen und in andere Länder überstellt, darunter die bekannten russischen Oppositionspolitiker Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa, sowie der US-amerikanische Journalist Evan Gershkovich. Der sogenannte „Tiergartenmörder“ Wadim Krassikow wurde bei seiner Ankunft in Russland von Wladimir Putin persönlich in Empfang genommen. Aus belarussischer Haft wurde der Deutsche Rico Krieger entlassen, der ursprünglich zum Tode verurteilt und Anfang der Woche von Alexander Lukaschenko begnadigt worden war.
In Belarus gibt es fast 1400 politische Häftlinge, keiner wurde bei dem Austausch berücksichtigt. Die Enttäuschung bei der belarussischen Opposition ist groß. Warum spielte sie bei der Aktion keine Rolle? Und welche Signale sendet diese Nicht-Berücksichtigung? Dazu zwei Stimmen aus belarussischen Medien.
„Der Westen betrachtet Belarus faktisch als russische Provinz“
In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk äußert der Journalist Alexander Klaskowski die Vermutung, dass Lukaschenko nicht mehr als eigenständig agierender Staatschef wahrgenommen wird.
[bilingbox]Ganz offensichtlich schätzt der Westen – in diesem Fall vertreten durch Deutschland – die politische Eigenständigkeit von Alexander Lukaschenko äußerst gering ein. Einerseits könnten sich seine erbitterten Gegner darüber freuen: Seht her, mit dem Diktator will niemand reden. Andererseits wird mehr und mehr deutlich, dass der Westen Belarus mittlerweile faktisch als russische Provinz betrachtet und vorerst keine Möglichkeit sieht, das Land aus den Fängen des Imperiums zu befreien. Mit allen daraus resultierenden Konsequenzen. Gewiss: EU-Politiker unterstützen weiterhin eine europäische Perspektive von Belarus. Aber de facto schließen sie den eisernen Vorhang und überlassen das Land dem Kreml zum Fraß.~~~Oчевидно, что и Запад — в этом случае прежде всего в лице Германии — крайне низко оценивает политическую субъектность Лукашенко.
С одной стороны, его яростные противники могут порадоваться: вот, с диктатором не хотят разговаривать. С другой стороны, становится все яснее, что Запад фактически стал считать Беларусь российской провинцией, не видит возможности на нынешнем этапе вырвать страну из лап империи. Со всеми вытекающими последствиями.
Да, европейские чиновники продолжают риторически поддерживать европейскую перспективу Беларуси, но де-факто опускают железный занавес, отдают ее на съедение Кремлю. [/bilingbox]
„Kolesnikowa wäre eine würdige Kandidatin für einen Austausch gewesen“
Belarus sei für die verhandelnden Parteien nicht „gewinnbringend“ genug, sagt der Politanalyst und Ex-Diplomat Pawel Sljunkin in einem Interview mit dem Online-Medium Zerkalo.
[bilingbox]Sogar unter rein symbolischen Gesichtspunkten wäre es wichtig gewesen, zumindest einen belarussischen Bürger in den Austausch einzubeziehen. Dies zeigt, dass die westlichen Länder Russland für wichtiger erachten als Belarus. Das höchste der Gefühle, was die europäischen Länder [gegenüber den belarussischen politischen Gefangenen] tun können, ist, ihre Solidarität zu bekunden. In diesem zynischen Sinne waren die belarussischen politischen Gefangenen für den Westen im Gegensatz zu Krieger wahrscheinlich nicht „gewinnbringend“ genug. Die Tatsache, dass der Austausch nicht einmal symbolisch Belarussen umfasste, spricht Bände. Maria Kolesnikowa etwa hat lange Zeit in Deutschland gelebt und kehrte 2020 nach Belarus zurück, um sich an der Demokratiebewegung zu beteiligen. Auch sie wäre doch eine würdige Kandidatin für einen Austausch gewesen. Wie es scheint, hat Deutschland aber nicht versucht, sie auszutauschen. ~~~Даже с символической точки зрения было бы важно попробовать включить в обмен хотя бы одного гражданина Беларуси, — отметил он. — Это говорит о том, что западные страны воспринимают Россию как более приоритетную страну, чем Беларусь. И максимум, что могут делать европейские страны [по отношению к беларусским политическим заключенным], — это выражать солидарность. Наверное, в этом циничном смысле беларусские политзаключенные были для Запада недостаточно «выгодны», в отличие от Кригера. Тот факт, что в обмен не включили ни одного беларуса, хотя бы символически, говорит о многом. Та же Мария Колесникова долгое время прожила в Германии и вернулась в Беларусь в 2020 году, чтобы поучаствовать в демократическом движении. Она тоже была бы достойным кандидатом на обмен — но, видимо, [Германия] не стала [пытаться ее обменять][/bilingbox]
War die Friedlichkeit der Proteste von 2020, die im Sommer vor vier Jahren begannen, ein Fehler? Wie unterscheiden sich die kulturhistorischen Prägungen in Belarus, Russland und in der Ukraine? Was sind die tragischsten Ereignisse in der belarussischen Geschichte? Warum konnte sich die belarussische Nation trotz aller Unkenrufe doch formieren?
In einem Gespräch mit dem Online-Medium Gazeta.by nimmt der belarussische Journalist Alexander Klaskowski den Leser mit auf eine fulminante Tour durch die wechselhafte Historie seines Landes.
Bahdana Paulouskaja: Viele Wissenschaftler, mit denen wir im Kontext unseres Projektes sprechen konnten, merkten an, dass wohl keine Nation in ihrer Entwicklung so viele Hürden überwinden musste wie die belarussische. Und dennoch gibt es die Belarussen. Wie haben wir überlebt?
Alexander Klaskowski: In gewisser Weise ist das einfach ein Wunder und ein Glücksfall, denn viele Völker sind verschwunden, ohne Nationen zu werden. Ich denke, dass den Belarussen ein bestimmter Charakterzug nützlich war, nämlich ihre Anpassungsfähigkeit. Die rauen Lebensbedingungen und viele feindliche Angriffe ließen die Fähigkeit entstehen, jedem Widerstand zum Trotz zu überleben.
Zudem würde ich die Besonderheiten der belarussischen Natur anführen: Wälder und Sümpfe. Der Wald bot Rettung, er ernährte und schützte, wenn die Fremden kamen und die Siedlungen niederbrannten. Und wenn es keinen Wald in der Nähe gab, galt das Prinzip „versteck dich in den Kartoffeln“. Doch das bedeutet nicht, dass die Belarussen Angsthasen sind. Ich bestreite dieses Stereotyp, das einige verbreiten. Wir haben viele Helden in unserer Geschichte. Bei uns gab es das Rittertum, unser Adel hatte ruhmreiche Kampftradition, und selbst in der Sowjetarmee schätzte man die Belarussen als gute Soldaten.
Wir überlebten auch, weil es in unserer Geschichte immer wieder Menschen gab, die den Belarussen halfen, sich als Nation zu verstehen. Diese Menschen wurden vernichtet, doch unser Land brachte immer neue, strahlende Persönlichkeiten hervor, Intellektuelle und Aktivisten. Dazu gehörten Kastus Kalinouski, Winzent Dunin-Marzinkewitsch, die Luzkewitsch-Brüder, Branislau Taraschkewitsch, Janka Kupala und Jakub Kolas, ebenso die Gründer der BNR und die Begründer der BNF. Auch Sjanon Pasnjak ist zu erwähnen. Heute stehen einige seiner Äußerungen in der Kritik, und viele meinen, seine politische Zeit sei längst vorbei, doch er bleibt in jedem Fall eine einzigartige Persönlichkeit.
Am Ende von Gorbatschows Perestroika war die BNF sehr aktiv. Denken wir nur an die berühmte Sitzung der Unabhängigkeit im August 1991, in der sich die kleine, aber gut organisierte und politisch erfahrene Oppositionsfraktion der BNF durchsetzte, dass die Unabhängigkeitserklärung den Status eines Verfassungsgesetzes erhielt. Etwas später wurden die weiß-rot-weiße Flagge und das Pahonja-Wappen zu Staatssymbolen.
Welche negativen Charakterzüge haben wir Belarussen? Was steht uns im Weg?
Ich begegne der Frage nach einem nationalen Charakter grundsätzlich mit einer gewissen Skepsis. Da gibt es viele Vorurteile und Stereotype. Ich habe auch schon temperamentvolle Esten und phlegmatische Ukrainer getroffen. Schon zu Sowjetzeiten und auch heute noch heißt es, die Belarussen zeichne ihre Gastfreundlichkeit aus. Aber sind die Georgier etwa nicht gastfreundlich? Auch den Tschuktschen sagt man Gastlichkeit nach. Das ist also alles durchaus fragwürdig. Oder es wird dieses negative Stereotyp kultiviert, dass die Belarussen mehr als andere untereinander streiten. Als wären Menschen aus anderen Ländern auf Social Media höflicher. Überhaupt haben einige Belarussen diese Angewohnheit, irgendwelche negativen Eigenschaften des Nationalcharakters zu finden oder sich auszudenken und dann sich darüber zu beschweren. Das lehne ich ab. Ich sehe wenig Sinn darin, sich als Nation schlechtzumachen. Wir müssen unsere Vorzüge und Stärken hervorheben, um uns so zu motivieren und Menschen, die heute in einer sehr schwierigen Situation sind, optimistisch zu stimmen – ob in Belarus oder im Ausland, im erzwungenen Exil.
Dann beschreiben Sie doch bitte unsere positiven Eigenschaften.
Als positiv betrachte ich die Besonnenheit, die vernünftige Vorsicht und die Gesetzestreue, die man uns Belarussen nachsagt. Wobei aus Werten oft auch Schwächen werden können. Besonnenheit kann zu Trägheit und Unentschlossenheit werden, daher rührt diese belarussische Redensart „Vielleicht gehört das ja so?”. Und Gesetzestreue wird von den heutigen Machthabern oft ausgenutzt, denen es, wie wir wissen, selbst „manchmal nicht nach Gesetz zumute ist“ (Lukaschenka).
Hätten die Demonstrierenden 2020 versucht, den Palast der Unabhängigkeit zu stürmen, hätte es massenhaft Tote gegeben
Oder nehmen wir dieses Bild aus dem Jahr 2020, das im Netz und in den Medien viral ging, als protestierende Belarussen ihre Schuhe auszogen, bevor sie auf eine Parkbank stiegen. Es gab viel Kritik daran, besonders von Ukrainern, die meinten, wir sollten die OMON lieber mit Molotow-Cocktails angreifen. Aus meiner Sicht ist es nicht korrekt, den Belarussen vorzuwerfen, sie hätten im Jahr 2020 nicht entschlossen genug gehandelt. Während der Maidan-Aufstände in der Ukraine herrschten völlig andere Bedingungen als während der Proteste in Belarus. Die Ukrainer hatten es nicht mit einer so brutalen Diktatur zu tun, es gab finanzielle Mittel, um die Straßenaktionen über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten, denn einige Oligarchen setzten sich dafür ein, es gab starke unabhängige Medien, eine Opposition im Parlament, eine Spaltung der Eliten und vieles mehr.
Hätten die Teilnehmenden dieses spontanen, friedlichen Aufstandes in Belarus 2020 Steine genommen und die OMON mit Steinen beworfen, hätten sie das Regime auch nicht überwältigt, sondern nur noch härtere Reaktionen erlebt. Auch so haben sehr viele stark gelitten. Hätten die Demonstrierenden im August 2020 versucht, den Palast der Unabhängigkeit zu stürmen, hätte es massenhaft Tote gegeben. Dort standen Schützenpanzer mit großkalibrigen Maschinengewehren bereit. Lukaschenka sagte später selbst, dass er nicht gezögert hätte, „die Armee zu aktivieren“, also die Protestierenden zu erschießen. Diese Proteste hatten also praktisch gar keine Chance.
Wie lässt es sich erklären, dass wir uns so von unseren Nachbarn unterscheiden, mit denen wir doch eigentlich eine gemeinsame Geschichte teilen, vom Großfürstentum Litauen über die Rzeczpospolita hin zum Russischen Reich und der UdSSR?
Bei den Russen gab es die Periode des mongolisch-tatarischen Jochs, das auch in der Mentalität seine Spuren hinterlassen hat. Die belarussischen Gebiete wurden davon kaum tangiert, auch wurden sie vom Westen kaum von den Deutschen Ordensrittern heimgesucht, auch dank des Widerstands und einiger herausragender Siege. Während im Großfürstentum Moskau der Despotismus herrschte, galten bei uns die für die damalige Zeit fortschrittlichen Gesetze des Großfürstentums Litauen, unsere Städte erhielten das Magdeburger Stadtrecht. Mit anderen Worten, bei uns wurde damals schon die Achtung der Person, des Eigentums und des Rechts kultiviert. Heute macht dies den Unterschied zwischen Russen und Belarussen aus.
Die Ukrainer hingegen sind eher ein südländisches Volk. Manchmal hört man, die Ukrainer seien die Italiener Osteuropas, die Belarussen wiederum die Deutschen Osteuropas. Das ist in meinen Augen ein treffender Vergleich. Die Ukrainer sind durchaus temperamentvoller, sie haben die Traditionen der freien Kosaken und der Rebellion, und das bedingt auch Besonderheiten in ihrer Geschichte und Gegenwart – wie sie beispielsweise im Jahr 2022, als ihnen eine Niederlage innerhalb von drei Tagen prophezeit wurde, den russischen Invasoren absolut unerwartet einen Schlag ins Gesicht versetzten. Wir dagegen haben mit den Litauern recht viel gemeinsam, auch wenn uns unsere slawische Herkunft von ihnen trennt.
Gibt es ein besonders tragisches Ereignis in unserer Geschichte, das sich Ihrer Ansicht nach stärker als andere in der belarussischen Mentalität niedergeschlagen hat und dessen Nachwirkungen wir bis heute spüren?
Die belarussische Geschichte ist insgesamt tragisch. Über Jahrhunderte hinweg wurde der Genpool der Nation dezimiert, weshalb ich immer wieder sage: Es ist ein Wunder, dass die Belarussen überlebt haben, dass sie bestehen und weiterhin wunderbare, große Persönlichkeiten hervorbringen. Hier kann man auf die Kriege mit den Moskowitern eingehen, als die Hälfte der Bevölkerung umkam. Das war eine riesige Tragödie. Aber diese Ereignisse liegen sehr lange zurück, die heutigen Belarussen wissen nur aus Büchern davon.
Natürlich muss auch der Zweite Weltkrieg genannt werden. Das war ein kollektives Trauma, das bis heute spürbar ist. In meiner Kindheit und Jugend waren Gespräche über die Invasion der Hitlertruppen, über den Hunger und die Angst der Menschen vor Erschießung sehr häufige Themen unserer Eltern und Großeltern. Die Veteranen sprachen übrigens nicht so gern über den Krieg, und wenn sie doch etwas erzählten, zum Beispiel bei einem Gläschen nach der Banja, dann war da keine Romantik, kein Pathos, sondern einzig, dass es eine furchtbare, blutige Angelegenheit gewesen sei. Womit man heute in Russland und auch in Belarus hausieren geht, dieser verlogene Patriotismus mit „wir können es wiederholen“, das hat überhaupt nichts mit der wahren Erinnerung an den Krieg zu tun. Tatsächlich sind die Belarussen Pazifisten. Selbst soziologische Studien zeigen das, wenn es um die Einstellung zum Krieg in der Ukraine geht. Ich denke, das ist einer der Faktoren, der Lukaschenka und Putin davon abgehalten hat, das belarussische Militär in den Krieg hineinzuziehen.
Heute stehen das Überleben der Nation und die Unabhängigkeit von Belarus auf dem Spiel
Andererseits nutzt das jetzige Regime die belarussische Hauptsache-kein-Krieg-Einstellung auch für sich aus. Lukaschenka ist bemüht, sich als weisen und allmächtigen Friedensschützer in Belarus darzustellen, obwohl sein Regime in Wahrheit als Co-Aggressor dem Kreml in seinem ungerechten Krieg gegen die Ukraine hilft. Jedoch hält das Lukaschenka nicht davon ab, mit seinem Spitz irgendwo an die litauische Grenze zu fahren und zu erzählen, wie er das blauäugige Belarus vor den NATO-Horden und den Flüchtlingen bewahrt. Bei einem Teil der Bevölkerung hat er damit Erfolg. Auch Tschernobyl gehört zu den tragischen Ereignissen.
Und nicht zuletzt das frischeste kollektive Trauma – das Jahr 2020. Auf der einen Seite dieser Aufschwung von Nationalgefühl, Politisierung, das Moment des gesellschaftlichen Erwachsenwerdens, als sich zeigte, als wir als politische Nation mit einer starken Zivilgesellschaft auftraten. Auf der anderen Seite aber die schwere Niederlage des friedlichen Aufstandes, die bei Hunderttausenden, vielleicht sogar Millionen von Belarussen zu physischen und psychischen Traumata führte. Und heute, wo unser irres Regime den Grad der Repressionen und der Angst hochdreht, parallel dazu aber die Souveränität stückchenweise an Moskau abgibt, ist schon allein Lukaschenkas eine nationale Tragödie. Denn offensichtlich stehen das Überleben der Nation und die Unabhängigkeit von Belarus auf dem Spiel.
Was war das wichtigste Initialereignis für die Nationsbildung?
Vielleicht mutet diese Antwort für einen Menschen mit demokratischer Grundhaltung paradox an, aber ich würde sagen: die Gründung der BSSR. Natürlich strengten die Bolschewiki dieses Projekt vor allem deshalb an, weil es vorher die BNR gegeben hatte. Aber, Hand aufs Herz, die BNR hatte keinen Erfolg, sie vermochte es nicht (und konnte es unter diesen Bedingungen wohl auch nicht schaffen), ein richtiger Staat zu werden. Sie war ein vornehmlich virtuelles Gebilde, auch wenn die historische Bedeutung dieses Momentums zweifellos enorm ist.
Die Körnchen, die Ende der 1980er Jahre gesät wurden, die Samenkörner des nationalen Selbstbewusstseins und des staatsbürgerlichen Bewusstseins, sie traten 2020 ans Licht
Die BSSR war natürlich nicht unabhängig. Zwar war die Souveränität der Unionsrepubliken in der sowjetischen Verfassung festgeschrieben, es gab sogar das Recht auf Austritt aus der UdSSR, aber wer glaubte damals daran, dass Moskau so etwas zulassen würde? Zu Stalins und Breschnews Zeiten war das selbstverständlich undenkbar, aber infolge der Perestroika Gorbatschows begann die Sowjetunion zu zerfallen, und Belarus erlangte seine Unabhängigkeit. Im Gegensatz zu beispielsweise Tatarstan und Baschkirien, die nur Autonome Sowjetrepubliken waren. In diesem Sinne erfüllte dieser sowjetische Status also doch einen Zweck.
Zweitens würde ich noch die Perestroika, den Zerfall der Sowjetunion und die ersten Jahre der Unabhängigkeit gesondert herausstellen. Eben diese Phase der Wiedergeburt am Ende der 1980er und in der ersten Hälfte der 1990er war eine fantastische, einmalige Zeit. Dank der Belarussischen Volksfront (BNF), ihren engagierten Persönlichkeiten, den Anführern der nationalen Wiedergeburt, begannen Hunderttausende unserer Landsleute, sich vollkommen als Belarussen zu fühlen. Auch ich, wenn ich das so pathetisch sagen darf, bin in diesen Jahren zum bewussten Belarussen geworden. Diese politische Aktivität brach plötzlich wie ein Bach unter dem Eis hervor, es fanden Kundgebungen statt, die weiß-rot-weiße Flagge wehte über den Plätzen. Es war eine kurze, aber sehr intensive Periode.
Und im Jahr 2020 funktionierte es auf fantastische Weise erneut. Die klassische, „alte“ Opposition, wie man sie nennt, hat zwar anscheinend ihren Einfluss verloren und tat sich bei den Straßenaktionen nicht sonderlich hervor. Aber diese Körnchen, die damals gesät wurden, die Samenkörner des nationalen Selbstbewusstseins und des staatsbürgerlichen Bewusstseins, sie traten 2020 ans Licht, und wir sahen über den Protestzügen ein Meer aus weiß-rot-weißen Fahnen.
Der zweite Teil des Gesprächs mit Alexander Klaskowski erscheint am 6. August 2024 bei dekoder.
Lange Zeit schien es klar, dass im russischen Abnutzungskrieg nur eine Seite gewinnen kann: Russland hat fast viermal so viele Einwohner wie die Ukraine, viel mehr Waffen, und die ohnehin stärkere Rüstungsindustrie läuft auf Hochtouren. Dennoch ist die Offensive bei Charkiw stecken geblieben und auch die Vorstöße an anderen Frontabschnitten sind strategisch unbedeutend. Dabei verliert Russland in großer Zahl gepanzerte Fahrzeuge und Artillerie. Militärexperten gehen davon aus, dass der Kreml im kommenden Jahr vor ernsten Nachschubproblemen stehen wird.
Bereits jetzt versucht Russland offenbar, seinen Mangel an Material durch mehr Personal auszugleichen: Seit Beginn der Invasion setzen die Kommandierenden vor allem auf Artilleriefeuer und Frontalangriffe, bei denen die eigenen Soldaten als Kanonenfutter verheizt werden. Laut Mediazona hat Russland im ersten Halbjahr 2024 rund ein Drittel seiner Gesamtverluste zu verzeichnen. Während 2023 im Schnitt etwa 120 russische Militärangehörige pro Tag fielen, sind es derzeit 200 bis 250.
Die Soldaten, die an vorderster Front ins Feuer geschickt werden, stammen vor allem aus ärmeren Landesteilen abseits der Großstädte. Wenn sie nicht auf dem Schlachtfeld zurückgelassen werden, kommen ihre Leichen in Zinksärgen nach Hause zu ihren Familien. Wie das abläuft, darüber berichtet ein anonymer russischer Offizier dem Medienprojekt Mediazona: Drei Monate lang hat er mehr als ein Dutzend Tote nach Hause gebracht, bis in den Fernen Osten.
Achtung, dieser Text enthält drastische Darstellungen von Krieg, Tod und Gewalt.
Ich bin ausgebildeter Militärpsychologe. In meinem Dienst musste ich gefallene Soldaten nach Transbaikalien begleiten. Eigentlich ist es die Regel, dass so etwas nur Leute mit meiner Ausbildung machen, aber jetzt schicken sie sonst wen dorthin. Meistens sind es einfache Soldaten, manchmal beliebig ausgewählte Offiziere. Der Grund ist natürlich der akute Personalmangel.
Zentrum zur Identifizierung der Toten Nummer 522
Der Ablauf an sich ist simpel: Die Toten aus der Ukraine werden in die Leichenhalle auf dem Gelände des Militärhospitals in Rostow am Don geliefert, in das Zentrum zur Identifizierung der Toten Nummer 522. Grob gesagt ist das eine Sortierstation, von der aus die Leichen ins ganze Land transportiert werden. Dort arbeiten Militärangehörige aus allen Einheiten, die im Krieg sind. Ihre Arbeit ist die Hölle: Sie müssen die Leichen identifizieren und alle Toten aus ihrer Einheit für den Abtransport vorbereiten. Sobald eine Leiche eingeliefert und identifiziert wurde, ruft das Zentrum aus Rostow im jeweiligen Truppenteil an und bestimmt einen Totenbegleiter. Infrage kommen Offiziere und Vertragssoldaten, die gerade verfügbar sind. So war es auch bei mir. Weil ich mich geweigert habe, einen Befehl auszuführen, wussten sie nicht, wohin mit mir. Ich war froh, dass sie mich genommen haben: besser ich als jemand, der überhaupt keine Ahnung hat, was er zu einer Mutter sagen soll, die ihren Sohn beerdigen muss.
Danach läuft es folgendermaßen: Die Begleitperson fliegt nach Rostow am Don, fährt ins Zentrum 522, nimmt den gefallenen Soldaten in Empfang, seine Papiere und persönlichen Gegenstände, die seiner Familie überbracht werden müssen, die Sterbeurkunde und die Dokumente, die für das Begräbnis nötig sind, sowie den Tapferkeitsorden. Dann heißt es warten, bis es grünes Licht für die Reise gibt. Wenn es soweit ist, bekommt die Begleitperson eine Einweisung vom Zentrumsleiter. Die Toten werden in eine IL-76 geladen und zum Bestimmungsort geflogen. Wie wir mit den Hinterbliebenen umgehen sollen, wird bei der Einweisung nicht gesagt.
Bei der Ankunft werden die Leichen von der örtlichen Militärverwaltung in Empfang genommen, die den Weitertransport in die Herkunftsorte organisiert. Ist man dort angekommen, übergibt man die Leiche den Angehörigen und bleibt bis zum Schluss bei ihnen, einschließlich der Beerdigung. Danach erhält man die Papiere, die für die Kompensationszahlungen nötig sind, einen Sterbe- und Bestattungsnachweis, und kehrt in seinen Truppenteil zurück.
Von Rostow aus gehen praktisch täglich solche Flüge. Unser Flugzeug war voll belegt: 80 Holzkisten, innen drin Zinksärge mit den Leichen und an den Wänden eng an eng knapp 60 Begleitpersonen, von denen manche bis zum letzten Zielflughafen mitfliegen mussten. Im Normalfall dauert die Reise mehrere Tage, mit Zwischenstopps in verschiedenen Großstädten. Am Anfang [des Krieges] bekam jeder Tote seine eigene Begleiterperson, aber seit es nicht mehr genug Leute gibt und die Verluste steigen, gibt es eine Person für alle Gefallenen aus einer größeren Stadt oder einem Truppenteil.
Weder angemessene Lagerung noch Kühlung
Das Identifikationszentrum in Rostow am Don ist ein Ort des Grauens. Da ist in erster Linie der Gestank, der mit nichts vergleichbar ist. Obwohl ich im tiefsten Winter dort war, ist er schwer zu vergessen. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es im Sommer zugeht. Das Zweite ist der Umgang mit den Toten: Sie liegen in den riesigen Hangars, in denen sie identifiziert und sortiert werden, einfach auf dem Boden. Ich habe dort einen abgetrennten Kopf auf dem Boden liegen sehen. Sein verzerrtes Gesicht werde ich nie vergessen. Es gibt weder angemessene Lagerung noch Kühlung, was klar ist angesichts des Zustroms – die Leichenhallen sind nicht für diese Mengen ausgelegt. Bei den Gefallenen aus meiner Einheit habe ich dann den ganzen Prozess mitangesehen: Den Toten wird eine Uniform angezogen – das machen einfache Soldaten, manchmal sogar Wehrdienstler –, dann werden sie in einen Zinksarg gelegt, geschminkt, damit sie durch das kleine Sichtfenster nicht ganz so schlimm aussehen, dann verschweißt man den Sarg, legt ihn in eine Holzkiste, beschriftet sie und bereitet sie für den Transport vor.
Die ganze Angelegenheit ist auch körperlich Schwerstarbeit, man ist praktisch als Packer angestellt. Angefangen bei der Leichenhalle in Rostow bis zum Heimatdorf des Toten muss man ständig Särge schleppen und hin- und herschieben.
Bei der Ankunft muss man selber mit den Angehörigen sprechen. Natürlich ist da vor allem das ungeheure Leid der Mutter. Am schlimmsten ist es, wenn der Tote sehr jung war, 20 bis 25 Jahre. Dann wäre ich am liebsten selbst an seiner Stelle, um nicht mitansehen zu müssen, was mit den Eltern passiert, wenn sie ihr totes Kind sehen.
Niemand ist in der Lage, ihren Schmerz zu verstehen
Der eine Satz, den ich als Begleitperson bei der Ankunft sagen muss, lautet ungefähr so: „Sehr geehrte Maria Iwanowna, mein herzliches Beileid angesichts Ihres schweren Verlusts.“ Alles andere kann warten. Um die Situation irgendwie erträglicher zu machen, gibt es einfache Regeln. Man sollte immer eine Flasche Wasser und Taschentücher dabeihaben und sich vorher überlegen, wo sich der oder die Betroffene hinsetzen oder hinlegen kann. Auf keinen Fall darf man einer Mutter, die ihr Kind verloren hat, etwas sagen wie: „Ich verstehe sie.“ Niemand ist in der Lage, ihren Schmerz zu verstehen, solche Worte können eine aggressive Reaktion hervorrufen. Wenn das passiert, darf man nicht darauf eingehen, nichts beweisen oder abstreiten. Man muss einfach zuhören und warten, bis die Emotionen nachlassen.
Außerdem ist es empfehlenswert, die Angehörigen zu fragen, was sie über die Todesumstände wissen. Wenn ihnen noch keine Details bekannt sind – eine Mutter wird immer fragen, wie ihr Sohn gestorben ist –, sollte man sie damit beruhigen, dass es ein schneller Tod war und ihr Kind nicht leiden musste. Manchen Müttern gibt das etwas Trost. Man darf eine Mutter nie von dem Sarg wegzerren und muss verhindern, dass es die Angehörigen tun. Im ersten Moment sollte man die Tränen und Emotionen fließen lassen, bis sie irgendwann abklingen. Viele machen den Fehler, sie gleich beruhigen zu wollen, sie ziehen sie weg, lassen sie nicht ausweinen. Das ist falsch. Die meisten Begleitpersonen wissen nicht einmal das. Sie wissen nicht, was sie sagen sollen, also sagen sie einfach nichts. Das kommt alles daher, dass es an geschulten Leuten fehlt und sie jeden X-Beliebigen nehmen.
Ich wurde oft eingesetzt, alle ein oder zwei Wochen. Bei 13 Beerdigungen war ich persönlich dabei. Es gibt auch welche, die noch mehr mitgemacht haben. Der Strom reißt nicht ab. Fast jeden Tag gibt es Ehrenbegräbnisse.
Noch nie so viele Blumen und aufrichtige Tränen gesehen
Am eindrücklichsten ist mir ein Lehrer in Erinnerung geblieben, den ich in ein Dorf namens Bura an der chinesischen Grenze begleiten musste. Er war eingezogen worden und starb an einer Verletzung am Bein, die eigentlich gar nicht lebensgefährlich war. Aber er hat zu viel Blut verloren, weil man das Bein nicht oberhalb der Wunde abgebunden hat, sondern darunter. Dafür wurde nie jemand zur Rechenschaft gezogen. Er war ein einfacher Lehrer, den man Tausende von Kilometern weit weggeholt hat, um Menschen zu töten. Auf dem Land sind die Leute einfach gestrickt: Man sagt ihnen, ihr müsst „gegen Nazis kämpfen“, also kämpfen sie gegen Nazis. In diesem gottverlassenen Dorf gab es keinen, der ihn als Lehrer ersetzen konnte. Dieser Mann war sehr beliebt, das ganze Dorf schätzte ihn. Ich habe noch nie so viele Blumen und aufrichtige Tränen gesehen wie bei seiner Beerdigung.
Dann gab es noch eine Mutter, der ich ihren zweiten Sohn tot zurückbringen musste, nachdem sie schon einen [im Krieg] verloren hatte. Das Dorf hieß Tschara. Der erste Sohn war als Freiwilliger in die Gruppe Wagner eingetreten, der zweite wurde eingezogen, der dritte war noch zu Hause, aber wollte auch bald hingehen. Sie ist natürlich zusammengebrochen, war vollkommen hysterisch. Ich habe mir ihre Hasstiraden anhören müssen, auf Putin, auf Schoigu, einfach auf alle. Ich trug eine Uniform, also war ich an allem schuld, ich habe diesen Krieg entfesselt, alle getötet, ihren Sohn getötet – das volle Programm. Sie tat mir sehr leid. Sie wäre mir am liebsten an die Gurgel gegangen, aber durch den Schock war sie wie gelähmt. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch und wäre fast ohnmächtig geworden.
Ein anderer harter Moment war, als mehrere Tote aus einer Einheit auf einmal in eine Leichenhalle gebracht wurden. Es kamen viele Verwandte, alle waren völlig am Ende. Zwei der Familien wollten unbedingt die Zinksärge öffnen und die Leichen umbetten. Sie hatten einen Trennschleifer dabei, aber als sie es nicht schafften, baten sie mich um Hilfe. Da habe ich zum ersten Mal einen Zinksarg zersägt, unter den Blicken der trauernden Verwandtschaft. Es war eiskalt, meine Hände waren steif gefroren, und dann war einer der Toten schrecklich zugerichtet. Während wir sie in die Leichenhalle trugen, um sie umzuziehen, weinten alle hysterisch. Einen Zinksarg zu zersägen ist nichts für schwache Nerven.
Ich habe schon das Gefühl, dass viele gegen den Krieg sind
Es gibt verschiedene Gründe, warum die Leute die Särge öffnen wollen. Eigentlich haben Zinksärge ein kleines Fenster, damit man das Gesicht sehen kann. Normalerweise, wenn es keine Kopfverletzung gibt, erkennt man den Toten. Manche Angehörigen wollen ihn einfach noch einmal berühren, sie wollen sich von dem Körper verabschieden. In Transbaikalien werden die Toten traditionell zu Hause im offenen Sarg aufgebahrt. Aber das ist in dem Fall keine gute Idee. Vor allem, wenn es warm ist, dann liegt die Leiche da und rottet vor sich hin. Bei meinen Einsätzen habe ich das eigentlich nie erlaubt. Dazu war ich befugt: Ich konnte entscheiden, ob ein Zinksarg geöffnet wird oder nicht. Wenn man das Gesicht durch das Sichtfenster sehen und den Toten identifizieren kann, dann reicht das. Meistens sind es die Mütter, die ihren Sohn noch einmal sehen wollen, aber sie verstehen nicht, dass da der Geruch ist, und es ist schlicht auch nicht ungefährlich.
Nur ein Mal habe ich es erlaubt. Es war Winter, da konnte man ihn einen Tag lang offen stehenlassen. Außerdem war er noch nicht lange tot, wir hatten ihn zügig nach Hause gebracht. Alle anderen habe ich in geschlossenen Särgen beerdigt. Bis zur Beisetzung wird der Zinksarg an verschiedenen Orten gelagert, nicht unbedingt im Leichenschauhaus, einfach weil es die nicht überall gibt. In ganz abgelegenen Dörfern werden die Särge manchmal in der Schule aufgebahrt – in der Aula oder sogar in der Kantine. Der Tote steht einfach mitten im Raum, die Menschen kommen und verabschieden sich. Das sind oft kleine, arme Dörfer. Die Leute tun, was sie können.
Ich persönlich habe nie etwas Negatives erlebt, außer von dieser einen Mutter, und der habe ich meine Nummer gegeben und versprochen zu helfen, so gut ich kann. Sie hat sich später bei mir gemeldet, wir haben telefoniert, ich habe ihr mit den Papieren geholfen. Alle anderen haben auf mich nicht feindselig reagiert. Die Leute verstehen, dass ich nichts dafürkann, dass ich sie nicht umgebracht habe. Wenn ich mit den Menschen rede, habe ich schon das Gefühl, dass viele gegen den Krieg sind. Sie verstehen, dass es völliger Irrsinn ist. Viele haben versucht, ihre Angehörigen davon abzuhalten, aber sie fahren trotzdem und sterben.
Auf dem Land sind alle arm
Zum Leichenschmaus bin ich meistens nicht geblieben. Das ist zu hart, furchtbar. Ich habe alle möglichen Ausreden erfunden, damit ich nicht hinmusste, obwohl man mich eingeladen hat. Das Essen war natürlich gut, aber ich bin meistens gefahren. Nur wenn man mit einer Eskorte zu einer Ehrenwache muss, dann hat man Wehrpflichtige dabei, die regelmäßig mit Essen versorgt werden müssen. Und wo versorgt man sie? Beim Leichenschmaus. Also muss man bleiben und dabeisitzen.
Das ist ein elender Anblick. Auf dem Land sind alle arm, für ein Begräbnis sammelt das ganze Dorf. Die Gegend ist sowieso schon trostlos, aber jetzt ist sie noch trostloser, weil sie buchstäblich alle Männer von dort wegholen. Burjaten, Jakuten, alle Minderheiten, die in diesem Gebiet leben. Die kommen zuallererst an die Front. Mindestens in zwei der Musterungsbehörden, mit denen ich zu tun hatte, hörte ich, dass sie keine „Mobilisierungsressourcen“ mehr hätten. Im Klartext heißt das, dass es in ihren Verwaltungskreisen keine Männer mehr gibt.
Ich habe etwa drei Monate [als Totenbegleiter] gearbeitet. Das ist eine harte Erfahrung, Ich bin wenigstens ein Militär und dafür ausgebildet, ich wusste immerhin, was auf mich zukommt. Aber es ist trotzdem grauenvoll. Erst war es sehr schwer, aber dann gewöhnst du dich natürlich dran.
Seitdem Alexander Lukaschenko im Mai 2023 vorzeitig von der Parade zum Tag des Sieges in Moskau abreisen musste, gibt es regelmäßig Spekulationen um den Zustand seiner Gesundheit. Nun nährte der Diktator die Gerüchteküche selbst, als er bei einem Auftritt in seiner ostbelarussischen Heimat durchblicken ließ, dass er Ruhe und Erholung brauche.
Spekulationen um das körperliche Wohlbefinden sind der fehlenden Informationstransparenz autokratischer Systeme geschuldet. Schließlich könnte die Nachricht von einer Krankheit des scheinbar unerschütterlichen Anführers dem System einen Schwächefall bescheren, den oppositionelle Gruppierungen und andere herbeisehnen. Falls der Autokrat tatsächlich krank sein sollte, ist das System gemeinhin bemüht, dies vor der Öffentlichkeit zu verbergen, um eine politische Erosion zu verhindern.
Für das belarussische Online-Medium Pozirk versucht der Journalist Alexander Klaskowski, Licht ins Dunkel zu Lukaschenkos Zustand zu bringen. Gleichzeitig geht er der Frage nach, wie eine Nachfolge in dem auf Lukaschenko zugeschnittenen Machtapparat organisiert werden könnte.
Bei einem Auftritt in [der Kleinstadt] Alexandrija äußerte Lukaschenko, dass der Juli für ihn ein schwieriger Monat sei: viele Massenveranstaltungen (besonders die Parade am 3. Juli), die Erntekampagne, und dann musste er auch noch nach Astana zum Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) fliegen. Kurzum, „wirklich schwere Tage“. Daher, so sagte er, beschloss er auf dem Rückweg im Osten von Belarus zu landen: „In der nächsten Zeit werde ich von hier arbeiten und beobachten, wie wir uns auf das Einbringen der Ernte vorbereiten“.
Eiserner Macho geht nicht mehr
Die Ernte zu kontrollieren, ist tatsächlich eine der Leidenschaften Lukaschenkos. Früher rückte er mit dem Hubschrauber von Minsk aus an, eilte von Region zu Region und versetzte die lokalen Verwaltungschefs in Angst und Schrecken. Nun hat er beschlossen, in seiner alten Heimat Zuflucht zu suchen, da man dort „buchstäblich innerhalb eines Tages gesund wird, und so stark wie zu früheren Zeiten, als man über diese Erde lief. Man regeneriert sich sehr schnell.“ Der letzte Satz drückt den Wunsch aus, das eigene Wohlbefinden zu verbessern.
Zudem war aus dem Mund des Herrschers praktisch eine Beschwerde zu hören, dass Menschenansammlungen negativ auf ihn wirken, da manche ihn im Inneren verfluchen würden. Auch ein ausdrucksstarkes Bekenntnis. Und eine Art Echo des Jahres 2020. All diese Offenbarungen sind Lukaschenko vermutlich nicht leichtgefallen. Viele Jahre hat er das Bild des in jeder Hinsicht mächtigen Herrschers mit eiserner Gesundheit kultiviert, eines echten Machos. Er fuhr Ski, spielte Eishockey, führte vor laufender Kamera schwere Landarbeit aus – mal mit der Sense, mal mit der Axt.
Jetzt ist ihm also nicht zum Posieren, nicht zur Protzerei zumute. Um sich zu regenerieren, beschloss er an einem beschaulichen Plätzchen abzutauchen. Wenngleich nicht ausgeschlossen ist, dass wir in den nächsten Tagen irgendein Video vom Heumachen oder anderen waghalsigen Aktivitäten zu sehen bekommen. Um uns wissen zu lassen, mit dem Herrscher ist alles in Ordnung, „da könnt ihr noch lange warten“.
Das Gerede über Lukaschenkos Gesundheit hatte sich im Mai vergangenen Jahres verstärkt, als er zunächst bei einer Preisverleihung in Minsk schlecht ausgesehen hatte, danach auch bei der Siegesparade in Moskau, wo er einen Verband am Arm trug. Zur Kranzniederlegung am Grab des Unbekannten Soldaten wurde Lukaschenko in einem Elektromobil gefahren. Danach verschwand er für fast eine Woche vollkommen aus der Öffentlichkeit. Als er dann am 15. Mai bei der Kommandozentrale der Armee und der Luftstreitkräfte erschien, verglichen ihn böse Zungen mit einem Exponat aus dem Wachsfigurenkabinett.
Seitdem bemerkten die Zuschauer immer öfter, dass Lukaschenko hinkte, mit heiserer Stimme sprach, schwer atmete. Einmal zitterte auch sein Kopf. Im Januar dieses Jahres verpasste er ein Hockeyspiel seiner Mannschaft gegen die Rivalen aus dem Gebiet Mahiljou. Erklärt wurde das so: „Er hat Holz gehackt, dabei ist ihm ein 80 Kilogramm schwerer Klotz auf den Fuß gefallen.“ Bei der diesjährigen Parade am 9. Mai blieb Lukaschenko beim Gang zum Grab des Unbekannten Soldaten völlig hinter den anderen Staatsführern zurück. Er rechtfertigte das damit, dass er ins Gespräch mit Sergej Schoigu vertieft war. Und kürzlich berichtete der Fernsehsender Doshd, Lukaschenko sei beim SOZ-Gipfel in Kasachstan schlecht geworden. Vielleicht ist Alexandrija nun der Versuch, die Wirkung dieser Nachricht abzumildern.
Hindernislauf bei der Machtübergabe
In Diktaturen ist der Gesundheitszustand des Führers ein Geheimnis mit sieben Siegeln. Wir können nicht einschätzen, wie ernst Lukaschenkos Beschwerden sind. Aber auch ohne Fachleute ist klar, dass er weder jünger noch gesünder wird, gegen die Biologie ist kein Kraut gewachsen. Und das weiß er auch. Immer häufiger kommt er auf das Thema zu sprechen, dass ein Generationswechsel auf Staatsebene unausweichlich ist. Mehr noch, er hat die Verfassung auf einen Machtwechsel zugeschnitten. Die Allbelarussische Volksversammlung ist mit ihren weitreichenden Befugnissen als jenes Organ konzipiert, das den nachfolgenden Präsidenten kontrollieren soll.
Nur den Schritt zum Machtwechsel selbst geht dieser Mensch nicht, der seit 30 Jahren an der Spitze des Staates steht. Zur Absicherung hat er sich erst einmal noch einen zweiten Thron gesichert – den Vorsitz der Volksversammlung. Und er teilte mit, dass er bei den Präsidentschaftswahlen 2025 antreten wird. Einiges deutet darauf hin, dass er sich bereits auf den Wahlkampf vorbereitet. Einerseits werden die Repressionen fortgesetzt, um den illoyalen Teil der Bevölkerung in Schach zu halten. Anderseits hat er gerade eine Handvoll politische Gefangene freigelassen, um sein Image aufzubessern und dem Westen ein Signal zu senden.
Mit dem Gedanken der Machtübergabe steht Lukaschenko offensichtlich auf Kriegsfuß. Wahrscheinlich treibt ihn die tragische Erfahrung Nursultan Nasarbajews um. Zudem scheint er nicht überzeugt, dass eine andere Person mit seinem Amt zurechtkommen könnte. Diese Zweifel hat er sogar schon laut geäußert. Und die Frage ist berechtigt. Der autokratische Herrscher hat eine Umgebung loyaler ausführender Kräfte geschaffen. Das sind alles Funktionäre. Aber andere Politiker, außer dem Führer selbst, gibt es im Land im Grunde nicht.
Viele sind Meister der Gottespreisung – aber können sie gleichzeitig rücksichtslos gegenüber Feinden und äußerst geschmeidig im Verhältnis zum „Erzverbündeten“ sein? Können sie listig sein, zwischen Regentropfen hindurchschlüpfen, Intrigen an der Wurzel ausreißen und zu guter Letzt auch im kritischen Moment die Macht fest in der eisernen Umklammerung halten? Eine solche Palette an Talenten und Fähigkeiten in Zusammenspiel mit thermonuklearem Willen ist tatsächlich selten. Das Ruder aus der Hand zu geben ist wahrscheinlich auch deshalb erschreckend, weil er sich um das eigene Schicksal und das der Familie im weiteren Sinne sorgt. Den Thron also vererben? Der Jüngste, Nikolaj, ist noch zu jung, der mittlere, Dimitri, hat offensichtlich kein Händchen für die Politik, und über das Verhältnis zum Ältesten, Viktor, hört man Verschiedenes. Jedenfalls gibt es keine Anzeichen dafür, dass er in die Spur geschickt wird.
Tichanowskaja wird nicht sofort triumphierend im Land einziehen
Bis zuletzt hat Lukaschenko in Bezug auf seine Machtübergabe also prokrastiniert. Böse Zungen sagen voraus, dass das Finale letztlich so aussehen könnte wie bei Stalin. Auf welche Gedanken der Regent bei seiner aktuellen Reha in der alten Heimat kommt, wissen wir noch nicht. Aber die Menschen in seinem engeren Umfeld und viele in der Machtvertikale haben vermutlich schon alle möglichen Gedanken zu dem Thema im Kopf: Was kommt danach?
Das ist übrigens ein weiterer Grund für einen Autokraten, keinen Nachfolger zu benennen. Es macht einen sofort zur lahmen Ente, alle Amtsträger würden sich zunehmend auf den zukünftigen Chef ausrichten. Gleichzeitig schaut ein Teil der Machtvertikale vermutlich sorgenvoll auf die Zukunft ohne Lukaschenko. Wenn nun plötzlich das System ohne harte Hand direkt den Bach runtergeht und sich die „fünfte Kolonne“ mithilfe des Westens rächt und die Diener des alten Regimes an den Straßenlaternen aufhängt?
Die Regimegegner indes erwarten das Ende der Epoche Lukaschenko natürlich voller Hoffnung (nicht umsonst erwähnte er in Alexandrija jene, die ihn verfluchen). Manch einer behauptet: An diesem Tag wird der Sekt ausverkauft sein. Ja, aber hoffentlich gibt es am Morgen danach kein böses Erwachen. Das Problem ist ja nicht nur der grausame, charismatische Herrscher. Man muss auch sehen, dass dieses System zahlreiche Befürworter hat. Das sind die Silowiki, ein bedeutender Teil der Staatsverwaltung (obwohl dort vermutlich viele heimlich von einem Regime mit menschlicherem Antlitz träumen), das höfische Business, die Mitbürger, die Angst vor Krieg haben, eine große Zahl von Rentnern, Arbeiter in unrentablen Staatsbetrieben, und einfach lupenreine Lukaschisten. Daher darf man nicht denken, dass Swetlana Tichanowskaja sofort im weißen Jeep in Minsk einfahren wird.
Moskau wacht gierig
Manche Politikexperten sagen, dass der nächste Präsident, wer es auch sein mag, gezwungen sein wird, die Daumenschrauben zu lockern. Aber was, wenn es ein blutbefleckter Silowik wird? Am Ende ist da noch Moskau, das die belarussische Frage hartnäckig verfolgt. Und natürlich bemüht ist, im Falle einer „Danach“-Situation Belarus noch zuverlässiger in die Mangel zu nehmen.
Lässt der Kreml einem hypothetischen Reformator aus der belarussischen Nomenklatura freie Bahn? Oder beschließt er angesichts dieser Freiheiten, das Land als extrem wichtigen strategischen Aufmarschplatz zu annektieren? Menschen mit prorussischem Gedankengut gibt es in der hiesigen Vertikale, besonders unter den Silowiki, ja mehr als genug. Kurz, das Ende von Lukaschenkos Herrschaft wird zu einem kritischen Moment für das Schicksal von Belarus.
Darja Kosyrewa ist eine der jüngsten politischen Gefangenen Russlands. Wegen ihres Protests gegen den Krieg verlor sie zunächst ihren Medizinstudienplatz. Am 24. Februar 2024 befestigte sie ein Plakat am Denkmal für Taras Schewtschenko in Sankt Petersburg. Darauf standen vier Zeilen aus dem Gedicht Vermächtnis des ukrainischen Nationaldichters:
Ja, begrabt mich und erhebt euch Und zersprenget eure Ketten, Und mit schlimmem Feindesblute Möge sich die Freiheit röten!
Kosyrewa drohen fünf Jahre Haft wegen „wiederholter Diskreditierung der russischen Armee“. In der Untersuchungshaft hat sie einen Appell an ihre Landsleute geschrieben, den das Portal Holod veröffentlicht. Anfang Juli wurde Kosyrewa in die Psychiatrie eingewiesen – zur Begutachtung, wie es hieß.
Russland steckt in einem undurchdringlichen Kokon – einem Kokon aus Schweigen. Wie viele Verbrechen Putins Diktatur auch begeht, wie viele fremde Städte sie erobert und zerstört, wie viel Mord und Folter sie zu verantworten hat – die Reaktion auf alle bösen Taten ist dumpfes Schweigen.
Viele wollen lieber gar nicht wissen, was passiert, sie schließen die Augen und halten sich die Ohren zu. Viele täuschen sich und wollen getäuscht werden – wie leicht ist es, dem Fernsehen blind zu glauben, auch wenn dort die ungeheuerlichsten Lügen aufgetischt werden.
Doch viele wissen sehr wohl, was diese böse Macht anrichtet. Viele tragen ihre Missbilligung, ihre Empörung, ihren Zorn in ihren Herzen. Und trotzdem schweigen sie.
Jede Untat braucht die stille Zustimmung anderer. Und jede Diktatur kann sich nur so lange halten, wie das Volk schweigt. Der Koloss auf tönernen Füßen wird seine Macht verlieren, wenn alle Andersdenkenden den Mund aufmachen.
Aber sie schweigen.
Der eine glaubt, es sei ohnehin alles entschieden und er selbst sei zu klein und unbedeutend, um sich einzumischen. Der nächste hofft, dass andere für ihn sprechen – doch finden diese anderen ebenfalls Rechtfertigungen, den Mund zu halten.
Indes ist der wahre Grund dieses Schweigens die menschliche Angst – eine wahnsinnige Angst. Keiner Diktatur gelingt es, alle und jeden zu überzeugen – deswegen greifen sie auf die Angst zurück. Sie ist ihr erstes und letztes Mittel, das Volk zu unterwerfen.
In der Hitlerzeit schrien die Deutschen brav „Heil“, weil sie wussten, was mit ihnen passieren konnte, wenn sie sich weigern. Die Sowjetmenschen unter Stalin sprachen selbst in der eigenen Küche nur im Flüsterton, weil sie Angst vor Denunziation hatten. Die Walze der Repressionen muss gar nicht alle Andersdenkenden erfassen – es genügen ein paar Exempel, und alle anderen halten ganz von selbst den Mund.
Die Absurdität von Putins Repressionen hat einen Grad erreicht, in dem jede Kleinigkeit zum Anlass für eine Strafverfolgung werden kann – und keiner weiß mehr mit Sicherheit, was man überhaupt noch sagen darf. Dem Bösewicht im Kreml ist das gerade recht, der Bösewicht im Kreml bekommt, was er will. Solange alle schweigen, ist seine Haut gerettet.
Genau deswegen dürfen wir nicht schweigen. Die menschliche Angst ist nachvollziehbar: Seinen Status aufs Spiel zu setzen, seine Perspektiven, seine Freiheit, ist sehr schwer. Wer obendrein noch Familie hat, hat doppelt Grund, sich zu fürchten. Doch wird es diesen Familien in einer Diktatur besser gehen? Mit tödlichen Repressionen und hinter einem eisernen Vorhang?
Die Diktatur kann ihre boshaften Taten und ihre Willkür fortsetzen, solange sie Kraft und Macht verspürt. Und nichts wird sich ändern, solange alle ergeben schweigen.
Wird es nicht langsam Zeit, den Mund aufzumachen?
Jeder, der des Sprechens mächtig ist, sollte jetzt den Mund aufmachen. Die paar, die es bisher gewagt haben, sind zu wenige, um etwas zu bewegen. Alle, die mit dem Moskauer Regime nicht einverstanden sind, müssen jetzt laut werden. Es ist leicht, einzelne für ihre Worte ins Gefängnis zu stecken – aber nur, weil es einzelne bleiben. Doch für alle, für alle, die nicht einverstanden sind, gibt es in Russland nicht genug Gefängnisse. Nicht einmal, wenn das Regime extra für sie noch einmal so viele Gefängnisse baut.
Wenn alle ihre Angst überwinden und den Mund aufmachen, dann ist für die Putin-Meute die Zeit gekommen, sich zu fürchten.
Kein Übel der Welt währt ewig, jede Diktatur muss eines Tages stürzen. Sie kann unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrechen wie die UdSSR – oder dank dem Volk, das endlich aufsteht.
Lasst diese Diktatur nicht länger überleben als unvermeidbar. Leute, macht den Mund auf!
Es war eine simple Idee, die bis heute großen Erfolg hat: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hob die US-Regierung ein akademisches Austauschprogramm aus der Taufe, dass es besonders begabten Studierenden und Forschenden aus der ganzen Welt erlauben sollte, einige Zeit an einer amerikanischen Hochschule zu verbringen. Allerdings unter einer Bedingung: Die jungen Wissenschaftler müssen nach Abschluss des Programms wieder zurück in ihre Herkunftsländer gehen. Die USA wollten nicht die klügsten Köpfe abwerben. Vielmehr sollten die Stipendiaten zur Entwicklung ihrer Heimatländer beitragen – und wohl auch etwas vom Geist der freien Forschung und Wissenschaft in die Welt tragen.
Seitdem hat das Fulbright-Programm mehr als 50 Nobelpreisträger hervorgebracht. 20 Alumni brachten es bis zum Außenminister. Einer wurde sogar Generalsekretär der Vereinten Nationen (der Ägypter Boutros Boutros-Ghali). Sogar im Kalten Krieg schickte die Sowjetunion talentierte Nachwuchsforscherinnen und -forscher an Hochschulen des Klassenfeindes. Doch Anfang 2024 erklärte die russische Regierung das Institute of International Education (IIE), den Träger des Fulbright-Programms, zur unerwünschten Organisation. Russinnen und Russen, die da bereits in den USA studierten oder eine Zusage für ein Stipendium hatten, fürchten sich jetzt vor der Rückkehr in ihre Heimat.
„Der Bewerbungsprozess für das Fulbright-Programm dauert ungefähr ein Jahr. Er verläuft in fünf Runden, aus denen man jeweils ‚rausfliegen‘ kann. Insofern ist das Ergebnis langersehnt und natürlich auch beflügelnd“, erinnert sich Irina Perfilowa, die heute an der University of Tennessee studiert.
Irinas Fach ist untypisch für das Fulbright-Programm: Sie ist eine der Ersten, die mit einer sportlichen Studienrichtung teilnehmen darf – Sport für Menschen mit Behinderungen.
„Ich hatte einen genauen Plan, wie ich später in Moskau an meinem Thema weiterarbeiten wollte, und ich wusste auch, warum ich dafür zunächst in die USA musste“, sagt sie.
Vom Prestigeprogramm zur unerwünschten Organisation
Am 11. April 1972 unterzeichneten die USA und die UdSSR ein Abkommen über die Zusammenarbeit in Wissenschaft, Technik, Bildung, Kultur und anderen Bereichen. Diese bilaterale Zusammenarbeit überdauerte lückenlos den Kalten Krieg und sein Ende. Heute erstreckt sich das Fulbright-Programm auf 160 Länder. Derweil ist seine Geschichte in Russland nach einem halben Jahrhundert vor Kurzem abgerissen.
„Das erste Alarmsignal war für mich das Gesetz über ausländische Agenten“, erzählt Irina. „Den Status eines ausländischen Agenten kann man bekommen, wenn man aus dem Ausland Finanzierung erhält. Im Rahmen des Fulbright-Programms bekommen wir ein Stipendium – also Geld aus dem Ausland. Mittlerweile genügt sogar schon ‚Einfluss aus dem Ausland‘. Aber was bedeutet das? Wenn wir zum Beispiel hier studieren – ist das Einfluss aus dem Ausland?“
Laut Irina steht in dem offiziellen Vertag, den die Stipendiaten unterschreiben, dass sie nach ihrer Teilnahme das amerikanische Fulbright-Programm in Russland auf dem Gebiet von Kultur und Bildung vertreten werden.
Das birgt die Gefahr, auf die Liste der ausländischen Agenten zu geraten. Und da ausländische Agenten keine Bildungsarbeit leisten dürfen, können die Fulbright-Alumni ihr erworbenes Wissen nicht weitergeben. So können viele von ihnen die Projekte, die sie sich vor ihrem USA-Aufenthalt vorgenommen haben, gar nicht mehr umsetzen.
Das nächste Signal im Leben der Fulbright-Stipendiaten war die Äußerung des Chefs des russischen AuslandsgeheimdienstesSergej Naryschkin im Januar 2024: Das Fulbright-Programm versuche zusammen mit einer Reihe anderer US-amerikanischer Programme, die massenhaft in den Westen geflüchtete systemkritische Opposition zu ersetzen und die Studierenden zu „Stützpfeilern der fünften Kolonne zu machen“. Und am 7. März überreichte das Außenministerium der Russischen Föderation dem Botschafter der USA ein offizielles Schreiben mit der Aufforderung, jegliche Vermittlungstätigkeit von drei Non-Profit-Organisationen einzustellen – darunter das Institute of International Education (IIE), den Träger des Fulbright-Programms. Am selben Tag wurde das IIE zur in Russland unerwünschten Organisation erklärt. Am 29. März beendete das IIE die Tätigkeit des Fulbright-Programms in Russland, um eine Verfolgung der russischen Bewerber zu vermeiden. Allerdings befinden sich gegenwärtig über 100 Stipendiaten in den USA. Sie setzen ihre Zusammenarbeit mit dem IIE und dem ebenfalls in den USA ansässigen Austausch Programm Cultural Vistas fort. Gemäß ihren Verträgen und ihren Visa der Kategorie J-1 sollten sie bald nach Russland zurückkehren: rund 30 von ihnen in den nächsten Monaten, die anderen innerhalb der nächsten Jahre.
Das Fulbright-Programm ist keine Ausnahme. Daniil Kirsanow, ein weiterer Stipendiat, ist der Meinung, die russische Regierung setze auch Teilnehmer anderer Austauschprogramme unter Druck – sowohl russisch-amerikanischer Programme als auch russisch-europäischer.
Zuhause warten Strafen
Eine russische Anwältin, die nicht namentlich genannt werden möchte, sagt, dass die Rechtspraxis in Russland momentan schwer einzuschätzen sei. Allerdings sei die Wahrscheinlichkeit, dass die Fulbright-Stipendiaten als ausländische Agenten klassifiziert würden, hoch. Wobei die Strafe für eine Zusammenarbeit mit der unerwünschten Organisation IIE, die das Fulbright-Programm finanziert, zunächst gar nicht so hoch erscheint: ein Bußgeld von 5000 bis 15.000 Rubel [ca. 50 bis 150 Euro]. Wie die Juristin anmerkte, sind Verfahren, die einzig und allein die Zusammenarbeit mit einer unerwünschten Organisation betreffen, selten: der Papierkrieg ist enorm, die Strafe mickrig.
Doch kann ein Bußgeld wegen einer Zusammenarbeit mit IIE leicht den Anstoß zu einem größeren Verfahren geben. Wenn gegen einen ausländischen Agenten zwei Bußgelder verhängt wurden, so genügt das, um ein Strafverfahren gegen ihn einzuleiten, und dann droht eine Haftstrafe. Haben Sie Materialien von Doshd, Radio Swoboda oder Meduza weiter verbreitet? Haben Sie Geld an unerwünschte Organisationen überwiesen? Haben Sie sich irgendwann pro-ukrainisch geäußert oder an ukrainische Organisationen gespendet? Viele unserer Gesprächspartner, die sich heute in den USA befinden, gestehen ein, genau das getan zu haben. Das heißt, sie müssen mit einem Strafverfahren rechnen.
„Noch gibt es wenige Strafverfahren, das ist eher zur Einschüchterung“, erklärte die Anwältin. „Konkret wegen Zusammenarbeit mit dem IIE gibt es bisher noch gar keine Verfahren. Insofern werden die Teilnehmer des Programms – zumindest bis auf Weiteres – mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne Konsequenzen zurückkehren können.“
Sowohl unsere Juristin als auch die Kuratoren des Fulbright-Programms empfehlen den Stipendiaten im Vertrauen, die Teilnahme an diesem Prestigeprogramm lieber nicht zu erwähnen. Selbst in Bewerbungsgesprächen mit seriösen Arbeitgebern sollte man sie besser verschweigen.
Einige Geschichten, die uns erzählt werden, lassen um die Zukunft einzelner Fulbrighter fürchten. Violetta Sobolewa zum Beispiel, die derzeit an der City University of New York in pädagogischer Psychologie promoviert, hat sich früher für Nawalnys Organisation engagiert und in amerikanischen Medien seinen Tod kommentiert. Irina Perfilowa ihrerseits engagierte sich für die russische LGBT-Community.
Den Zwang zur Rückkehr aussetzen?
Viele russische Fulbrighter würden deshalb gern in den USA bleiben und dort arbeiten. Aber die Regeln für das Visa J-1 und der Vertrag, den sie geschlossen haben, verpflichten sie, für mindestens zwei Jahre nach Russland zurückzukehren (die so genannte Zwei-Jahres-Regel).
Diese Regel wurde nicht umsonst aufgestellt: Normalerweise werden Austauschprogramme zu gleichen Teilen von den USA und einem Partnerland finanziert. Die Zwei-Jahres-Regel ist eine Art Garantie dafür, dass der Stipendiat in sein Herkunftsland zurückkehrt und sein erworbenes Wissen an andere weitergibt. Doch Russland hat sich an der Finanzierung nie beteiligt, die Kosten für die Ausbildung übernahmen die USA und die jeweiligen Universitäten.
Wir baten Julia Paschkowa, die sich bei der Kanzlei Lux Law auf Migrationsrecht spezialisiert hat, um ihre Einschätzung zur Situation mit dem J-1 Visum. Sie bestätigt, dass die Fulbright-Stipendiaten für mindestens zwei Jahre in ihr Heimatland zurückkehren müssen: „Die Einwanderungsbehörden nehmen diese Regel sehr ernst“.
Julia Paschkowa nennt aber auch Möglichkeiten, die Zwei-Jahres-Regel zu umgehen:
Ein Schreiben vom Partner-Land (in diesem Fall also von der russischen Regierung), das den Austauschstudenten von seiner Pflicht befreit, für zwei Jahre zurückzukehren. Dieser Antrag muss vom State Department und von der US-Einwanderungsbehörde USCIS beglaubigt werden. Laut Daniil Kirsanow haben russische Fulbrighter versucht, so ein Schreiben zu bekommen:
„Die Antwort auf unsere Anfrage war, dass Russland sich finanziell nicht an diesem Projekt beteiligt habe und es daher nicht als vollwertiges Austauschprogramm zu betrachten sei“, erklärt er. „Aus ihrer Sicht ist die Teilnahme russischer Studierender und Wissenschaftler am Fulbright-Programm eine private Initiative, mit der die russische Regierung nichts zu tun habe, weswegen sie auch keinen derartigen Verzicht bescheinigen könne. Theoretisch hätte die russische Fulbright-Filiale das Verzichtsschreiben verfassen können – als Organisation, die vonseiten Russlands die Verträge unterzeichnet. Aber diese wurde als Projekt der unerwünschten Organisation IIE geschlossen.“
Die zweite Möglichkeit wäre eine Einladung einer US-Bundesbehörde. Also die Teilnahme an einem Projekt, an dem die US-Regierung interessiert ist. Für junge Spezialisten sei die Aussicht darauf gering, gibt Julia Paschkowa zu bedenken.
„Wenn alles wahr wäre, was russische Medien über angebliche Spione berichten, dann wäre es nicht so schwer, auf diesem Weg ein Visum zu bekommen“, scherzt Kirsanow bitter. „Aber ich kenne keinen einzigen Fall, in dem ein Fulbrighter diese Ausnahme hätte nutzen können.“
Schließlich bliebe noch ein Antrag auf politisches Asyl. Doch das Prozedere dafür ist langwierig: Zuerst muss man der Einwanderungsbehörde Beweise vorlegen, dass man verfolgt wird. Diese leitet den Fall ans US-Außenministerium weiter, das die finale Entscheidung trifft. Einen Asylantrag hält die Anwältin Paschkowa jedoch für den aussichtsreichsten Weg. Allerdings fügt sie hinzu, dass dafür hypothetische Bedrohungen nicht ausreichen – man muss beweisen, dass man bei einer Rückkehr nach Russland persönlich gefährdet wäre.
Asyl kommt nicht für jeden infrage
„Wir stehen vor einer simplen Wahl: Entweder wir kehren zurück nach Hause, wo wir eingesperrt oder vor Gericht gestellt werden können. Oder wir bemühen uns um ein Studentenvisum“, sagt Daniil Kirsanow. „Das Problem ist erstens, dass zu dem Zeitpunkt, als der neue Status des IIE bekannt wurde, die Bewerbungsfristen für das PhD-Studium bereits abgelaufen waren. Außerdem ist ein Studentenvisum keine endgültige Lösung des Problems, es stellt die Zwei-Jahres-Regel nur auf Pause. Manche von uns haben versucht, ein Arbeitsvisum zu bekommen, aber erfolglos. Sogar jene, die während ihres USA-Aufenthalts geheiratet haben, stehen vor diesem Dilemma, denn eine Eheschließung ändert nichts an der Verpflichtung, für zwei Jahre nach Russland zurückzugehen.“
Die meisten Fulbrighter, die wir für ein Gespräch gewinnen konnten, ziehen jetzt entweder ein Promotionsstudium in Betracht (das kommt nur für jene in Frage, die das ohnehin vorhatten) oder ein weiteres Master-Studium oder ein Post Academic Training – ein Praktikum nach dem Studium. Allen ist klar, dass das nur temporäre Lösungen sind, mit denen man aber in den USA die Zeit überbrücken kann, um Asyl zu beantragen und zu warten, bis das Asylverfahren abgeschlossen ist.
Wir baten auch das Institut für internationale Bildung in Moskau um einen Kommentar. Dort versicherte man uns, man bemühe sich, den Kontakt zu den Projektteilnehmern aus Russland aufrechtzuerhalten und sie möglichst ausführlich zu beraten.
Natürlich hat das IIE sich redlich bemüht, etwas gegen die Zwei-Jahres-Regel zu unternehmen. Zum Beispiel hat es angeboten, den Programmteilnehmern den Umzug in ein Drittland zu bezahlen und nicht auf eine Rückkehr nach Russland zu bestehen.
„Der Umzug in ein Drittland bedeutet nicht nur ein Flugticket“, betont Irina Perfilowa, „man braucht auch ein Visum, muss eine Arbeit suchen und eine Wohnung finden, für all das braucht man vor allem in der ersten Zeit Geld. Wir haben in den USA zwar ein Stipendium bekommen, aber das war nicht so hoch, dass wir etwas hätten zurücklegen können. Keiner von uns hat Ersparnisse, und die Unterstützung durch Angehörige ist in einer Zeit, in der alle russischen Bankkarten im Ausland blockiert sind, auch nicht realistisch. Ich bezweifle, dass das ein realistischer Plan ist.“
Einer der Fulbrighter gesteht, dass er das Gefühl hat, das IIE, Cultural Vistas und das US-Außenministerium würden die Fulbright-Stipendiaten im Regen stehen lassen und dem Problem ausweichen.
„Ich habe den Eindruck, sie sind sich der Risiken nicht bewusst, denen wir ausgesetzt sind, wenn wir nach Russland zurückkehren. Ihre Unterstützung beschränkt sich momentan auf Auskunft und Beratung, aber das ist nicht genug“, sagt Kirill Schabalin.
„Es ist nicht so, dass sie uns nicht glauben würden. Aber wenn ich von diversen Strafprozessen erzähle oder von Fällen absolut willkürlicher Rechtsprechung, dann sind sie immer sehr schockiert. Die Leute können sich einfach nicht vorstellen, was in Russland los ist“, sagt Daniil Kirsanow.