Es war eine dieser im Krieg so seltenen guten Nachrichten: Beim Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine am 18. Oktober ist unter den 95 aus russischer Kriegsgefangenschaft befreiten Ukrainern auch der Menschenrechtler und Journalist Maxym Butkewytsch.
Butkewytsch, geboren 1977, trat zum ersten Mal, damals als Siebtklässler, während der sogenannten „Revolution auf Granit“ 1990 öffentlich für eine unabhängige Ukraine auf. Später wurde er Journalist und Menschenrechtsaktivist mit Überzeugungen zwischen christlichen Werten, Anarchismus und Pazifismus.
Im Zuge des Euromaidan, der folgenden russischen Annexion der Krym und dem von Russland forcierten Krieg im Osten der Ukraine baute Butkewytsch mit Kollegen das unabhängige Radio Hromadske und das Menschenrechtszentrum mit Medienplattform Zmina auf. Er engagierte sich besonders für Binnenvertriebene und -Flüchtlinge in der Ukraine.
Als Russland im Februar 2022 die Ukraine mit seinem vollumfänglichen Angriffskrieg überzieht, meldet sich Butkewytsch freiwillig zum Militär. Im Juni 2022 gerät er in der Oblast Luhansk in russische Kriegsgefangenschaft. Dort wird er im März 2023 von einem russischen Besatzungsgericht zu 13 Jahren Haft verurteilt, weil er in Sewerodonezk mit einer Panzerfaust auf ein Wohngebäude geschossen haben soll. Seine Einheit war zu diesem Zeitpunkt nicht dort, wie Kameraden und Angehörige von Butkewytsch betonen.
Mit Butkewytschs Freilassung im Oktober ist zum ersten Mal ein in Russland verurteilter ukrainischer Militärangehöriger ausgetauscht worden. Erstmals kann jemand direkt vom Ablauf und den Bedingungen in russischer Kriegsgefangenschaft und Gerichtsverfahren im Krieg berichten. Kurz nach seiner Ankunft in Kyjiw gibt Butkewytsch mehrere Interviews: Dieses Gespräch mit seinen Kolleginnen von Hromadske Radio ist das allererste, nach gerade mal fünf Tagen in Freiheit.
Dieses Interview ist ein Anfang, über das Erlebte zu sprechen. Denn mit der Befreiung beginnt ein komplizierter Verarbeitungsprozess. Das Befragen ehemaliger Kriegsgefangener ist – und das zeigt auch die YouTube-Aufzeichnung des Interviews – schwierig, will man Retraumatisierung vermeiden. Die ukrainische Medien-NGO Instytut massowoji informaziji (dt. Institut für Masseninformationen, IMI) hat dazu Tipps einer ehemaligen Kriegsgefangenen veröffentlicht. Das Wichtigste: Der befragte Mensch bestimmt den Ablauf.
Maksym Butkewytsch: Mir geht es wunderbar. So gut ist es mir in den letzten zwei Jahren und vier Monaten nicht gegangen. Wahrscheinlich sogar in den letzten zweieinhalb Jahren nicht. Wahrscheinlich bin ich glücklich. Ich erlebe etwas, das die Menschen Glück nennen. Generell und in vielen kleinen Momenten über den Tag verteilt – wenn ich Dinge sehe, die ich kannte und vergessen hatte, wenn ich Menschen treffe, die mir nah sind und mit denen ich jetzt reden kann, den einen oder anderen sogar sehen. Das ist wunderbar. Natürlich hat das alles auch seine Schattenseiten.
Unsere Zuschauer wissen ja, wie lange du festgehalten wurdest. Aus den ersten Videos und Informationen aus der Strafanstalt haben wir geschlossen, dass dein Zustand nicht sehr gut war, sich mit der Zeit aber besserte. Erzähle ein bisschen darüber.
Ich denke, eines der ersten Videos war aus dem Untersuchungsgefängnis Luhansk. Die Soldaten stehen aufgereiht an einer Wand. Es heißt, wir seien in Hirske und Solote gefangengenommen worden. Das war eine PR-Aktion. Dafür haben sie die erstbesten Kriegsgefangenen genommen. Darunter waren natürlich Leute, die an diesen Orten gefangengenommen wurden. Wir aber wurden woanders gefangengenommen.
Selbst bei so unwichtigen Dingen, bei denen es keinen Sinn macht zu lügen, gab es keine Wahrheit.
Was meinen Gesundheitszustand betrifft – ich hatte Probleme, allem voran mit einer Verletzung, die mir am zweiten Tag nach der Gefangennahme zugefügt wurde. Das war auf dem Weg nach Luhansk.
Die Verletzung stammte von einem Holzknüppel, mit dem ich geschlagen wurde, ich weiß nicht mehr wie oft, aber ich denke, ziemlich oft. Mein Arm war daraufhin für einige Zeit teilweise bewegungslos. Zum Glück heilte es irgendwie. Ich befürchtete einen Bruch, aber es war keiner. Ob davon etwas geblieben ist, werden wir bald erfahren, es sind Untersuchungen geplant.
Es gab noch ein Video, in dem ihr zur sogenannten Luhansker Beauftragten für Menschenrechte gebracht wurdet und angeblich Verwandte anrufen durftet. Damals kam ich für mich zu dem Schluss, dass sie sich auf ihre Weise noch immer mit euch beschäftigten, obwohl seit der Gefangennahme schon etwa ein halbes Jahr vergangen war.
In den ersten Wochen war es natürlich am intensivsten, da wurden wir von Personen aus verschiedenen Strukturen befragt. Man konnte nur raten, welche Strukturen das waren, denn selbstverständlich hatte niemand die „dumme“ Angewohnheit sich vorzustellen. Dann war da noch die eher formale Prozedur des Ministeriums für Staatssicherheit der sogenannten Volksrepublik Luhansk. Danach kehrte für einige Zeit Ruhe ein.
Später, im September 2022, wurde ein sogenanntes Strafverfahren gegen mich eingeleitet. Das war eine Woche vor dem Treffen mit der „Beauftragten für Menschenrechte“ der „Volksrepublik Luhansk“. Dieses Treffen war eine Überraschung für uns. Denn sie kam mit einem Mitarbeiter der UNO-Menschenrechtskommission. Danach beschäftigte man sich aufgrund des Strafverfahrens mit mir.
Du bist einer der ersten Ausgetauschten, den die Russen in einem Fake-Prozess verurteilten, aber schließlich zum Austausch freigaben. Und das, obwohl in den ukrainischen Menschenrechtskreisen im letzten Jahr große Unsicherheit und Zweifel darüber bestanden, ob die Russen verurteilte Kriegsgefangene herausgeben würden. Erzähl bitte, ob zwischen verurteilten und nicht verurteilten Gefangenen unterschieden wurde, wie ihr behandelt wurdet und wozu das alles war.
Wir hatten Informationen darüber, dass im letzten oder in den beiden letzten Austauschen Verurteilte gewesen waren, aber wir konnten das nicht überprüfen. Informationen kommen zwar zu den Gefangenen, aber oft spät und unvollständig. Viele Männer waren besorgt, dass keine verurteilten Kriegsgefangenen ausgetauscht würden. Zumindest in der Oblast Luhansk. Darin waren wir uns sicher. Weil in der Oblast Luhansk unseres Wissens alle verurteilten Kriegsgefangenen in derselben Strafkolonie festgehalten wurden. Dort war auch ich – in der früheren Strafkolonie Nr. 19, jetzt Strafkolonie Nr. 2 des Föderalen Strafvollzugdienstes Russlands in der „Volksrepublik Luhansk“.
Wir Verurteilte befanden uns dort gemeinsam mit anderen, die nach dem [russischem – dek] Strafrecht verurteilt worden sind. Es ist eine Strafkolonie mit strengen Haftbedingungen für sogenannte „Erstsitzer“, für solche also, die zum ersten Mal im Freiheitsentzug sind. Andere Kriegsgefangene gab es dort nicht. Sie befinden sich in anderen Strafkolonien der Oblast Luhansk, die sich durch ihre Haftbedingungen unterscheiden.
Der Umgang und die Haftbedingungen waren in der Strafkolonie eher zum Leben geeignet.
Ich könnte nicht sagen, dass es eine spürbare Unterscheidung zwischen verurteilten Kriegsgefangenen und „normalen“ Verurteilten gab, jedenfalls meistens nicht. Obwohl es für Kriegsgefangene natürlich zusätzliche Beschränkungen gab.
Sie waren zu bestimmten Arbeiten nicht zugelassen, und noch andere Dinge. Aber es war nicht belastend. Im Großen und Ganzen war der Unterschied zwischen der Strafkolonie, in der wir uns aufhielten, und dem Untersuchungsgefängnis, wo wir zuvor noch als Kriegsgefangene gewesen waren, sehr groß. Der Umgang und die Haftbedingungen waren in der Strafkolonie eher zum Leben geeignet.
Wir waren gemeinsam mit anderen Verurteilten untergebracht. In denselben Baracken und denselben Blocks. Wir gingen zu derselben Arbeit, aber nicht zu allen Arbeiten waren Kriegsgefangene zugelassen. Wir aßen in derselben Kantine.
Arbeit – meinst du damit, dass man euch zwang zu arbeiten?
Genau. Eine andere Sache ist, dass nicht alle dazu gezwungen wurden und nicht jeder zu allen Arbeiten. Als meine verurteilten Kameraden und ich vor mehr als einem Jahr dorthin gebracht wurden, teilte man uns inoffiziell mit, dass das Arbeiten verpflichtend sei. Und dass eine Verweigerung bestraft würde.
Aus manchen Strafkolonien hört man, dass die Gefangenen dort russische Militäruniformen nähen.
Ich habe von Strafkolonien gehört, in denen genäht wird. Ob Uniformen, habe ich nicht gefragt. Aber das waren Strafkolonien in Russland. In der Oblast Luhansk werden Kriegsgefangene hauptsächlich für Wartungsarbeiten und Arbeiten zur Aufrechterhaltung des täglichen Lebens im Wohnbereich eingesetzt. Aufräumen, Lasten transportieren, Bordsteine streichen, Reparaturarbeiten. Im Industriegebiet arbeiten natürlich kaum Kriegsgefangene. Meistens gab es dort aber auch kaum Arbeit. Die Industriezone ist sehr klein, von ihr ist fast nichts übrig. Sie wurde in den zehn Jahren davor ziemlich heruntergewirtschaftet.
Du bist Armeeangehöriger und nun ehemaliger Kriegsgefangener, darüber hinaus bist du Menschrechtsaktivist. Als du den Russen in die Hände fielst, hattest du eine Ahnung, was weiter passieren würde – weil du ja an Menschenrechtsaktivitäten zum Schutz und zur Befreiung von ukrainischen Häftlingen teilgenommen hattest?
Ich hatte vage Erwartungen, die sich nicht bewahrheiteten. Allem voran muss ich sagen, dass ich überhaupt nicht erwartete, in Gefangenschaft zu geraten. Dieser Gedanke tauchte nur als eine der Varianten auf, wie es weitergehen könnte, aber niemand stellte sich darauf ein, niemand war bereit dafür. Das waren hauptsächlich Leute, die 2022 in Gefangenschaft gerieten. Sie hatten sich darauf vorbereitet, 300er [verwundet – dek] oder 200er zu werden.
Als wir bereits in Gefangenschaft waren, hatten wir entweder die allerschlimmsten Erwartungen, die nichts mit dem internationalen humanitären Völkerrecht gemein hatten, oder solche, die sich zumindest irgendwie mit dem humanitären Völkerrecht und der Genfer Konvention in Zusammenhang bringen ließen … Ein Lager für Kriegsgefangene … Wie sieht ein Lager für Kriegsgefangene aus? Wer weiß das schon, bevor er nicht selbst dort gewesen ist. Alles war ganz anders. Und ich kam erst nach einiger Zeit dahinter, dass man uns in einem Untersuchungsgefängnis festhielt.
Wie sieht ein Lager für Kriegsgefangene aus? Wer weiß das schon, bevor er nicht selbst dort gewesen ist.
Später wurde uns klar, worin sich der Umgang mit den Menschen, die dort einsaßen, weil sie eines Verbrechens beschuldigt wurden, unterschied. Und er unterschied sich deutlich. Besonders 2022. Und ganz besonders bis Anfang Oktober 2022. Danach kam „offiziell“ Russland, was gewisse Änderungen mit sich brachte … Kam „offiziell“, weil Russland von dort in den Jahren zuvor ja nie weggegangen war. Aber es wurden einige Praktiken geändert, damit sie nicht allzu skandalös waren. Manche blieben gleich, mache wurden geändert. Um ehrlich zu sein, erwartete ich kein Strafverfahren. Dieser Teil war eine Überraschung für mich.
Wurde der Prozess gegen dich begonnen, weil du Menschenrechtsaktivist bist?
Ich weiß es nicht, ich glaube nicht, dass das der eigentliche Grund war. Denn die meisten, fast alle Kriegsgefangenen, die in der Oblast Luhansk in solchen „Verfahren“ verurteilt wurden, wurden nach ein und demselben Schema verurteilt. Es waren absolut typische Strafverfahren.
Aber ich war der Erste, der verurteilt wurde, vielleicht auch der Erste, gegen den ein Strafverfahren eingeleitet wurde. Das könnte damit zusammenhängen, dass ich Menschenrechtsaktivist bin, denn bei den Verhören wurde natürlich – neben den Kampfhandlungen und meiner Einheit – besonderes Augenmerk darauf gelegt, was ich in meinem früheren Leben und im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit gemacht habe.
Vielleicht ist das tatsächlich der Hauptgrund dafür, dass ich der Erste war … Unter den verurteilten Kriegsgefangenen waren Menschen unterschiedlicher geografischer Herkunft, unterschiedlichen militärischen Rangs, mit verschiedenen militärischen Funktionen sowie Berufen im zivilen Leben. Es war ein Querschnitt durch die ukrainische Armee, wirklich sehr unterschiedliche Menschen.
Der menschliche Verstand sucht immer nach einem System, einer Gesetzmäßigkeit, aber wir fanden nichts.
Und wir versuchten in den Strafverfahren, in den Details im Umgang mit uns und der Unterbringung in den Zellen, ein System zu finden. Der menschliche Verstand sucht immer nach einem System, einer Gesetzmäßigkeit, aber wir fanden nichts. Manchmal hatten wir den Eindruck, ein Zufallsgenerator sei am Werk: „Wen sollen wir heute zum Kriegsverbrecher machen?“
Noch dazu war offensichtlich, dass sie im August und Anfang September 2022, als die sogenannten „Untersuchungen“ zu meinem Strafverfahren durchgeführt wurden, große Eile hatten. Sie wollten so viele Menschen wie möglich nach diesem Schema verurteilen. Womit das zusammenhing, weiß ich nicht, aber vielleicht mit dem Zeitpunkt der formalen Annexion der „Volksrepublik Luhansk“ durch Russland.
Aber sie schafften es nicht. Deshalb kam es zu einer Pause von mehreren Monaten. Und danach hatten sie von manchen Formularen bereits die russische Version ausgefüllt. Zuvor waren es die Formulare der „Volksrepublik Luhansk“ gewesen, obwohl das Verfahren die ganze Zeit vom Russischen Ermittlungskomitee geleitet wurde. Verurteilt wurde ich bereits „im Namen der Russischen Föderation“.
Ich habe eine Frage zu jenen, die zurückgeblieben sind. Alle Kriegsgefangenen, die freikommen, reden immer von denen, die zurückgeblieben sind – sicher hast auch du eine Liste jener im Kopf, die noch dort sind. Aber ich frage dich im Zusammenhang damit, was du weiter tun wirst. Du hast einige Optionen, inwieweit könnten die Menschenrechte zum jetzigen Zeitpunkt eine Option sein?
Was meine weiteren Optionen betrifft, vermeide ich derzeit noch, eine mehr oder weniger endgültige Entscheidung zu treffen. Denn Optionen habe ich zum Glück einige. Es ist toll, mehrere Optionen zu haben. Sogar in der Situation, in der wir uns jetzt befinden – mit „uns“ meine ich die Ukraine.
Ich versuche, mir Möglichkeiten offen zu halten, einfach um zuerst verstehen zu können, was sich in den zweieinhalb Jahren verändert hat. Ich brauche genug Informationen. Aber ja, die Menschenrechte sind eine dieser Optionen. Wahrscheinlich die führende. Die Menschenrechte sind mein Leben. Sie sind ein Teil dessen, was den Kern meines Lebens ausmacht.
Es ist toll, mehrere Optionen zu haben. Sogar in der Situation, in der wir uns jetzt befinden – mit ‚uns‘ meine ich die Ukraine.
Aber in welcher Form das stattfinden wird, wird sich noch zeigen. Und natürlich wird mich das Thema jener, die ihre Heimat gegen ihren Willen verlassen mussten, immer begleiten. Das Thema Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge. Auch der Kampf gegen Diskriminierung und ungleiche Behandlung hat für mich an Relevanz gewonnen … das Thema der freien Meinungsäußerung und des freien Denkens hat neue Schattierungen angenommen, Dinge, die auch zuvor wichtig waren.
Mein Interesse für das Thema Strafvollzug wurde geweckt. Ich weiß jetzt einfach viel mehr darüber …
Aber natürlich sind unsere inhaftierten Kriegsgefangenen, sowohl die verurteilten als auch jene, die ohne Urteil festgehalten werden, mein Thema Nummer eins, der „Nagel“ in meinem Kopf. Und die Zivilisten, die festgehalten werden oder verurteilt wurden, weil sie auf irgendeine Weise gegen die Okkupation waren. Im Gefängnisjargon werden sie „Politische“ genannt.
Das sind menschliche Tragödien. Es gibt Familien, die einsitzen. Manchmal ganze, manchmal halbe.
Diese Menschen haben es sehr schwer, weil sie so viel riskiert haben und sich die Ängste, die sie dabei hatten, bewahrheiteten. Und viele fürchten, dass in der derzeitigen Situation, in der es viele Kriegsgefangene gibt, jemand vergessen werden könnte, und das wäre falsch. Schließlich gibt es Menschen, die gegen das Gesetz ihrer Freiheit beraubt werden. Ohne „gerichtliche Urteile“. Unter ihnen sind sogenannte prewentywnyky. Sie stehen unter präventivem Arrest, weil sie früher bei den ukrainischen Streitkräften gedient haben, bei der Polizei, in staatlichen Strukturen oder ähnlichem gearbeitet haben, davon gibt es viele. Ich habe sie in der Untersuchungshaft und im Gefängnis getroffen. Das sind menschliche Tragödien. Es gibt ganze Familien, die einsitzen. Manchmal ganze, manchmal halbe.
Die Atmosphäre trägt dazu bei, dass etwa bei Nachbarschaftskonflikten zur einfachsten „Lösung“ gegriffen und denunziert wird. Und sofort verschwinden die Probleme gemeinsam mit dem Nachbarn.
Aber vor allem sind unsere Kameraden und Kameradinnen Menschen, die von dort zurückgeholt, dort herausgeholt werden müssen. Ihre Würde steht unter ständigem Druck, immer, jeden einzelnen Tag. Das sind Druck und Bedrohungen, die man niemals vergisst.
Du hast gesagt, dass du in diesen fünf ersten Tagen in Freiheit versuchst zu verstehen, was sich verändert hat. Vielleicht hast du schon irgendetwas bemerkt. Zum Beispiel in Kyjiw, das du heute zum ersten Mal in all der Zeit gesehen hast.
Wir waren die meiste Zeit in einem Reha-Zentrum und halten uns auch weiterhin dort auf. Ich habe heute zum ersten Mal die Hauptstadt gesehen und auch meine Heimatstadt ganz kurz. Ich hatte heute nicht den Eindruck, wie andere oft sagen, durch eine „völlig unbesorgte Stadt zu fahren, die versucht zu verdrängen, dass Krieg ist“. Sagen wir so: Die Stadt ist fast friedlich, aber doch nicht ganz, ist fast ruhig, aber doch nicht ganz.
Aber das sind meine ersten Eindrücke, ich werde weiter sehen. Überhaupt nehme ich wahr, dass sich viel verändert hat, der Krieg ist alltäglich geworden, als „verstünde er sich von selbst“. Armeeuniformen, Militärfahrzeuge, verschiedene Besonderheiten, die es in Friedenszeiten nicht gab. Sie werden offensichtlich einfach als Teil der Landschaft wahrgenommen, was 2022 noch nicht der Fall war, damals war das noch eine Extremsituation.
Mitte November hat Putin die russische Atomdoktrin verschärft, wenige Tage später hat Russland eine Mittelstreckenrakete gegen die ukrainische Großstadt Dnipro eingesetzt. Dies ist der vorläufige Schlusspunkt der nuklearen Eskalation, die Russland seit der Krim-Annexion 2014 vorantreibt. Schon 2016 bemerkte der russische Journalist Andrej Loschak, dass „kaum eine Ausgabe der Nachrichten heute ohne Beiträge über das nukleare Potenzial Russlands auskommt.“ Mit der Vollinvasion 2022 hat sich die Gangart nochmals verschärft, auch der Kreml droht seitdem zunehmend mit dem Einsatz des Atomkoffers: Der Westen solle bloß die „roten Linien“ nicht überschreiten.
Viele dieser Kreml-Linien wurden seitdem aber schon mehrfach überschritten: So hat die ukrainische Armee westliche Waffensysteme gegen Gebiete eingesetzt, die Russland als eigene beansprucht. Konsequenzen blieben aus, was mit dem inflationären Gebrauch von Drohungen zu einer „Immunität“ gegenüber der atomaren Abschreckung geführt hat, so eine Quelle von The Washington Post.
Vor diesem Hintergrund gibt es nun auch im Westen zahlreiche ernstzunehmende Stimmen, die vor weiterer Eskalation warnen. Eine atomare Apokalypse halten zwar auch sie für derzeit unwahrscheinlich, der Einsatz von taktischen Atomwaffen gegen die Ukraine rücke durch die neue Wendung aber näher, so das Szenario. Der russische Journalist Michael Nacke hält davon nichts, auf YouTube argumentiert er Punkt für Punkt dagegen.
Der Krieg dauert bald drei Jahre, und Russland hat keines seiner proklamierten Ziele erreicht. Dabei waren das nicht wenige Ziele, sie wechselten nur ständig: vom Sturz der Regierung in Kyjiw über die Errichtung eines loyalen Regimes bis hin zur Besetzung der gesamten Oblast Donezk. Russland hat vier ukrainische Oblaste zu seinem Eigentum erklärt: Cherson, Donezk, Luhansk und Saporishshja. Dabei hat es zu keinem Zeitpunkt auch nur eine dieser Regionen komplett kontrolliert.
Im Verlauf dieses Krieges wurde Wladimir Putin mehr als einmal gedemütigt. Die russische Armee galt einst als eine der stärksten der Welt, auch unter vielen westlichen Beobachtern und renommierten Medien. Aber mit dem Beginn der vollumfänglichen Invasion der Ukraine veränderte sich diese Sicht: Seitdem wurde die Professionalität der russischen Armee immer öfter in Zweifel gezogen.
Also hat Putin mehrmals zu nuklearen Drohgebärden gegriffen und damit unter anderem die US-Regierung unter Joe Biden unter Druck gesetzt. Putin bediente sich dabei verschiedener Methoden, beispielsweise ließ er Atomwaffen nach Belarus verlagern, und immer wieder behauptete er, ein Atomschlag stünde kurz bevor. Leider ist Biden auf diese Bluffs hereingefallen.
Zwei Faktoren für die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Schlags
Ich möchte behaupten, dass die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Angriffs von genau zwei Faktoren abhängt, die eng zusammengehören: den Vorteilen, die Russland sich davon versprechen kann, und den Nachteilen, die es davontragen könnte. Alles andere spielt meiner Ansicht nach keine Rolle.
Dafür sind Diktaturen ja Diktaturen – sie sind sich selbst die einzige Beschränkung.
Derzeit hört man oft das Argument, Russland hätte seine Nukleardoktrin geändert und behalte sich von nun an das Recht vor, im Rahmen eines Präventivschlags Atomwaffen einzusetzen, wenn sein Territorium von einem Staat angegriffen wird, der mit einer Atommacht zusammenarbeitet. Dabei erlaubte bereits die alte Nukleardoktrin den Einsatz von Atomwaffen, wenn die Existenz des russischen Staates bedroht wurde. Es bleibt also dabei, dass es lediglich darauf ankommt, was man als Bedrohung deklariert.
Aus formaler Sicht hat sich also nichts geändert. Aber selbst wenn es formale Beschränkungen gäbe, wären sie völlig bedeutungslos. Dafür sind Diktaturen ja Diktaturen – sie sind sich selbst die einzige Beschränkung. Putin wird tun, was er will, unabhängig davon, was und wo etwas geschrieben steht. Es ergibt daher grundsätzlich keinen Sinn, Doktrinen, neue Gesetze oder ähnliches zu analysieren.
Rationaler Irrer mit Falschinformationen
Wenn sich aus formaler Sicht nichts geändert hat, so hat es doch wohl Veränderungen bei Handlungen gegeben? Der jüngste Angriff mit einer Interkontinentalrakete auf die Ukraine zeigt doch: „Schaut alle her, was wir können. Wir können eine Rakete abfeuern, die potenziell einen nuklearen Sprengsatz tragen könnte.“ Aber ist das etwa neu? Wussten wir noch nicht, dass Russland Raketen besitzt, die nukleare Sprengsätze tragen können? Russland ist nicht Nordkorea, daran hat niemand gezweifelt. Es ist bloß eine weitere russische Rakete – grausam genug, aber nichts, was uns wirklich einer nuklearen Eskalation näherbringt.
Damals war die Ratte wirklich in die Ecke getrieben, aber jetzt sieht die Lage doch komplett anders aus!
Warum denke ich, dass der Einsatz von Atomwaffen durch Putin im Moment ausgeschlossen ist? Weil ihm das keinerlei Vorteile bringen würde. An dieser Stelle hört man oft das Argument, Putin sei ein Wahnsinniger, der in die Enge getrieben wurde, und so weiter. Erstens stimmt das nicht; alle möglichen internationalen Medien, politischen Autoritäten und andere Persönlichkeiten schätzen Putins momentane Position besser ein als beispielsweise im Herbst 2022: Es gibt keine neue Mobilisierungswelle, die ukrainischen Truppen stecken in der Verteidigung fest und verlieren sogar Gebiete. Ja, in der Oblast Kursk kommt Russland nicht weiter, aber die Ukraine ebenfalls nicht.
Insgesamt steht Putin besser da als damals, als seine Soldaten aus der Oblast Charkiw geflohen sind und so viel Technik zurückgelassen haben, dass Russland zahlenmäßig kurz zum zweitgrößten Waffenlieferant der Ukraine aufstieg. Im Herbst 2022 hat sich Putin buchstäblich ein halbes Jahr lang versteckt, er sparte das Thema Krieg aus, sagte Presskonferenzen und den Direkten Draht ab. Damals war die Ratte wirklich in die Ecke getrieben, aber jetzt sieht die Lage doch komplett anders aus!
Das zweite Argument, er sei wahnsinnig und ein blinder Fanatiker, dem alles zuzutrauen ist, halte ich ebenfalls für einen großen Irrtum. Meines Erachtens handelt Putin durchaus rational. Man wird mir widersprechen, sagen, er zerstöre gerade Russlands Vergangenheit und Zukunft, und es ist wirklich schwer vorstellbar, wie man das alles stoppen und wiederaufbauen soll. Natürlich zerstört er jetzt in diesem Moment auch Russlands Gegenwart, von der Wirtschaft bis hin zum physischen Verlust von etwa 200.000 Menschenleben und 400-500.000 Verwundeten.
Und trotzdem ist Putin nicht wahnsinnig. Er ist allenfalls größenwahnsinnig. Er lässt sich von völlig anderen Werten leiten. Er hat Komplexe, er will, dass man ihn respektiert und fürchtet. Er will Macht, und er will sie behalten und mehren. Deshalb handelt er aus seiner Position rational: Er wählt den schnellsten Weg von A nach B. Die Sache ist allerdings, dass er wie jeder andere totalitäre Leader ein großes Problem mit den Informationen hat, die ihm zugetragen werden: Putin verfügt nicht über ausreichend objektive Daten, weil er ein System um sich herum aufgebaut hat, in dem jeder, der schlechte Nachrichten bringt, sofort einen Kopf kürzer gemacht wird.
Genau aus diesem Grund hat er 2022 versucht, mit 180.000 Mann in die Ukraine einzumarschieren, Kyjiw einzunehmen und die Macht im Land an sich zu reißen. Damals haben ihm Medwetschuk und die Agenten des FSB weisgemacht, in der Ukraine stehe alles bereit, die russischen Soldaten würden mit Blumen erwartet und so weiter. Mit dieser Information und seinen Ambitionen ausgestattet, zählte Putin eins und eins zusammen und zog los. Der Westen ist schwach, dachte er sich, und die Ukraine wartet nur darauf, sich uns zu unterwerfen. Also marschieren wir kurz ein und fertig. Aus seiner Sicht war auch das keineswegs irrational. Es war eiskalte Berechnung, die allerdings von falschen Voraussetzungen ausging.
Vorteile? Nichts als Nachteile!
Kommen wir also zu den Vor- und Nachteilen eines Atomschlags. Stellen wir uns vor, morgen wirft Putin eine Atombombe über, sagen wir, einem Stützpunkt der ukrainischen Armee ab. Würde das die ukrainische Armee vernichten? Nein. Würde das die Ukraine so sehr schwächen, dass sie kapitulieren würde? Nein. Im Gegenteil: Die Ukrainer würden noch enger gegen den Feind zusammenrücken: Uneinigkeit tritt gerade dann auf, wenn die Bedrohung abzuebben scheint. Wenn sie jedoch ein Ausmaß erreicht, wie es 2022 der Fall war, als russische Truppen buchstäblich vor den Toren Kyjiws standen, wenn die Bedrohung also offensichtlich wird, steht die Ukraine zusammen, genau wie die westliche Welt. Wenn die Bedrohung nicht mehr ganz so akut ist, wenn zum Beispiel lange Zeit nicht mehr geschossen wurde, dann fängt das Gerede an: „Was soll das alles? Ist doch alles in Ordnung, wir leben doch“ und so weiter. Daher wird ein Atomschlag auf einzelne Einheiten nicht das gewünschte Ergebnis bringen.
Wir müssen aber auch einen Atomangriff auf Städte in Betracht ziehen. Selbst das würde Putin jedoch nicht plötzlich zum Sieg verhelfen. Die Geschichte der Menschheit kennt bisher zwei Beispiele hierfür, nämlich die Bomben auf Nagasaki und Hiroschima. Dennoch sind sich viele Experten einig, dass Japans Kapitulation keine direkte Folge dieser Schläge war. Als die Bomben fielen, war die japanische Armee bereits zerschlagen, und Japan nicht im Stande, den Krieg noch lange fortzuführen. Das kann man von der Ukraine nicht behaupten.
Ja, die Russen machen Landgewinne in Kurachowe, Pokrowsk, Donezk, Tschassiw Jar. Aber diese Gewinne gehen erstens mit gigantischen Verlusten einher, zweitens hat Russland nicht einmal in den vier Oblasten, die jetzt in die russische Verfassung eingeschrieben sind, eine Großstadt einnehmen können. Im Gegenteil, Russland kontrolliert weniger Großstädte als zu Beginn der großangelegten Invasion. Cherson, die einzige Metropole, die die Russen erobern konnten, haben sie wieder verloren. Es kann also keine Rede davon sein, dass die ukrainische Armee kurz vor dem Zusammenbruch steht. Ein Atomschlag auf ein dichtbesiedeltes Gebiet mit einer gigantischen Zahl von zivilen Opfern löst aus dieser Sicht also weder das Problem, noch bringt es Putin auch nur einem seiner gesetzten Ziele näher.
Was wäre, wenn?
Welche Probleme würden sich andererseits für Putin ergeben? Wir dürfen nicht vergessen: Für ihn ist die Unterstützung seiner Verbündeten entscheidend. Wenn das 2020 nicht so sehr ins Gewicht gefallen ist, sieht das jetzt, 2024, ganz anders aus. Wenn russische Medien unken, die Ukraine sei abhängig von westlichen Waffen, wirkt das lächerlich, denn Russland hängt selbst zu 70 Prozent von ausländischer Artilleriemunition ab: 60 Prozent kommen aus Nordkorea, zehn Prozent aus dem Iran. Zudem ist Russland, um seine Raketen zu produzieren, auf westliche Komponenten angewiesen, die es an den Sanktionen vorbei illegal einkauft. Und jetzt lässt Russland auch noch Nordkoreaner für sich kämpfen. Damit ist Putin von seinen Partnern nicht weniger abhängig als die Ukraine von ihren.
Viele von Putins Verbündeten, nicht zuletzt Handelspartner wie Indien, sind entschieden gegen den Einsatz von Atomwaffen. Und das ist ja auch klar, denn ein Präzedenzfall von welcher Seite auch immer wäre wie ein grünes Licht. Indien bereitet zum Beispiel Pakistan große Probleme. China ist ebenfalls grundsätzlich gegen jeden Einsatz von Atomwaffen, weil es die nukleare Abschreckung an sich außer Kraft setzt und ein Go für die Entwicklung von Atomwaffen und nukleare Aufrüstung bedeuten würde. Kein Land will das. Deshalb tritt China als Russlands Beschwichtiger auf: Als Russland sagte, es sei kurz davor, den Knopf zu drücken, da sagte China „stop“. Indiens Premier Modi sagte sogar ein Treffen ab, als Putin wieder mal öffentlich mit Atomwaffen drohte. Sollte Putin ernst machen, würden sich die allermeisten Partner von Russland abwenden, was wiederum Russland von Einnahmequellen und Produktionsmöglichkeiten abschneiden würde. Dabei ist der Import aus China für Russland ein lebenswichtiger Faktor. In diesem Sinne würde Russland mehr verlieren, als es gewinnen könnte.
Und dann sind da noch die Atommächte im Westen. Mit einem nuklearen Schlag würde Putin sich selbst zur Hauptzielscheibe machen. Viele westliche Politiker sowie der Großteil der Bevölkerung betrachten den Krieg heute immer noch als einen lokalen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Deshalb hat er für viele nicht oberste Priorität – siehe zum Beispiel Donald Trump. Sollte Putin seine Drohungen allerdings wahrmachen, wäre Russland damit sofort Feind und Bedrohung Nr. 1, denn Putin verfügt über Raketen, die jeden europäischen Staat und jede beliebige Stadt in den USA erreichen können. Wenn die NATO in den Krieg eintritt, würde Russland umgehend am eigenen Leib erfahren, was es wirklich bedeutet zu kämpfen.
Die Risiken, die der Einsatz von Atomwaffen birgt, sind also ungleich höher als die potenziellen Vorteile. Das beantwortet auch die Frage, warum Putin diesen Schritt noch nicht gegangen ist.
Stellen Sie sich vor, Sie sind Putin …
Zum Abschluss noch ein einfaches Gedankenexperiment. Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind Wladimir Putin. Ja, ich weiß, das tut weh, aber dennoch. Sie haben also einen roten Knopf, und Sie glauben aufrichtig, dass ein Knopfdruck genügt, um den Krieg zu gewinnen. Die Ukraine kapituliert, der Westen stellt sofort seine Unterstützung ein und Sie gehen als Sieger aus dem Ganzen hervor. Achtung, Frage: Warum haben Sie ihn immer noch nicht gedrückt? Es ist doch ein Zauberknopf, der alle Probleme auf einen Schlag lösen könnte? Sie müssten sich nicht mit Mobilisierung unbeliebt machen, die Wirtschaft nicht in den Ruin treiben. Sie müssten keine personellen Engpässe ertragen, weil ein Teil der Bürger, der gerade am meisten in der Wirtschaft gebraucht würde, an der Front oder im Grab ist, und ein anderer großer Teil auf dem Weg dorthin.
Warum haben Sie den Knopf immer noch nicht gedrückt? Vielleicht, weil Sie nicht an seine magischen Kräfte glauben? Könnte es sein, dass sich Putin all dieser Risiken, die ich beschrieben habe, bewusst ist? Das ist der Punkt: Putin macht bloß einen auf dicke Hose und schafft es damit, dem Westen immer wieder Angst einzujagen.
Thema Trump
Und zum Thema Trump: Die Ukraine vor dessen Inauguration mit Atomwaffen anzugreifen, wäre völlig absurd. Trump sagt offen, dass er mit Putin reden will. Und Putin scheint nichts dagegen zu haben, wie verschiedene Quellen nahelegen. Die Situation durch einen Nuklearschlag zu eskalieren, kurz bevor Trump den Krieg beenden oder zumindest einfrieren will, käme einem Komplettausfall gleich. Zumindest würde Trump sich sehr genau überlegen, ob er die Situation nicht doch falsch einschätzt und er Putin nicht lieber mit Gewalt zum Frieden zwingt, als Gespräche mit ihm zu führen. Deshalb glaube ich, die Möglichkeit eines nuklearen Angriffs ist [mit Trumps Wiederwahl – dek] nicht gestiegen, sondern gesunken. Putin weiß, dass bald eine Regierung im Weißen Haus sitzen wird, die mit sich reden lässt, und ein Atomschlag seine Gesprächsposition beträchtlich schwächen würde.
Die nukleare Holzkeule über Sibirien
Diese Argumente sind kein Versuch, jemanden zu beruhigen: Wie auch immer Sie die atomare Bedrohung einschätzen, so wird sie für Sie bleiben. Ich bestehe nur darauf, dass sich der Grad der Bedrohung nicht verändert hat. Wenn Sie glauben, die Chance ist gleich Null, dann bleibt sie das auch. Wenn Sie von einer 100-prozentigen Wahrscheinlichkeit ausgegangen sind, dann ist sie immer noch da. Ich sage nur, es ist nichts geschehen, was das Risiko eines Atomkriegs erhöht hätte. Mehr noch – das kann es gar nicht, weil sich das Saldo der Vor- und Nachteile nicht verändert hat.
Ich denke, es könnte in diesem Krieg noch zu weiteren Versuchen kommen, den nuklearen Holzknüppel zu schwingen, zum Beispiel in Form von Atomtests in Russland selbst. Ich hoffe natürlich nicht, dass Simonjans Forderung, „eine Atombombe auf Sibirien zu schmeißen“, in die Tat umgesetzt wird, wofür auch immer sie Sibirien damit bestrafen wollte. Dass es zu Atomtests kommt, ist meines Erachtens aber nicht unwahrscheinlich, denn allzu viele Mittel stehen Wladimir Putin nicht mehr zur Verfügung, um die Welt in Angst und Schrecken zu versetzen.
Warum nutzt das Regime in Belarus bis heute Flüchtlinge als politisches Druckmittel? Welche Rolle spielt Russland dabei? Warum hat die EU wenig Interesse, mit Lukaschenko darüber zu verhandeln? Eine Analyse von Waleri Karbalewitsch für das Online-Portal Pozirk.
Am 2. September kündigte der belarussische Außenminister Maxim Ryshenkow für November eine internationale Konferenz in Minsk an, die sich mit der Bekämpfung der illegalen Migration in der Region beschäftigen sollte. Eingeladen seien „alle Interessierten, inklusive der Nachbarländer, anderer Staaten der EU und der GUS“. Ferner sagte der Minister: „Wir hoffen auf die Teilnahme aller, die an einer Normalisierung der Situation an der Grenze interessiert sind.“
Am 15. November war es so weit. Allerdings: Von westlicher Seite waren nur ein Mitarbeiter der britischen Botschaft sowie der ungarische Botschafter vertreten. Das Problem der illegalen Migration an der Grenze zwischen Belarus und den EU-Staaten ohne Beteiligung der europäischen Nachbarn zu diskutieren, kommt einem Scheitern der Ausgangsidee gleich.
Mit vorgespielter Empörung beschuldigt die belarussische Führung nun die westlichen Partner. Dabei hat sie das Problem selbst geschaffen – und sich einen so fragwürdigen Ruf erarbeitet, dass niemand mehr etwas mit ihr zu tun haben will.
Die Migrationskrise wurde vom belarussischen Regime künstlich herbeigeführt
Zur Erinnerung: Bis 2021 gab es keinerlei Probleme mit illegaler Migration an der Grenze zwischen Belarus und Polen, Litauen und Lettland. Die Migrationskrise wurde vom belarussischen Regime künstlich herbeigeführt. Lukaschenko hat viele Male öffentlich erklärt, er habe als Reaktion auf das feindliche Verhalten des Westens befohlen, Migranten aus dem globalen Süden nicht mehr daran zu hindern, die Grenzen zur EU zu überqueren.
Dabei ist unberechtigter Grenzübertritt in jedem Land eine Straftat. Migranten, die zum Beispiel die Grenze zu Polen überqueren, verletzen zwangsläufig zuerst die belarussische Grenze. Wenn die belarussischen Grenzbeamten die Rechtsbrecher nicht aufhalten, dann erfüllen sie ihre Funktion als Grenzschützer nicht. Mehr noch, sie verstoßen selbst gegen das Gesetz, indem sie die Straftat nicht unterbinden.
Der Schutz der Staatsgrenze gehört zu den grundlegenden Aufgaben eines Staates. Wenn die Machthaber sich weigern, sie zu erfüllen, zeugt das von einer unzulänglichen Staatsregierung. Der Angriff auf die EU-Außengrenzen mithilfe von Migranten stellt eine Art Spezialoperation gegen die Nachbarn dar. Das offizielle Minsk setzte sich ein Minimal- und ein Maximalziel. Ersteres bestand darin, sich an Europa, allen voran an den angrenzenden Staaten, für ihre Haltung zur innenpolitischen Krise in Belarus zu rächen. Die zweite, maximale Zielsetzung bestand darin, die EU zu Verhandlungen zu zwingen, deren Bedingungen der belarussische Machthaber diktieren wollte. Die Beteiligung der belarussischen Sicherheitskräfte an der Spezialoperation ist reichlich dokumentiert.
Es gab Situationen, da liefen Migranten in Kolonnen von mehreren tausend Menschen durch das Grenzgebiet, direkt auf der Fahrbahn, sammelten sich dann an der Grenze und versuchten, sie zu stürmen. Ohne Unterstützung von staatlichen Strukturen wäre das undenkbar gewesen. Selbst Innenminister Iwan Kubrakow räumte ein: „Wir gewährleisten die Absicherung, begleiten die Migranten bei ihren Streifzügen.“
Der Transfer der Migranten nach Belarus war bewusst auf Fließband gestellt worden. Nach EU-Informationen landeten im November 2021 wöchentlich mindestens 47 Flugzeuge aus den Staaten des Nahen Ostens in Minsk. Am 26. November des Jahres besuchte Lukaschenko das Transport- und Logistikzentrum nahe des Grenzübergangs Brusgi, wo temporär Migranten untergebracht wurden, um ihnen Geleit zu geben. Auf der improvisierten Kundgebung sagte der Machthaber: „Wenn ihr in den Westen wollt, werden wir euch weder einkesseln noch fangen oder schlagen. Es steht euch frei. Wenn ihr durchkommt, dann geht nur.“
Als Motivation fügte Lukaschenko hinzu, täglich würden es bis zu 200 Menschen erfolgreich über die Grenze schaffen. Er sagte auch, dass Belarus 12,6 Millionen US-Dollar in die Unterstützung der Migranten stecken würde, und rief sie dazu auf, der Regierung jeglichen Hilfsbedarf zu melden.
Das Ausmaß der Krise hat sich verringert, aber …
In den vergangenen drei Jahren haben sich bezüglich der Situation an der Grenze zwischen Belarus und Polen, Litauen und Lettland einige Veränderungen ergeben. Der Zustrom an Migranten und die Zahl der Durchbruchsversuche im Grenzgebiet haben abgenommen. Heute kommen die Menschen nicht mehr direkt aus dem Nahen Osten nach Belarus, sondern über Russland, die meisten von ihnen haben russische Visa. Die Beteiligung Moskaus am hybriden Krieg gegen Europa mithilfe von illegaler Migration steht außer Zweifel. Etwa dasselbe Muster von Durchbrüchen wurde an der russisch-finnischen Grenze organisiert, nachdem Finnland der NATO beigetreten war.
Lukaschenko machte in den letzten Monaten widersprüchliche Aussagen. Einerseits ordnete er an, den Kampf gegen illegale Migranten zu verstärken. Die Silowiki ergriffen tatsächlich einige Maßnahmen, um den illegalen Aufenthalt von Migranten auf belarussischem Boden zu unterbinden. Auf der jüngsten Konferenz verkündete Ryshenkow: „Niemand kann Belarus heute vorwerfen, wir würden nichts tun. Wir tun sehr viel: unzählige Fluchtrouten wurden abgeschnitten, unzählige illegale Migranten wurden aufgegriffen.“
Aber wenn die Machthaber viel tun und die Migranten trotzdem weiterhin unerlaubt die Grenze überqueren, bedeutet das, dass das Regime die Situation im Land nicht unter Kontrolle hat. Gleichzeitig erklärte Lukaschenko abermals, dass er die illegalen Migranten nicht vom Grenzübertritt in die EU abzuhalten gedenke, da Europa gegenüber Belarus eine feindliche Politik verfolge und weiterhin auf Sanktionen bestehe.
Das Problem bleibt akut
Warum ignorierten nicht nur Politiker, sondern auch Diplomaten der EU-Staaten, nicht zuletzt der direkten Nachbarländer von Belarus, die Konferenz zur Bewältigung der illegalen Migration? Ergänzend sei erwähnt, dass auch an der Eurasischen Sicherheitskonferenz, die am 31. Oktober in Minsk stattfand, keine offiziellen Vertreter der EU (außer Ungarn) teilnahmen. Auch auf die Freilassung eines Teils der politischen Gefangenen in den letzten Monaten reagierte der Westen verhalten. Doch das ist ein humanitäres Thema, es geht um Menschenrechte und betrifft die Interessen der Nachbarstaaten nicht unmittelbar.
Die Migranten, die über belarussisches Territorium in die EU kommen, sind hingegen ein schmerzhaftes Problem nicht nur in Polen, Lettland und Litauen, sondern auch in Deutschland. Innerhalb der Staaten haben sie heftige politische Auseinandersetzungen ausgelöst. Zur Eindämmung der illegalen Migration wird viel unternommen, bedeutende Ressourcen werden aufgebracht. An der Grenze werden Schutzzäune errichtet, den Grenztruppen werden Armeeeinheiten an die Seite gestellt, um die Migranten aufzuhalten. Von allen Problemen, die die Beziehungen zwischen Belarus und dem Westen heute belasten, ist die illegale Migration das akuteste.
Wenn also die belarussischen Machthaber die Nachbarn nach Minsk einladen, um die Bewältigung der Migrationskrise in der Region zu besprechen, wäre es vor diesem Hintergrund nicht angebracht, zu kommen? Aber nicht einmal die in Minsk vertretenen europäischen Diplomaten nahmen teil. Ryshenkow ließ beleidigt verlauten: „Leider hört man uns nicht an. Manch einer, der im Westen in dieser Richtung arbeitet, will uns gar nicht hören. Wir sind bereit, das Problem grundlegend zu analysieren, Lösungswege zu finden und gemeinsam zu handeln.“
Minsk traut man nicht
Warum hört man also nicht zu? Vor allem, weil es im Westen ernsthafte Bedenken bezüglich der Handlungsfähigkeit des belarussischen Staates gibt. Man ist nicht überzeugt, dass Lukaschenko wichtige politische Entscheidungen wirklich eigenständig treffen kann. Entscheidet nicht doch Wladimir Putin alles? Welchen Sinn hat es dann, etwas mit Minsk zu besprechen?
Der Angriff auf die EU-Außengrenzen mithilfe von Migranten ist allem Anschein nach ein gemeinsames belarussisch-russisches Projekt, auch wenn die Rolle des Kreml in dieser Spezialoperation nicht wirklich klar ist. Ohne die Zustimmung Moskaus kann Minsk in dieser Sache jedenfalls kaum etwas ändern. Vor allem jedoch glauben die westlichen Nachbarn nicht an die Aufrichtigkeit des offiziellen Minsk und unterstellen ihm Heuchelei. Wenn die belarussischen Machthaber die Migrationskrise künstlich generiert haben, dann sollte es auch in ihrer Macht liegen, sie zu beenden. Es genügt eine Entscheidung Lukaschenkos, um die Grenzkontrollen wiedereinzurichten und alle Fragen obsolet zu machen. Dafür sind weder Konferenzen noch Gespräche auf höchster Ebene nötig. Der belarussische Staat müsste einfach nur seine Grenzschutzfunktion wieder wahrnehmen.
Dass sich die EU weigert, selbst ein akutes Problem mit Minsk zu besprechen, ist ein wichtiges Signal. Es zeugt davon, dass es in der Beziehung zwischen dem belarussischen Regime und der Europäischen Union heute eine Mauer, einen eisernen Vorhang gibt. Lukaschenkos Träume und Hoffnungen, dass eine neue Seite aufgeschlagen wird, es einen Neustart gibt, dass er anerkannt und in die Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine einbezogen wird, fallen im Westen auf keinen fruchtbaren Boden.
Das Außenministerium springt auf den Propagandazug auf
Im Grunde bestätigt bereits der Verlauf der Konferenz die Zweifel hinsichtlich der wahren Interessen des offiziellen Minsk in der Frage der illegalen Migration. Die Aussagen des Außenministers und anderer belarussischer Amtsträger bestätigen die Vermutung, dass es sich um eine reine Propagandaveranstaltung handelte. Die Staatsdiener leugneten jede Beteiligung der Staatsmacht an den Angriffen auf die Grenze, während sie im gleichen Atemzug den Westen aller Todsünden beschuldigten.
Innerhalb kürzester Zeit haben in Minsk also zwei internationale Konferenzen stattgefunden, zur eurasischen Sicherheit und zur Bewältigung der Migrationskrise. Und bei beiden handelte es sich um reine Propagandaveranstaltungen. Es gab weder neue Ideen noch Vorschläge. Das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten verwandelt sich immer mehr in ein Amt für außenpolitische Propaganda. Wenn der neue Außenamtschef die Aufgabe bekommen hat, die Beziehungen zum Westen aufzutauen, dann ist er bislang krachend gescheitert. Dafür wird die antiwestliche Propaganda immer aggressiver.
Besteht eine Chance, dass Belarus seine Abhängigkeit vom Kreml jemals abschütteln und seine Souveränität bewahren kann? Wer könnte Alexander Lukaschenko als Nachfolger beerben? Welchen Einfluss hat die Demokratiebewegung im Exil auf die Geschehnisse in Belarus?
Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski setzt seine große Gesprächsreihe mit dem Online-Medium Gazeta.by fort – diesmal geht es nicht um die Vergangenheit von Belarus, sondern um die Zukunft.
An welchem Punkt der Geschichte stehen wir gerade? Ist der Tiefpunkt erreicht, ab dem es in Belarus wieder aufwärts gehen wird?
Man kann auch lange am Tiefpunkt bleiben, die Verbesserung muss nicht sofort eintreten, wenn man ihn erreicht hat. Zudem haben die belarussischen Machthaber in den letzten Jahren mehr als einmal gezeigt, dass sie den Tiefpunkt noch zu unterbieten wissen. Kurz gesagt, das Regime nimmt totalitäre Züge an. Noch dazu sind die „Präsidentschaftswahlen“ 2025 in Sicht, und alle Anzeichen deuten darauf hin, dass sie nach einem strikten Szenario, mit präventiver Einschüchterung und vermutlich auch mit neuen Verhaftungen ablaufen werden.
Lukaschenko sendet gewisse Signale in Richtung Westen. An erster Stelle sind die bislang vier Freilassungswellen politischer Gefangener zu nennen. Und er hat versprochen, weitere Begnadigungen auszusprechen. Bislang sind diese Signale recht schwach, sie reichen nicht aus, um einen Dialog in Gang zu bringen. Das ist auch deshalb nicht verwunderlich, weil die Repressionen unvermindert weitergehen, anstatt nachzulassen.
Die Abhängigkeit zu Russland ist rapide gewachsen. Allen Spekulationen zum Trotz denke ich allerdings nicht, dass Putin Lukaschenko stürzen oder Belarus im Zuge des Ukraine-Kriegs als Trostpreis mitnehmen will. Erstens rückt Russland jetzt auch in der Ukraine vor, und zweitens ist die formale, attrappenhafte Unabhängigkeit Belarus‘ von Vorteil für den Kreml. Das Land einzunehmen, würde andere Partner, vor allem die postsowjetischen, noch mehr verunsichern, sie würden denken: „Lukaschenko hat sich Putin angebiedert, so gut er konnte, und trotzdem verleibt der sich Belarus einfach ein.” Ich glaube, für die russische Führung ist es günstiger, die belarussische Souveränität stückchenweise zu untergraben.
Eine pikante Nuance gibt es auch hierbei: Wenn Lukaschenko einmal nicht mehr ist, kann Moskau eine echte Marionette an der belarussischen Staatsspitze installieren. Dieses Paradox beschrieb kürzlich Sjanon Pasnjak: Sobald Lukaschenko seinen Posten verlässt, kann der Kreml die belarussische Souveränität erst recht unterminieren.
Viele verbinden die Option auf Veränderungen in Belarus mit dem Ende des Krieges in der Ukraine. Welche Position kann unser Land in einer Nachkriegsordnung einnehmen?
Erstens muss ich leider zugeben, dass es im Krieg aktuell schlecht für die Ukraine steht. Das von Präsident Selensky lange beschworene Ziel, die Grenzen von 1991 wiederzuerlangen, sieht heute, ohne Umschweife, unrealistisch aus. Es gibt Probleme mit Waffen, es gibt große Probleme mit der Mobilisierung. Auch die Art des Krieges, den Russland entfacht hat, ist für die Ukraine aussichtslos. Denn es ist ein Abnutzungskrieg, und die Ukrainer sind schlichtweg weniger an der Zahl als die Russen. Hinzu kommt, dass dem Kreml die eigenen Soldaten nichts wert sind.
Außerdem drängt der Westen die Ukraine zu Verhandlungen. Offensichtlich ist man dort kriegsmüde, die Rhetorik der Unterstützung Kyjiws geht zwar weiter, in der politischen Elite und einem Teil der Wählerschaft ist man die Probleme aber wohl leid und will, dass alles möglichst schnell endet. Anders gesagt: Der Westen drängt die Ukraine zu einem Waffenstillstand mehr oder weniger an der aktuellen Konfrontationslinie. Sollte eine solche Option formalisiert und festgeschrieben werden, wäre das kein gutes Zeichen für eine demokratische Perspektive in Belarus. Die demokratische Gemeinschaft war lange Zeit auf einen Sieg der Ukraine eingestellt, auf die Schwächung Russlands, das in einem solchen Fall auch kein Interesse mehr an Belarus hätte. Diese Pläne erscheinen heute unrealistisch.
Natürlich gibt es „schwarze Schwäne”, also unerwartete Wendungen – vor allem, wenn es um Krieg geht. Aber ich denke, man sollte die Dinge nüchtern betrachten. Wenn wir über die Perspektiven der demokratischen Kräfte sprechen, sollten wir nicht ultrarevolutionäre Rhetorik bemühen, sondern uns im Kampf für eine demokratische Perspektive für Belarus auf einen Marathon einstellen.
Viele westliche Politiker betrachten Belarus und Lukaschenko nicht mehr als eigenständigen politischen Akteur
Wie kann die Weltordnung nach dem Krieg aussehen, was wird sich in der Region verändern? Natürlich will Lukaschenko mit am Verhandlungstisch sitzen. Er sieht, dass man sich mit Putin als Oberhaupt einer Nuklearmacht auf mehr oder weniger kremlfreundliche Bedingungen einigen wird. Wenn der Westen sich also gezwungen sieht, sich in irgendeiner Form mit Putin abzugeben, könnte Belarus auf der Verliererseite enden. Viele westliche Politiker betrachten das Land und Lukaschenko nicht mehr als eigenständigen politischen Akteur, sondern nur als Anhängsel Russlands.
Putin wird bei diesen Verhandlungen wohl in erster Linie an seine imperialen Interessen denken, und nicht daran, Lukaschenko zufriedenzustellen. Diese Gedanken zermürben den belarussischen Herrscher, machen ihn nervös. Es ist noch nicht lange her, da sagte er öffentlich sinngemäß: „Litauen und die ganzen Ausreißer wollen mir einen internationalen Haftbefehl anhängen, damit ich nicht an den Gesprächen über die Ukraine teilnehmen kann.”
Lukaschenko ist 70, Putin 72 Jahre alt. Sehen wir hier den Plan zweier Herrscher, so lange an der Macht zu bleiben, wie die Gesundheit es zulässt?
Putin ist in meinen Augen schon in der Rolle des klassischen Alleinherrschers über Russland aufgegangen. Ich denke nicht, dass er sich als Rentner sieht. Allem Anschein nach glaubt er, von Gott auserwählt zu sein. Wie übrigens auch Lukaschenko („zum Präsidenten muss man geboren sein“). Aber während Putin wohl überhaupt nicht an einen Machttransfer denkt, hat Lukaschenko unlägst mit seiner Verfassungsänderung für Aufsehen gesorgt. Bislang musste er seinen „Ausweichflughafen”, die Allbelarussische Volksversammlung, jedoch nicht ansteuern; die Institution ist eine Leiche, da rührt sich nichts.
Lukaschenko prokrastiniert. Ich glaube, er sieht wirklich keine würdige Person, der er seine Macht übergeben könnte. Daran ist er auch selbst schuld, weil er sich mit Exekutivkräften umgab und politische Selbständigkeit in seiner Machtvertikale nicht begrüßte. So hat niemand im Umfeld des Herrschers echte politische Erfahrung. Lukaschenko scheint wirklich zu befürchten, dass jemand wie Katschanawa oder sein Sohn Viktor partout nicht zurechtkommen würden, wenn sie seine Zügel übernähmen.
Außerdem ist da noch eine große Portion Angst um die eigene physische Sicherheit und um die Sicherheit seiner Familie im weitesten Sinne. Viel Porzellan wurde zerschlagen, viele Feinde gemacht. Viele Menschen sagen offen, er müsse für seine Verbrechen bestraft werden. Am Beispiel Nasarbajews in Kasachstan hat Lukaschenko gesehen, wie ein Machttransfer auch schiefgehen kann: Dort ist der aus den eigenen Reihen gewählte, neue Präsident dazu übergegangen, seine eigene Linie durchzusetzen. Deshalb prokrastiniert Lukaschenko, und es ist nicht ausgeschlossen, dass das so lange weitergeht, bis eine Art Stalin-Variante eintritt.
Die demokratischen Kräfte sagen, Belarus gehöre in die Europäische Union, das Regime sieht das Land in einer Union mit Russland. Wie würde sich die Gesellschaft Ihrer Meinung nach entscheiden, wenn sie frei wählen könnte?
Unabhängige soziologische Erhebungen zeigen, dass heute eine Minderheit der Belarussen den europäischen Weg befürwortet. Die Mehrheit tendiert zu Russland. Wobei das nicht bedeutet, dass die Menschen für einen Anschluss der sechs Oblaste an Russland sind. Die Belarussen schauen pragmatisch auf die zunächst einmal wirtschaftlichen Vorteile, die eine Union mit Russland verspricht.
Es gab eine Zeit, da hatten die Belarussen die meisten Schengen-Visa je Einwohner, sie sahen die Vorteile des europäischen Lebensstils
Nach 2020 und 2022, nach dem Anstieg des Einflusses der russischen Propaganda und der Verdrängung der unabhängigen Medien aus dem Land, wird das gesellschaftliche Bewusstsein weiter in Richtung Russland gesteuert. Ich erinnere mich aber auch noch an die liberaleren Zeiten, als sich mehr als die Hälfte der Belarussen für einen EU-Beitritt aussprach. Ich denke, wenn die politische Situation in Belarus sich ändern würde, wenn es politische Konkurrenz und einen Wettbewerb der Ideen gäbe, könnte die öffentliche Meinung in Belarus recht schnell umschlagen.
Es gab eine Zeit, da hatten die Belarussen die meisten Schengen-Visa je Einwohner, sie sahen die Vorteile des europäischen Lebensstils, die Dynamik der Entwicklung im benachbarten Polen – entsprechend waren sie auch stärker proeuropäisch eingestellt. Würde sich die Politik ändern, könnte das Pendel also schnell wieder in Richtung Europa ausschlagen.
Darüber hinaus sind die Belarussen mental Europäer. Russen, die in unser Land kommen, müssen eingestehen, dass die Gesellschaft und selbst das Niveau der Alltagskultur sich unterscheiden. Der proeuropäische Background bleibt in den subkortialen Strukturen der Belarussen gespeichert, was sich in der Zukunft auszahlen kann.
Wenn sich die öffentliche Meinung in Belarus in der Zukunft zugunsten einer EU-Integration ändert, wie könnte die Reaktion aussehen? Braucht die EU Belarus?
Wir reden hier natürlich über ein komplett hypothetisches Szenario, da aktuell nicht absehbar ist, wie und wann es in Belarus zu einem Machtwechsel kommen wird. Zudem birgt auch ein Machtwechsel Risiken: Russland wird seinen strategischen Aufmarschplatz sehr genau beobachten. Aber theoretisch ist es für Europa von Vorteil, Belarus im eigenen Lager zu wissen. Für Russland ist unser Land ein strategischer Balkon, der ins Baltikum, nach Polen und in die Ukraine hineinragt.
Wir kennen die Achillesferse namens Suwałki-Lücke. Dieser Abschnitt wird im Moment zwar von den Polen und Litauern befestigt, aber dennoch bleibt die Lücke bestehen. Auch von Europa aus sieht Belarus heute wie der Aufmarschplatz aus, von dem aus Russland jederzeit angreifen könnte. Deshalb wäre es in geopolitischer Hinsicht und für die Sicherheit der Alten Welt von Vorteil, wenn Belarus in die europäische Gemeinschaft integriert wäre. In der aktuellen Situation ist Belarus auch Quelle hybrider Gefahren, zuallererst illegaler Migration. Wäre Belarus Mitglied der EU, fiele dieses brenzlige Problem weg. Und dann das Thema Transit: Das belarussische Regime hat die Beziehungen zu Polen und Litauen zerrüttet, die Grenzübergänge sind enger geworden, es gibt nur noch wenige Nadelöhre. Aber der Transit ist auch für China und Europa wichtig.
Russland ist eine existenzielle Bedrohung für Belarus
Die belarussische Gesellschaft, einschließlich der Beamten (einigen Stereotypen zum Trotz), sähe für europäische Augen vermutlich ganz annehmbar aus. Die Bevölkerung ist gebildet, die Mentalität europäisch. Leider mussten Hunderttausende gezwungenermaßen das Land verlassen, dafür wissen jetzt die Polen, dass die Belarussen (mit kleinen Ausnahmen) gute und disziplinierte Arbeiter sind. Dass es Menschen sind, die sich leicht in die europäische Gesellschaft integrieren. Selbst das belarussische Verwaltungssystem ist (bei allen anderen gerechtfertigten Vorwürfen) doch relativ diszipliniert, kann Anweisungen und Pläne akkurat ausführen. Stellt man sich diese Gesellschaft in einem anderen politischen und wirtschaftlichen Rahmen vor, dann könnte sich Belarus meiner Ansicht nach schneller als einige andere neue EU-Mitgliedsstaaten in die Gemeinschaft integrieren. Aber solange Russland Belarus am Haken hält, handelt es sich, wie gesagt, um rein hypothetische Überlegungen.
Wie würden Sie aus heutiger Sicht ein negatives und ein positives Szenario für Belarus beschreiben?
Das schlimmste Szenario wäre der Verlust der Unabhängigkeit. Oder, Gott bewahre, ein Atomkrieg. Dass Lukaschenko russische taktische Nuklearwaffen nach Belarus geholt hat, war alles andere als eine Glanzleistung. Lukaschenko selbst meint, dass er damit seine Macht gesichert hat, dass einer Atommacht – so sieht sich Lukaschenko nun – niemand etwas anhaben kann. Tatsächlich sind die Waffen aber ein Risikofaktor. An einem solchen Spielzeug verbrennt man sich schnell die Finger. Faktisch bestimmt Russland über diese Waffen, und was in Putins Kopf vor sich geht, weiß niemand. So ist Belarus jetzt auch noch eine nukleare Geisel der russischen Willkür.
Ebenso muss man ehrlich sagen (denn das ist kein einfaches Thema): Im Falle eines erneuten Volksaufstandes in Belarus, einer neuen Phase des Kampfes für Demokratisierung, könnte sich Moskau zum Einmarsch provoziert sehen. Russland ist eine existenzielle Bedrohung für Belarus. Wir haben ein Imperium zum Nachbarn, das immer noch stark ist, dessen Greifinstinkt funktioniert. Das bedeutet nicht, dass sich die demokratischen Kräfte und alle, die Veränderungen in Belarus wollen, die Hände in den Schoß legen und auf ein Wunder hoffen sollen. Aber das Kalinouski-Regiment wird wohl kaum morgen in Belarus einmarschieren, ebenso wenig wird Tichanowskaja übermorgen im weißen Jeep mit Maschinengewehr in Minsk einrollen.
Man darf nicht vergessen, wie schnell Diktaturen stürzen können
Wie könnte ein eher positives Szenario aussehen? Viele belarussische Experten neigen zu der Prognose, dass ein Rücktritt Lukaschenkos aus gesundheitlichen Gründen (es ist unwahrscheinlich, dass er die Macht übergibt, solange er einigermaßen gesund ist) und ein Wechsel an der Spitze Veränderungen einleiten könnten. Die Geschichte zeigt, dass auf grausame personalistische Regime in der Regel Tauwetterperioden folgen. Einigermaßen wahrscheinlich ist daher die Marathonvariante, bei der in einer Phase des sanfteren Autoritarismus ein schrittweiser Übergang zur Demokratie möglich wird.
Ich betone noch einmal, dass dies hypothetische Überlegungen sind, es kann jederzeit ein schwarzer Schwan herbeigeflogen kommen – sowohl im Kreml, als auch über Lukaschenkos Regime. Doch auch wenn man für unerwartete historische Veränderungen gewappnet bleiben muss, darf man sich darauf nicht verlassen, sondern sollte an der Marathonstrategie arbeiten. Zu Beginn der 1980er Jahre erschien die Sowjetunion trotz all ihrer Problemen stark, und wohl kaum jemand setzte darauf, dass das totalitäre Imperium genau ein Jahrzehnt später innerhalb kürzester Zeit zusammenbrechen würde. Man darf nicht vergessen, wie schnell Diktaturen stürzen können.
In Moskau bekommen Vertragssoldaten fast zwei Millionen Rubel (etwa 18.300 Euro), wenn sie einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschreiben. Seit dem Sommer stehen im Butyrski-Rayon der Hauptstadt Männer im Alter von 18 bis 65 Schlange. Sie kommen aus ganz Russland, um sich zum Krieg zu melden. Frauen sind auch dabei.
Olessja Gerassimenko hat mit Mitarbeitern der Rekrutierungsstelle gesprochen und mit Dutzenden Männern und Frauen, die in den Krieg ziehen wollen. Wer sind diese Leute? Welche Motive haben sie? Und was könnte sie umstimmen? Ihre Eindrücke schildert sie in einer Reportage für das Portal Verstka.
Von der Metro-Station Timirjasewskaja sind es zehn Minuten Fußweg bis zu dem fünfstöckigen Gebäude in der Jablotschkow-Straße. Bei gutem Wetter kommt man unterwegs an einem Dutzend Ständen, Bannern, Litfaßsäulen und Autos mit Plakaten vorbei, die über den Dienst in der Armee informieren und kostenlose Ausrüstung versprechen. An jeder Kreuzung verteilen Promoter in Armeeuniform Flyer und werben für eine neue Arbeit: Krieg führen. Es gehen massenweise Studenten der Moskauer Staatlichen Juristischen Universität an ihnen vorbei. Die künftigen Juristen in farbenfrohen Blazern haben Pause zwischen den Vorlesungen. Den Plakaten mit der Zahl 5.200.000 schenken sie keine Beachtung (Diese Summe – umgerechnet etwa 47.600 Euro – wird jedem für das erste Jahr in der Armee versprochen, die einmalige Prämie von 1,9 Millionen bei Vertragsabschluss eingerechnet – dek). Vor dem Gebäude, in dem die Verträge mit dem Verteidigungsministerium abgeschlossen werden, vermischen sich Studenten und ältere Männer in khakifarbener Kleidung, Polizisten in Schutzwesten, Frauen und Kinder, die ihre Väter in den Krieg verabschieden. Die Studenten gehen an einem Polizei-Jeep vorbei und beachten die Menschenansammlung vor dem Gebäude gar nicht.
Vor der Türe stehen zwei Polizisten mit Maschinenpistolen. In zwei Glaskästen stehen Schaufensterpuppen in Militäruniform und ohne Gesichter. Ab neun Uhr morgens baut sich die Schlange auf: Als Erste kommen Leute aus entlegenen Regionen zur Rekrutierungsstelle, die mit dem Nachtzug nach Moskau gekommen sind. Drinnen sieht es hier aus wie in einem gewöhnlichen Moskauer Servicezentrum für Bürgerangelegenheiten. Wartenummern werden elektronisch aufgerufen. In den Tagen, als die Reporterin mit Wartenden sprach, waren bereits Nummern kurz vor hundert an der Reihe, dabei war es noch nicht einmal Mittag. Jedes Mal, wenn sie mit Bewerbern sprach, war der Saal voll.
Die langen Schlangen vor der Rekrutierungsstelle haben sich nach dem 6. August gebildet, als ukrainische Truppen auf das Territorium der Oblast Kursk vorstießen. „Jetzt haben wir 500 Leute am Tag, wir kommen kaum hinterher“, berichtete ein Psychologe der Rekrutierungsstelle im August. „Normalerweise waren die Kollegen im Chill-Modus, gingen abends um sechs nach Hause und hingen tagsüber entspannt im Park ab. Dann passierte Kursk, und jetzt kommen sie, der Zustrom reißt gar nicht mehr ab. Wir arbeiten jetzt bis zehn Uhr abends.“
Dieser Ansturm wurde nicht allein durch einen Überschwang patriotischer Gefühle verursacht. Am 23. Juli – gleichsam in Vorahnung des ukrainischen Vorstoßes über die russische Grenze – hatte der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin einen Erlass unterzeichnet, der jedem Vertragssoldaten, der an der städtischen Rekrutierungsstelle zum Kriegsdienst angenommen wird, 1,9 Millionen Rubel [etwa 17.500 Euro] in Aussicht stellt. Der Bürgermeister rechnete vor, dass unter Berücksichtigung des Solds sowie der Zuschläge aus Moskau und von föderaler Ebene die Summe der Zahlungen an einen Vertragssoldaten „im ersten Dienstjahr über 5,2 Millionen Rubel [etwa 47.800 Euro] betragen wird.“
Seitdem strömen Männer aus allen Regionen Russlands nach Moskau. „Wir haben den Eindruck, dass ein Viertel Moskauer sind, alle anderen sind Auswärtige. Wenn du in Ufa lebst, kannst du natürlich auch dort einen Vertrag schließen. Aber da zahlt dir die Stadt nur 400.000 als Anwerbegeld. Du kannst dir aber auch ein Ticket kaufen, fliegst nach Moskau, holst dir zwei Mille ab und ziehst von hier aus in den Krieg.“
„Wenn sie mich töten, sei’s drum“
Solche Summen würde die überwiegende Mehrheit der Bewerber normalerweise nie auf ihrem Konto zu sehen bekommen. Im Zusammenspiel mit der Entscheidung Putins, dass erstmals Leute bis zum Alter von 65 Jahren einen Vertrag abschließen können, führte das dazu, dass neben jungen Berufsschülern und Männern in Tarnuniform mit dem Aufnäher „Z“ und Medaillen für die Einnahme von Bachmut nun auch Hunderte Familienväter im Vorrenten- und Rentenalter in der Schlange stehen. Deren Kalkül liegt auf der Hand: „Ich habe mein Leben gelebt, jetzt kaufen wir eine Wohnung für unseren Sohn; wenn sie mich töten, sei’s drum.“ In den Schützengräben hocken jetzt immer mehr Männer über 50, erzählt ein Offizier der Luftlandetruppen, der bei Cherson an der Front kämpft, im Gespräch mit Verstka. Er bezeichnet die Lage hinsichtlich der neuen Vertragssoldaten als „traurig“. „Jetzt stehen wir hier zusammen mit Mobiks [Mobilisierten – dek], und rund 40 Prozent sind älter als 50. Bei den Neuen sind sogar drei Viertel alt. Das ist bedauerlich, aber man muss mit dem arbeiten, was man hat.“
Die Freiwilligen fortgeschrittenen Alters kommen in der Regel mit ihren Familien zur Rekrutierungsstelle, begleitet von ihren Frauen und Kindern. Einem der Männer fiel während des Gesprächs mit Verstka ein fünfjähriges Kind auf, das mit einer Uniformmütze auf dem Kopf durch den Saal lief, die ihm einer der Wartenden gegeben hatte. Ein Nachbar zwinkerte dem Mann mit Rangabzeichen am Ärmel zu: „Da wächst unsere Ablösung heran.“
In der Eingangshalle der Rekrutierungsstelle steht ein Automat für Kaffee, Chips und Brause. An den Wänden hängen Plakate: „Je ausgedehnter die Grenzen, desto weiter weg der Feind“ und: „Der Sieg ist nur eine Frage der Zeit! Zögere nicht!“ In der Ecke liegen frische Zeitungen aus. Einer der Gesprächspartner schickte uns das Foto einer Ausgabe von Wetschernjaja Moskwa. Dort war ein Plakat von 1942 abgedruckt, mit einer Leiche unter den Füßen eines sowjetischen Soldaten und der Aufschrift „Das russische Volk wird niemals auf Knien stehen.“
Im gleichen Saal steht ein Fernseher mit Playstation; man kann dort Atomic Heart spielen, ein Egoshooter des russischen Studios Mundfish. Manche Bewerber würden sich hier die Wartezeit vor dem Bildschirm verkürzen, berichtet unser Gesprächspartner.
Wer an der Reihe ist, geht nacheinander zum Arzt, zum Psychologen, zum Juristen, zu Vertretern des Militärs, zum Notar und zu Bankangestellten. Alle, die einen Vertrag unterschreiben wollen, werden pro forma bei Mosgas, Moslift oder einer anderen Einrichtung der kommunalen Wohnungswirtschaft angestellt. Der Redaktion liegen einige dieser Verträge vor. Sie werden abgeschlossen, damit die Vertragssoldaten die zusätzlichen „Moskauer“ Gelder bekommen. Das sind monatlich 50.000 Rubel zusätzlich zum Sold. Ein weiterer Grund für diese Verträge ist die Auszahlung der fast zwei Millionen Rubel von der Moskauer Stadtverwaltung. Diese Zahlungen würden zusammen mit dem Gehalt von Mosgas oder Moslift auf Konten bei der Sberbank, der VTB oder anderen russischen Banken überwiesen, erklärt einer der Mitarbeiter der Rekrutierungsstelle.
„Was die Kinder und deren Zukunft betrifft – für die wird alles gut“
Den Aussagen angehender Vertragssoldaten nach zu schließen, gehen Patriotismus und Geldnot Hand in Hand. Und die Beamten sind bereit, diese Not auszunutzen. Während diese Reportage in Arbeit war, übertrumpfte der Gouverneur der Oblast Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, die Moskauer Anwerbegelder noch einmal: Er versprach jedem Bürger drei Millionen Rubel, wenn er bis zum 31. Dezember 2024 in einem der Belgoroder Wehrersatzämter einen Vertrag unterschreibt.
„Die meisten, die hierherkommen, verdienen wenig“, räumt einer der Mitarbeiter der Rekrutierungsstelle ein. „Aber wenn du sie nach ihren Motiven fragst, reden fast alle von patriotischen Gefühlen. Einige erwähnen Schulden. Natürlich sind alle überzeugt, dass sie überleben werden. Aber ganz und gar nicht an den Tod denken, das können sie auch nicht. Und natürlich sind sie nicht bereit, für 30.000 Rubel zu sterben. Die allermeisten haben Kinder, und ihnen ist klar, was das bedeutet. Wenn sie aus patriotischen Motiven den Tod in Kauf nehmen, dann wissen sie, dass damit wenigstens ihre Kinder ‚etwas davon haben‘“.
Nahezu alle Frauen wüssten das; sie ließen ihre Männer aus diesem Grund bewusst in den Krieg ziehen, ist ein Mitarbeiter überzeugt. „Nun, für die Frauen ist das doch super. Sie sind der Ansicht, dass das für ihre Kinder und für deren Zukunft gut ist. Welche Perspektiven hättest du denn, wenn du in einem Möbelunternehmen für 30.000 (etwa 285 Euro – dek) arbeitest?“
Ein weiteres Motiv sind die kostenlosen AGs in der Schule, zusätzliche Bildungsangebote, Kita- und Studienplätze, die der Staat Kindern von Kriegsteilnehmern verspricht.
„Diese Männer denken zum Beispiel viel an eine Hochschulbildung für ihre Kinder. Es gibt immer weniger kostenlose Studienplätze. Und sie wissen, dass sie niemals drei Kindern ein Studium finanzieren können.
„Und die Männer selbst haben meist keine Hochschulbildung?“
„Die meisten nicht. Mein Eindruck ist, dass 80 Prozent eine Fachoberschule absolviert haben, 15 Prozent nur die neunte Klasse und fünf Prozent eine Hochschule. Einige davon kommen mit gleich drei Abschlüssen daher. Philosophie, Geschichte. Man kann sie schon an der Kleidung erkennen: Einige kommen in Tarnmontur, Funktionstextilien, bequeme Kleidung… Andere kommen im Blazer. Und du fragst die dann: ‚Was meinen Sie, wie viele Leute kommen im Anzug hierher?‘“
„Jahrelang habe ich am Computer gezockt. Und hier fragen sie dich: Willst du ein neues Spiel spielen?“
In den Gesprächen mit denen, die kämpfen wollen, wird ein weiterer Grund für diese Entscheidung genannt: Die Hoffnung, wenigstens einmal im Leben etwas zu erreichen. „Ein großer Teil der Motive hängt damit zusammen, dass sie keinen Erfolg hatten“, sagt einer der Sozialarbeiter des Zentrums. „Die Kriegserfahrung ist für sie eines der wenigen Ziele im Leben, die sie wirklich erreichen können. Sie sagen das auch offen: Ich bin 35, ein vollkommener Loser, das ist meine letzte Chance.“
Der 30-jährige Dimitri hat ein privates Gymnasium besucht, aber sein Studium an der Technischen Universität lief nicht besonders. Drei Jahre hat er durchgehalten, dann ging er zur Armee. Nachdem er 2019 demobilisiert wurde, arbeitete er auf dem Bau, bei der Feuerwehr, als Kellner, Packer. „Man hatte mir früher schon vorgeschlagen, zur Armee zu gehen, aber ich wollte es lieber im zivilen Bereich versuchen. Dort hat es nicht geklappt. Es gab keine Stabilität. Es hat nicht funktioniert.“
Ein Schuster Namens Iwan sagt, dass er der Heimat etwas zurückgeben will, dass Verwandte von ihm in Kursk leben, dass ihm aber auch das Geld nicht ungelegen kommt. „Gestern war der Abschied. Ich trinke nicht. Ich will Auszeichnungen. Damit mein Sohn sieht, dass ich mich nicht nur im Zivilleben abstrample… Ich will mich verwirklichen.“
Der Bauarbeiter Gennadi hat wegen Diebstahls gesessen, dann fand er eine Freundin. „Wir bekamen ein Kind, aber es hat nicht funktioniert. Wir waren aber nicht verheiratet. Und weiter? Ich habe gesoffen und gearbeitet, habe nicht gesoffen und gearbeitet. Ich musste gehen und den Vertrag unterschreiben, damit ich ein besseres Leben beginnen kann. Mein Leben wird in Ordnung kommen. Ich hatte nie einen Wehrpass, konnte nie eine normale Arbeit finden.“
Nikolai war Polier, Schweißer, Bauarbeiter im Hohen Norden: „Es hat mich umhergetrieben. Nirgendwo hat‘s richtig geklappt. Vielleicht kann ich mich hier verwirklichen.“ Der 20-jährige Denis hat „im Zivilleben alles ausprobiert, nichts klappt, vielleicht kommt bei der ‚Spezialoperation‘ was raus.“
Psychologen bezeichnen dieses Problem als „soziales Losertum“, als „Sehnsucht nach irgendeinem Erfolg, die ihnen von einer patriarchalen Gesellschaft auferlegt wird“, als „Streben nach Selbstverwirklichung, wenn sämtliche anderen Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg verschlossen sind“. „Für Leute, die in den sozialen Netzwerken leben, gibt es einen Leistungskult, und es scheint, dass der verdammt erfolgreich ist. Aber die harte Lebenswirklichkeit in Russland, ja in der Welt, sieht so aus, dass alles am Arsch ist. Und das ist irgendwie normal“, sinniert einer der Mitarbeiter. „Man kann alles in den Sand setzen, sich wegsaufen, hängenlassen, abkacken; Beziehung kaputt, keine Familie, Jahrelang auf der Couch verbracht, nur am PC gezockt. Und dann bieten sie dir ein neues Spiel an! Es gibt natürlich die Möglichkeit, dass das nicht gut ausgeht. Aber es winken Geld, Ausbildung, Status, Respekt und Aufmerksamkeit durch die Gesellschaft. Dann leuchten die Augen.“
„Frauen sind lebensfroher, positiver“
Auch Frauen kommen, um im Krieg Karriere zu machen. „Die sind alle lebensfroher, positiver, über ihnen hängt nicht diese patriarchale Verpflichtung, was zu erreichen, ‚ein Kerl zu sein‘; es gibt keine Enttäuschung von der eigenen Rolle“, sagt einer der Sozialarbeiter. Frauen können einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abschließen, wenn sie jünger als 45 sind. Pro Woche kommen 15 bis 20 Frauen zur Rekrutierungsstelle. Es seien nicht nur Medizinerinnen und Köchinnen, sondern auch Scharfschützinnen dabei, berichten Mitarbeiter der Rekrutierungsstelle. „Eine Frau hat genauso das Recht, einen solchen Vertrag zu schließen, wie jeder Mann. Aber als was sie mit diesem Vertrag losgeschickt werden, ist Sache der Kommandeure. Als Köchin, Krankenschwester oder mit der Option, mit einem MG in den Wald zu ziehen.“
Eine von ihnen, unverheiratet, jung, schön, sagt: „Dort werde ich jemanden für mich finden.“ Eine andere erzählte, dass ihr Mann im Krieg sei; Kinder hätten sie keine: „Ich will nicht zu Hause sitzen und auf ihn warten; mir geht’s schlecht, ich gehe auch hin.“ Eine dritte ist Sängerin und Tänzerin in einem Ensemble. Nachdem sie zu Auftritten nach Syrien und in die besetzten Gebiete gereist ist, hat sie beschlossen, lieber mit einem militärischen Rang patriotische Lieder zu singen, als in Zivil. Auch eine Mutter mit zwei kleinen Kindern hat sich in der Rekrutierungsstelle gemeldet, eines war drei, das andere war ein Jahr alt. Einer der Informanten, mit denen Verstka sprechen konnte, fragte sie: „Und die Kinder?“ „Denen geht’s gut“, entgegnete die Frau, „die bleiben bei ihrer Oma und bei ihrem Vater.“
„In den Krieg zu ziehen heißt, das Richtige zu tun“
Die Mitarbeiter der Rekrutierungsstelle in der Timirjasewskaja–Straße berichten, dass fast jeder zweite Bewerber schon einmal in einer Strafkolonie gesessen hat, und zwar wegen der unterschiedlichsten Delikte: von Raub in den 1990er Jahren bis Drogenhandel in den 2020ern. Für viele von ihnen ist der Dienst und ein Rang in der Armee ein Weg, „Jugendsünden“ wieder gut zu machen. „Das Brandmal eines Straffälligen loszuwerden, ist ein sehr starkes Motiv“, sagt einer der Juristen in der Rekrutierungsstelle. „Sie sagen das ganz offen: ‚Ich will nicht, dass meine Haftzeit ein Problem für meine Kinder wird. Eine abgesessene Strafe wäre für sie scheiße, eine Löschung der Vorstrafe ist für sie super. Was wäre, wenn sie zur Polizei wollen?‘ Sie betrachten ihre frühere Tat als Fehler und wollen, dass ab jetzt alles richtig läuft. Und das Richtige ist dann, in den Krieg zu ziehen.“
Im August kamen auch Leute, gegen die ein Ermittlungsverfahren lief, die noch nicht vor Gericht standen, für die es aber die Möglichkeit gab, in den Krieg zu ziehen, um nicht auf ein Urteil warten zu müssen. Eine davon war eine junge Frau, die erzählte, dass Polizisten sie mit einem Kilo Hasch festgenommen hätten. Ein Strafverfahren wurde eröffnet: „Ich wurde erwischt und musste verschwinden. Und ich habe Kredite laufen… Also bin ich gefahren.“ Trotz des laufenden Strafverfahrens wurden ihr alle Papiere ausgestellt und sie wurde in die Ukraine geschickt.
Offiziell möglich wurde ein solcher Weg im September 2024: Die Staatsduma verabschiedete zwei Gesetze über die Befreiung von strafrechtlicher Verantwortung von Straffälligen, wenn sie einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abschließen und kämpfen. Jetzt können Beschuldigte in jeder Phase des Strafverfahrens an die Front gehen: direkt nach der Verhaftung, während der U-Haft, während der Gerichtsverhandlungen, und wenn jemand schon in der Strafkolonie ist. Es reicht ein Schuldeingeständnis. Schöner Nebeneffekt für die Polizei: Das steigert die Aufklärungsquote. Letztere ist bis heute das wichtigste Kriterium für die Arbeit von Strafverfolgern und Justiz.
„Sollen sie mich doch töten – was soll’s?“
Michail war Schweißer. Vor drei Jahren hat er sich scheiden lassen, trotzdem hat er seine Entscheidung, in den Krieg zu ziehen, mit seiner Exfrau besprochen. „Was sie gesagt hat? Ehrlich? Dass ich ein Scheißkerl bin. Aber mein Sohn ist jetzt eingezogen worden, sie wollten ihn gerade nach Belgorod schicken. Aber dann haben sie ihn aus gesundheitlichen Gründen zurückgestellt. Er muss operiert werden: Kiefernhöhlenentzündung. Seine Einheit ist schon los nach Belgorod. Ich will ihn schützen. Damit nicht die Wehrpflichtigen am Krieg teilnehmen müssen. Sonst… da passieren ja schlimme Sachen. Irgendeinen Beitrag werde ich schon leisten können. Schon drei meiner Kameraden sind gefallen, was soll ich da sagen… Ob der Krieg gerecht ist? Wie soll man überhaupt verstehen, ob ein Krieg gerecht sein kann? Seine Grenzen zu verteidigen, das ist natürlich… Aber warum wir über eine fremde Grenze rüber sind, ist auch nicht ganz…“
Viktor ist Veteran des zweiten Tschetschenienkriegs. „Ich mach’s nicht wegen dem Geld. Meine Frau heult, weil ich denke, dass ich da hin muss. Nicht die Jungen sollen kämpfen. Es muss sein, und was soll ich zuhause sitzen, als älterer Mann. Wenn dort die Jungen kämpfen, von denen einige noch keine Frau gesehen haben…“ Drei Fragen später stellt sich heraus, dass Viktors Sohn sieben Monate im Krieg war, zurückkam und sich umgebracht hat. Er hat sich vor der Stadt erhängt und vorher noch seiner Frau die Koordinaten geschickt. Die blieb mit zwei Kindern zurück. Eines ist zehn Monate alt, das andere geht in die dritte Klasse. „Nun, ich hab‘ ihn beerdigt, einen Grabstein aufgestellt. Und jetzt geh‘ ich.“
Jeder, der an die Front will, muss zehn Standardfragen beantworten: Welchen Bildungsstand er hat, wann er das letzte Mal getrunken hat, ob er Drogen nimmt, ob er mal beim Psychiater war, welche Tattoos er hat, was er über den Krieg denkt, warum er den Vertrag abschließen will. Das machen Mitarbeiter des Moskauer sozialpsychologischen Dienstes. Dort wurde 2024 stark gekürzt. Jetzt haben die Mitarbeiter, die früher Moskauern in Notlagen kostenlos geholfen haben, die Aufgabe, künftige Soldaten zu mustern. Einige der Vertragssoldaten haben Verstka erzählt, was sie geantwortet haben.
Sergej ist Maurer und neun Jahre zur Schule gegangen. „Warum ich den Vertrag schließe? Viele meiner Bekannten sind gegangen, und ich geh jetzt mit ihnen. Ob ich patriotische Gefühle habe? Nö, einfach viele Bekannte, und ich gehe mit, um ihnen Gesellschaft zu leisten. Alkohol habe ich zuletzt gestern getrunken. Mir sind die Risiken bewusst, das ist mir alles bewusst. Ich lese buchstäblich jeden Tag über die Verluste. Was ich mache, wenn ich zurückkomme? Ich weiß ja nicht, ob ich zurückkomme oder nicht… nun, ich habe Kinder, Familie… Meine Frau hat nichts dagegen…“
Wladimir ist 18. Wenn er den Vertrag erfüllt hat, will er Psychologe werden. „Meine Eltern sind seit meiner Kindheit, wie soll ich sagen, verantwortungslos. Sie haben uns ständig geschlagen. Um meine drei jüngeren Brüder habe ich mich gekümmert. Dann wurde ich meinen Eltern weggenommen und in ein Heim gesteckt, weil sie mich geschlagen haben. …Ich musste, wie soll ich sagen?, schneller erwachsen werden, nun, Verantwortung lernen. Nach der neunten Klasse habe ich ständig gearbeitet. In der Kantine, als Kurier, als Trainer in einer Paintball-Anlage… Ich will hinterher die 10. und 11. Klasse nachholen und an der Hochschule Psychologie studieren. Und weiter, nun, dann in dem Bereich weiterarbeiten. Damit ich was verändere, was besser mache. Ich weiß, dass ich getötet werden kann. Wenn ich falle, heißt das, also… Dann soll’s so sein, dass mein Weg dort zu Ende geht. Überhaupt habe ich, also, es gibt Pläne. Eine Bekannte aus dem Außenministerium hat gesagt, dass die Männer dort nicht hingehen, um zu sterben, sondern um zu siegen.“
Wadim ist Geselle in einer Fabrik, verdient 50.000 Rubel im Monat (etwa 475 Euro – dek). „Ich gehe, damit ich finanziell über die Runden komme, nicht um Leute umzubringen. Ich hoffe, dass wir das in ein bis anderthalb Jahren hinkriegen und zurückkommen.“
Nikolai hat drei Kinder, zwei, drei und fünf Jahre alt. „Mich hält hier nichts mehr“, sagt der dreifache Vater. „Ich muss da unbedingt hin. Mir ist völlig klar, dass ich dort sterben kann. Ein Freund ist schon da. Mich motiviert, dass es jetzt schon in Russland Kampfhandlungen gibt. Ich will, dass das schnell aufhört.“
Alexander ist Oberstleutnant der Reserve. Er hat 30 Jahre Militärdienst hinter sich, vom Fernen Osten bis nach Jaroslawl. „Ich will den Vertrag wegen der Kinder. Einer wird vier, die älteste ist 17. Meine Frau hat zuerst geschimpft, doch dann hab‘ ich mich durchgesetzt. Sie hat verstanden, dass es mir um die Kinder geht. Ob man den Krieg hätte vermeiden können? Natürlich. Wenn der Westen sich nicht eingemischt hätte, wenn sie unser Land nicht betrogen hätten, wenn sie unsere Kinder und unsere Nation nicht erniedrigt hätten, dann hätte man den Krieg natürlich vermeiden können. Ich denke, es ist richtig, dass wir für uns und unsere Kinder einstehen; das ist das Wichtigste. Der Krieg endet mit unserem Sieg. Ich denke, Odessa muss erobert werden, dann sehen wir weiter, wenn der liebe Gott uns beisteht.“ Wer genau auf welche Weise russische Kinder erniedrigt hat, erklärt der Oberstleutnant nicht.
Waleri hat 2016 schon einmal einen Vertrag als Soldat abgeschlossen. Danach arbeitete er auf dem Bau, dann fuhr er Taxi, dann war er wieder auf dem Bau. „Es gab einen Durchbruch in die Oblast Kursk, und ich beschloss hinzugehen. Ob ich wohl erfahren bin und mir das ganze Risiko wirklich bewusst ist? Ich bezweifle es. Wenn ich mir das gut überlegt hätte, wäre ich wohl nicht hier.
Aber mein größtes Problem ist ein finanzielles. Das mag einem vielleicht komisch vorkommen, aber ich liebe meine Heimat sehr. Ob ich meine, dass der Krieg gerecht ist? Na, ich weiß nicht, jetzt hat er schon begonnen… Meine Meinung ist, dass man den hätte vermeiden können, aber davon verstehen andere mehr als ich… Aber wenn es nun schon passiert ist, muss man bis zum Ende gehen, und das ist nicht abzusehen… Hauptsache zurückkommen.“
Dmitri, der wegen drei verschiedenen Straftatbeständen verurteilt wurde, unter anderem wegen Flucht aus dem Arrest, ist mit seiner Frau nach Moskau gekommen. Die letzten fünf Jahre ist er für Yandex Taxi gefahren. „Warum ich so traurig bin? Ich bin alle. Bin lange nicht mehr in der großen Stadt gewesen. Und die Arbeit jeden Morgen, um vier aufstehen, bis drei oder fünf hinterm Steuer sitzen. Ich sag‘ meiner Frau immer, wie sehr ich das alles satt habe… Ich will wenigstens ein bisschen Veränderung. Wir haben uns hingesetzt und beschlossen, dass ich kämpfen gehe. Ich will den Mist wieder gut machen, den ich mit meinem Bruder gebaut habe. Der ist wegen einer Dummheit gestorben, sein Enkel ist für mich wie mein eigener. Von außen betrachtet, denke ich, dass der Enkel wenigstens stolz sein wird, dass sein Opa in den Krieg gezogen ist und sich verdient macht. Er ist für mich der einzige. Dem Enkel wird es besser gehen, wenn ich unsere ganze Vergangenheit wegwische. Mein Enkel macht Gott sei Dank Sport, der wollte hier auch an der Konsole zocken…“
Sein eigenes Kind ist schon erwachsen, aber Dimitri hat keinen Kontakt zu ihm.
Andrej ist Militärangehöriger und erneuert seinen Vertrag, der in diesem Jahr auslief: Seine Brigade geht nach Syrien, aber er wartete auf einen Platz in der Einheit bei der „Spezialoperation“. „Ein Soldat lebt zu Friedenszeiten quasi ‚auf Pump‘. Und jetzt ist die Zeit, seine Pflicht dem Staat gegenüber zu erfüllen. Ist nicht alles so einfach – eine Hypothek aufnehmen und dann ein paar leichte Übungen mitmachen. Im Krieg entfalten sich die Menschen. Wenn sie versteckt schlechte Menschen waren, dann wird das dort sofort sichtbar. Das Alltagsleben verändert stärker als der Beschuss und das eigentliche Kriegsgeschehen. Erdunterstände, Schlamm, keine Gelegenheit, sich zu waschen. Am Kriegshandwerk gefällt mir das Kollektive, zusammen eine Sache und ein Ziel zu haben, das allen klar ist. Und nach dem Krieg gehe ich in Rente. Ich hab‘ immer davon geträumt, mir einen Brummi zu kaufen und Fernfahrer zu sein.“
Wladimir ist Schweißer auf dem Bau und offensichtlich nicht mehr nüchtern. Er sagt aber, er habe nur Bier getrunken, und das gestern. Er sei gekommen den Vertrag zu unterschreiben, vor allem, um seinem Sohn ein Beispiel zu sein: „Er wird dieses Jahr 17; er soll wissen, dass man sich vor nichts zu fürchten braucht.“ Er ist sich der Risiken für Leib und Leben bewusst. Dass der Vertrag bis zum Ende der Spezialoperation gilt, weiß er. Suizidgedanken hat er keine.
„Warum ich in den Krieg ziehe? Waren Sie schon mal in Belgorod? Dann können Sie das nicht verstehen. Ich will nicht, dass sie zu mir kommen. Ich will, dass der Krieg so schnell wie möglich zu Ende ist. Warum er begonnen hat? Einerseits: Wenn nicht wir, dann wären die hierhergekommen. Obwohl, ich weiß nicht, ob sie gekommen wären?…“
Pawel hat 25 Jahre gedient, zuletzt in der Nationalgarde. Seit 2017 ist er in Rente. Er habe sich mit allen gestritten, weil er den „Verfall und den Schweinkram“ gesehen habe. „Alle meine Freunde sind jetzt bei der Spezialoperation. Sie rufen an, wenn sie Heimaturlaub haben, erzählen… Ich habe beschlossen, zu ihnen zu fahren. Was soll ich hier noch? Meine Frau schimpft, was ich da will… Aber meine Kumpel sind alle dort, was soll ich da hier rumsitzen?“
Alexander ist Direktor eines holzverarbeitenden Unternehmens. Bei seinem Vater wurde Darmkrebs entdeckt und er will ihm helfen: „Uns fehlt das Geld für die Operation. In der neuen Krebsklinik sagen sie, das kostet zusammen mit der Reha 35 Millionen Rubel [etwa 320.000 Euro – dek]. Wir haben bereits eine Hypothek auf dem Haus. Also bin ich sofort hierhergefahren. Die Lage ist natürlich so la la. Ich habe eine Vollmacht geschrieben, damit werden sie klarkommen. Einen Kredit bekomme ich nicht mehr, weder privat noch für die Firma. Meine Eltern arbeiten in einer Chemiefabrik, ständig sind sie dort Strahlung ausgesetzt. Wahrscheinlich hat das den Krebs ausgelöst. Jetzt stellte sich heraus, dass die Fabrik sie einfach so entlassen kann. Leute wie sie behält man dort nicht. Sie leben in Samara, dort verdient man im Schnitt fünfzigtausend [etwa 465 Euro – dek]. So ist eben unser Russland.“
Ilja ist 53. Er sagt, dass man „für die Heimat“ in den Krieg ziehen müsse. „Ich bin Patriot und versuche, meine Tochter im gleichen Geist zu erziehen. Seit 2014 beobachte ich die Lage, sehe fern, meine Frau schimpft, dass ich den Kasten tagelang nicht ausschalte. Odessa, Transnistrien, das alles holen wir uns.“
Der Traktorfahrer Arkadi unterschreibt den Vertrag, weil er „eine bessere Wohnung und die Kinder absichern“ will. „Die Risiken? Nun, wenn sie mich töten – was soll’s? Stimmt es denn, dass der Vertrag bis zum Ende der Spezialoperation gilt? Nicht nur für ein Jahr? Na, dann bleibe ich eben bis zum Ende. Umentscheiden werde ich mich nicht. Wenn ich gehe, dann geh‘ ich!“
Iwan ist Monteur. Er macht keinen Hehl daraus, dass es ihm ums Geld geht. „Was ich über den Krieg denke? Da habe ich noch gar nicht drüber nachgedacht. Das ist eine politische Entscheidung, das geht mich nichts an. Kann sein, dass er gerecht ist, vielleicht ist er ungerecht. Aber die geringen Löhne in Russland… Du bist gut ausgebildet, du bist belesen, du arbeitest fleißig, aber Geld hast du keines. Wenn ich im zivilen Leben ein Gehalt von 200.000 hätte [etwa 1.865.- Euro – dek], würde ich um nichts in der Welt in den Krieg ziehen. Aber bei uns im Land sind nicht wir diejenigen, die über das Geld entscheiden. Es gibt Leute, die für uns die Entscheidungen treffen, das hängt nicht von uns ab. Ob ich zur Wahl gegangen bin? Ein paar Mal war ich da. Das letzte Mal habe ich für Putin gestimmt.“
Der Bauarbeiter Sergej will den Vertrag unterschreiben, um „seinen Leuten zu helfen“. „Ich habe lange gedacht: zwei Jahre. Selbst wenn ich in einem zivilen Job 200.000 verdienen würde, würde ich trotzdem gehen. Stimmt es wirklich, dass der Vertrag bis zum Ende der Spezialoperation gilt? Eigentlich war doch die Rede von einem Jahr … Nun gut, verstehe. Meine Jungs sind ja sowieso da. Hauptsache, der Krieg ist bald zu Ende.“
Der Maurer Dimitri hat gestern ein alkoholfreies Bier und eine Flasche Wodka getrunken. Sein Bruder dient schon im Krieg, er hat keine Wohnung und mit seiner Schwester hat er sich zerstritten. „Rausgeschmissen hat sie mich, ich habe nichts, wo ich wohnen kann.“
„Morde sind OK, Raub ist OK“
Die Rekrutierungsstelle kann Bewerber ablehnen, wenn sie wegen sexualisierter Gewalt oder Extremismus in Haft sind oder ein entsprechendes Verfahren gegen sie läuft. „Drogen sind OK, solche Delikte sind ja weit verbreitet“, erklärt einer der Sozialarbeiter. „Mord oder Raub ebenfalls. Da kommt es darauf an, was die Leute so erzählen. Es gibt ja keine eigene Kompanie für solche Leute: Alle sitzen zusammen im Schützengraben, da kann man keine Konflikte zwischen den Soldaten brauchen“.
Ein weiterer Grund für eine Absage ist eine starke Drogenabhängigkeit, die beim Bewerbungsgespräch auffällt, oder eine Krankengeschichte beim Psychiater. Die Mitarbeiter schauen sich auch die Tätowierungen der Bewerber an. Leute mit aufwändigem Körperschmuck kommen selten in die Rekrutierungsstelle. Die meisten Anwärter haben ein, zwei Tattoos, die sie sich in der Armee oder in der Haft stechen ließen. Einen Stern, eine Rose… „Die ganze Welt liegt mir zu Füßen“ auf Latein, „Nur Gott ist mein Richter“… Während sich unsere Reporterin mit Bewerbern unterhielt, kam ein Mann in die Rekrutierungsstelle, der hatte auf dem Bein ein Hakenkreuz tätowiert. Ein andere hatte die Ziffern „14/88“ auf der Schulter. „Wir haben überlegt, ob wir denen absagen“, räumt einer der Mitarbeiter ein. „Aber sie waren beide schon bei der Spezialoperation, beide haben bei Wagner gedient. Sie hatten Medaillen für die Einnahme von Bachmut dabei und haben Fotos gezeigt.“
„Ok, ich habe so ein Tattoo. Aber wer will mir was vorwerfen, wenn wir gegen die da kämpfen?“, rechtfertigt sich einer der beiden Wagner-Kämpfer, der nicht mehr bei privaten Militärunternehmen dienen wollte. „Ich will einen militärischen Rang und Sozialleistungen.“ „Der Grund dafür, dass wir Leute mit Hakenkreuz nicht haben wollen, ist nicht, dass wir persönlich etwas gegen Hakenkreuze hätten“, erklärt man uns die Kriterien der Rekrutierungsstelle. „Aber in einer Einheit dienen die unterschiedlichsten Leute. Sie waschen sich auch zusammen. Wenn jemand dieses Symbol sieht, könnte es zu einer Situation kommen, die wir vermeiden wollen.“
Die Mitarbeiter sagen selbst, dass es ihre Aufgabe sei, alle in den Krieg zu schicken. „Ich hab‘ noch niemandem abgesagt, sagen wir mal so. Warum? Nun, weil das schräg wäre: Da will jemand für Putin sterben, und ich soll ihn aufhalten? Im Gegenteil! Wenn da einer kommt, der sein Leben aufs Spiel setzen will, wäre es doch merkwürdig, wenn ich ihm sagte: Geh‘ beim Wachdienst arbeiten!“
„Wenn ich aber merke, dass jemand Zweifel hat, dann helfe ich ihm zweifeln“, sagt der Mitarbeiter weiter. „Ich weiß nicht, ob ich der Einzige hier bin, der so ist. Wir haben keine Teamsitzungen, wo sie uns eine Linie vorgeben. Aber die Frage, ob jemand die Risiken für Leben und Gesundheit versteht, muss immer gestellt werden. Ich sage ihnen das auch offen: Sie können ums Leben kommen. Sie können sterben, du könntest ohne Beine zurückkommen. Das weckt manchmal Zweifel.“
„Habe ich Sie richtig verstanden – ich kann nicht nach einem Jahr zurück?“
Die Information, bei der einigen Bewerbern die Gesichtszüge entgleiten, ist der Umstand, dass der Vertrag keineswegs nur über ein Jahr läuft, sondern unbefristet. Ein typisches Gespräch hierzu sieht so aus:
„Das der Vertrag automatisch verlängert wird, wissen Sie?“
„Nein, davon wurde nichts gesagt. Ich gehe für ein Jahr.“
„Nein, Sie gehen nicht für ein Jahr.“
„Aber ich höre das jetzt zum ersten Mal. Und wozu habe ich dann für ein Jahr unterschrieben?! Da steht’s doch.“
„Ihr erster Vertrag gilt ein Jahr. Aber sofort nach Ablauf wird er automatisch verlängert. Der Grund dafür ist ein Erlass von Wladimir Putin vom September 2022. Demnach gelten alle Verträge mit der Armee unbefristet bis die Spezialoperation beendet ist. Das wurde so geregelt, damit die Soldaten, die über die Mobilmachung zwangsweise eingezogen wurden, sich nicht ärgern, weil sie dort schon das dritte Jahr hocken, während die Vertragssoldaten kommen und gehen. Also gilt der Vertrag bis zum Ende der Spezialoperation.“
„Und könnte die in einem Jahr beendet sein? Ich hab‘ doch nur für ein Jahr unterschrieben…“
„Ein Erlass des Präsidenten ist juristisch stärker als ein Vertrag mit dem Verteidigungsministerium. Deswegen werden Sie bis zum Ende des Krieges bleiben. Könnte das Ihre Entscheidung ändern?“
„Nein doch… da kann man wohl nichts machen… Aber ich werde doch mal gehen können… Auf Fronturlaub, auf Dienstreise nach Hause…?“
„Einige ‚Frischlinge‘ wissen nichts von der automatischen Verlängerung“, bestätigt einer der Juristen. „Die glauben, dass sie einen Vertrag über ein Jahr unterschreiben, dort die Ausbildung absitzen und reich zurückkommen.“
Sergej ist keine dreißig, er nuschelt und zittert. „Warum der Vertrag? Ich hab‘ keine Wahl. Die Schulden, die Wetten. Eigentlich war das Mamas Entscheidung. Sie hat mich gezwungen. Ich bin ein Stück Scheiße. Ich hab‘ alle enttäuscht…“ Der Mann bricht in Tränen aus. Später stellt sich heraus, dass er spielsüchtig ist: Millionen Schulden, Verbraucherkredite, das Geld seiner Eltern und seiner Partnerin hat er verspielt, sein Lohn geht für neue Einsätze drauf. Nachdem er die Kontaktdaten einiger Suchtberatungsstellen erhielt, beschloss Sergej, nicht zu unterschreiben.
Bei der Rekrutierungsstelle kann man sich nur so lange noch umentscheiden, bis der Anwärter und der Kommandeur den Vertrag unterschrieben haben. Sobald die Dokumente unterschrieben sind, besprechen die frischangeworbenen Soldaten mit den Offizieren, wo sie die nächsten Tage verbringen werden. Sie können nicht sofort zu ihrer Einheit, es gibt zwei, drei Puffertage. Man könnte nach Hause fahren, doch das macht kaum jemand. Deshalb setzen sich die meisten in die Busse zum Lager Avangard im Patriot-Park in Odinzowo. „Dort wohnen sie in Kasernen, werden verpflegt, es entsteht wohl ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl. Dann geht’s zurück zu uns, und sie werden mit dem Bus zu ihren Einheiten gebracht.“
Jeden Tag werden Listen mit Personen, die es sich anders überlegt haben, an das Militär geschickt. Jede Absage wird dokumentiert, in die Listen werden die Gründe eingetragen, in welcher Phase sich jemand umentschieden hat, und mit welcher Begründung. Die Daten werden dann analysiert, „weil es für die Militärs wichtig ist, dass möglichst wenigen abgesagt wird und möglichst wenige sich weigern.“ Jeden Tag gibt es etwa hundert, mit denen aus medizinischen Gründen kein Vertrag zustande kommt. Von vierhundert, die übrig bleiben, wird nochmal etwa ein Dutzend nachträglich ausgemustert. Zum Beispiel weil sie schwer alkoholabhängig sind oder in der Vergangenheit Gewalttaten gegen Kinder verübt haben.
Niemand kann einfach so die Rekrutierungsstelle verlassen. Man muss sich in Zimmer 306 melden. Dort sitzt neben dem Notar ein Angestellter, der Passierscheine für den Ausgang ausstellt. Man muss dann erklären, warum man hergekommen ist, wenn man schon keinen Vertrag schließen wollte. Die Passdaten werden aufgeschrieben und man wird unter Begleitung zum anderen Ende des Gebäudes geführt, dann über den Busparkplatz zum Tor.
Die anderen fahren von hier in den Krieg.
In schneeweißen Pavillons, die mit künstlichen Blumen geschmückt sind, warten die Soldaten und ihre Familien. Wenn die Männer den Befehl bekommen, steigen sie in den Bus und fahren zu ihrem Stützpunkt.
Als wir mit einem der Anwärter sprechen, spielen nebenan Musikerinnen Akkordeon und Zither. Sie sind in reich verzierte Kaftane gekleidet und tragen Kokoschniks mit künstlichen Perlen auf den Köpfen. Es ist eine der Kulturbrigaden von Moskonzert, die „sich an der Unterstützung der Streitkräfte Russlands und des Staates beteiligt“.
Wenn keine Musiker da sind, kommt die Musik draußen aus Lautsprechern. Während eines der Interviews ist im Hintergrund die Stimme von Viktor Zoi zu hören: „Wünsch mir Glück im Kampf, wünsch mir, dass ich nicht ins Gras beiße.“ Jeden Tag ist im Hinterhof ein Priester anwesend. Vor der Abfahrt zum Stützpunkt können die neuen Rekruten dort beichten, mit dem Priester sprechen und gemeinsam beten. Es gibt auch eine Feldküche, wo kostenlos Buchweizengrütze und Büchsenfleisch ausgegeben werden. „Wir ziehen guter Dinge los“, sagt einer der Beteiligten zu Verstka.
Aus Dokumenten, die Verstka vorliegen, geht hervor, dass seit August mehr als 14.000 Personen von dieser Rekrutierungsstelle aus an die Front geschickt wurden. Berechnungen der BBC und Mediazona zufolge hatte von den mehr als 70.000 Soldaten, die seit Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine getötet wurden, jeder Fünfte nach Kriegsbeginn einen Vertrag mit der Armee geschlossen. 2024 waren unter den Militärangehörigen aus Russland, deren Tod aufgrund offen zugänglicher Quellen bestätigt ist, immer häufiger Soldaten, die älter als 40, 50 oder gar 60 ware, und dabei weder Kampferfahrung noch eine spezielle Ausbildung hatten.
„Wir sind nicht nur durch ein gemeinsames Schicksal und eine verwandtschaftliche Bande verbunden, sondern auch durch den Wunsch, Freunde zu sein und mit unseren Nachbarn auszukommen.” Mit diesen Worten gratulierte Alexander Lukaschenko der Ukraine am 24. August 2024 zum Unabhängigkeitstag. Eine Antwort von ukrainischer Seite gab es nicht. Denn im dritten Jahr muss sich das Land dem russischen Angriffskrieg erwehren. Einem Krieg, in den auch der belarussische Machthaber unheilvoll verstrickt ist.
Bis zum Beginn der großen russischen Invasion im Februar 2022 haben die belarussische und die ukrainische Regierung ein sehr pragmatisches Verhältnis gepflegt. Dieser Pragmatismus scheint jedoch trotz der Kriegsbeteiligung Lukaschenkos für die ukrainische Regierung weiterhin nützlich zu sein. Warum das so ist, erklärt Olga Loiko, Chefredakteurin des belarussischen Online-Mediums Plan B., in ihrer Analyse.
Belarus braucht keinen Krieg. Erstens, weil Lukaschenko klar ist, dass er diesen Krieg nicht gewinnen kann. „Wir wollen nicht gegen euch kämpfen. Nicht, weil wir euch so liebhaben, sondern weil dann die Front um 1200 km länger wäre. So lang ist nämlich die ganze Grenze: 1200 km.“ So gab Lukaschenko im Interview mit einem russischen TV-Sender seinen imaginären Dialog mit der Ukraine wieder, wobei er die belarussisch-ukrainische Grenze meinte. Russlands zunächst lasche Reaktion auf den Vorstoß der Ukraine in der Oblast Kursk beweist: Die Ressourcen reichen nicht einmal für die Verteidigung des eigenen Territoriums. Schon früher hatte Lukaschenko auf Vorwürfe, er würde den Bündnispartner nicht tatkräftig genug unterstützen, erwidert, er würde ja gern, aber seine Vertikale würde nicht noch eine Front schaffen. Seit 2020 sind alle Kräfte auf die Bekämpfung des inneren Feindes konzentriert. Das Aufwenden von Ressourcen auf einen Feind im Außen könnte die innere Stabilität des belarussischen Regimes ernsthaft gefährden.
Der zweite Grund dafür, sich aus dem Krieg herauszuhalten, ist, dass die belarussische Bevölkerung von diesem Konflikt nicht persönlich betroffen sein will. Umfragen von Chatham House zufolge unterstützte im Dezember 2023 nur rund ein Drittel der Belarussen Russlands Aggression gegen die Ukraine. Und nicht einmal die wollten, dass sich Belarus direkt beteiligt. Eine aktive Teilnahme an den Kampfhandlungen auf russischer Seite zogen nur zwei Prozent der Befragten in Betracht, ein Prozent gab an, auf ukrainischer Seite kämpfen zu wollen. Das sollte man jedoch nicht als antimilitaristischen Konsens missverstehen. Nur 29 Prozent der Befragten waren bereit, eine absolute Neutralität auszurufen, die russischen Truppen aus Belarus abzuziehen und sich auf keine der beiden Seiten zu stellen. Weitere 27 Prozent meinten, Belarus sollte Russland unterstützen und die Ukraine verurteilen, sich jedoch nicht aktiv am Krieg beteiligen.
Russland greift zu einer simplen Methode, um seine Staatsbürger in den Krieg zu treiben: Geld. Würde Lukaschenko so wie Putin den Kämpfern einen anständigen Sold anbieten, würde sich womöglich so mancher freiwillig melden. Indessen gibt es genug Bewerber für die Fabrik bei Orscha, in der im Schichtbetrieb Projektile für die russische Rüstungsindustrie hergestellt werden. Nichts Persönliches. Rein geschäftlich.
Zeiten blühender Freundschaft
Apropos Geschäfte. An Lukaschenkos Friedfertigkeit gegenüber seinen Nachbarn im Süden könnte man zweifeln, wären da nicht seine langjährigen und durchaus lukrativen geschäftlichen Interessen in der Ukraine – sowohl seitens des Staates als auch einzelner belarussischer Staatsbürger, darunter Geschäftsleute aus Lukaschenkos engstem Kreis. Der Krieg hat ihnen Sanktionen, gesperrte Konten und sonstige Unannehmlichkeiten beschert. Natürlich werden auch am Krieg Milliarden verdient, doch dubiose Gewinne aus der Schattenwirtschaft lassen sich nun mal schlecht mit legal erworbenen und in geordneten Bahnen ausbezahlten Einkünften vergleichen.
Die Ukraine war vor dem Krieg zweitstärkster Handelspartner des Landes und lag damit zum Beispiel vor China. 2021 machten die Exporte in die Ukraine 5,4 Milliarden US-Dollar aus – das sind 13,6 Prozent des gesamten belarussischen Exportvolumens.
Etwa die Hälfte des Gesamtexports bildeten Erdölerzeugnisse. Für Belarus war das ein äußerst lukrativer Markt: Billige Rohstoffe aus Russland und kurze Lieferstrecken schufen optimale Bedingungen für satte Gewinne. In und durch die Ukraine wurden belarussische Düngemittel, Pkw und Busse, Lebensmittel und Strom exportiert. Soweit zu den guten Handelsbeziehungen. Doch die Freundschaft ging tiefer. Wie tief, das kann man an den Lieferungen von Bitumen aus der Raffinerie des Belarussen Nikolaj Worobej sehen, der Lukaschenko und Viktor Medwedtschuk, „Putins Mann in der Ukraine“, nahestehen soll.
Außer Bitumen lieferten Worobejs Raffinerie und andere Firmen russisches Dieselöl und Kohle in die Ukraine. 2019 segnete das Antimonopolkomitee der Ukraine den Verkauf eines 51-Prozent-Anteils aus dem Grundkapital von PrikarpatSapadtrans an Worobej ab. Dabei handelt es sich um eine Pipeline für den Transport von Dieselöl aus Russland und Belarus über die Ukraine nach Europa. Allerdings beschloss der Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine schon im Februar 2021, also ein Jahr vor der großen Invasion, diese Leitung wieder zu Staatseigentum zu machen.
Verbrannte Erde? Nicht unbedingt
Der Sanktionsdruck auf belarussische Unternehmen in der Ukraine begann im Oktober 2022, als Wolodymyr Selensky den ersten Erlass über die Anwendung „persönlicher spezieller ökonomischer und anderer Beschränkungsmaßnahmen“ unterzeichnete. So wurden gegen 118 Unternehmen und Organisationen aus Belarus Sanktionen verhängt. Ihre Vermögen in der Ukraine wurden eingefroren, die Handelsverträge aufgelöst, die Lizenzen entzogen.
Jetzt spielen sich die ökonomischen Beziehungen im Bereich der Schattenwirtschaft ab. Aus den besetzten ukrainischen Gebieten werden Produkte aus der Landwirtschaft ausgeführt, in Belarus verarbeitet und weltweit verkauft. Umgekehrt wird Glas über eine polnische Handelsvertretung der belarussischen Firma Gomelsteklo in die Ukraine geliefert, weil dort durch die Kriegsschäden ein dringender Bedarf an Fensterglas besteht.
Außerdem ist die Ukraine auf Ersatzteile für technische Geräte angewiesen, die sie massenhaft in Belarus eingekauft hat und jetzt für militärische Zwecke nutzt. Auch wenn es vorkommt, dass man wegen des Kaufs eines belarussischen Traktors auf Staatskosten vor Gericht steht. Ein Spiel ohne klare Regeln, dafür mit eindeutigen Interessen und hohen Risiken.
Keine Lust auf demokratische Kräfte
Das andere, neue Belarus, das von Lukaschenkos Regime ins Ausland vertrieben wurde, pflegt währenddessen aktiv gute Beziehungen zu den USA, der EU und anderen Ländern. Doch weder 2020 noch nach Beginn des großangelegten Krieges gelang es den demokratischen Kräften von Belarus, den Dialog mit der ukrainischen Regierung in Schwung zu bringen. Zuerst waren die Belarussen mit den stürmischen Ereignissen von 2020 beschäftigt, als auf die Präsidentenwahlen ein Massenenthusiasmus folgte, der in nicht minder massenhafte Proteste und Repressionen mündete. Dann stand Selensky angesichts des russischen Einmarsches vor unzähligen Herausforderungen, die für den Fortbestand seines Landes von zentraler Bedeutung waren.
Ein ernstzunehmendes Thema für ein Treffen mit der belarussischen Exilregierung bot sich ohnehin nicht an. Spenden an die ukrainischen Streitkräfte und Kämpfer für das Kalinouski-Regiment sind natürlich gern gesehen, aber für Meetings, Bündnisse und Allianzen hat Kyjiw genug andere Kandidaten. Ein beinahe zufälliger Handschlag zwischen Selensky und Tichanowskaja auf einer Veranstaltung in Deutschland im Frühjahr 2023, ein fernmündlicher Austausch von Beistandsbekundungen für die europäische Zukunft – mehr ist da nicht.
Was die Ukraine wirklich interessiert, ist bislang nach wie vor fest in Lukaschenkos Hand. Mit ihm scheint die ukrainische Staatsführung Kontakt zu halten und Gespräche zu führen. Im Juni 2024 konnte Kyjiw fünf Personen aus belarussischer Gefangenschaft befreien. Einer davon war Nikolai Schwez, ein Ukrainer, dem Minsk einen Sabotageakt gegen ein russisches A-50-Kampfflugzeug in Matschulischtschi vorwarf. Die Gefangenen wurden gegen Metropolit Jonathan eingetauscht, der in der Ukraine wegen prorussischer Aktivitäten verurteilt war. Lukaschenko plauderte aus Versehen aus, dass dieser Austausch auf die Bitte des russischen Präsidenten hin erfolgt sei.
Übrigens wartete der Tag, an dem der Austausch bekannt wurde, mit einer weiteren Überraschung auf. Am Kyjiwer Berufungsgericht wurde die Beschlagnahme eines Teils des Vermögens einer Tochterfirma des belarussischen Staatsunternehmens Belarusneft aufgehoben. Insofern ist das Verhältnis Kyjiws zu Lukaschenko zwar nicht unbedingt besser als zu Tichanowskaja, aber effektiver. Und daran wird sich in nächster Zukunft wohl auch nicht viel ändern.
Angespannte Grenze
Sämtliche Kontakte, Übereinkünfte und Andeutungen zwischen Minsk und Kyjiw sind momentan instabil. Nach der vollumfänglichen Invasion in der Ukraine im Februar 2022, die unter anderem von belarussischem Staatsgebiet aus erfolgte, war das Risiko sehr hoch, dass auch die belarussische Armee in die Kampfhandlungen einbezogen würde. Seitdem kam es im Grenzgebiet immer wieder zu Spannungen. Sowohl Belarus als auch die Ukraine positionierten zusätzliche Kampfeinheiten, um sie dann teilweise wieder abzuziehen.
„Ich musste fast ein Drittel meiner Armee zusätzlich einsetzen, um das, was da war, zu verstärken. Dann haben wir über unsere Kontakte zu den ukrainischen Geheimdiensten gefragt: Wozu macht ihr denn das? Sie sagten ehrlich: Ihr wollt uns mit den Russen zusammen von Homel aus beschießen. Aber das hatten wir gar nicht vor“, beteuerte Lukaschenko im August 2024.
Ein Konflikt zwischen Minsk und Kyjiw ließe sich heute ohne Weiteres provozieren. Allein die Kamikaze-Drohnen, die ständig über belarussisches Territorium fliegen, bieten dazu allen Anlass. Darüber hinaus finden routinemäßige Manöver statt, zu denen sich das ukrainische Außenministerium bereits geäußert hat: „Wir warnen die Amtsträger der Republik Belarus davor, unter dem Druck aus Moskau katastrophale Fehler zu begehen. Wir rufen ihre Streitkräfte dazu auf, die feindlichen Manöver zu unterlassen und die Truppen abzuziehen.“
Die Angst vor einer potenziellen Eskalation bringt Lukaschenko anscheinend dazu, an seinem Bündnispartner vorbeizuverkünden, dieser habe seine Ziele bereits erreicht: „Ihr redet manchmal von Nazis. Die gibt es da gar nicht mehr. Die Ukraine ist entnazifiziert. Ein paar Randalierer laufen vielleicht noch rum, aber die interessieren keinen mehr“, behauptete er unlängst.
Aber Lukaschenko widerspricht sich so oft selbst, dass man lieber auf das schauen sollte, was er tut. Manchmal spricht auch sein Schweigen Bände. Im August 2024 zum Beispiel vermied Lukaschenko es vier Tage lang tunlichst, den ukrainischen Vorstoß in der russischen Oblast Kursk zu bemerken. Von offizieller Seite tat man weder Besorgnis kund noch reagierte man auf die Unterstellungen einiger Z-Blogger, es gebe bei der Vorbereitung des Angriffs eine belarussische Spur. Man analysierte offenbar die Schwachpunkte des Bündnispartners und überlegte, wie sich die Dinge wohl weiterentwickeln mochten. Etliche dieser Szenarien wären für Lukaschenkos Regime alles andere als günstig gewesen.
Dieses Rechenbeispiel zum Verhältnis zwischen Kyjiw und Minsk enthält vorerst noch zu viele Variablen. Die belarussischen demokratischen Kräfte brauchen einen Freund, aber Selensky nicht noch einen Feind. Und solange Lukaschenko so viel Macht hat, wird sich Kyjiw auf keine Eskalation einlassen. Wenn man einen Krieg gegen überlegene Gegner führt, ist es wohl am klügsten, auf Pragmatismus zu setzen. Es liegt bei den Gegnern von Lukaschenkos Regime, die Ukraine in ihrem Kampf aufrichtig und konsequent zu unterstützen, ohne beleidigt zu sein, Ansprüche zu stellen oder Gegenleistungen zu erwarten.
Die Liste russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine ist lang. Sie reicht von Folter und Massenmord an der Zivilbevölkerung in Butscha über den Beschuss des Kinderkrankenhauses Ochmatdyt in Kyjiw bis zur Sprengung des Kachowka-Staudamms und ist damit noch lange nicht zu ende. Ermittler und zivilgesellschaftliche Initiativen haben bereits mehr als 140.000 einzelne Taten dokumentiert. Neben dem Tatbestand Verbrechen gegen die Menschlichkeit sehen einige Völkerrechtler auch den Tatbestand des Völkermords als erfüllt an.
Auf das Entsetzen folgt die Frage: Wie können die Aggressoren zur Rechenschaft gezogen werden? Welche Möglichkeiten gibt es, Gerechtigkeit für die Opfer herzustellen und wie lassen sich Lehren für die Zukunft ziehen?
Die Journalistin Farida Kubangalejewa hat darüber mit zwei ausgewiesenen Experten über diese Frage gesprochen:
Der Soziologe und Politikwissenschaftler Michail Sawwa (geb. 1964) war in den 1990-er Jahren Beauftragter für Nationalitätenfragen im Gebiet Krasnodar und lehrte er an der Staatlichen Universität des Kubangebiets Politikwissenschaften. 2013 verbrachte er mehrere Monate in Untersuchungshaft, bevor er in einem konstruierten Verfahren wegen Veruntreuung zu drei Jahren auf Bewährung verurteilt wurde. 2016 gewährte ihm die Ukraine Asyl. Als Mitarbeiter des Center for Civil Liberties in Kyjiw setzt er sich heute für die Dokumentation und Verfolgung russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine ein.
Ilja Schablinski (geb. 1962) lehrte als Professor für Verfassungsrecht an der Higher School of Economics in Moskau. In den 1990er Jahren war er an der Ausarbeitung der russischen Verfassung beteiligt. Von 2012 bis 2019 war er Mitglied im Menschenrechtsrat des russischen Präsidenten. Im Juni 2024 setzte das Justizministerium Schablinski auf die Liste der „ausländischen Agenten“.
Farida Kurbangalejewa: Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat bisher Haftbefehle gegen eine Handvoll offizieller Vertreter der Russischen Föderation erlassen, die an Kriegsverbrechen in der Ukraine beteiligt sind: Präsident Wladimir Putin, die Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa, Generalstabschef Waleri Gerassimow sowie den ehemaligen Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Viele Beobachter ohne professionellen Hintergrund, auch ich, fragen sich: Warum sind es so wenige Personen, die der IStGH zumindest hier zur Verantwortung zieht? Und warum wurden gerade sie ausgewählt?
Michail Sawwa: Es sind noch ein paar mehr. Der IStGH hat auch Haftbefehle gegen den Kommandeur der Schwarzmeerflotte und den Kommandeur der Langstrecken-Luftwaffe Russlands erlassen. Grund dafür war der gezielte Beschuss ziviler Infrastruktur der Ukraine im Winter 2023. Damals wurde das System der Energieversorgung zerstört. Genau das hat die russische Regierung auch jetzt wieder vor.
Warum gerade diese Personen? Der Internationale Strafgerichtshof stellt erst einen Haftbefehl aus, wenn sehr überzeugende Beweise für ein Verbrechen vorliegen. Bei der Anklage gegen den ehemaligen Vizepräsidenten des Kongo hat er 5000 Zeugen vernommen. Erst wenn jeder Zweifel ausgeräumt ist, wird er tätig. Diese sechs Leute haben praktisch selbst bescheinigt, dass sie Kriegsverbrechen begangen haben. Sie haben gegen Artikel acht des Römischen Statuts verstoßen, das für den IStGH in etwa die gleiche Funktion hat wie das Strafgesetzbuch für nationale Gerichte.
Ilja Schablinski: In der Tat ist die Beweislage in zwei Anklagepunkten sehr klar. Dass Kinder mit ukrainischer Staatsbürgerschaft aus dem Land gebracht und an Familien in verschiedenen Regionen Russlands verteilt wurden, haben Lwowa-Belowa und auch Putin offen gesagt. Und zum Beschuss der ukrainischen Energieversorgungs-Infrastruktur haben sich sowohl Schoigu als auch Gerassimow ziemlich ausführlich geäußert. Auch Putin selbst hat sich ja damit gebrüstet, dass Angriffe auf Kraftwerke verübt werden. Ich denke, das war die Grundlage, auf der der Ankläger des IStGH tätig geworden ist. Die Liste der Kriegsverbrechen, für die auch weitere Verdächtige zur Verantwortung gezogen werden könnten, ist natürlich viel länger.
Michail Sawwa: Zum einen wird diese Liste ergänzt werden. Es werden bereits einige weitere Fälle geprüft. Zum anderen ist der IStGH nicht die einzige internationale Instanz, vor der im Ukrainekrieg begangene Kriegsverbrechen verhandelt werden. Für das größte Verbrechen – den Beginn des Angriffskriegs und den Überfall auf ein Nachbarland – ist der IStGH beispielsweise nicht zuständig. Dafür muss ein internationaler Sondergerichtshof eingerichtet werden.
Farida Kurbangalejewa: Und der muss nicht unbedingt in Den Haag angesiedelt sein, richtig?
Michail Sawwa: Genau. Er kann überall tätig sein – in einem Land oder auch in mehreren Ländern. Das hängt davon ab, wie er letztendlich aussehen wird. Bisher sind nur sehr allgemeine Planungen bekannt. In einer Entschließung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates heißt es zum Beispiel, dass ein internationaler Sondergerichtshof erforderlich ist, ohne dass das näher ausgeführt wird. In der Ukraine ist ein Konzept erarbeitet worden, das sich damit befasst, was im Einzelnen getan werden soll, um die Schuldigen für das Verbrechen des militärischen Angriffs zur Rechenschaft zu ziehen. Auch dort steht, dass unbedingt ein internationaler Sondergerichtshof berufen werden muss. Und es werden auch einige konkrete Angaben gemacht.
Ich dokumentiere seit dem 3. März 2022 Kriegsverbrechen. Ich weiß jetzt, dass ich einen Traum und ein Ziel habe, das ich bis ans Ende meines Lebens verfolgen werde: Ich werde darauf hinarbeiten, dass die Leute, die das getan haben, diejenigen, die ihnen den Befehl erteilt haben und alle anderen Beteiligten ins Gefängnis kommen
Farida Kurbangalejewa: Wie wichtig ist es für die Ukrainer – und für Sie persönlich – dass dieser Gerichtshof in der Ukraine selbst tätig ist?
Michail Sawwa: Er wird mit Sicherheit hier tätig sein, zumindest teilweise. Die Ermittler werden hier arbeiten. Was die Richter betrifft, weiß ich es nicht, sie müssen sich nicht unbedingt in der Ukraine befinden. Entscheidend ist für uns etwas anderes: Ich dokumentiere seit dem 3. März 2022 Kriegsverbrechen. Dabei bin ich auch in einem Kampfgebiet im besetzten Teil der Oblast Kyjiw gewesen, wo vor meinen Augen Menschen umgebracht worden. Ich weiß jetzt, dass ich einen Traum und ein Ziel habe, das ich bis ans Ende meines Lebens verfolgen werde. Ich werde darauf hinarbeiten, dass die Leute, die das getan haben, diejenigen, die ihnen den Befehl erteilt haben und alle anderen Beteiligten ins Gefängnis kommen, zur Abschreckung für andere Täter.
Ilja Schablinski: Ich hoffe darauf, dass die Beteiligten an der Entfesselung dieses furchtbaren, blutigen Angriffskriegs auch in Russland zur Verantwortung gezogen werden. Und zwar wegen der Einleitung des Krieges, für die der IStGH nicht zuständig ist. Ob es dazu kommt, ist ungewiss. Aber ich stimme denen zu, die sagen, dass man darauf vorbereitet sein muss. Man braucht eine Rechtsgrundlage. Im Strafgesetzbuch Russlands gibt es einschlägige Artikel: Nr. 353, „Planung, Vorbereitung und Einleitung eines Angriffskriegs“ und Nr. 354, „Öffentliche Aufrufe zur Durchführung eines Angriffskriegs“ – denken Sie an die russischen Propagandisten. Ich will, dass diejenigen, die letztlich die Schuld am gewaltsamen Tod hunderttausender ukrainischer Bürger und auch meiner russischen Landsleute tragen, auf Grundlage dieser Artikel zur Rechenschaft gezogen werden. Das ist das schlimmste Verbrechen überhaupt.
Der Internationale Strafgerichtshof und ein internationaler Sondergerichtshof werden tätig, wenn eine Rechtsprechung auf nationaler Ebene nicht möglich oder nicht gewollt ist. In Ruanda etwa wollten die neuen Machthaber nicht, dass der Prozess im eigenen Land stattfindet, und haben sich an den IStGH gewandt. In Russland gibt es verfassungsrechtliche Einschränkungen, beispielweise dürfen russische Staatsbürger nicht an andere Staaten ausgeliefert werden. Aber das lässt die Möglichkeit offen, dass Personen, die Kriegsverbrechen befohlen und begangen haben, unter einer anderen Regierung verurteilt werden und ins Gefängnis kommen.
Farida Kurbangalejewa: Auf welcher Hierarchieebene beginnt die Verantwortung für Kriegsverbrechen? Wenn der Kommandeur der Schwarzmeerflotte den Befehl erteilt, Raketen abzufeuern, ist er offensichtlich schuldig. Aber wie ist es mit demjenigen, der einfach auf den Knopf drückt, und kurz darauf schlägt eine Rakete im Kinderkrankenhaus Ochmatdyt ein? Er führt ja nur einen Befehl aus.
Wer das Ziel der Rakete kennt und auf den Knopf drückt, muss sich darüber im Klaren sein, dass er einen verbrecherischen Befehl ausführt
Michail Sawwa: Trotzdem macht er sich schuldig. Es gibt den Begriff des „verbrecherischen Befehls“. Das ist alles ziemlich detailliert beschrieben und gehört in guten Armeeeinheiten zur Ausbildung der Soldaten. Wer das Ziel der Rakete kennt und auf den Knopf drückt, muss sich darüber im Klaren sein, dass er einen verbrecherischen Befehl ausführt. Es gibt noch kompliziertere Situationen: Wenn Untergebene ein Kriegsverbrechen begehen und ihr Vorgesetzter nichts davon weiß, ist er trotzdem schuldig. Das ergibt sich aus dem humanitären Völkerrecht, das vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz kodifiziert wurde. Ein Artikel besagt, dass ein Vorgesetzter sich für Kriegsverbrechen seiner Untergebenen verantworten muss, wenn er davon einfach nur hätte wissen können. Der Kreis der Schuldigen ist also sehr viel weiter gefasst, als man im Kreml jetzt meint.
Farida Kurbangalejewa: Hierzu wird auch eine andere Auffassung vertreten: Russische Militärangehörige, die ein Kriegsverbrechen begangen haben, sind Kombattanten. Sie führen die Befehle ihrer Offiziere aus und tragen selbst keine Verantwortung für ihr Tun.
Ilja Schablinski: Das muss das Gericht klären. Es gibt jedenfalls den Begriff des verbrecherischen Befehls, und im Völkerrecht gibt es das Kriterium der Offensichtlichkeit: Der Befehlsempfänger muss erkennen können, dass er dazu angeleitet wird, eine offensichtlich widerrechtliche Tat zu begehen. Der Befehl, Verwundete, Gefangene oder Zivilpersonen zu erschießen, ist ganz offenkundig illegal. In solchen Fällen können diejenigen, die ihn unmittelbar ausführen, zur Rechenschaft gezogen werden. Aber richtig, grundsätzlich können einfache Soldaten sich darauf berufen, dass sie nicht selbst entschieden haben, einen bewohnten Ort anzugreifen, sondern einen Befehl ausführten. In Butscha haben allerdings, soweit sich das jetzt beurteilen lässt, gewöhnliche Militärangehörige gewütet. Vielleicht auf Befehl von Offizieren, vielleicht auch nicht. Aber wer hat sie gezwungen, eine ganze Familie zu erschießen? Den Bürgermeister eines kleinen Ortes, die ganze Familie? Wer hat sie gezwungen, Dutzenden von Zivilisten die Hände zu fesseln und sie dann mit Nackenschüssen zu töten? Es gibt auch Zeugenaussagen zu den Vergewaltigungen und Morden. Man kann mit Grund vermuten, dass es einfache Soldaten waren, die diese Verbrechen begingen. Aber es kann nicht sein, dass ihr niedriger Dienstgrad sie von der Verantwortung entbindet.
Die russischen Propagandisten wären gut beraten, sich die Akten aus den Strafverfahren zum Genozid in Ruanda genau anzusehen
Farida Kurbangalejewa: Ilja, Sie haben die russischen Propagandisten erwähnt und gesagt, dass auch sie sich für die Verbrechen verantworten sollten. Auch hier gibt es das Problem, dass sie in gewisser Weise Befehlsempfänger sind. Ich weiß, dass viele dieser Leute meinen, es gehöre eben zu ihrem Beruf, das zu sagen, was ihnen aufgetragen wird. Und wie realistisch ist es überhaupt, dass sie zur Rechenschaft gezogen werden?
Michail Sawwa: Zunächst einmal: Das Argument „Wir machen das nicht freiwillig, sondern beruflich“ wird ihnen nicht weiterhelfen. Anders als Kriegsverbrecher können sie sich ja nicht einmal auf offizielle Anweisungen berufen, die ihnen befahlen, sich genau so zu äußern. Ihre Worte sind ihr eigenes Werk. Dass man dafür tatsächlich ins Gefängnis kommen kann, zeigt das Strafverfahren gegen Mitarbeiter des ruandischen Senders „Radio-Télévision Libre des Mille Collines“. Während des Genozids in Ruanda 1993 hatte dieser Sender zum Mord an den Tutsi aufgerufen. Das geschah in kaschierter Form. Das Volk der Tutsi wurde nicht ausdrücklich genannt, sondern es hieß beispielsweise: Man muss die Kakerlaken töten. Aber das Gericht wies ihnen nach, dass damit die Angehörigen dieser ethnischen Gemeinschaft gemeint waren und dass es sich um konkrete Mordaufrufe handelte. Sie erhielten Gefängnisstrafen von bis zu 25 Jahren. Einige kommen gerade wieder frei, sie sind inzwischen alt geworden. Andere wurden erst sehr viel später aufgespürt und festgenommen, und manche werden bis heute gesucht. Die russischen Propagandisten wären gut beraten, sich die Akten dieses Strafverfahrens genau anzusehen.
Ilja Schablinski: Wer Massenmord, Aggression, Sadismus und die Zerstörung von Städten gefeiert hat, muss sich natürlich dafür verantworten. Ich erinnere mich, wie Wladimir Solowjow die Ruinen von Marjinka oder Awdijiwka zeigte und orakelte: „Dieses Schicksal erwartet auch Berlin.“ Es gibt frappierende Beispiele für entgrenzte, gehässige Propaganda. Natürlich ist uns allen klar, dass es einen Regimewechsel braucht, damit diese Terrorpropagandisten zur Rechenschaft gezogen werden können. Meiner Meinung nach ist es letztlich Sache der russischen Gerichte, sich mit diesen Leuten zu befassen.
Im Moment gibt die gesamte Richterschaft ein klägliches Bild ab. Das ist womöglich die beschämendste Seite der Geschichte des heutigen Russlands. Es bedeutet, dass nicht nur Soldaten Russlands als Eroberer und Marodeure auftreten, sondern alle staatlichen Strukturen gehorsam den Willen des Diktators ausführen und ihren Teil der blutigen und schmutzigen Arbeit verrichten.
Aber wir wissen ja aus der Geschichte, dass dieselben Leute anders entscheiden, wenn sich die politischen Verhältnisse ändern, wenn die Angst fort ist und sie halbwegs frei handeln können. Auch nach dem Ende der Stalin-Ära hat sich die Rechtsprechung ja geändert, vielleicht nicht sehr stark, aber immerhin. Man muss die Propagandisten nach Artikel 354 wegen öffentlichen Aufrufs zur Einleitung dieses Angriffskriegs verurteilen und das Strafmaß jeweils individuell festlegen. Einige halten sich zurück, sie überlassen „Experten“ das Wort und verzichten nach Möglichkeit auf eigene Aufrufe und Einschätzungen. Andere treten aggressiv und gehässig auf. Entsprechend größer ist auch ihre Verantwortung.
Die Gerechtigkeit kann nicht warten, bis die Massen in Russland endlich aufwachen und dieses Regime stürzen
Michail Sawwa: Ich stimme Ilja zu, es wäre sehr gut, wenn diese Leute von russischen Gerichten verurteilt würden. Aber wir wissen nicht, ob das passieren wird und wann, und es genügt nicht, nur auf einen politischen Regimewechsel in Russland zu hoffen. Man muss bereits jetzt über diese Leute zu Gericht sitzen, und die Prozessvorbereitungen laufen schon. Ich meine die Einrichtung eines internationalen Sondergerichtshofs für das Verbrechen des Angriffskriegs. Er muss ein sehr breites Spektrum von Verbrechen untersuchen, von den Initiatoren des Krieges bis zu den eben erwähnten Propagandisten. Das ist letztlich doch vor allem ein Fall für ein internationales Gericht. Die Gerechtigkeit kann nicht ewig warten. Wir können und werden nicht warten, bis die Massen in Russland endlich aufwachen und dieses Regime stürzen oder bis die inneren Widersprüche der Elite kulminieren.
Ilja Schablinski: Ja, da stimme ich zu: Wenn der Internationale Strafgerichtshof jetzt etwas tun kann, zum Beispiel über ein Mandat entscheiden, Anklage erheben und die Anklagepunkte genau formulieren, dann muss das getan werden. Wenn man auf einen Regimewechsel wartet, schenkt man diesen Leuten Zeit, in der sie einigermaßen sorgenfrei leben können. Nein, sie dürfen nicht vergessen, dass sie furchtbare Verbrechen begehen, dass ihre Worte und Taten ungeheure Opfer nach sich gezogen haben, zerstörte Städte, zerstörte Schicksale. Es muss ihnen schon jetzt ständig bewusst sein.
Farida Kurbangalejewa: Der historischen Abfolge nach würde also wohl zunächst im Ausland ein Prozess gegen russische Kriegsverbrecher stattfinden, und erst später wäre ein Verfahren in Russland selbst möglich – ich würde sogar sagen, nicht bei einem Zusammenbruch des politischen Regimes, sondern im Fall einer russischen Niederlage im Eroberungskrieg gegen die Ukraine.
Ilja Schablinski: Wohl doch eher bei einem Regimewechsel. Unter einer russischen Niederlage würde ich den erzwungenen Abzug der russischen Truppen vom Territorium der Ukraine verstehen. In diesem Fall könnte sich das Regime leider durchaus halten.
Farida Kurbangalejewa: Viele Experten meinen, dass nur eine militärische Niederlage Russlands zum Zusammenbruch des Regimes führen kann.
Ilja Schablinski: Das hoffe ich auch. Allerdings war beispielsweise Saddam Hussein nach seiner Niederlage noch 13 Jahre im Amt. Aber generell ist diese Annahme richtig. Solange Russland nicht mit dem Internationalen Strafgerichtshof zusammenarbeitet, wird ein Prozess im vollen Sinn des Wortes kaum möglich sein. Aber ich denke, dass man zumindest die Anklageschriften ausfertigen muss.
Farida Kurbangalejewa: Kann man das Verfahren gegen die sechs eingangs erwähnten Kriegsverbrecher schon einleiten, bevor man ihrer habhaft wird?
Michail Sawwa: Nein, das wird nicht passieren. Der Internationale Strafgerichtshof führt keine Verfahren gegen Personen durch, die nicht im Sitzungssaal anwesend sind. Deshalb sind die Haftbefehle ausgestellt worden. Vielleicht dauert es sehr lange, bis man ihrer habhaft wird, vielleicht wird es auch nie dazu kommen, aber bis es so weit ist, wird der IStGH auch kein Urteil fällen. Ich möchte aber noch einmal daran erinnern, dass der IStGH nicht die einzige internationale Gerichtsinstanz ist. Im Moment geht es um die Berufung eines internationalen Sondergerichtshofs, der über das Verbrechen des Angriffskriegs urteilt. Dabei kann man sich an anderen Prinzipien orientieren und in seinen Statuten beispielsweise vorsehen, dass das Gericht auch in Abwesenheit eines Angeklagten verhandeln kann – dass es den Fall untersucht und das Urteil spricht, bevor der Verbrecher in den Gerichtssaal gebracht wird. Bisher ist noch nicht bekannt, wie das genau aussehen wird.
Der internationale Charakter eines Sondergerichtshofs sollte durch eine Resolution der UN-Generalversammlung bekräftigt werden statt im Sicherheitsrat
Farida Kurbangalejewa: Wenn die russischen Kriegsverbrecher – in Abwesenheit oder Anwesenheit – von einem internationalen Sondergerichtshof verurteilt werden, warum ist es dann Ihrer Meinung nach so wichtig, sie zusätzlich noch in Russland zu verurteilen? Weil es symbolisch bedeutsam ist oder aus praktischen Erwägungen heraus?
Ilja Schablinski: Wenn sie in Russland verurteilt werden, kommen sie wirklich ins Gefängnis. Wenn man sie in Abwesenheit verurteilt, werden sie einfach feixen und Hohn und Spott verbreiten. Das hat dann wirklich nur symbolische Bedeutung. Ich halte es für möglich, ein Tribunal einzurichten, aber man muss gut überlegen, auf welcher Rechtsgrundlage das geschehen soll. Das Sondertribunal zu Jugoslawien wurde 1993 durch eine einstimmig verabschiedete Resolution des UN-Sicherheitsrates geschaffen. Russland hat diese Resolution damals sehr engagiert unterstützt. In der jetzigen Situation ist es nicht möglich, einen Gerichtshof auf diesem Weg zu berufen. Also muss es über ein anderes Verfahren geschehen.
Michail Sawwa: Ein solches Verfahren gibt es. Diese Sondertribunale werden durch internationale Abkommen geschaffen. Der Internationale Strafgerichtshof ist übrigens auch über ein solches Abkommen zustande gekommen. Wir ukrainischen Experten sind der Auffassung, dass der internationale Charakter eines Sondergerichtshofs durch eine Resolution der UN-Generalversammlung bekräftigt werden sollte, die dem UN-Generalsekretär die Vollmacht erteilt, mit verschiedenen Ländern eine Vereinbarung über den Beitritt zu einem solchen Gerichtshof abzuschließen. Die Resolution würde also nicht im Sicherheitsrat verabschiedet, wo Russland ein Vetorecht hat, das es natürlich in Anspruch nehmen würde, sondern per Mehrheitsbeschluss in der UN-Generalversammlung. Das ist auch eine ziemlich schwierige Aufgabe, aber doch eine lösbare.
Ilja Schablinski: Eine Mehrheit zu beschaffen ist möglich. Bei dieser Sache kann man auf die Generalversammlung hoffen.
Diese Leute müssen nach ihrer Verurteilung so untergebracht werden, dass sie die restlichen Jahre ihres kläglichen Lebens unter adäquaten, menschlichen Bedingungen verbringen können
Farida Kurbangalejewa: Ist es von Belang, wo die Kriegsverbrecher ihre Strafe verbüßen? Julija Nawalnaja hat im Juli dieses Jahres in einem Posting erklärt, sie sollten nicht in einer geheizten Zelle mit Fernseher in Den Haag sitzen, sondern in einer zwei mal drei Meter großen Zelle wie der, in der Alexej Nawalny eingesperrt war und malträtiert wurde. Es ist ja wirklich so, dass es in europäischen Gefängnissen, behaglicher und komfortabler zugeht. Wer dort einsitzt, muss keine besonderen Unannehmlichkeiten fürchten. Und wir alle haben eine Vorstellung davon, wie es in einem typischen russischen Gefängnis aussieht.
Michail Sawwa: Ich habe in einer drei mal drei Meter großen Zelle gesessen. Und zwar nicht allein, es war eine Zweierzelle. Das ist wirklich unangenehm, aber das Schlimmste ist der Freiheitsentzug – dass du hinter Gittern bist und keine eigenen Entscheidungen treffen kannst. Ich bin für eine strenge, aber humane Bestrafung. Diese Leute müssen nach ihrer Verurteilung – und die Urteile werden vermutlich hart ausfallen, sie haben sich schon lebenslange Freiheitsstrafen verdient – so untergebracht werden, dass sie die restlichen Jahre ihres kläglichen Lebens unter adäquaten, menschlichen Bedingungen verbringen können.
Farida Kurbangalejewa: Diese Aussage dürfte bei vielen Ukrainern auf Unverständnis stoßen.
Michail Sawwa: Ja, aber als Menschenrechtsaktivist kann ich in dieser Frage keinen anderen Standpunkt vertreten. Deshalb ist es mir gleichgültig, wer mich wie versteht. Das für mich eine Sache der Überzeugung.
Ilja Schablinski: Ich möchte daran erinnern, dass Michail selbst eine schlimme Erfahrung gemacht hat. Er hat das Strafvollzugssystem Russlands unter verschiedensten Bedingungen von innen erlebt. Schon die Beförderung in dem Spezialfahrzeug, mit dem die Angeklagten aus dem Gefängnis ins Gericht gebracht werden, ist eine Tortur. Ich habe mir so einen Transporter nur mal angesehen. Aber Michail hat dort mehrere Stunden verbracht, und zwar nicht nur einmal. Oder in Krasnodar in brütender Hitze in einer Zelle zu sitzen. Ich kenne die auch nur von Besuchen. Michail hingegen „saß auch mal im Kerker“, um mit Brodsky zu sprechen.
Farida Kurbangalejewa: Besteht denn die Möglichkeit, dass sie beispielsweise in der Ukraine inhaftiert sein werden? Nach Ansicht vieler Menschen dort wäre das nur logisch, konsequent und gerecht.
Ilja Schablinski: Der Internationale Strafgerichtshof entscheidet, in welchem Land die von ihm verurteilten Personen ihre Strafe verbüßen. Das betreffende Land musss den Anerkennungsvertrag für das Römische Statut unterzeichnet haben. Es gibt ein paar Dutzend Länder, die die Bedingungen erfüllen, die Entscheidung liegt beim Strafgerichtshof.
Farida Kurbangalejewa: Noch einmal zum Schutz der Rechte der Gefangenen und dem humanen Umgang mit ihnen: Wie soll kontrolliert werden, dass sie nicht gefoltert und geschlagen werden? Genau das passiert im russischen Strafvollzugssystem ja immer wieder.
Michail Sawwa: Die Gewähr dafür übernimmt das Land, in dem der Prozess stattfindet. Und die Leute, die von einem künftigen internationalen Sondergerichtshof oder dem bereits aktiven Internationalen Strafgerichtshof verurteilt werden, verbüßen ihre Strafe ja in Ländern, wo es bereits ein stabiles System zur Kontrolle eines humanen Umgangs mit Gefangenen und Untersuchungshäftlingen gibt. Es ist also gewährleistet, dass dort keine Folter stattfindet. Dass sie von sehr vielen Leuten verflucht werden – davor kann sie allerdings niemand beschützen.
Ilja Schablinski: In Den Haag selbst gibt es ein Sondergefängnis mit etwa 80 Plätzen, wenn ich mich recht entsinne. Dort sind überall Videokameras installiert. Die ständige Kontrolle gehört zu den Vorkehrungen, die gewährleisten sollen, dass die Untersuchungshäftlinge und Inhaftierten keinen illegalen Maßnahmen ausgesetzt werden. Das Weitere hängt dann davon ab, in welchem Land die Verurteilten einsitzen werden. In Europa wird streng kontrolliert, in Russland herrscht völlige Willkür. Aber es gibt zurzeit wichtigere Fragen als die, wo diese Leute hinkommen werden.
Farida Kurbangalejewa: In wessen Namen wird die Anklage vorgebracht? Im Namen der Ukraine, also des Landes, das unter der Aggression Russlands gelitten hat, oder im Namen der internationalen Gemeinschaft?
Michail Sawwa: Im Namen der internationalen Gemeinschaft. Im Namen der Ukraine sind bereits Urteile wegen Kriegsverbrechen gegen russische Besatzer ergangen, die in Kriegsgefangenschaft gerieten. Solche Verfahren werden in der Ukraine durchgeführt. Aber meist geht es dabei um die Tötung von Zivilpersonen, also Nichtkombattanten. Wenn wir vom Verbrechen des Angriffskriegs selbst sprechen, vom Prozess gegen die oberste Führung Russlands, werden Anklage und Urteil hier fraglos im Namen der internationalen Gemeinschaft ergehen.
Ilja Schablinski: Genau. Als der Sondergerichtshof für das ehemalige Jugoslawien eingerichtet wurde, sagte der Vertreter Russlands sogar ausdrücklich, es handle sich um eine Einrichtung ganz neuer Art, durch die nicht im Namen der Sieger über die Verlierer entschieden wird, sondern im Namen der internationalen Gemeinschaft. So ist es, und so soll es auch sein.
Kriegsverbrechen müssen möglichst sofort dokumentiert werden, weil die Spuren im Kriegsgeschehen sehr schnell wieder vernichtet werden
Farida Kurbangalejewa: Michail, bitte erzählen Sie ausführlicher davon, wie Kriegsverbrechen dokumentiert werden. Angenommen, ein Gebiet war von Russland besetzt und wurde dann zurückerobert. Fahren dann Menschenrechtsaktivisten dorthin und sammeln Informationen?
Michail Sawwa: Das erste Mal, dass ich ein Kriegsverbrechen dokumentiert habe, war am 3. März 2022 auf dem Gebiet des besetzten Teils der Oblast Kyjiw. Ich beobachtete aus einem Abstand von etwa 400 Metern, wie sich eine russische Militärkolonne über die Fernstraße von Schytomyr auf Kyjiw zubewegte, angeführt von einem Schützenpanzer. Zwei Zivilautos, normale PKWs, fuhren von Butscha her auf die Fernstraße. Sie mussten sie überqueren, um ins nächste Dorf zu gelangen, von wo aus eine freie, nicht von den Russen besetzte Straße nach Kyjiw führte. Der Schützenpanzer feuerte einfach aus seiner Kanone auf die Autos; mehrere Schüsse aus einer 30-Millimeter-Kanone. Als die Kolonne vorbeigezogen war, konnten wir aus der Nähe fotografieren. In jedem Auto waren drei Menschen umgekommen, nur noch die Beine waren zu sehen, die Körper waren von den Geschossen zerfetzt worden. Wir erkannten, dass in jedem der Autos ein Mann am Steuer gesessen hatte und eine Frau und ein Kind mit im Wagen gewesen waren. Wir fanden die Autokennzeichen und fotografierten sie, und so konnten wir die Identität eines der beiden Fahrer feststellen. Es war ein Freiwilliger aus Kyjiw, der einfach nur Menschen herausholen und retten wollte.
Ein paar Stunden später schob die nächste russische Kolonne die Autos aufs Feld, in den Straßengraben, und walzte sie nieder. Es blieben keine Spuren von dem Verbrechen. Kriegsverbrechen müssen möglichst sofort dokumentiert werden, weil die Spuren im Krieg nicht lange erhalten bleiben; sie werden im Kriegsgeschehen sehr schnell wieder vernichtet. Wenn wir den Vorfall nicht festgehalten hätten, hätte niemand gewusst, wo man diese Leute suchen soll. Es blieb nicht einmal Material für ein genetisches Gutachten.
Auf jeden ukrainischen Ermittler, der sich mit diesen Dingen beschäftigen muss, entfallen einige tausend Fälle von verschwundenen Personen. Die Ermittler kommen bei diesem Ausmaß an menschlichem Leid einfach nicht hinterher
Aber das, wovon Sie gesprochen haben, findet auch statt: Befragungen der Opfer und Zeugen von Verbrechen nach dem Ende der Kampfhandlungen. Diese wichtige Aufgabe muss von zivilgesellschaftlichen Organisationen übernommen werden, weil es dafür nicht genug offizielle Kapazitäten gibt. Auf jeden ukrainischen Ermittler, der sich mit diesen Dingen beschäftigen muss, entfallen einige tausend Fälle von verschwundenen Personen. Die Ermittler kommen bei diesem Ausmaß an menschlichem Leid einfach nicht hinterher. Deshalb werden für den ersten Schritt, die Dokumentation der Verbrechen, Experten aus der Zivilgesellschaft benötigt. Es braucht eine geschützte Datenbank, wie wir sie haben, und die offiziellen Vertreter der Strafverfolgungsbehörden müssen darauf zugreifen können.
Farida Kurbangalejewa: Von wie vielen Kriegsverbrechen lässt sich bis jetzt mit Bestimmtheit sprechen? Dass die tatsächliche Zahl höher liegt als die der dokumentierten Verbrechen, ist klar.
Michail Sawwa: Etwa 140.000.
Farida Kurbangalejewa: Entsetzlich. Um welche Art von Verbrechen handelt es sich im Wesentlichen?
Michail Sawwa: Bei einem Großteil handelt es sich um Angriffe auf zivile Infrastruktur. Im Gebiet um Kyjiw habe ich solche Vorgänge im März 2022 praktisch täglich dokumentiert. Dorfnachbarn haben mich angerufen und gesagt: „Hier bei uns hat es ‚gehagelt‘, halte das bitte fest.“ Bei diesen Fällen ist meist niemand zu Schaden gekommen, es wurden nur Gebäude oder Straßen zerstört. Hier muss womöglich nicht in jedem einzelnen Fall ein Strafverfahren eingeleitet werden, die Opfer werden einfach entschädigt.
Aber es gibt auch sehr viele Morde, bewusste Morde, bei denen die Opfer zuvor gequält wurden wie in Butscha. Ich wohne in der Nähe und habe die Verbrechen dort dokumentiert. Das war gezielter Mord. Und es gibt auch ziemlich viele sexuelle Gewaltverbrechen.
Oft handelt es sich auch um Ökozid, die bewusste Schädigung der Natur. Die Zerstörung des Wasserkraftwerks in Kachowka ist zum Beispiel ein furchtbarer Fall von Ökozid, der für unsere Region ziemlich neu ist. So etwas hat es in Europa lange nicht gegeben. Aber man soll nicht denken, dass es das einzige derartige Verbrechen ist.
Farida Kurbangalejewa: Haben Sie eine Erklärung für die Grausamkeit der russischen Armee? Die Erkenntnis, wozu sie fähig ist, hat weltweit Entsetzen ausgelöst.
Michail Sawwa: Ja. Ich bin eigentlich Experte für Strafverfolgung aus politischen Motiven. Diese Kompetenz hat sich als sehr nützlich erwiesen, weil ich unter anderem Gutachten zu den Gründen dieser Grausamkeit erstellt habe. In Butscha habe ich etwas aufgezeichnet, was wahrscheinlich überrascht. Die Ortsbewohner sagten mir: „Verstehst du, wir haben diese Leute nicht als Feinde gesehen. Sie unterscheiden sich äußerlich nicht von uns. Sie sprechen auch Russisch.“ Das Gebiet um Kyjiw ist weitgehend russischsprachig. Deshalb fühlte man sich dort nicht in Gefahr. Trotzdem haben die Soldaten gemordet. Natürlich mussten wir eine Erklärung dafür finden. Sie sind durch die Z-Ideologie, die Kriegsideologie des „Russki Mir“ auf das bewusste Morden vorbereitet worden.
Die Ukrainer sind dehumanisiert worden, das heißt, sie sind für die Besatzer keine Menschen. Genauso war es übrigens bei den Soldaten der Wehrmacht in Nazideutschland. Erst kam die Dehumanisierung, dann folgten die Morde und anderen Verbrechen. In dem Dörfchen Andrijiwka bei Makariw, ebenfalls in der Kyjiwer Oblast, habe ich Anfang April, nachdem es befreit worden war und von den Häusern auf der Hauptstraße nur noch die Schornsteine standen, noch eine erstaunliche Sache festgehalten. Die russischen Soldaten nahmen den Ortsbewohnern die Autos weg und malten ein großes V darauf. In unserer Region war es kein Z, sondern ein V. Dann fuhren sie die Autos einfach kaputt, setzten sie gegen den Zaun oder versenkten sie im See. Wenn man am Ufer entlangging, war da alle fünf Meter ein versenktes Auto. einfach so. Warum? Sie wollten demonstrieren, dass sie die Oberhand haben. Sie wollten zeigen, was sie können, ihre Überlegenheit beweisen und alles, was ihnen einfiel, war tumbe Gewalt.
Farida Kurbangalejewa: Gibt es bei Kriegsverbrechen mildernde oder erschwerende Umstände?
Ilja Schablinski: Das werden die gleichen sein wie in den nationalen Strafgesetzbüchern. Ein mildernder Umstand wäre, wenn der Angeklagte den Beweis erbringen kann, dass er körperlich oder psychisch gezwungen wurde, das Verbrechen zu begehen und ihm andernfalls der Tod gedroht hätte. Oder wenn er aktiv an der Aufklärung des Verbrechens mitwirkt. Erschwerende Umstände gibt es viele, was lässt sich dazu im Einzelnen sagen? Die Fälle, von denen Michail gerade erzählt hat, Mord an zwei oder mehr Menschen, Mord in Verbindung mit Vergewaltigung und so weiter. Das ist ein sehr weites Feld.
Es ist eine Frage der Zeit, bis die Täter hinter Gitter kommen. Niemand kann sagen, wie lange es dauern wird. Aber es wird passieren
Farida Kurbangalejewa: Wir alle hier wünschen uns einen Prozess gegen Kriegsverbrecher und reden gerade darüber, wie er zustande kommen könnte. Aber wie realistisch ist es Ihrer Einschätzung nach, zu erwarten, dass die betreffenden Personen vor Gericht gestellt werden und dann wirklich eine Haftstrafe verbüßen?
Michail Sawwa: Das ist durchaus realistisch. Es ist eine Frage der Zeit. Ich kann im Moment nicht sagen, wie lange es dauern wird, bis sie hinter Gitter kommen, niemand kann das. Aber es wird passieren. Denn sehr viele Leute in der Ukraine, und nicht nur dort, sind äußerst entschlossen und motiviert, das zu erreichen. Wir sind bereit, viele andere Fragen hintanzustellen und einige ganz zu vergessen. Aber wir werden beharrlich, konsequent und über lange Zeit darauf hinarbeiten, dass diese Verbrecher bestraft werden.
Ilja Schablinski: Putin wird irgendwann sterben. Er achtet peinlich auf seine Gesundheit, auf Reisen begleitet ihn ein ganzer Tross von Ärzten. Er hat große Angst vor Attentaten. Aber ihn erwartet das gleiche Schicksal wie Stalin und die anderen blutigen Diktatoren. Für sehr viele Menschen in Russland ist Putins Ableben die Voraussetzung dafür, offen sagen zu können, was sie über diesen Krieg denken. Der Krieg ist in Verbindung mit dem bösen, niederträchtigen Willen eines einzigen Menschen zu sehen. Putin hat eine Gruppe von Fanatikern um sich geschart, aber die Initiative geht ganz klar von ihm aus. Für Millionen Russen ist das auch ein Wahnsinn. Sehr viele Menschen in Russland würden diese Schmach gerne tilgen, und insofern stimme ich Michail zu. So sieht es im Moment aus.
Farida Kurbangalejewa: Was passiert, wenn Putin stirbt, bevor ein Prozess gegen ihn beginnt – oder Schoigu, Gerassimow oder andere Kriegsverbrecher? Werden sie dann posthum verurteilt?
Ilja Schablinski: Laut Artikel 24 der russischen Strafprozessordnung ist ein Strafverfahren gegen eine Person einzustellen, wenn sie verstirbt. Es gibt allerdings bereits Ausnahmen; einige Personen sind entgegen dieser Bestimmung postum verurteilt worden, zum Beispiel Sergej Magnitski. In diesen Fällen ging es dem Staat darum, jemanden, der ihm die Maske vom Gesicht reißen wollte, für nachweislich schuldig zu erklären. Bei verstorbenen Tyrannen, Mördern und Schlächtern ist die politische und moralische Beurteilung entscheidend. Sie ist wichtig für ihre Anhänger oder die bösartigen, blutrünstigen Fanatiker, die diesen Krieg propagieren und sich an jedem Mord berauschen. Das Urteil über Stalin haben ja schließlich seine Weggefährten gefällt, und ähnlich war es beim philippinischen Diktator Ferdinand Marcos. In einigen Ländern sind Diktatoren, die Kriege entfesselt haben, verhaftet worden, etwa in Argentinien und Griechenland. Wie es bei uns kommen wird, wissen wir noch nicht. Putin versucht ja offensichtlich, eine Armee von Leuten zu schaffen, die diese Gehässigkeit noch auf Jahre hinaus in sich tragen. 700.000 Mann werden von der Front heimkehren. Putin setzt darauf, dass sie ihn verteidigen werden, weil dieser Krieg ihr Lebensinhalt ist. Und doch gibt es Erfahrungen, die besagen, dass Diktatoren, die so etwas tun, nicht ungestraft davonkommen.
Michail Sawwa: Wir dürfen auch nicht vergessen, dass das Putin-Regime anomal ist. Als Gegner dieses Regimes müssen wir uns an die Regeln halten. Einen Toten vor Gericht zu verurteilen wäre auch etwas Anomales. Aber denkbar wäre etwa, dass ein internationaler Gerichtshof die Ideologie des Russki Mir verurteilt. Nicht den Menschen selbst, sondern die Idee, die er in die Welt gesetzt hat.
Farida Kurbangalejewa: Putin hat also eine Chance, der Verurteilung durch einen internationalen Gerichtshof zu entgehen?
Michail Sawwa: Ja, aber nur wenn er vorher stirbt.
Ich fürchte, dass Russland aus dem Schicksal Deutschlands keine Schlüsse für sich selbst gezogen hat. Ein Teil der Menschen in Russland hat einfach gedacht: „Wir haben recht. Das Dritte Reich war böse, aber unser Reich ist gut, unser Imperialismus ist legitim.“ Sie haben Deutschlands Schicksal als Rechtfertigung des eigenen Imperialismus gesehen
Farida Kurbangalejewa: Worum geht es bei einem Prozess gegen Kriegsverbrecher – ob in Den Haag oder vor einem internationalen Sondergerichtshof – in erster Linie? Um die Bestrafung der Kriegsverbrecher als solche? Oder um eine Lehre für künftige Generationen, damit sich so etwas nie mehr wiederholt? Allerdings waren ja beispielsweise die Nürnberger Prozesse auch als Lehre für die Zukunft gedacht, aber offenbar haben nicht alle diese Lektion gelernt.
Michail Sawwa: Bei einem solchen Prozess steht immer die Gerechtigkeit im Vordergrund. Es gibt sehr viele Opfer und Hinterbliebene, die wollen, dass die Kriegsverbrecher ihre gerechte Strafe erhalten. Die Gerechtigkeit für die Opfer ist weit wichtiger als die Bestrafung an sich. Und wie Sie ganz richtig gesagt haben, halten diese Prozesse auch Lehren für die Zukunft bereit. Die Nürnberger Prozesse – und ich würde hier auch an die Tokioter Prozesse gegen japanische Kriegsverbrecher erinnern – hatten ungeheuer große Bedeutung. Meiner Einschätzung nach hat sich Japan ein für alle Mal ausgetobt. Genau wie Deutschland. Andere Länder, wo die Vorfahren nicht auf der Anklagebank saßen, haben die Erkenntnisse nicht beherzigt. Aber für sie sind neue Prozesse in Vorbereitung.
Ilja Schablinski: Die Ideologie muss verurteilt werden. Bei den Nürnberger Prozessen sind bestimmte Aspekte der NS-Ideologie für unrechtmäßig erklärt worden. Heute muss die Ideologie des imperialen russischen Nationalismus verurteilt werden, der lange Zeit, noch vor zehn Jahren, ganz harmlos wirkte. Jetzt hat er sich als blutrünstiges Monster erwiesen. Das muss festgestellt werden. Ich fürchte überhaupt, dass Russland aus dem Schicksal Deutschlands keine Schlüsse für sich selbst gezogen hat. Ein Teil der Menschen in Russland hat einfach gedacht: „Wir haben recht. Das Dritte Reich war böse, aber unser Reich ist gut, unser Imperialismus ist legitim.“ Sie haben Deutschlands Schicksal als Rechtfertigung des eigenen Imperialismus gesehen. Seit dem Amtsantritt des jetzigen Diktators Putin hat der Staat sie dabei unterstützt und ihnen – vor allem in den letzten 15 Jahren – gezielt eingeredet, der russische Imperialismus sei eine Art höhere Existenzform des russischen Staates. Das ist übelster Nationalismus, Hass und Hochmut gegenüber den Nachbarn Russlands. Mit Hochmut und Verachtung fing es an, und während des Krieges kam dann der Hass. Diesem Imperialismus muss ein für alle Mal ein Ende bereitet werden. Um welchen Preis, kann ich nicht sagen. Das Gericht muss dabei seine Aufgabe erfüllen.
Was als traditioneller Krieg begann, ähnelt zunehmend Szenen aus einem Science-Fiction-Film. Einige Übereifrige reden bereits vom vollständigen Verschwinden traditioneller Waffengattungen und dem Ersatz von Soldaten und Panzern durch Roboter. Doch in Wirklichkeit ist dies noch weit entfernt. Das ukrainische Portal Texty.org.ua bilanziert, was sich seit dem Februar 2022 militärisch und technisch verändert hat.
Die Hauptwaffe zur Bekämpfung des Gegners im taktischen Raum bleibt die Artillerie – sowohl großkalibrige Geschütze als auch Raketenartillerie (wie etwa die amerikanischen Raketenwerfer HIMARS oder die russischen Smersh oder Grad, die eine ballistische Flugbahn haben, aber beim Abschuss durch ein Rohr geleitet werden – dek). In letzter Zeit berichten einige Experten, dass der Einsatz von Drohnen immer mehr in den Vordergrund rückt, doch bleibt die Artillerie wie im Ersten und Zweiten Weltkrieg die wichtigste Waffe der Kriegsführung.
Nur das Artilleriekaliber hat sich verändert. Während im Ersten Weltkrieg 3-Zoll-Splittergranaten gegen die Infanterie und Geschosse bis zu 300 mm gegen starke Befestigungsanlagen eingesetzt wurden, verursachten im Zweiten Weltkrieg insbesondere 80-120 mm-Mörsergranaten einen erheblichen Teil der Schäden. Heute sind es 152 und 155 mm-Granaten und schwere Mehrfachraketenwerfer.
Mit der Integration eines Aufklärungszielradars und moderner Lenkmunition hat das Artillerie-Gegenfeuer eine neue Stufe erreicht.
2. Befestigungen
Feldbefestigungen erfordern einen erheblichen Aufwand; und während die Russen es sich leisten können, ganze Einheiten zum Graben einzusetzen, haben die ukrainischen Streitkräfte diese Möglichkeit aufgrund des Personalmangels nicht. Außerdem hat sich herausgestellt, dass sowohl Marinestützpunkte als auch Flugplätze praktisch nicht auf Angriffe vorbereitet sind. Deshalb braucht es eine verstärkte technische Ausstattung der Pioniereinheiten aller Teilstreitkräfte.
3. Minen
Alle Systeme zur Minenverlegung zeigen eine hohe Effektivität. Gleichzeitig wird deutlich, dass es an technischen Lösungen für die Aufklärung und die Überwindung von Minenfeldern fehlt.
4. Drohnen und elektronische Kampfführung
Viele Experten prognostizierten den breiten Einsatz von Luft- und Seedrohnen. Während dies eingetreten ist, bleibt die Drohnenabwehr jedoch systematisch zurück. Dieser Umstand zwingt die Streitkräfte dazu, neue taktische Einsatzpläne für verschiedene Kräfte anzuwenden sowie spezialisierte Systeme der elektronischen Kampfführung und Flugabwehr zur Bekämpfung von schwer zu erfassenden und niedrigfliegenden Drohnen zu entwickeln.
Der massenhafte Einsatz von FPV-Drohnen sowie KI-gelenkter Loitering-Waffen verändert das Bild auf taktischer Ebene des Gefechtsfelds grundlegend. Die Wirksamkeit des Einsatzes von schwer zu erkennenden taktischen Drohnen in niedriger Flughöhe hat sich als viel höher erwiesen als angenommen.
5. Flugabwehr
Eine gestaffelte Flugabwehr aus Boden-Luft-Raketensystemen hat sich als besonders effektiv erwiesen, um den Einsatz der gegnerischen Luftwaffe über und hinter der Frontlinie zu begrenzen. Dies wiederum führte zu einer raschen Anpassung aufseiten der Russen, welche konventionelle Bomben mit speziellen Modulen zu Gleitbomben umrüsteten.
Eigenbeschuss durch Boden-Luft-Raketen mit Zielsuchsensoren stellt bei den ukrainischen Streitkräften ein ernsthaftes Problem dar. Bis zu 30 Prozent der Verluste an Fluggeräten entfallen auf Friendly Fire. Dies erfordert neue Lösungen für Freund-Feind-Erkennungssysteme und die Einleitung der Selbstzerstörung von Raketen im Flug bei Anvisierung eigener Kräfte.
Generell hat der Krieg gezeigt, dass Marschflugkörper und ballistische Raketen das wirksamste Mittel sind, um die gegnerische Flugabwehr zu überwinden und Ziele im rückwärtigen Raum zu bekämpfen. Diese Fähigkeiten reichen jedoch nicht aus, um Waffenfabriken und die Hauptverkehrsstränge vollständig zu zerstören.
Daher ist damit zu rechnen, dass Raketen entweder mit höherer Sprengladung und höherer Geschwindigkeit entwickelt werden oder der Gegner bis zu zehn Raketen gleichzeitig auf ein Ziel abschießt, so wie zum Beispiel bei der Zerstörung des Wärmekraftwerks Trypillja.
Die von der Ukraine eingesetzten Anti-Schiffs-Raketen haben sich als effektiv erwiesen, um die Flugabwehr von Schiffen durch Einzel- und Doppelschläge zu überwinden, was beispielsweise zur Zerstörung des Flaggschiffs der russischen Schwarzmeerflotte, des Kreuzers Moskwa, führte.
Deshalb müssen die russischen Streitkräfte neue Lösungen für den Schutz von Kriegsschiffen und vor allem ihrer Liegeplätze finden, denn Angriffe ukrainischer Seedrohnen haben die russische Flotte bereits gezwungen, nach Noworossisk zu fliehen. Bislang versuchen die Russen Helikopter zur Abwehr einzusetzen, doch das Aufkommen von Seedrohnen mit Flugabwehrraketen wird dieses Problem [aus Sicht der Ukrainer] lösen.
6. Gepanzerte Fahrzeuge
Der Krieg hat gezeigt, wie anfällig gepanzerte Fahrzeuge für Angriffe aus der Luft sind. Mehr als 90 Prozent der Zerstörungen von gepanzerten Fahrzeugen werden heute durch einfache Hohlladungsmunition verursacht, die von Drohnen abgeworfen wird, beziehungsweise von Kamikaze-Dohnen, die sich auf die Fahrzeuge stürzen.
Daher benötigen alle Kampf- und Schützenpanzer sowie gepanzerten Mannschaftstransportwagen Anpassungen, um das Schutzniveau der Panzerung auf der Oberseite zu erhöhen, sowie Ausrüstung mit Systemen der elektronischen Kampfführung zum Schutz vor Drohnen.
7. Drohnen-Luftkämpfe
Er häufen sich Fälle, in denen russische Drohnen von ukrainischen Kampfdrohnen abgefangen werden. Das erinnert an den Ersten Weltkrieg, als die Hauptaufgabe von Jagdflugzeugen darin bestand, feindliche Aufklärungsflugzeuge zu vernichten. In naher Zukunft ist mit echten Luftkämpfen zwischen Drohnen zu rechnen.
8. Sturmangriffe auf Städte
Während der Angriffe auf Städte bleibt die im Ersten und Zweiten Weltkrieg entwickelte Praxis der Sturmbataillone relevant. Nur die Taktik ändert sich: Eindringen und Konzentrierung von Personal an den Angriffslinien oder Angriffe mit hochmobilen Trupps. Solche Gruppen zu bekämpfen ist schwierig, doch können die ukrainischen Streitkräfte Erfolge verzeichnen.
9. Leichte Fahrzeuge
Es besteht dringender Bedarf an der Entwicklung und Bereitstellung von leichten Fahrzeugen wie Quads oder Elektromotorrädern zur Unterstützung von Aufklärungseinheiten und Truppen im rückwärtigen Raum. Auch bestehen weiter systemische Probleme bei der Evakuierung von Verwundeten vom Gefechtsfeld durch spezialisierte Einheiten mit entsprechender Ausrüstung. Zwar gibt es Einsätze von Bodendrohnen, doch sind diese sehr selten.
10. Satelliten
Die Mittel zur Beschaffung von Aufklärungsinformationen haben sich stark verändert. So setzen die ukrainischen Streitkräfte äußerst effektiv verschiedene Elemente der Weltraumaufklärung und Satellitenkommunikation ein. Um dem etwas entgegenzusetzen, müssen die Russen ihrerseits Satellitenkommunikationskanäle stören und mehr eigene Satelliten ins All bringen, womit sie sich allerdings schwertun. Die ukrainischen Streitkräfte erhalten über ihre Verbündeten Informationen in Echtzeit, was ihnen erlaubt, kurzfristig auf Veränderungen der Lage zu reagieren und den Besatzern das Leben deutlich zu erschweren.
Der Omsker Unternehmer Viktor Schkurenko ist einer der reichsten Menschen in Sibirien. Als jemand, der sich offen gegen den Krieg ausspricht, lebt und arbeitet er nach wie vor in Russland. Einige glauben, dass der FSB ihn schützt, andere – seine Steuermilliarden. Sogar Wladimir Solowjow hat bereits gefordert, Schkurenko hinter Gitter zu bringen, aber der Geschäftsmann selbst glaubt an die Gesetze und ist der Meinung, dass er für seine Ansichten nicht belangt werden kann. Jewa Belizkaja und Olessja Gerassimenko erzählen für Holod die Geschichte eines Milliardärs aus Omsk, der vom NATO-Beitritt Russlands träumt.
Im August 2022 klopfte ein Polizist an die Tür des Omsker Milliardärs Viktor Schkurenko. Der Grund für seinen Besuch war eine anonyme Anzeige – jemandem passte nicht, dass Schkurenko Iwan Urgant zu einer Betriebsfeier eingeladen hatte. Der TV-Moderator hatte sich gleich am ersten Tag der „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine offen gegen die russische Invasion ausgesprochen. Er postete ein schwarzes Quadrat mit der Bildunterschrift „Angst und Schmerz“ in den sozialen Netzwerken. Daraufhin setzte der Erste Kanal seine Show Wetscherny Urgant ab.
„Sie wollten mir ein Strafverfahren anhängen“, erzählt Schkurenko, ohne konkret zu sagen, wen er mit „sie“ meint. „Aber die Polizei konnte keinen Tatbestand finden.“ Der Omsker Unternehmer erklärte kurz die Sachlage, woraufhin der Polizist mit den Worten „So ein Blödsinn“ wieder abgezogen sei.
Schkurenko hatte keine Angst vor dem Beamten. Es war nicht das erste Mal, dass er mit den Behörden zu tun hatte. 1997 saß er sogar einmal auf der Anklagebank, wegen Steuerhinterziehung. Bei der Urteilsverkündung 2000 ermahnte der Richter, der Schkurenkos Großvater hätte sein können, den damals 28-Jährigen mit erhobenem Zeigefinger, so etwas bloß nicht noch einmal zu tun, und verurteilte ihn zu einer einjährigen Bewährungsstrafe. Seitdem seien die Gesetze der Russischen Föderation und das Strafgesetzbuch seine „Bibel“, sagt der Geschäftsmann.
Im April 2024 feierte der Milliardär seinen 52-jährigen Geburtstag. In den vergangenen zehn Jahren ist er regelmäßig unter den Top-10 der reichsten Einwohner von Omsk. Seine diversen Firmen erwirtschaften einen Umsatz von insgesamt 70 Milliarden Rubel [etwa 675 Millionen Euro – dek], die Hälfte davon außerhalb der Region Omsk. „Meine Persönlichkeit besteht zu 90 Prozent aus dem Geld, das ich verdiene“, sagt Schkurenko von sich selbst, „meine politische Einstellung ist nichts weiter als ein Hobby.“
Das „Hobby“ gefällt nicht jedem: Schkurenko sorgt regelmäßig für Gesprächsstoff – auch außerhalb seiner Geschäftstätigkeit. Mal lädt er Drag Queens zu Betriebsfeiern ein, mal unterstützt er öffentlich Iwan Urgant, mal bringt er den Soziologen Grigori Judin nach Omsk oder den Regisseur Andrej Smirnow, um dessen jüngsten Film Sa nas s wami (dt. Auf uns und euch) einem breiten Publikum zu präsentieren. Der Streifen, der die stalinistischen Repressionen thematisiert, schaffte es nicht in die russischen Kinos.
In den 30 Jahren seiner Karriere hat Schkurenko nach eigenen Angaben 280 Geschäfte in Russland und Kasachstan eröffnet, von Hypermärkten bis zu Discountern (u. a. Niskozen, Pobeda, Eurospar). Der Unternehmer besitzt rund 200.000 Quadratmeter an Immobilien, die er verpachtet. Er kauft, übernimmt und investiert aktiv. Er treibt Sport in seinem eigenen Fitnesscenter, kauft Lebensmittel in seinen eigenen Supermärkten, trinkt seinen Kaffee in den Skuratow-Cafés, in die er rund 26 Millionen Rubel investierte, und nach seinem Ableben kann er auf die Dienste eines Krematoriums zählen, das er selbst erbaut hat.
Im Januar 2024 eröffnete Schkurenko eine Filiale seiner Handelskette in Moskau und erwarb eine Lizenz für die Einfuhr von Alkohol. Er plant, zum wichtigsten Importeur in ganz Russland zu werden. Er beschäftigt rund 7.000 Arbeitnehmer und zahlt über eine Milliarde Rubel Steuern in den Haushalt der Region Omsk. In dem Ausdruck „zu mutig“, mit dem die Gesprächspartner von Holod Schkurenko gerne beschreiben, schwingen unterschiedliche Emotionen mit: mal Verachtung, mal Bewunderung.
„Was hat das denn mit Mut zu tun? Was sage oder tue ich schon groß?“, ereifert sich Schkurenko ist im Gespräch mit Holod. „Umfragen zufolge unterstützen 20 Prozent der Bevölkerung die Spezialoperation nicht. Ich bin eben einer davon. Na und? Das ist meine Meinung, ja! Ich verstoße nicht gegen das Gesetz. Ich halte keine Versammlungen oder Kundgebungen ab. Ich finanziere niemanden, der verboten ist. Ich arbeite kaum mit dem Staat zusammen. Ich bin ein vorsichtiger Mensch, aber ich habe ein soziales Gewissen, das es mir nicht erlaubt, die Füße still zu halten.“
„Wie sollte man das nicht unterstützen?“
Bis 2003 war Schkurenko vollkommen loyal gegenüber der Staatsmacht. Als Schüler hatte er Gorbatschow verehrt, als Student unterstütze er Jelzin, und als Unternehmer den frühen Putin, dem er 2000 seine Stimme gab: „Es war doch der reinste amerikanische Traum, besser konnte man es sich nicht ausmalen. Das Bruttosozialprodukt verdoppeln? Wunderbar, was will man mehr? Wie konnte man Putin nicht lieben für diese Idee?“
Die Verhaftung von Michail Chodorkowski 2003 verursachte die ersten Erschütterungen in Schkurenkos Ansichten. Seine Einstellung zum herrschenden Regime veränderte sich nicht über Nacht, aber damals wurde ihm bewusst, dass „etwas falsch lief“. Doch die ungute Vorahnung wurde von den nächsten Wahlen zerstreut.
2008 stimmte Schkurenko für Dimitri Medwedew, den er an allen Fronten unterstütze: „Die vier Jahre Medwedew waren eine glückliche Zeit in meinem Leben. Seine Beziehungen zu Obama, was er mit der Wirtschaft gemacht hat – das war ein Wunder! Wie er die Unternehmer vor den Silowiki verteidigte! ‚Freiheit ist besser als Unfreiheit‘ – wie sollte man das nicht unterstützen?“
Vor lauter Begeisterung für Medwedew richtete Schkurenko sich sogar einen Instagram-Account ein. 2012 hatte er in einer Kolumne von Andrej Kolessnikow im Kommersant gelesen, dass der russische Präsident sich als einer der ersten bei dem „bourgeoisen Netzwerk“ angemeldet hätte. „Sein Gespür für die neusten digitalen Technologien war einwandfrei, ich vertraute ihm ganz aufrichtig“, sagt Schkurenko. Er lud sofort die App herunter, lief aus dem Hinterzimmer seines Supermarkts, knipste die Verkaufsregale und postete spontan sein erstes Foto.
Nach dem Beginn der vollumfänglichen Invasion in der Ukraine wechselte Dimitri Medwedew, nun stellvertretender Vorsitzender des russischen Sicherheitsrates, zu militaristischer Rhetorik und wurde zu einem der wichtigsten Wortführer der „Kriegspartei“. „Der einstige Bewunderer von Steve Jobs hat sich in einen Anti-NATO-Fabulisten verwandelt. Er hat seine Wahl getroffen. Aber meine Ansichten waren schon immer liberal und sind es geblieben“, sagt Schkurenko.
Seine Meinung gegenüber Medwedew hat der Milliardär geändert, aber Instagram blieb er treu. Es ist bis heute das einzige soziale Netzwerk, das Schkurenko nutzt. Jetzt, 12 Jahre später, hat er rund 7.400 Follower. Genauso vielen Menschen gibt er heute Arbeit.
Kein Aktivist
Als 2011 verkündet wurde, dass Medwedew den Präsidentenposten räumt und Putin wieder das Ruder übernimmt, war Schkurenko endgültig desillusioniert: „Mir ging es schlecht, ich war dagegen.“ Es ärgerte ihn, dass die Staatsmacht gegen das Gesetz verstoßen hatte.
Putin wählte der Milliardär nie wieder. 2012 gab er seine Stimme Michail Prochorow, 2018 Xenia Sobtschak. Er wurde sogar ihr Vertrauensmann für die Oblast Omsk. Denjenigen, die ihm Kurzsichtigkeit vorwarfen, erklärte er, dass Sobtschak, Prochorow und Nawalny für ihn ein und dasselbe wären: Leute, die öffentlich für liberale Werte eintraten, und es wäre ihm egal, ob sie Politiker, Clowns oder Protegés des Kreml seien. Putin betrachtete er als jemanden, der sich schon zu lange an seinen Sessel klammerte. „Also habe ich gegen ihn gestimmt“, sagt Schkurenko. 2024 setzte er sein Häkchen hinter Wladislaw Dawankow.
Schkurenko sagt, er sei wütend gewesen, als die Krim an Russland angegliedert wurde; die Wirtschaft stagnierte, die Realeinkommen begannen zu sinken. Er war traurig, als Boris Nemzow ermordet wurde. Er war glücklich, als Chodorkowski freikam und Swetlana Alexijewitsch den Nobelpreis für Literatur erhielt. 2020 war er so empört darüber, dass Medwedew samt der ganzen Regierung zurücktrat, dass er 15.000 Rubel [zum damaligen Kurs etwa 170 Euro – dek] an den TV-Sender Dozhd spendete, der darüber berichtete. Dann hörte er, dass Michail Mischustin zum neuen Premierminister ernannt wurde, und beruhigte sich wieder. Er bereute sogar, dass er so impulsiv mit seinem Geld um sich geworfen hatte.
Als Alexej Nawalny mit Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, checkte Schkurenko auf einer Geschäftsreise nach Tomsk im Hotel Xander ein, in dem auch Nawalny im August 2020 übernachtet hatte. Schkurenko verfolgte das Schicksal Nawalnys, machte sich Sorgen um ihn und „wollte, dass er am Leben bleibt“. Und obwohl der gebürtige Omsker der Meinung war, dass ein politisches Programm nicht auf dem Kampf gegen Korruption gründen könne und eine Führungspersönlichkeit innerhalb der Nomenklatura heranwachsen sollte – wie im Falll von Gorbatschow –, bewunderte er Nawalny für seinen Mut und sein entschlossenes Handeln: „Als Politiker hat er das Richtige getan, als er nach Russland zurückkehrte. Das war mutig, ehrlich, einfach gut!“
Als Nawalny nach seiner Genesung im Januar 2021 erneut verhaftet wurde, verfolgte der Unternehmer die vierstündige Live-Sendung auf Dozhd. Mehr allerdings auch nicht.
„Ich bin kein Aktivist, kein Politiker. Ich kann keine Revolution machen. Und ich glaube auch nicht, dass irgendjemand anders sie machen kann. Ich bin nicht für eine Revolution unter Nawalny, sondern für bürgerliche Freiheit, für eine sanfte Revolution! Für einen Machtwechsel, für die Bildung, für liberale Werte.“
Der Unternehmer ist noch nie mit einem Plakat auf die Straße gegangen oder hat an Kundgebungen teilgenommen. Die einzige Massenveranstaltung, an der er in den letzten Jahren teilgenommen hat, war Gorbatschows Beerdigung. Weil er den Tod des ersten Präsidenten der UdSSR als eine „persönliche Tragödie“ empfunden habe, sei er extra nach Moskau geflogen.
Er habe nicht die Macht, die Situation im Land zu verändern, sagt Schkurenko. „Für mich geht nichts über die Marktwirtschaft und die westlichen Demokratien. Aber wie soll ich darauf Einfluss nehmen?“, räsoniert er. „Wenn mein Land diese Richtung einschlägt, freue ich mich. Wenn es seinen eigenen, besonderen Weg sucht, bin ich unglücklich. Als Unternehmer kann ich mein eigenes Glück schmieden, aber da sind noch 140 Millionen andere Menschen im Spiel. In dieser Hinsicht hege ich keine Illusionen. Es hat keinen Sinn, sich vor die Schießscharte zu werfen. Ich werde wütend sein, unglücklich, aber ich will keine Revolution machen, sondern Geld!“
Geld macht Schkurenko seit Beginn der 1990er Jahre. Im ersten Jahr seines Studiums an der Wirtschaftsfakultät der Staatlichen Universität Omsk lernte der spätere Unternehmer seinen zukünftigen Geschäftspartner kennen – seinen Kommilitonen und Tischnachbarn Dimitri Schadrin. Sie stellten bald fest, dass sie beide auf The Doors und auf Genesis standen. Schkurenko lud Schadrin zu sich nach Hause ein, um bei Kaffee und Cognac Peter Gabriel zu hören.
In den nächsten fünf Jahren paukten sie zusammen für Prüfungen, trieben Sport, gingen mit Mädchen aus und spielten im Studententheater. Dann unternahmen sie gemeinsam ihre ersten geschäftlichen Schritte: 1992 reisten sie zum ersten Mal nach Moskau, deckten sich mit Champagner, Jeans, Zigaretten und Schnaps ein, füllten ein ganzes Zugabteil mit den Kisten und fuhren zurück, um alles zu verkaufen.
Innerhalb von drei Jahren schossen die Umsätze so in die Höhe, dass sie dazu übergingen, Schreibmaschinen und Damenstrumpfhosen mit Lastwagen und Militärflugzeugen zu transportieren: „Du gehst zum [Flughafen – dek] Schukowski, wartest auf einen Militärflug von Moskau nach Omsk, verhandelst mit den Piloten und fliegst los. So machte man das damals“, sagt Schkurenko.
Der Wendepunkt war das Jahr 1996, als nach der Privatisierung die Banken begannen, die Aktien von ehemaligen Staatsunternehmen und deren Mitarbeitern aufzukaufen. Nicht jeder wollte seine Zeit damit verschwenden, zur Bank zur laufen. Also fingen Schkurenko und Schadrin die Aktieninhaber vor den Werkstoren ab und tauschten die Wertpapiere gegen Bargeld. Auf diese Weise verdienten sie ihre ersten Dollar-Millionen. Nachdem sie ein solides Kapital zusammen hatten, konzentrierten sich die Partner auf Lebensmittel, gründeten eine Firma und eröffneten die erste Lebensmittelkette in Omsk. 2003 wurde das Unternehmen unter dem Namen Schkurenko Handelsgesellschaft registriert.
Seinen Erfolg misst Viktor Schkurenko am Umsatz seines Unternehmens. „Für mich ist das Geschäft wichtiger als die Familie“, sagt er. „Familie und Religion sind für normale Menschen, die keinen ausgeprägten Ehrgeiz haben. Meine Religion ist der Kapitalismus. Wachstum als Ausdruck des Erfolgs – bis ins Unendliche! Darin sehe ich den Sinn meines Lebens: nicht stehen zu bleiben. Wenn ich manchmal schlaflose Nächte habe, dann ist es wegen der Geschäfte.“
Einmal verkrachten sich die jungen Geschäftspartner: Schadrin lernte ein Mädchen kennen, nahm Geld aus der Gemeinschaftskasse und kaufte damit eine Einzimmerwohnung. Es war ein Einzelfall, aber prägend – Schkurenko empfand das als Hochverrat. „Wir hatten Erfolg, weil wir uns nach diesem Vorfall gegenseitig in den persönlichen Ausgaben bremsten“, sagt er.
Schkurenkos persönliche Ausgaben liegen laut eigener Aussage bei etwa 100.000 Rubel [ca. 950 Euro – dek] im Monat. Wenn seine Familie nicht wäre, für die er etwa eine weitere Million [9.500 Euro – dek] ausgibt, würde er noch asketischer leben, sagt er.
Alle sechs Jahre tauscht er seinen Porsche Cayenne gegen einen neuen aus. An den Wochenenden mietet er eine Hütte im Wald und fährt alleine Langlaufski. In der Stadt bewohnt er eine 250-Quadratmeter-Wohnung, die noch nicht abbezahlt und ohne großen Luxus eingerichtet ist. Auf dem Sofa mummelt sich der Millionär in eine Ikea-Decke und liest Sorokin, Pelewin oder Flaubert.
Das einzige, wofür er abgesehen vom Geschäft bereit ist, Millionen auszugeben, ist das Reisen. Seine Frau erinnert sich gerne daran, wie sie 2018 in der Karibik am Strand neben Penelope Cruz und Javier Bardem gelegen haben. Ein Jahr später machte die Familie Urlaub auf den Seychellen – auf der teuersten Privatinsel der Welt, North Island. Die Insel bietet Platz für maximal 22 Besucher. Auf Booking.com liegen die Preise für eine Übernachtung in einer Villa auf North Island zwischen acht- und zehntausend Euro.
Drei Tage vor dem Einmarsch in die Ukraine, am 21. Februar 2022, postete Schkurenko ein Foto von einer Ziegelsteinmauer mit einer Antikriegslosung auf Instagram.
Zwei Jahre später kann man in Russland für solche Posts und Kommentare in den sozialen Medien eine Haftstrafe bekommen: bis zu 15 Jahre Straflager. Wie zum Beispiel der Renter Michail Simonow, der für seine Posts auf VKontake sieben Jahre wegen „Diskreditierung der Armee“ hinter Gitter sitzt. Doch Schkurenko glaubt weiterhin an das Gesetz und hat nicht vor, etwas zu löschen: „Das ist weder eine Diskreditierung der Armee noch eine öffentliche Antikriegsaktion. Das war noch vor Beginn der Spezialoperation. Ich habe gegen kein Gesetz verstoßen. Sie müssen die Gesetze genau lesen! Sie werden nichts finden!“
Als der Krieg ausbrach, war Schkurenko besorgt, aber er war gleichzeitig sicher, dass sein Business das überstehen würde. Und er sollte recht behalten. Nach dem Februar 2022 hat sich für ihn nichts verändert, nur „dass das Geld jetzt zwei Tage unterwegs ist anstatt fünf Minuten“. Auch seine persönliche Haltung ist gleich geblieben: „Ich bin Humanist. Ich halte das für einen Fehler, damals wie heute. Sowohl wirtschaftlich als auch menschlich. Das Wichtigste für ein Land ist das menschliche Kapital, nicht Territorium. Man hätte die Spezialoperation nie beginnen dürfen. Am 24. Februar 2022 hat unser Land meiner Meinung nach einen Fehler begangen!“
Nicht alle seine Mitarbeiter teilen seinen Standpunkt. „Es gibt Leute, die das ganz anders sehen“, sagt der Unternehmer. „Mein Filialleiter hat sich zum Beispiel ein Z auf sein Auto geklebt. Er hat mich mit diesem Auto herumgefahren, beim Abendessen haben wir gestritten … Ich diskutiere auch jetzt noch manchmal mit dem einen oder anderen in der Kantine. Aber ich würde niemals auf die Idee kommen, deswegen jemandem zu kündigen oder sein Gehalt zu kürzen.“
Mit seinem Geschäftspartner Dimitri Schadrin spricht er seit fünf Jahren nicht mehr über Politik. Auch der habe eine „andere Meinung zur Spezialoperation“. Schadrin, ehemaliger Abgeordneter im Stadtparlament von Omsk und in der gesetzgebenden Versammlung der Partei Einiges Russland, leitet heute die Vereinigung der unabhängigen Handelsketten in Russland (Sojus nesawissimych setej) und unterstützt das Vorgehen der Machthaber.
„Ob er mein Freund ist? Ich bin 52 Jahre alt, ich brauche keine Freunde!“, erklärt Schkurenko. „Er ist mein guter Bekannter und Geschäftspartner. Manchmal feiern wir unsere Geburtstage zusammen.“
Schadrin selbst wollte sich nicht äußern und hat gebeten, nichts über ihn zu schreiben.
„Ich habe eine negative Einstellung zum Staat, aber ich lebe damit, dass meine Steuern in die Verteidigung fließen, denn in erster Linie bin ich Unternehmer“, sagt Schkurenko. „Das ist meine Selbstverwirklichung. Das ist mein erstes, zweites und zehntes Ich. Ich habe nicht vor, irgendwo hinzugehen, ich arbeite hier, ich lebe hier, ich liebe dieses Land. Wenn ich aufhören würde, Steuern zu zahlen, wäre ich kein Unternehmer mehr. Das wäre, als würde ich aufhören zu atmen.“
Durch Staatsaufträge erwirtschaftet Schkurenko Hunderte von Millionen von Rubel, aber insgesamt machen sie kaum mehr als ein Prozent seines Gesamtumsatzes aus. Einem der Geschäftsführer der Handelskette zufolge sind das kleine Aufträge: Sie versorgen regionale und kommunale Krankenhäuser mit Butter, Milch und Quark. 2021 stattete Schkurenkos Firma die für 1.650 Personen ausgelegte Kantine des neuen Universitätsgebäudes mit Backöfen, Kühlschränken und Arbeitsplatten aus, erzählt uns Alexander Kostjukow, Jurist und Vizerektor für Bauwesen an der Staatlichen Universität Omsk.
„Wir sind in der Lebensmittelbranche tätig“, erklärt Schkurenko. „Der Staat schreibt die Aufträge aus, meine Mitarbeiter bewerben sich. Ich habe keinen Einfluss auf die Entscheidungen. Sie können Waren an den Staat verkaufen oder nicht, ich sage bei den Besprechungen nicht: ‚Macht keine Geschäfte mit dem Staat‘. Wenn man mir diese Aufträge plötzlich entzieht, habe ich kein Problem damit. Ich habe nicht vor, ihre Zahl zu erhöhen und mich in diese Richtung zu entwickeln.“
Für Schkurenko steht, wie er selbst sagt, sein Unternehmen stets an oberster Stelle. Den Teamgeist seiner Mitarbeiter zu stärken, zahlt sich ebenfalls aus. Auf die weithin bekannten Betriebsfeiern seines Handelsunternehmens, die Schkurenko seit über 20 Jahren organisiert, will er auch angesichts der „Militärischen Spezialoperation“ nicht verzichten. In der Oblast Omsk nennt man sie „jährliche Orgien“, „verrückte Teekränzchen“, „Feste der absoluten Freiheit und Toleranz“. Tausende Mitarbeiter aus acht Regionen, in denen der Omsker aktiv ist, feiern mit, und das Budget für die Party beträgt 20 Millionen Rubel (etwa 186.000 Euro – dek). 2023 kamen die Feiern zum Tag der Stadt Omsk mit einer kleineren Summe aus: 18 Millionen Rubel.
Für Schkurenko kommt es gar nicht in Frage, dieses Geld an Arme, Flüchtlinge oder politische Häftlinge zu verteilen: „Wohltätigkeit ist für mich Totschka rosta (dt. Wachstumspunkt), ein Wettbewerb für Dorfschulkinder, die Unternehmer werden wollen. Den finanziere ich. Aber ein Obdachloser wird nie 100 Rubel von mir bekommen!“
Schkurenko behauptet, noch nie auf der Straße Almosen gegeben zu haben. Bekannte von ihm erzählen allerdings, er habe anderer Leute Geldstrafen wegen Demonstrationen oder Äußerungen gegen den Krieg beglichen und an ein Hilfsprojekt für politische Gefangene gespendet. Sie räumen aber auch ein, dass das alles Peanuts für ihn sind. Schkurenko weicht diesem Thema aus.
„Ich helfe nur den Starken! Denen, die jung und begabt sind. Den Schwachen gebe ich nichts. Wieso sollte ich, wem bin ich das schuldig?! Ich zahle ja Steuern. Alles andere ist Aufgabe des Staates! Ich verdiene seit vielen Jahren jede Kopeke aus eigener Arbeit, und ich werde dem Staat die sozialen Probleme nicht aus der Hand nehmen. Ich hasse Paternalismus! Und für meine Mitarbeiter veranstalte ich tolle Partys.“
Kritische Stimmen, die anonym bleiben wollen, wissen wiederum nichts von seinem Engagement für politische Gefangene, erwähnen aber, dass er Abgeordnete und Beamte protegiert. 2017 etwa zahlte er die Konkursschulden von Alexej Sajapin, einem Abgeordneten der Partei Einiges Russland im Stadtrat von Omsk. Und 2019 klagte er die Schulden von Wjatscheslaw Tarassow ein, der damals Verwaltungsleiter des Bezirks Tewris in der Oblast Omsk war.
Schkurenko sagt hingegen, er habe nie Omsker Beamte gesponsert, sondern nur Unternehmern unter die Arme gegriffen, die er persönlich kannte. Das macht er auch jetzt noch. „Es gibt viele, denen ich was leihe, ja“, sagt er. „[Dem Unternehmer Viktor] Skuratow hab ich 500 Millionen geliehen (etwa 4,6 Millionen Euro – dek), das wissen alle. Na und? Der zahlt mir irre Zinsen.“ Er erkläutert: ‚Irre’ ist immer mehr als das Deposit. Vor ein paar Jahren hat er zum Beispiel einen Kredit mit 18 Prozent Jahreszinsen vergeben.
„Wenn mich jetzt ein Gouverneur um einen Kredit für einen guten Zinssatz bitten würde, ich würde nicht nein sagen“, sagt Schkurenko, fügt aber hinzu, dass keine Beamten an ihn herantreten, sondern Geschäftsleute. „Tarassow hab ich Geld geliehen, weil er eine Molkerei besitzt. Nicht viel, drei Millionen Rubel (etwa 27.800 Euro – dek), außerdem ihm persönlich und nicht seiner Firma. Auf die Firma wollte er keinen Kredit aufnehmen. Anfangs zahlte er mir Zinsen, dann hörte er auf. Fünf Jahre hat er das Geld nicht zurückgezahlt. Als er Verwaltungsleiter wurde und wir immer noch nicht quitt waren, hab ich ihn verklagt. Hab sogar verloren, wenn ich mich recht erinnere, weil es verjährt war. Das Geld hab ich also nicht mehr gesehen. Dafür sitzt er jetzt im Gefängnis.“ (Der Politiker wurde im März 2022 wegen schweren Betrugs zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt – dek).
Schkurenko sagt, für ihn sei auch Sajapin nur ein Unternehmer, mehr nicht. „Er ist kein Staatsbediensteter, er war Abgeordneter im Stadtrat, das ist er jetzt nicht mehr. Er ist absolut kein einflussreicher Mann, er hatte eine Firma, die mit Computertechnik handelt. Und dann war er bankrott, ja. Ich hab ihm tatsächlich geholfen, habe seinen Kredit abgelöst, er hat ihn dann von mir zurückgekauft. Warum ich das gemacht habe? Er hat sich an mich gewandt und um Hilfe gebeten. Ich kenne ihn gut, wir haben schon zusammen Wanderungen gemacht und Wodka getrunken. Wieso sollte ich ihm nicht helfen?“
„Wieso ist dieses Arschloch noch nicht im Knast?“
Bei den jährlichen Betriebsfeiern, wo auch schon mal eine Drag-Show, Ritterspiele und Crash-Tests mit Bürotechnik auf dem Programm standen, ist Schkurenko auch persönlich mit von der Partie. Er verbringt die Nacht mit seinen Angestellten, verweigert niemandem ein Selfie oder einen Trinkspruch. Mal kommt er, in einen schwarzen Umhang gehüllt, auf einem Rappen geritten, mal in einem rostigen, mit Graffiti vollgesprühten Shiguli angefahren. 2022 ließ er sich von vier Bodybuildern mit nackten, goldbemalten Oberkörpern auf einem Thron hereintragen. Auf der Bühne erwartete ihn bereits Iwan Urgant.
Eine Woche nach dieser Veranstaltung zog der Talkmaster Wladimir Solowjow gegen den Omsker vom Leder. Er nannte Urgant eine „Kackwurst im Eisloch“ und Schkurenko eine „Schande für Omsk und ganz Russland“. Einen Monat später kam Solowjow noch mal auf den Geschäftsmann zurück und zog ihn fünf Minuten lang live auf Sendung als „regionalen Schweinehund und Kotzbrocken“ durch den Dreck. „Noch dazu schnappt er sich den Namen Pobeda (dt. Sieg)“, sagte Solowjow, bezugnehmend auf eine von Schkurenkos Handelsketten. „Steht er schon vor Gericht? Ist seine Firma schon bankrott? Alle 2.500 Deppen (damit sind die Gäste der Betriebsfeier gemeint – Anm. Holod) wandern schnurstracks an die Front, wenn sie auch seiner Meinung sind. Wieso ist dieses Arschloch noch nicht im Knast?“
Für die Unterstützung von Urgant wurde Schkurenko auch vom Regisseur Nikita Michalkow angegriffen. Und der Vorsitzende der Moskauer Abteilung des Verbraucherschutzvereins, Jewgeni Tschirwin, wetterte: „Ein Verräter unterstützt einen Verräter und ist auch noch stolz darauf, das ist unverzeihlich!“ Russlands Urteil über Schkurenko sei gefallen. Tschirwin rief die sibirische Bevölkerung zum Boykott seiner Läden auf, Schkurenko solle von ihnen keinen Rubel mehr kriegen.
Eine anonyme Anzeige, ein Besuch von der Polizei und 5.000 Rubel Strafe (etwa 46 Euro – dek) wegen Ruhestörung standen am Ende dieser Geschichte. Der Boykott kam nicht zustande. Der Gesamterlös der Holding wuchs innerhalb eines Jahres in Rubel um zehn Prozent, auch der Einzelhandel erzielte ein Plus, und der Gewinn der Café-Kette Skuratov Coffee, in die Schkurenko investiert, ist um 50 Prozent gestiegen.
„Ich habe kein Gesetz übertreten, und wenn ich jemandem auf den Schlips getreten bin, dann ist das nicht mein Problem“, kommentiert Schkurenko die Kritik. „Ich bin gegen Wolodin und alle Gesetze, die sie da der Reihe nach beschlossen haben, aber formell hab ich kein Gesetz gebrochen, insofern sind meine Handlungen nichts Außergewöhnliches. Ich will weder Gouverneur werden noch Bürgermeister oder Abgeordneter. Von mir geht keinerlei Bedrohung aus. Ich trete mit niemandem in Konkurrenz. Gut, vor 20 Jahren hab ich mal meine Steuern nicht gezahlt, aber jetzt zahle ich alles. Sogar in Russland braucht es einen formellen Grund für ein Strafverfahren. Und eine Geldstrafe kann ich ja berappen, wenn nötig.“
Seine Unabhängigkeit, sagt eine Auskunftsperson (ein Oberstleutnant des FSB im Ruhestand Anm. Holod), komme Schkurenko bestimmt teuer zu stehen. „In den Anfangsjahren war ein FSB-Oberst Teilhaber an einer seiner Firmen“, sagt er. „Die Jungs [Schkurenko und Schadrin] hatten eine kryscha und keine nennenswerten Probleme. Das ist eine wichtige unternehmerische Kompetenz: der Zeit und den Möglichkeiten entsprechend für die eigene Sicherheit zu sorgen. Das haben alle gemacht. Schkurenko hat hundertprozentig auch heute noch eine kryscha. Da war zuerst der Oberst, dann noch ein zweiter, und jetzt ein Moskauer General.“ In der Wirtschaftsdatenbank Spark konnte Holod keine Hinweise auf einen eventuellen dritten Teilhaber finden.
Schkurenko sagt, seit Jelzins Erlass über die staatliche Strategie zur wirtschaftlichen Sicherheit im Jahr 1996 hätten er und seine Unternehmen „keine kryscha mehr gehabt und auch keine derartigen Angebote erhalten“. „Wir haben keine FSB-Männer und keine Oberste als Teilhaber, hatten wir nie!“, braust er auf. „Aber sollen sie doch glauben, was sie wollen! Na klar, der FSB wird mich beauftragt haben, für Nadeshdin zu unterschreiben und seine Partei zu sponsern. Auch Urgant habe ich unter seiner Fuchtel eingeladen, und Vertrauensmann von Präsidentschaftskandidatin Xenija Sobtschak bin ich auch auf FSB-Befehl geworden …“ Schurenko fängt beinah an zu brüllen.
Quellen aus Unternehmertum, Beamtenschaft und Medien sind sich einig, dass Schkurenkos Sicherheit erstens durch seinen Respekt vor dem Gesetz und zweitens durch seine Steuern gewährleistet ist. „Ich bezweifle, dass er überhaupt so etwas wie eine kryscha hat“, sagt Oleg Malinowski, der Chefredakteur von RBK Omsk, der Schkurenko als einen der wichtigsten Schlagzeilenhelden der Region schon lange kennt. „Das Einzige, was ihn schützt, ist sein kluger Kopf. Er ist einer der stärksten Steuerzahler, der Staat profitiert ziemlich von ihm. ’Seine kryscha ist also der Staat selbst, ob es ihm gefällt oder nicht.“
„Ich mache überall in Russland Geschäfte und hänge nicht von den lokalen Behörden ab. Wenn sie mir hier blöd kommen, gehe ich eben woandershin. Lasse alles liegen und ziehe mit meinem Geld in eine andere Region.“ Das Gerede davon, dass er von irgendwem protegiert werde, bringt Schkurenko in Rage. „Hinter meinem Business steht keiner außer mir!“
Ein Jahr nach dem Skandal mit Urgant bat Schkurenko 2023 seine Mitarbeiter, als Märchenfiguren verkleidet zur Betriebsfeier zu kommen. Er erklärte die Party zur Hommage an die TV-Sendung Proisschestwije w strane Multi-Pulti (dt. Ein Vorfall im Land Multi-Pulti) mit Iwan Urgant, Alexej Serebrjakow und Alexander Gudkow. Sie alle haben sich auf die eine oder andere Weise gegen die „Spezialoperation“ geäußert. Kurz vor Jahresende wurde die Sendung ohne offizielle Begründung aus dem Programm gestrichen.
Schkurenkos Angestellte erzählen, ihr Chef habe während dieser Feier in der Lastschale eines Hebekrans hoch über der Menge geschwebt. Er trug eine orangenfarbene Perücke und einen schwirrenden Propeller auf dem Rücken. Dreitausend Leute begrüßten ihn mit Jubel und Applaus. „Ich bin heute Karlsson vom Dach!“, schrie der Boss ins Mikrofon. „Zuerst wollte ich mich als Hahn von den Bremer Stadtmusikanten verkleiden, doch das wäre für Solowjow ein gefundenes Fressen gewesen!“
NATO-Träume
Schkurenko postet seine Ansichten regelmäßig auf Instagram, das in Russland verboten ist – mehrmals im Monat. Seit dem Februar 2022 empfiehlt er den neuen Song des DDT-Leaders Juri Schewtschuk und posiert vor der Skulptur Net wojne (dt. Nein zum Krieg), die mit ebenjener Phrase auf dem Sockel in Novosibirsk steht. Er dokumentiert seine eigenen „Gespräche über das Wichtige“, nämlich wie er auf einem Feriencamp mit den Kindern über Humanismus und Freiheit sprach. Er präsentiert, wie er auf die Auszeichnung des „ausländischen Agenten“Memorial mit dem Friedensnobelpreis ein Gläschen Calvados hebt. Und er schlägt vor, die nächste Versammlung des Sicherheitsrats der Russischen Föderation in der Tretjakow-Galerie vor dem Bild Apofeos wojny (dt. Apotheose des Kriegs) von Wassili Wereschtschagin abzuhalten.
Die Kommentare unter Schkurenkos Posts sind unzensiert. Die Einen unterstützen und feiern seinen Mut, die Anderen beschimpfen ihn wüst und hetzen ihm die Staatsanwaltschaft auf den Hals.
„Ich bin gegen jede Zensur: im Internet, im Krankenhaus, in der Bibliothek“, sagt er. „Gegen die Todesstrafe, gegen das Verbot von Abtreibung, Meinungsfreiheit und kreativer Selbstverwirklichung … Es macht mich fertig, dass man für einen Kommentar im Gefängnis landen kann, dass Regisseure verhaftet und Künstler unter Druck gesetzt werden! Dass Berkowitschs Theaterstück mit der Goldenen Maske ausgezeichnet wird, monatelang aufgeführt wird und dann plötzlich ein ominöser Experte auftaucht, der darin eine Rechtfertigung von Terrorismus sieht!“
Schkurenko wollte Kirill Serebrennikows Ballett Nurejew sehen, doch während er noch den Flug plante, wurde es bereits verboten. „Die Duma diskreditiert sich mit ihren Initiativen selbst, trifft immer noch üblere Entscheidungen. Es ist unfair und tragisch, aber da kann man jetzt nichts machen. Man kann nur zusehen. Und den Menschen zeigen, dass es auch anders geht.“
„Es ist immer noch mein Land“, sagt der Unternehmer. „Aber nicht meine Regierung. Der russische Patriotismus trägt den Abdruck eines Kampfstiefels. Deswegen muss man vorsichtig sein. Aber man darf nicht aufhören, kreativ zu sein, sich in äsopischer Sprache zu äußern. Und ich werde in Metaphern sprechen, um nur ja kein Gesetz zu brechen. Um auf alles gefasst zu sein.“
Schkurenko hat Respekt vor „den Stärksten“, vor jenen, die „sich in die Schlacht warfen“ wie Solschenizyn und Pasternak. „Aber außer ihnen gab es noch Tarkowski und Andrej Smirnow, die äußerlich buckelten, aber in ihrem Inneren brodelte es. Als Gorbatschow kam, gingen wir alle auf die Straße, um ihn zu unterstützen. Und wenn eine neue Regierung kommt, werden wir wieder draußen stehen.“ Schkurenko glaubt an die Unausweichlichkeit eines Wandels. „Wir sind ein europäisches Land, und das, was bei uns jetzt passiert, ist widernatürlich. Ich bin überzeugt, dass wir wieder mit Europa kooperieren werden. Dass Russland eines Tages der NATO beitritt. Das wäre mein Traum! Weil wir dann weniger für die Rüstung ausgeben müssten und mehr Geld für Bildung da wäre. Ich warte einfach darauf.“
Am 26. Januar 2025 sollen Präsidentschaftswahlen in Belarus stattfinden. Oppositionsparteien sind längst verboten, Gegenkandidaten wird es also kaum geben. Nach wie vor werden fast täglich Menschen festgenommen und weggesperrt, öffentlicher Widerstand und Protest sind de facto unmöglich. Es wird also keine Wahl sein, sondern die Inszenierung einer Wahl, bei der sich Alexander Lukaschenko abermals zum Sieger küren wird. Dennoch sind solche Ereignisse Stresstests für autoritäre Systeme.
Der Journalist Alexander Klaskowski erklärt in seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk, warum es die Machthaber eilig haben, die Wahlshow über die Bühne zu bringen.
Das war ganz bestimmt keine spontane Entscheidung. Man konnte sehen, dass der Herrscher seine Wahlkampagne bereits begonnen hatte. Indem er etwa die lokalen Erntefeste abklapperte, die Dаshynki, bei denen er die Dorfleute mit Lob überschüttete und ihnen alle möglichen Versprechungen machte. Auch die so schwierige Gruppe der Jugend hatte er im Blick: Er trat vor Studenten in Witebsk und Minsk auf. Gleichzeitig ging die groß angelegte Propagandashow Marathon der Einheit an den Start.
Zuvor hatte BYPOL, eine Initiative ehemaliger Silowiki, unter Berufung auf Insiderinformationen berichtet, dass die Wahlen für den 23. Februar angesetzt seien. Das mag zwar der Fall gewesen sein, aber „um seine Feinde zu ärgern“ beschloss Lukaschenko, den Termin auf Januar vorzuverlegen. Obwohl seine Amtszeit erst am 20. Juli 2025 abläuft. Der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Igor Karpenko erklärte diese „Phasenverschiebung“ auf der jüngsten Sitzung des Repräsentantenhauses damit, dass es für den Präsidenten einfacher sei, die neue fünfjährige Amtszeit zu planen, wenn er schon am Jahresanfang gewählt werde.
Das klingt ganz schön an den Haaren herbeigezogen. Ja, vielleicht wenn die Wahlen echte Wahlen wären und jemand Neues mit neuen Ideen an die Macht käme. Aber de facto geht es bloß darum, eine weitere Amtszeit für den alten Herrscher abzusegnen. Genauso bemüht klang auch Karpenkos Erklärung, die Präsidentschaftswahlen hätten ja auch 2006 schon einige Monate früher stattgefunden. „Die Praxis, Wahlen vor Ablauf der Amtszeit des Präsidenten abzuhalten, gibt es in etlichen Ländern, zum Beispiel in Kirgisistan, Usbekistan …“, führte er weiter aus. Klar, so wird es sein, Lukaschenko wird sich das in Kirgistan abgeschaut haben.
Dass die Wahlen 2006 vorgezogen wurden, war immerhin nachvollziehbar. Damals konnte sich die Opposition auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen, Aljaxandar Milinkewitsch, dessen Umfragewerte rasant stiegen. Deswegen wollte das Regime seine Kampagne unterminieren und die Konkurrenz im Keim ersticken. Aus heutiger Sicht wirken diese Zeiten wie eine blühende Demokratie. Jetzt sind in Belarus alle Schrauben so fest angezogen, das politische Feld so gründlich gesäubert, dass von einem oppositionellen Kandidaten nicht einmal mehr die Rede sein kann.
Also wozu dann die Eile?
Trauma des Jahres 2020?
Mir scheint, einer der Hauptgründe für Lukaschenkos Vorgehen ist das Trauma des Jahres 2020. Ja, die Opposition ist entweder zerschlagen, eingesperrt oder ins Ausland vertrieben. Aber der Diktator sieht trotzdem überall feindliche Intrigen. So instruierte er Ende September seine Funktionäre: „Glaubt ja nicht, dass wir reinen Tisch gemacht haben, wie manche sagen. Die, die wir erwischen wollten, sind abgehauen. Ist ihr gutes Recht, sollen sie doch. Aber wir müssen wachsam bleiben.“ Also lieber beeilen, bevor die Feinde noch hinterrücks einen Plan aushecken. Lieber noch schnell eine Machtspritze, damit es sich wieder ruhig schlafen lässt.
Damit wird formal ein neues Kapitel aufgeschlagen. Die Propaganda wird verkünden: 2020 ist Geschichte! Vielleicht gibt es dann auch einen Hoffnungsschimmer, dass der Westen sich allmählich mit der Realität abfindet, der politischen Emigration weniger Aufmerksamkeit schenkt und Swetlana Tichanowskaja an Bedeutung verliert.
Und noch ein Grund für den Termin im Winter: Viele Kommentatoren weisen darauf hin, dass es in der kalten Jahreszeit schwieriger sei zu protestieren. Im kalten März 2006 und im Dezember 2010 waren die Plätze trotzdem voller Menschen. Natürlich gibt es Angenehmeres, als in der Kälte draußen rumzustehen. Aber auch, wenn die Feinde des Regimes überhaupt keine Proteste planen (die Hauptstrategie der demokratischen Kräfte besteht heute darin, die Belarussen aufzufordern, gegen alle zu stimmen) – Vorsicht ist besser als Nachsicht.
Überhitzte Wirtschaft?
Die Wirtschaft ist im Aufschwung, die Einkommen steigen. Das liegt jedoch in erster Linie an der Konjunktur: daran, dass Wladimir Putin sich die Beihilfe seines Verbündeten im Krieg einiges kosten lässt. Viele belarussische Waren werden von der russischen Militärindustrie nachgefragt und wegen der westlichen Sanktionen teuer gehandelt. Manches spricht jedoch dafür, dass der Krieg relativ schnell zu Ende sein könnte. Zumindest die heiße Phase. Und dann wird diese Konjunktur höchstwahrscheinlich einbrechen. Außerdem werden die Belarussen auf dem russischen Markt von den Chinesen bedrängt.
Zweitens behaupten unabhängige Ökonomen, dass in der belarussischen Wirtschaft das Ungleichgewicht zunimmt. Vor allem die drakonischen Preisregulierungen könnten schmerzhafte Folgen haben. Hinter den vorzeitigen Wahlen könnten also auch wirtschaftliche Erwägungen stehen. Denken wir nur mal daran, wie das Land nach den Wahlen im Dezember 2010 von einer Hyperinflation heimgesucht wurde und der Rubel plötzlich nur noch ein Drittel wert war. Damals hatte Lukaschenko seine Wahlernte mit großzügig gedrucktem, aber wertlosem Geld eingefahren. Vielleicht will er das Eisen schmieden, solange es heiß ist, bevor sich die überhitzte Wirtschaft in Rauch auflöst.
Die Zeit des Diktators geht so oder so zu Ende
Ja, theoretisch wissen wir nicht, ob Lukaschenko überhaupt eine weitere Amtszeit anstrebt. Aber praktisch besteht daran kein Zweifel (es sei denn, es passiert etwas sehr Unerwartetes). Für die Einführung eines theoretischen Nachfolgers reicht die Zeit nicht mehr. Lukaschenko findet für sich auch keinen würdigen Nachfolger. Und er hat Angst, das Zepter abzugeben.
Der Kreml hat ihm offenbar seinen Segen für eine neue Amtszeit gegeben und dies symbolisch mit einem Orden illustriert. Moskau hat überhaupt kein Interesse daran, auf der Zielgeraden das Pferd zu wechseln. Für den Fall, dass Friedensgespräche über die Ukraine geführt werden sollten, säße der belarussische Herrscher außerdem gern mit einer frischen Krone am Tisch.
Gleichzeitig sind Kriege eine ziemlich unberechenbare Angelegenheit. Lukaschenko mag denken: Wer weiß schon, was diese Ukrainer im Schilde führen. Gestern sind sie in die Region Kursk einmarschiert, morgen greifen sie vielleicht die Ölraffinerie von Mozyr an – und so weiter und so fort. Dann kann man die Wahlen vergessen.
Und da ist noch etwas: Gerade hat das gemeinsame Gremium der Verteidigungsministerien von Russland und Belarus in Minsk eine strategische Übung namens Sapad-2025 (dt. Westen-2025) beschlossen. Was dahintersteckt, können wir nur vermuten. Erinnern wir uns: Im Februar 2022 waren die russischen Truppen unter genauso einem Vorwand gemeinsamer Manöver nach Belarus versetzt worden, um Kyjiw anzugreifen. Was, wenn Moskau das wiederholen will? Eine solche Aussicht ist für einen Wahlkampf ebenfalls wenig förderlich. Kurzum, es ist auch der Nebel des Krieges, der Lukaschenko dazu drängt, die Wahlen vorzuverlegen.
Und zu guter Letzt wissen wir nicht, wie es um seine Gesundheit wirklich steht. Klar ist nur: Er wird nicht jünger. Vielleicht ist das ebenfalls ein Faktor. Der Gedanke, dass die Zeit des Diktators auf die eine oder andere Weise sowieso zu Ende geht, wärmt die Herzen seiner politischen Gegner. Denn während Lukaschenko für die Konservierung des bestehenden Systems steht, gibt es nach ihm zumindest eine Chance auf Veränderung.