Belarus sei „de facto unter Militärbesatzung“ sagte die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja im November 2022 in Bezug auf Russlands erdrückenden Einfluss auf ihre Heimat. Auch deutsche Medien und internationale Politiker oder Beobachter sprechen nicht selten davon, dass der Kreml das osteuropäische Land faktisch okkupiert habe und dass Alexander Lukaschenko eigentlich nur noch eine Marionette Putins sei – ohne eigenen politischen Handlungs- und Entscheidungsraum. Zweifelsohne war und ist die politische Abhängigkeit von der russischen Führung groß, und sie ist seit den Protesten von 2020 noch größer geworden. Ohne Frage hat diese Abhängigkeit auch dazu geführt, dass Russland Belarus als Aufmarschgebiet für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine nutzen konnte. Aber kontrolliert der Kreml wirklich die Geschicke der belarussischen Machtzentrale, hat er es geschafft, die Kontrolle über Silowiki-Strukturen und Meinungsbildung im Nachbarland zu erlangen? Bleibt Lukaschenko tatsächlich nur noch das untertänige Nicken, wenn der große Bruder ruft?
Der belarussische Journalist und Analyst Alexander Klaskowski hält diese Sichtweisen für allzu einfach und deswegen für gefährlich. Für das Online-Medium Pozirk zeigt er anhand aktueller Entwicklungen, dass man Lukaschenko – der es seit 1994 in scheinbar ausweglosen Situationen gewohnt ist, seine Handlungsspielräume zu erweitern – nicht abschreiben sollte.
Es gab eine Zeit, da vertrat ein Teil der Opposition vehement die These, Belarus sei von Russland besetzt. Jetzt aber scheint kaum mehr eine Handvoll russischer Truppen auf belarussischem Territorium zu stehen. Sollen wir also von einem Ende der Okkupation und Truppenabzug sprechen?
Wie immer ist die Wirklichkeit viel komplexer als die Politik, vor allem, wenn eine ordentliche Portion Propaganda im Spiel ist.
Lukaschenko ist selbst in die imperialistische Falle getappt
Den Daten des Monitoring-Projekts Belaruski Hajun zufolge (die von Kyjiw bestätigt werden) befinden sich derzeit in Belarus nicht mehr als 2000 russische Soldaten. Davon gehören 1450 zu der Funkstation Wolga bei Baranowitschi und zur Meldezentrale bei Wileika. In diesen zwei Anlagen ist schon jahrzehntelang russisches Personal im Einsatz. Weitere 600 Mann verteilen sich auf die beiden Flughäfen. Es liegt nahe, dass diese Kontingente auf die Betreuung und Bewachung von Objekten ausgerichtet sind und nicht darauf, Alexander Lukaschenkos Residenz in Drosdy zu stürmen.
Das hat nichts mehr zu tun mit dem Februar 2022, als der Kreml für angebliche gemeinsame Militärübungen zigtausende Soldaten mitsamt schwerer Kampftechnik in Belarus positionierte, um in Kyjiw einzumarschieren. Es gibt auch keine Trainingslager für mobilisierte Russen mehr, und die Luftwaffe der Russischen Föderation ist praktisch vollständig abgezogen.
Dass Moskau mit diesen paar tausend Soldaten nicht in der Lage ist, seinen Verbündeten rein militärisch in Schach zu halten, ist klar. Es gibt auf belarussischem Gebiet auch keine klassische Besatzungsverwaltung. Lukaschenko sitzt bereits das dreißigste Jahr auf seinem Thron und steuert alles über die von ihm selbst erschaffene Machtvertikale. Dass viele seiner Beamten und vor allem die Silowiki prorussisch eingestellt sind, ist ein anderes Thema.
Allerdings ist die Abhängigkeit des Regimes vom Kreml durch die Niederschlagung der Proteste im Jahr 2020 und die Beteiligung an der Aggression [gegen die Ukraine – dek] zweifellos angewachsen. Doch nicht das Imperium hat Belarus an sich gerissen, sondern der belarussische Regent hat sich dazu entschieden, sein Land enger an das Imperium zu binden, um an der Macht zu bleiben. Er ist selbst in diese Falle getappt.
Marionette – hin oder her, aber …
Jetzt kann man sagen: Ist doch egal, wenn das Ergebnis ist, dass Lukaschenko eine Marionette von Putin ist – Unabhängigkeit gibt es nicht (Belarus ist de facto bereits eine Provinz der Russischen Föderation, sagt der litauische Präsident Gitanas Nausėda).
Nun, Marionette hin oder her – jedoch hat Lukaschenko in den ganzen eineinhalb Jahren Krieg keinen einzigen seiner Soldaten dorthin losgeschickt. Obwohl diverse prominente Kommentatoren beherzt davon gesprochen haben, wie Putin seinen „kleinen Bruder“ angeblich auspresst. Als hätten sie das aus einer Ecke im Kreml oder einem Gebüsch in Sotschi heimlich beobachtet.
Ja klar, so fest presst er, dass alle wirtschaftlichen Leckerbissen sich über Minsk ergießen wie aus einem Füllhorn. Lukaschenko ist es nämlich gelungen, sein mächtiges Gegenüber davon zu überzeugen, dass das aktuelle Symbiose-Modell ihrer beiden Regime optimal ist und keine gefährlichen Experimente erforderlich sind.
Und sogar Kyjiw, das gern über die russische Besatzung von Belarus spricht, scheint hinter den Kulissen sein Spiel mit dessen Führungsmacht fortzusetzen (worüber dieser sich schon ein paar mal verplappert hat). Wieso sollten sie mit einer Marionette verhandeln?
Es stimmt zwar, dass Lukaschenkos politische Eigenständigkeit geschwächt ist, doch ganz außer Acht zu lassen ist sie nicht. Erinnern wir uns an den Abzug der Söldnertruppe Wagner nach Belarus. Verschwörungen zufolge sei das Putins schlauer Plan gewesen für einen neuen Angriff auf die Ukraine vom Norden her oder überhaupt auf Europa. Mit der stillschweigenden Annahme, dass in einem solchen Fall der „kleine Bruder“ gar nicht mal gefragt würde. Aber diese Verschwörung fällt jetzt in sich zusammen, wie vom Autor dieser Zeilen vorhergesagt. Es wird immer offensichtlicher, dass die Aufnahme der Aufständischen in Belarus ein spontaner Entschluss war. Jetzt zerlegen sie Prigoshins Baby. Das Lager bei Ossipowitschi schrumpft, und überhaupt stand es unter der Fuchtel der Silowiki von Lukaschenko, der an einer Konfrontation mit der NATO wenig interessiert ist.
Ebenso offensichtlich ist, dass er nicht will, dass die Grenzen in Richtung EU dichtgemacht werden. In den letzten Wochen gab es immer weniger Flüchtlinge aus Drittländern, die dort hinüberwollen, immer weniger; offenbar hat Minsk Regulierungsmaßnahmen ergriffen. Obwohl sehr oft und viel zu hören war, dass der Kreml diese Sache lenkt, und der „kleine Bruder“ nur brav mitspielt.
Atomwaffen: Putins Pläne passen zu Lukaschenkos Ambitionen
Indes gelangen einige Komponenten taktischer Kernwaffen aus der Russischen Föderation nach Belarus. Bestätigt wurde das jüngst von der Belarussischen Eisenbahnergesellschaft. Und dieser Tage erklärte der stellvertretende russische Außenminister, Sergej Rjabkow, dass die Stationierung der taktischen Kernwaffen in Belarus „nach Plan laufe“.
Allerdings wurden laut dem ukrainischen Nachrichtendienst die ersten Atomsprengköpfe erst Ende August geliefert, davor fanden nur „großangelegte Trainings mit Kernwaffen-Attrappen“ statt. Putin und Lukaschenko hingegen waren der Welle vorausgeschwommen und hatten geprotzt, dass dieser Prozess bereits in vollem Gang sei.
Einerseits kann man auch diesen Prozess als eine Art hybride Besatzung interpretieren. Moskau macht Belarus durch die Stationierung von taktischen Kernwaffen zu seiner atomaren Geisel. Andererseits kann auch hier keine Rede von schmerzhaftem Druck sein. Während Lukaschenko 2022 bezüglich des russischen Angriffs auf die Ukraine von belarussischem Territorium aus noch so tat, als hätte er nichts gewusst (und hätte es selbst aus dem Fernsehen erfahren), so betont er bezüglich der Kernwaffen gern, dass das seine Initiative war.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass der schlaue Herrscher die Idee im Hinterkopf hat, Russland dieses Arsenal abzupressen, sollte dort nach einer Niederlage in der Ukraine alles zu bröckeln beginnen. In einer solchen Situation könnte er sogar mit dem Westen aushandeln, dass die Sanktionen aufgehoben werden und er nicht nach Den Haag muss.
Analysieren statt hypen
All das ist natürlich mit Mistgabeln auf Wasser geschrieben. Noch wirkt die Anbindung des Regimes an Moskau beinahe fatal. Und die russische Militärpräsenz in Belarus kann auch bald wieder verstärkt werden. Aber obwohl der Grat viel schmaler geworden ist, fährt Lukaschenko innen- und außenpolitisch seine Manöver. Bisweilen sieht das ungelenk aus, aber in vielen Fällen durchaus geschickt.
Manche Regimegegner wollen den Usurpator so unbedingt brandmarken, dass sie ihren Refrain über die Okkupation, die Marionettenhaftigkeit und den kompletten Verlust der Unabhängigkeit beinahe genüsslich wiederholen. Eine solche Sichtweise verhindert eine objektive Analyse der Situation im Land und um das Land herum. Immerhin ist der Umstand, dass die Staatlichkeit noch nicht vollends verloren ist, ein wichtiges Plus für einen möglichen Wandel.
Jedenfalls sollten jene, die sich Gedanken zur belarussischen Frage machen (und vor allem nach einer Lösung suchen), ihre Reflexionen nicht auf verschwörungstheoretische Seifenblasen reduzieren, die sich nur allzu leicht als Hype entpuppen.
Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow prahlt gern mit der Stärke seiner Armee, die formal zwar Teil der russischen Nationalgarde ist, faktisch aber auf seinen Befehl hört. Im Frühjahr 2023 behauptete Kadyrow, seit Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine mehr als 26.000 Tschetschenen in den Kampf gegen die Ukraine geschickt zu haben. Sogar seine minderjährigen Söhne wollte er angeblich an die Front schicken. Kadyrows Kämpfer erlangten Bekanntheit, weil sie eifrig martialische Videos aus dem Kampfgebiet in den Sozialen Netzwerken verbreiteten. Eine Weile lang wirkte das, als lieferten sich der Wagner-Chef Jewgeni Prigoshin und das Tschetschenen-Oberhaupt einen Wettbewerb, wer die furchteinflösendste Truppe kommandiert.
Weniger bekannt sind die tschetschenischen Freiwilligen, die auf der Seite Kyjiws im Einsatz sind. Sie sehen sich als Truppen der tschetschenischen Republik Itschkerien, die ihrem Verständnis nach von Russland besetzt ist. Viele sind schon vor Jahren aus ihrer Heimat ins Ausland geflohen. Sie hoffen darauf, nach einem Sieg der Ukraine ihre Heimatregion von der Herrschaft Kadyrows zu befreien und die Unabhängigkeit der Republik von Moskau zu erkämpfen. Das russische Portal The Insider hat mit dreien von ihnen über ihre Motive, ihr Verhältnis zu Kadyrow und die Lage an der Front gesprochen.
### „Ich bin hierhergekommen, um die ermordeten Kinder, Frauen und Alten in Tschetschenien, Inguschetien, Syrien und der Ukraine zu rächen.“
„Ich bin aus zwei Gründen in die Ukraine gekommen: um mein Volk zu rächen, und um den Ukrainern zu helfen. Russland hat mein Land besetzt, Tschetschenien, und viele aus meiner Familie ermordet: meinen Vater, meine Brüder, meine Tante, meinen Onkel. Ich betrachte die Russen nicht nur als Feinde der Ukrainer und Tschetschenen, sondern als Feinde der gesamten Menschheit. Sie werden sich alles nehmen, was sie wollen, und niemals aufhören. Wenn wir zulassen, dass sie auf ukrainischem Boden siegen, werden sie weitermachen. Deshalb bin ich hier, um die Kinder, Frauen und Alten zu rächen, die in Tschetschenien, Inguschetien, Syrien und jetzt auch in der Ukraine umgebracht wurden.
Ich bin 2022 gekommen. Über zwei Monate wurde ich hier ausgebildet. Dann beschloss ich, mich dem OBON anzuschließen, dem Selbständigen Bataillon für Spezielle Aufgaben. Wir haben viele erfahrene Männer, die in Tschetschenien und Syrien gekämpft haben.
Ich habe seit meiner Kindheit davon geträumt, entweder Soldat oder Polizist zu werden. Ich wollte wie mein Vater werden [Arbi Barajew war Feldkommandeur; er wurde während des Zweiten Tschetschenienkrieges getötet und war einer der bekanntesten Anführer des Widerstandes im Krieg gegen die russischen Streitkräfte in Tschetschenien]. Mir gefällt es hier zu sein. Und wenn der Krieg vorbei ist, werde ich anderswo für Gerechtigkeit kämpfen.
Während des Tschetschenienkrieges war ich acht oder neun Jahre alt, aber ich erinnere mich an Vieles. Meine Mutter floh mit uns aus Tschetschenien, Kadyrows Leute wollten uns umbringen. Das war Blutrache. Mein Vater war Brigadegeneral und hat Besatzer [gemeint sind Vertreter der russischen Streitkräfte und Spezialeinheiten der Polizei – dek] und Kadyrows Verräter getötet, die nachts Säuberungen veranstalteten und auf der Straße Leute umbrachten.
Meine Mutter haben sie auch viele Male mitgenommen und verhört. Nach diesen Verhören war sie immer in einem Schockzustand und konnte nicht sprechen. Jetzt wird sie wieder eingeschüchtert, weil ich in der Ukraine kämpfe; sie will aber nicht fortgehen. Aber sie werden ihr nichts antun, weil meine Cousins in der russischen Armee dienen.
Den Vater eines dieser Cousins haben Kadyrows Leute ebenfalls umgebracht. Sein Sohn dient aber trotzdem bei ihnen. Ich habe deshalb den Kontakt zu ihm abgebrochen.Wie kann es sein, dass jemand die gleiche Uniform trägt wie jene, die seine Familie getötet haben? Er hat mich dann einen Terroristen genannt, weil ich LGBT unterstütze und in Europa lebe. Ich lebte damals in Dänemark, und er in Tschetschenien. Ich kann nur ganz offen sagen: Wenn ich ihn hier in der Ukraine treffe, bringe ich ihn um.
Ich habe als politischer Flüchtling in Europa gelebt, seit ich 17 war. Meine Mutter hat uns allein zurückgelassen, als ich zehn war, und ist nach Tschetschenien zurückgegangen. Ich mache ihr keinen Vorwurf, und auch meinem Vater nicht. Ich gebe allein Putin die Schuld, und jenen in der Bevölkerung in Russland, die alles unterstützen, was ihr Präsident macht. Ich habe alles zurückgelassen, als ich in die Ukraine kam: Freunde, Bekannte, meine Arbeit, und ich hoffe, dass wir bald siegen und nach Tschetschenien zurückkehren, um den ganzen Kaukasus zu befreien. In Tschetschenien bleiben jetzt nur die, die keine Möglichkeit haben, die Republik zu verlassen. Die Menschen haben Angst, offen zu sprechen, ihre Meinung zu sagen, oder einfach nur zu denken. Sie haben Angst, sich gegen das System zu stellen, weil man dafür in Tschetschenien ins Gefängnis wandert, oder man wird gefoltert oder umgebracht. Menschen werden einfach aufgrund von Kommentaren bei Facebook vergewaltigt und ermordet.
Seit 25 Jahren lebt die Bevölkerung in Angst. Aber sobald sich die Möglichkeit ergibt, werden sich sogar Kadyrows Leute gegen ihn erheben. Es gibt natürlich Tschetschenen, die Kadyrow aufrichtig unterstützen. Die lieben ihn wegen des Geldes und der Macht. Es gibt aber auch welche, die einfach keine andere Wahl haben. Viele junge Leute haben keine Arbeit, und zur Armee zu gehen, ist eine einträgliche Sache. Sie hassen Kadyrow, schließen sich ihm aber wegen des Geldes an.
Wenn ich vor Kadyrow Angst hätte, wäre ich nicht hierhergekommen, um zu kämpfen. Natürlich kenne ich das Gefühl der Angst, wie alle anderen Menschen auch, aber ich habe meine Angst im Griff. Wenn ein Soldat sagt, dass er vor nichts Angst hat, dann lügt er entweder oder hat einen psychischen Schaden.
Die Kadyrow-Leute sind keine besonders guten Kämpfer, sie sind eher zur Show da. Es gibt Tschetschenen, die in der russischen Armee kämpfen und nicht Kadyrow unterstellt sind. Aber gerade die Kadyrow-Leute sind wie Polizisten: Die können nicht kämpfen. Die haben nur gegen Partisanen im Kaukasus „gekämpft“. Da haben sie etwa ein Haus umstellt, in dem nur ein Mann mit einer Maschinenpistole hockt. 200 Mann umzingeln einen einzigen Kerl. Die können nicht gegen die Luftwaffe Krieg führen oder gegen Artillerie; sie wissen nicht, wie man eine Stellung stürmt. Das sind Banditen, Putins Sklaven. Die können nur foltern, vergewaltigen und Leute in den Bergen jagen, die Sabotage betrieben haben.
### „Nach einem Sieg in der Ukraine können wir nach Hause zurückkehren und unser Land befreien.“
Bertan kämpft in der Einheit Bors des Freiwilligenbataillons OBON
„Nach dem Beginn des großangelegten Krieges hat eine starke antitschetschenische Propaganda eingesetzt. Die ganze Welt hielt uns für Dämonen, die zusammen mit der russischen Armee einmarschiert sind, um Ukrainer umzubringen. Diese Haltung hat sich besonders nach den Ereignissen in Butscha verstärkt, nach den Gräueltaten, die Russen verübt haben. Das hatte starke Auswirkungen auf die Tschetschenen. Es wurde so dargestellt, als sei Tschetschenien ein Land, das aus eigenen Stücken zusammen mit Russland die Ukraine überfallen hat. Und da habe ich beschlossen, dass ich in der Ukraine sein muss, dass ich helfen muss.
Ich bin im April 2022 in die Ukraine gekommen. Und als bekannt wurde, dass endlich ein Abkommen zwischen den ukrainischen Streitkräften (SKU) und den Streitkräften der Tschetschenischen Republik Itschkerien geschlossen wurde, fingen wir an, das Verteidigungsministerium der Republik Itschkerien zu kontaktieren, um in das OBON-Bataillon zu gelangen.
Zu dem Zeitpunkt hatte unsere Führung die Aufstellung von Bataillonen beschlossen, die der Ukraine helfen sollten. Wir alle warteten auf offizielle Informationen. Als aber die Meldungen über die Ereignisse in Butscha und Irpin um die Welt gingen, fuhr ich in die Ukraine, um wenigstens irgendwas zu tun. Ich erinnerte mich an meine Kindheit, an den ersten Tschetschenienkrieg, dann den zweiten, als es den Massenmord an Zivilisten in Nowyje Aldy gab. Ich war 16 oder 17 Jahre alt und konnte nichts tun. Jetzt, nach vielen Jahren, wo ich die Willkür sehe, mit der die Russen in der Ukraine vorgehen, können weder ich noch meine Bekannten da tatenlos zusehen. Wir erinnern uns, wie sie Grosny zerstörten, wir erinnern uns an Samaschki und sehen, wie das alles in die Ukraine weitergetragen wird, allerdings jetzt in größerem Maßstab. Für mich selbst kann ich sagen, dass der Krieg niemals aufgehört hat.
Da ich den Krieg schon kannte – ich war mehrmals unter Beschuss und habe Bombenangriffe erlebt –, habe ich mich hier recht schnell eingelebt.
Alle Einsätze unseres Bataillons werden mit den ukrainischen Streitkräften abgestimmt. Unser Bataillon ist Teil der Internationalen Legion, und neben den Ukrainern kooperieren wir mit Kanadiern, Amerikanern und Jungs aus Georgien.
Den Ukrainern ist klar, dass wir einen gemeinsamen Feind haben. Das wird auf allen Ebenen verstanden, von der Führung bis zu den einfachen Kämpfern des OBON. Jetzt verteidigen wir nicht nur die Ukraine, sondern auch unsere Ehre, die von Kadyrows Leuten befleckt wurde. Das Wichtigste ist, dass man mittlerweile weltweit versteht, dass nicht alle Tschetschenen auf der Seite Russlands stehen.
Kadyrow ist einfach ein Idiot. Er versteht den Islam nicht im Geringsten. Er kann nicht behaupten, dass der Krieg in der Ukraine ein Dschihad ist. Wir wissen sehr genau, was Kadyrows „Armee“ eigentlich darstellt. Wir sind, anders als sie, wirklich motiviert, weil wir nur durch einen Sieg in der Ukraine nach Hause zurückkehren können, um unsere Heimat zu befreien, nachdem wir gezeigt haben, dass die Tschetschenen und die Kadyrow-Leute nicht das Gleiche sind.
In unserem Bataillon gibt es welche, die haben den ersten und den zweiten Tschetschenienkrieg mitgemacht. Die waren bis 2014 in Tschetschenien und haben Widerstand geleistet. Nachdem die Kräfte schwanden, blieb ihnen nichts anderes übrig als abzuwarten, bis sich die Lage ändert. Und jetzt hat sie sich grundlegend geändert. Wenn wir Tschetschenen vor zehn Jahren noch als Terroristen wahrgenommen wurden, so hat sich die Meinung über unser Volk jetzt gewandelt.
### „Kadyrow zu beseitigen, würde nichts ändern. Unser Ziel ist es, den Kreml zu zerstören.“
Mansur, Scheich-Mansur-Bataillon
„Ich habe die Situation in der Ukraine schon 2014 verfolgt, als die Demonstrationen auf dem Maidan begannen. 2015 bin ich dann in die Ukraine gefahren. Damals schon war mir klar, dass Russland unter dem Vorwand der Friedenssicherung Gebiete besetzt, wie es in Georgien und Ossetien der Fall war. Als die Russen die Krim und die Gebiete Donezk und Luhansk besetzten, tauchten in den Medien Meldungen auf, dass es auch Tschetschenen seien, die die Ukraine überfallen haben. Damals lebte ich in der Türkei, und es hat mich sehr verletzt, solche Dinge über mein Volk zu hören. Diese Ansichten sind natürlich wegen Kadyrows Verrätern entstanden, die von den Kreml-Bonzen in die Ukraine geschickt wurden.
Ich habe nicht lange überlegt und bin losgefahren, um jedem Ukrainer und auch den Medien zu zeigen, dass sich das tschetschenische Volk von diesen Verrätern unterscheidet. Der zweite Grund, warum ich hierhergekommen bin, war der Wunsch, dem gemeinsamen Feind aufs Maul zu hauen. Ich habe schon 1999 zur Waffe gegriffen und gehe seitdem gegen das System vor.
Durch den Tschetschenienkrieg habe ich viel Kampferfahrung, deshalb trainiere ich jetzt selbst neue Rekruten und bringe ihnen die Kriegskunst bei. Für mich, wie auch für viele meiner Kameraden, ist dieser Krieg nichts Neues. Wir kämpfen gegen die gleichen russischen Truppen und gegen die gleiche russische Artillerie. Die ganzen Lügen und die Propaganda, die jetzt gestreut werden, die kennen wir auch schon.
Die Kampferfahrung in unseren Reihen liegt bei mindestens zehn Jahren, aber meist sind es 20 oder 30. Junge Leute aus Tschetschenien holen wir nicht in die Ukraine, weil wir uns auf die Befreiung unseres Territoriums vorbereiten. Und wir brauchen sie dort, weil sie in Tschetschenien sehr viel mehr Nutzen bringen.
Unsere Aufgabe ist Sabotage und Aufklärung mit einer „Bienentaktik“: losfliegen, stechen und abhauen. Die Methoden des Partisanenkrieges haben wir uns seit dem ersten und zweiten Tschetschenienkrieg bewahrt.
Jeder Vorstoß von uns wird mit den ukrainischen Truppen abgestimmt, damit wir bei unvorhergesehenen Situationen Deckung durch die Artillerie bekommen.
Unser verstorbener Präsident Dschochar Dudajew hat schon 1990 klar gesagt, was Russland an und für sich ist, und was es an Bösem in sich trägt. Heute werden wir alle Zeugen, dass seine Worte stimmen. Ich denke, wenn man Tschetschenien seinerzeit so geholfen hätte wie jetzt der Ukraine, dann hätten wir dieses russische Imperium längst schon bis auf die Grundmauern zerstört. Dann würde das ukrainische Volk in Frieden leben, und es gäbe schlichtweg keine Bedrohung für die baltischen Staaten und die NATO.
Wenn wir in Tschetschenien freie Wahlen hätten, dann würden über 90 Prozent des tschetschenischen Volkes das herrschende Regime nicht unterstützen. Die Menschen bei uns werden stark unterdrückt. Seit 30 Jahren sind wir im Kriegszustand. Unsere Eltern erzählen uns von klein auf, was wirklich los ist. Mit Morden kann man uns keine Angst machen. Die Menschen fürchten sich aber vor öffentlicher Beleidigung und Erniedrigung, deswegen zielt Kadyrow auf die wundesten Punkte: Sie nehmen die Mütter, Schwestern, Frauen und Töchter und versuchen die Menschen zu manipulieren. Frauen sind für uns unantastbar, und die Menschen schweigen meistens. Tschetschenien zu verlassen ist für viele einfach nicht möglich, und viele wollen auch nicht in der Fremde leben.
Wir verstehen, dass die Kräfte heute ungleich verteilt sind. Wenn wir jetzt einen Aufstand beginnen, dann würde Russland unter irgendeinem listigen Vorwand den Krieg in der Ukraine einfrieren und alle Kräfte gegen Tschetschenien schicken. Und wir stünden diesem Monstrum allein gegenüber. Selbst wenn man Kadyrow beseitigte, würde sich in unserer Heimat nichts ändern. Deshalb ist es unser Ziel, den Kreml zu zerstören, den Hort alles Bösen.
Die jungen Menschen stehen jetzt stark unter dem Einfluss der Propaganda. Wenn sie in den Krieg geschickt werden, nimmt man ihnen die Telefone ab. Wenn sie es dann doch schaffen, mit ihren Verwandten zu reden, bitten sie uns um Hilfe, wie sie sich ergeben können – allerdings so, dass sie dann nicht ausgetauscht und zurück in Kadyrows System geschickt werden. Es gibt Hunderte solcher Fälle. Wir schicken ihre Koordinaten entweder an den zentralen Apparat des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU, oder an den militärischen Nachrichtendienst , und die kümmern sich dann um sie.
Kadyrow lässt alle verfolgen, die auf der Seite der Ukraine kämpfen. Er versucht uns zu schaden, schickt Killer los. Wir sind aber auch nicht untätig. Bei all denen, die ihr Gesicht offen gezeigt haben, sind sämtliche Verwandten entweder umgekommen oder aus Tschetschenien ausgewandert. Bei mir auch, ich habe niemanden mehr.“
Früher hat Tamara Eidelman Geschichte an der Moskauer Schule № 67 unterrichtet. Nach dem russischen Großangriff auf die Ukraine im Februar 2022 hat sie ihre Heimat verlassen. Seitdem lebt sie in Portugal, gibt aber weiter Geschichtsstunden für ein russischsprachiges Publikum: Mehr als 1,3 Millionen Menschen haben ihren YouTube-Kanal abonniert.
Im Interview mit dem belarussischen Online-Medium Zerkalo spricht die russische Historikerin über Themen, die sowohl Belarus als auch Russland betreffen: das Machtverständnis von Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin, imperialistische Denkweisen, Russlands Blick auf Belarus sowie die Instrumentalisierung von Geschichte in beiden Ländern.
Zerkalo: Manche vergleichen Wladimir Putin mit russischen Zaren oder mit Adolf Hitler. Mit welchen historischen Persönlichkeiten würden Sie ihn vergleichen?
Tamara Eidelman: Wissen Sie, ich möchte diese Frage nicht beantworten. Tut mir leid. Putin kann sich mit jedem vergleichen, mit dem er will, von mir aus mit dem Herrgott. Die Propaganda benutzt Vergleiche, um ihm zu schmeicheln. Wenn er einen auf Peter der Große macht, so ist er doch in jeder Hinsicht zu mickrig dafür, nichts für ungut.
Mit Hitler hat er nun nichts gemein, und das sage ich nicht, um Putin zu verteidigen. Natürlich sind beide Diktatoren und haben aggressive Kriege entfesselt, aber bis zur Massenvernichtung reicht es bei Putin Gott sei Dank noch nicht.
Jede historische Persönlichkeit, zumal jeder Diktator, lebt in seiner jeweiligen Epoche und muss vor diesem Hintergrund betrachtet werden. Wenn wir jetzt anfangen, darüber zu sprechen, wie viel Ähnlichkeit Russland mit Hitler-Deutschland hat, dann haben wir für unser Verständnis nichts gewonnen. Russland hat eine ganz andere Struktur, es folgt einem anderen historischen Weg und anderen Traditionen, die Zeiten sind andere. Es war nach 1938 praktisch unmöglich nachzuvollziehen, was in Deutschland passiert, heute haben wir unzählige Fakten dazu, was in Russland geschieht. Das ist wichtig, weil es sowohl eine öffentliche Meinung in Russland als auch eine internationale gibt. Und wie man es dreht und wendet, die Machthaber schauen darauf. Wenn es diese öffentliche Meinung nicht gäbe, kein Internet, keine Handys, dann würden zum Beispiel politische Gegner mit Haut und Haaren gefressen und ausgespuckt werden. Niemand wäre mehr am Leben. Ja, sie bekommen riesige Haftstrafen, aber Gott sei Dank leben sie. Das ist wichtig.
Wenn Putin einen auf Peter der Große macht, so ist er doch in jeder Hinsicht zu mickrig dafür, nichts für ungut
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs verübten die Deutschen schreckliche Dinge in Polen, von denen praktisch niemand wusste, außer denen, die es selbst gesehen haben. Das volle Ausmaß der Gräueltaten wurde erst nach dem Krieg sichtbar, als man ausreichend Material gesammelt hatte. Sie können jetzt sagen, dass man auch heute nicht alles weiß, aber wenn man mit halbwegs ungetrübtem Verstand an die Masse der existierenden Informationen zu dem herangeht, was in diesem Krieg, was in Russland und in Belarus passiert, ändert das viel.
Als nächstes kommt meistens die Frage: „Und womit wird das alles enden?“ Wenn wir davon ausgehen, dass man Russland mit [Deutschland in] den 1930er Jahren vergleichen kann, dann würde als nächstes ein Weltkrieg kommen, der Faschismus würde besiegt werden und so weiter. Aber es ist überhaupt nicht gesagt, dass es so sein wird. Zum Beispiel, weil es damals keine Atomwaffen gab. Ich mag diese Vergleiche nicht.
War und bleibt Russland für immer ein Problem für seine Nachbarn?
Solange dieses Regime in Russland besteht, natürlich. Ich will anmerken, dass auch das Regime in Belarus so lange bestehen wird wie das Regime in Russland. Russland wollte sich so weit wie möglich ausdehnen, aber das galt für alle starken Staaten des 18. und 19. Jahrhunderts. Bloß ist Russland an dem Punkt stehen geblieben, der für Großmächte vor 150 bis 200 Jahren normal war. Europa hingegen hat verstanden, dass man sich nicht so verhalten sollte. Daraus schließe ich, dass auch Russland das irgendwann verstehen wird.
Meine Eltern wurden in der UdSSR geboren, lebten eine Zeitlang in Russland und dann in Belarus. An ihrem Denken gibt es nichts Imperialistisches, während unsere Verwandten, die so alt sind wie sie und ihr ganzes Leben in Russland verbracht haben, dahin tendieren. Warum ist das so?
Das spricht wohl einfach für Ihre Eltern. Es gibt ja auch in Belarus Menschen, die das Land als Teil Russlands sehen, eines Imperiums, der UdSSR. Es geht nicht darum, wo man geboren wurde. Diese Haltung macht das Leben leichter, denn wenn du dich als Teil von etwas Großem, Grandiosem begreifst, dann werden all deine Strapazen, dein armseliges Leben, deine Probleme unwichtig. Ja, wir produzieren Raketen, wir sind Teil von diesem großartigen Land. Das flößt uns die Propaganda unermüdlich ein. Dein Privatleben ist weniger wert als das, was dich umgibt.
Politische Haltungen und Moralvorstellungen werden nicht genetisch vererbt
Aber politische Haltungen und Moralvorstellungen werden nicht genetisch vererbt. Das sind alles Märchen. Genau auf diesen Märchen baute die nationalsozialistische Rassenpolitik auf. Das dürfen wir auf keinen Fall schlucken. Es zählt nicht nur der Ort, an dem du lebst, sondern auch die Erziehung, deine Familie, dein sozialer Umgang.
Lukaschenko und Putin schwelgen ständig in der Vergangenheit und ihren Kindheitserinnerungen. Wollen sie, dass wir so leben wie damals, und tun alles dafür?
Ich glaube, im Grunde sind wir ihnen völlig schnuppe. Sie selbst wollen in einem – aus ihrer Sicht – mächtigen Land leben, vor dem alle Angst haben, und in ihrer Macht baden.
Ich glaube, bei solchen Leuten legt sich irgendwann ein Schalter um, und sie beginnen zu denken, dass das, was für sie gut ist, auch für alle anderen gut ist. „Was würdet ihr denn ohne mich machen? Ihr seid kleine Kinder, ihr müsst mir gehorchen. Was ich mir für euch überlege, das wird für euch gut sein.“
Alle erinnern sich gern an ihre Kindheit – ja, Plombir war lecker. Mir scheint das eher ein Propagandatrick. Sie brauchen vor allem Macht.
Und wenn der Diktator stirbt, wird es besser?
Ja. Im Moment versucht man uns schreckliche Angst einzujagen, dass danach alles in Blut und Chaos versinkt. Historisch gesehen ist alles möglich, und natürlich wird es auch auf irgendeine Art Chaos geben. Andererseits wird der erste Schritt zur Veränderung nach dem Tod des Diktators von Leuten aus seinem Umfeld getan. Sie verstehen, dass sie nicht so werden können wie er und ein neues Leben aufbauen müssen. Sie müssen sich mit der internationalen Gemeinschaft verständigen und für Stabilität sorgen. Das konnte man gut in der Tauwetterperiode beobachten, sowohl in der UdSSR als auch in Spanien [unter Franco] oder Portugal [unter Salazar]. Die ersten Veränderungen werden von Leuten aus dem Inneren des Systems herbeigeführt.
Der erste Schritt zur Veränderung nach dem Tod des Diktators wird von Leuten aus seinem Umfeld getan
Die spannende Frage ist die, was danach passiert. Das Tauwetter hat in der UdSSR ein bisschen getröpfelt, dann kam wieder der Frost. Das Regime hat sich nicht verändert, alles ist in den Händen der Leute aus demselben System geblieben. In Spanien wurden die Veränderungen zunächst von Menschen aus dem System angestoßen, aber dann von verschiedenen Parteien und Organisationen aufgegriffen, unterschiedliche soziale Schichten haben sich eingeklinkt und Druck ausgeübt, weil das System weicher geworden war. Sie bekamen die Möglichkeit zu handeln und veränderten das Regime.
Das ist ein großes Problem für uns alle: Was werden wir tun, wenn die Regime fallen? Werden wir die Chance nutzen oder ein weiteres Mal alles verschlafen, während wir uns gegenseitig bekriegen und auf Hexenjagd gehen, und das Regime wird sich hinüberretten und alles wieder von vorne beginnen? Auf der zweiten Etappe wird sehr viel von uns abhängen.
Was wussten Sie vor 2020 von Belarus und den Belarussen?
Das spricht nicht gerade für mich. Abgesehen von der Band Pesnjary und ein paar groben Vorstellungen davon, was bei euch während des Kriegs und der Partisanenbewegung passierte, wusste ich kaum etwas. Und das ist falsch. Ich hatte absolut keine Vorstellung von eurer Kultur und Geschichte. Für viele, nicht nur für mich, war 2020 eine Erschütterung, weil wir Belarus als sehr sowjetische Republik wahrgenommen hatten. Aber ich glaube, das war eher Lukaschenkos Propaganda zu verdanken. Er hat dieses Bild erschaffen: Wir halten an den sowjetischen Traditionen fest. Wir dachten, bei euch ist alles noch schlimmer als bei uns. Aber dann kam dieser wundervolle Protest – wir müssen noch einiges von Belarus lernen.
Eine der wichtigsten Epochen in der belarussischen Geschichte ist das Großfürstentum Litauen. Wie wird die Geschichte dieses Staates in Russland gelehrt?
Gar nicht. Vielleicht wird es hier und da erwähnt. Der Geschichtsunterricht geht in den verschiedenen Teilen der ehemaligen Sowjetunion auf die sowjetische Tradition zurück, und die sowjetische Tradition auf das russische 19. Jahrhundert. Es wird Staatsgeschichte gelehrt, und alles, was außerhalb des Staates liegt, ist entweder eine Lüge oder völlig uninteressant. Und die Geschichte des russischen Staates ist die Geschichte von Moskau und Sankt Petersburg. Alles andere ist zweitrangig. Dabei sind das 14. und 15. Jahrhundert sowohl für Russland als auch für die Ukraine, Litauen und Belarus unglaublich interessant. Aber es wird alles nur aus dem Blickwinkel Moskaus präsentiert.
Die Geschichte des russischen Staates ist die Geschichte von Moskau und Sankt Petersburg. Alles andere ist zweitrangig
Ich würde mir wünschen, dass diese Epochen in der Zukunft nicht als Geschichte des einen oder anderen Staates gelehrt werden, sondern als Geschichte von Völkern. Dann würden wir ein Kaleidoskop von verschiedenen Menschen, Kulturen und Sprachen erhalten und sehen, wie vielfältig alles war.
Die belarussischen Behörden bauen ihre Propaganda und Ideologie auf der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs auf. Warum ist das so, was denken Sie?
Sie handeln im Rahmen des sowjetischen und aktuellen Narrativs. Die Machthaber schlugen seit 1945 Kapital aus dem Krieg, indem sie seine Geschichte verzerrten. Der Philologe Jewgeni Dobrenko hat ein Buch namens Posdni Stalinism (dt. Der Spätstalinismus) geschrieben, das ich gerne zitiere: „Die Geschichte des Kriegs wird zu einer Geschichte des Sieges.“
Nach außen hin gelten alle Worte den Opfern. In der belarussischen Geschichte waren das Chatyn und andere verbrannte Dörfer. Doch das Hauptnarrativ lautet: Es gab schreckliche Leiden, aber wir haben trotzdem gesiegt, wir haben’s ihnen richtig gezeigt. Rollende Panzer, die Operation Bagration, „Da sdrawstwujet towarischtsch Stalin!“ (dt. „Hoch lebe Genosse Stalin!“). Aber in der Geschichte des Krieges ist nicht alles so einfach. Übrigens waren es die belarussischen Historiker, die davon sprachen, dass Themen wie die Partisanenbewegung – und das ist die heilige Kuh – sehr komplex seien.
Das Hauptnarrativ lautet: Es gab schreckliche Leiden, aber wir haben trotzdem gesiegt, wir haben’s ihnen richtig gezeigt
Daher wissen wir, dass das Bild von den Partisanen, die aus dem Wald kommen und von den Dorfbewohnern jubelnd mit den Worten: „Hurra, unsere guten Jungs sind da!“ empfangen werden, falsch ist. Auch die Partisanen waren gefürchtet. Das allein galt als schreckliche Häresie und Lästerung der Heldentaten des sowjetischen Volks.
Wie derzeit über den Krieg gesprochen wird, das gibt den Propagandisten die Möglichkeit zu erklären, es wäre damals nicht um Blut, Dreck und Gräueltaten gegangen, sondern um den Triumph unserer Heerführer, allen voran Genosse Stalin. Das waren die wahren Sieger, nicht die Menschen, die in den Schützengräben verfaulten. Diese Vorstellung kommt sowohl Putin als auch Lukaschenko sehr entgegen. Sie sehen sich als eben solche alle besiegenden Sieger.
Wie wird man Lukaschenko in den Lehrbüchern beschreiben, wenn er nicht mehr an der Macht ist?
Man wird schreiben, was für ein großer Diktator er war, das ist klar. Aber ich glaube, dass es interessanter sein wird, über Lukaschenko zu schreiben als zum Beispiel über Putin. Wie er raffiniert seinen Weg zur Macht geebnet und die Karte der Sowjetnostalgie ausgespielt hat. Natürlich hat Putin dasselbe gemacht, aber Lukaschenko war viel früher. Er hat mit irgendeinem sechsten Sinn gespürt, dass das der Köder ist, mit dem man viele Menschen kriegt. Man wird ihn als interessanten, blutrünstigen und hinterlistigen Diktator erforschen.
Was denken Sie, wäre Lukaschenko bereit, alles Belarussische in Belarus abzuschaffen und sich selbst und die Belarussen Russen zu nennen, wenn es die politische Situation erfordert?
Ich glaube, das tut er schon. Als die Sowjetunion zerfiel, kamen in fast allen Republiken Leute an die Macht, die nationale Ideen vorbrachten. Lukaschenko schrieb sich stattdessen die prosowjetische Idee auf die Fahne, sein größter Feind war die Nationalpartei. Er ist bereits dabei, alles Belarussische zu unterdrücken: die Sprache, die Kultur. Aber hier sind wir wieder bei der Machtfrage – bis zu welchem Punkt wird er bereit sein, das zu tun? Ist er bereit, zu Russland zu gehören? Sich Putin zu unterwerfen? Über eine Nachfolgerschaft zu verhandeln? Irgendwie scheint mir das keine Option für jemanden, der Geschmack an der Macht gefunden hat.
In Russland gibt es jetzt Schulbücher mit einem Kapitel über die „Spezialoperation“. Darin geht es um die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, um den „Druck der Vereinigten Staaten“, „Geschichtsklitterung“ und das „Wiedererstarken des Nazismus“. Unter anderem wird in diesem Lehrbuch behauptet, die westlichen Länder hätten die fixe Idee einer „Destabilisierung der Lage in Russland“. Im Abschnitt über den Krieg in der Ukraine wird Putin mit der Aussage zitiert, Russland habe den Krieg begonnen, um die Kämpfe in der Ukraine zu beenden. Ist es ein Verbrechen, so etwas zu lehren?
Ein solches Lehrbuch zu schreiben, ist ein Verbrechen. Unterrichten kann man nach so einem Lehrbuch auf unterschiedliche Art und Weise. Man kann sagen: „Achtet nicht drauf, was da steht.“ Aber es ist und bleibt eine schwierige Herausforderung, mit einem solchen Lehrbuch zu arbeiten.
Am Wochenende wurde in Russland der sogenannte „einheitliche Wahltag” veranstaltet: In 21 Regionen wurde über die Regionsoberhäupter entschieden und die Zusammensetzung von 16 Regionalparlamenten neu bestimmt. Vor der Präsidentschaftswahl 2024 testet der Staat seine Kontrolle über das Land. Und die Opposition testet seine Schwachstellen. Unter Menschen, die dem Kreml gegenüber kritisch eingestellt sind, wird schon lange debattiert, ob die unfairen und manipulierten Wahlen boykottiert werden sollten, oder ob man sich allen Wahlfälschungen zum Trotz beteiligen sollte, um den Betrügern wenigstens so viele Schwierigkeiten zu machen wie möglich. Auch der prominenteste Oppositionspolitiker Alexej Nawalny forderte aus dem Gefängnis heraus seine Unterstützer auf, zur Wahl zu gehen und für die Kandidaten zu stimmen, die der Kreml-Partei Einiges Russland am ehesten Konkurrenz machen.
In der Debattenschau stellt dekoder die Argumente der politischen Beobachter Alexander Kynew und Grigori Judin und der Moskauer Lokalpolitikerin Julia Galjamina vor. Ihre Beiträge haben sie bereits vor der Wahl für den Think Tank Kollektiwnoje deistwije (dt. kollektives Handeln) verfasst. Darüber, dass die Scheinwahlen, die in den besetzten Gebieten auf ukrainischem Staatsgebiet inszeniert wurden, illegal sind und boykottiert werden sollten, herrschte unter demokratischen Oppositionellen Einigkeit.
Alexander Kynew: Die Wahlen sind eine Gelegenheit, etwas über die russische Gesellschaft zu erfahren
[bilingbox]Wahlen sind keine bloße Formsache, sondern eine Gelegenheit, die Stimmung in der Gesellschaft zu messen, eine riesige soziologische Umfrage. Wie soll man etwas über eine Gesellschaft erfahren, wenn man sich nicht die Wahlen anschaut? Bei allen Problemen mit Wettbewerb und Abhängigkeit von der Staatsmacht zeigen Wahlen, wie repressiv ein System ist. Und sie spiegeln wider, wie homogen oder heterogen eine Gesellschaft ist. Selbst wenn das Messinstrument nicht ideal ist, kann es bei regelmäßiger Benutzung eine Dynamik aufzeigen.
Wenn wir von den Wahlen sprechen, müssen wir zunächst die föderalen Wahlzyklen verstehen. Ein Zyklus dauert fünf Jahre und beginnt mit den Wahlen in die Staatsduma. Innerhalb dieses übergeordneten föderalen Zyklus finden alljährlich in unterschiedlich vielen Verwaltungseinheiten Regionalwahlen statt. 2021, im ersten Jahr des aktuellen Wahlzyklus, haben 39 Regionen ihre Parlamentswahlen zeitgleich mit den Wahlen in die Staatsduma abgehalten. Das erhöht den Einfluss der landesweiten Propaganda insbesondere in Regionen wie Sankt Petersburg, Perm und Krasnojarsk. Die Wahlen im zweiten Jahr betrafen die wenigsten Regionen und waren am unspektakulärsten: Von sechs Regionen sind vier in fester Hand der Regierungspartei, und die Höhe der Wahlbeteiligung entspricht dem Wahlergebnis für den Sieger.
Es ist nun das dritte Jahr des Zyklus, in dem die Regionen wählen, die 2018 gewählt haben. Damals war gerade die Rentenreform beschlossen worden und Leute wie Sergej Furgal (Chabarowsk) und Walentin Konowalow (Republik Chakassien) wurden regionale Oberhäupter. Diesmal wurden 16 Parlamente neu gewählt, wenn man die annektierten Regionen in der Ukraine einmal beiseite lässt.
Was die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk und die Oblaste Cherson und Saporischschja angeht, die Russland unrechtmäßig angegliedert hat: Dort gibt es keine klaren Grenzen, es gibt keine Wählerlisten, viele Menschen sind auf der Flucht, niemand weiß, wie viele Wahlberechtigte es dort überhaupt gibt. Wie soll ein Wahlkampf unter den Bedingungen von Kämpfen, Kriegszustand und Ausgangssperre aussehen? Ich bezweifle, dass überhaupt eine Wahl im eigentlichen Sinne stattfindet. Natürlich bekommen wir Protokolle, aber was bei diesen Wahlen wirklich passiert, bleibt ein Geheimnis.
Was das russische Staatsgebiet betrifft: Nur zwei der 16 teilnehmenden Subjekte wurden fest von der Regierungspartei kontrolliert – die Republik Baschkirien und die Oblast Kemerowo. Auch die Oblast Rostow gehörte bis zuletzt dazu, aber jetzt pendelt sie in Richtung Protest. Dort ist die Situation wegen der Flüchtlingsströme und der wachsenden Kriminalität angespannt, nicht zuletzt hatte Prigoshins Aufstand dort seinen Anfang genommen.
In den übrigen 13 Regionen gibt es im Zuge der Wahlen durchaus einen gewissen Wettbewerb. Die meisten dieser Regionen liegen in Sibirien oder Fernost, wie die Republiken Chakassien, Burjatien und Jakutien, die Region Transbaikalien und die Oblast Irkutsk. Auch in vielen Gemeinden, etwa in Krasnojarsk oder Abakan, gibt es unter den Kandidaten eine gewisse Konkurrenz. So auch in der Oblast Archangelsk und dem Autonomen Kreis der Nenzen, wo 2020 die Mehrheit gegen die Verfassungsänderungen stimmte. Weliki Nowgorod und Jekaterinburg sind zwei Regionen, in denen die Fraktion Jabloko vertreten sind.
In den Regionen, in denen es politischen Wettbewerb gibt, ist im Vergleich zu 2022 eine Belebung des politischen Lebens zu beobachten, wie man an den aktuellen politischen Kampagnen sehen kann. Ich sehe zwei Hauptgründe für diesen Aufschwung: Der erste Grund ist historisch und geografisch bedingt. Einige Regionen – wie der hohe Norden – waren schon immer protest- und wettbewerbsfreudiger, die dortige Bevölkerung ist aktiv. Der zweite Grund ist die Stabilisierung des politischen Systems. Im vergangenen Jahr standen viele Menschen unter Schock und wussten nicht, wie es weitergehen soll. Jetzt sehen sie, dass das Regime stabil ist und nicht einfach so verschwindet. Es wird sich wahrscheinlich von innen heraus verändern, seinen eigenen Gesetzen folgend.
Unterschiede zwischen den Kandidaten in Bezug auf die „militärische Spezialoperation“ sucht man vergeblich. Die meisten sprechen darüber einfach nicht. Die Trennlinie verläuft zwischen denen, die sie aktiv unterstützen, und denen, die zur Normalität zurückkehren wollen. Niemand kämpft entschlossen für das Ende der Spezialoperation. Die Parteien verhalten sich unterschiedlich: Die einen verbünden sich mit der Regierungspartei, die anderen setzen auf die Unterstützung der Wirtschaft. Aber es gibt keine Partei, die sich für den Frieden einsetzt.
Insgesamt hat die außenpolitische Thematik nichts mit den Regionalwahlen zu tun: Die Organe auf dieser Ebene haben keinen Einfluss auf derartige Entscheidungen. Sie kümmern sich um lokale Probleme wie Straßensanierung oder den Bau von Krankenhäusern.
Bei den Gouverneurswahlen, bei denen es keinerlei Wettbewerb gibt, ist die Spezialoperation im Wahlkampf kein Thema, höchstens als Schutzreaktion: Viele Gouverneure haben Angst, jemand könnte sie denunzieren oder sich über sie beschweren, also sichern sie sich ab, ziehen Uniformen an, besuchen in Camouflage Krankenhäuser und fahren an die Front.
Der Rest der Wahlkampagne dreht sich um die soziale Absicherung: Unterstützung für die Familien derer, die eingezogen oder getötet wurden, Ferienprogramme für Kinder aus solchen Familien oder Hilfe für bestimmte soziale Gruppen aus der Ostukraine. Es gibt viele solcher Initiativen, ich würde sie als Teil der Sozialpolitik betrachten. Lokale soziologische Studien zeigen, dass Bedarf an Hilfe für Kriegsgeschädigte besteht und von den Menschen positiv aufgenommen wird. Wenn man die globalen Dinge schon nicht beeinflussen kann, will man wenigstens den Opfern helfen – diese Überzeugung herrscht auf regionaler Ebene.~~~Выборы — это не просто формальность, — это уникальный способ измерения общественных настроений, гигантский соцопрос. Как вы что то можете знать об обществе, если вы не изучаете выборы? При всех проблемах с конкуренцией и зависимостью от власти, выборы показывают степень контроля над обществом, отражают степень однородности или разнообразия общества. Даже если инструмент измерения не идеален, он может показать динамику, если используется постоянно.
Когда речь идет о предстоящих выборах, важно понимать концепцию федерального электорального цикла. Он длится пять лет и считается от выборов Государственную думу. Внутри этого федерального большого цикла ежегодно неравномерными группами проходят выборы по регионам. В 2021 году, в первый год цикла, 39 регионов провели выборы своего парламента одновременно с Госдумой. Так происходит в последние годы, чтобы использовать преимущества федеральной пропаганды, особенно в таких регионах как Санкт-Петербург, Пермский и Красноярский край. Потом идет второй год цикла, он самый маленький и самый неинтересный: из шести регионов, четыре — это жестко управляемые, где процент явки совпадает с максимальными процентами за победителя.
Сейчас третий год цикла, завершается срок полномочий в тех регионах, которые голосовали после пенсионной реформы в 2018 году. В этот период были избраны такие фигуры, как Фургал (Хабаровский край) и Коновалов (Республика Хакасия). Выборы пройдут в 16 законодательных собраниях, и если учесть объявленные присоединенными области Украины, их станет 20. Кроме того, будут выборы в городские советы крупных городов.
Что касается ЛНР, ДНР, Херсонской и Запорожской областей, объявленных присоединенными, тут есть много вопросов. В первую очередь, отсутствие четких границ делает невозможным формирование одномандатных округов. Поэтому выборы будут проводиться только по партийным спискам, как областных советах, так и на городских местных выборах. Еще одной проблемой являются списки избирателей: из-за миграции по линии фронта никто точно не знает, сколько людей находится на территории этих областей. Конкуренции там, вероятно, не будет. Какая может быть агитационная кампания в условиях военных действий, военного положения и комендантского часа? Я сомневаюсь в том, что голосование в привычном понимании этого слова вообще состоится. Конечно, будут оформлены протоколы, но что на самом деле произойдет на этих выборах, остается загадкой.
Не считая эти территории, из 16 участвующих субъектов только два — Республика Башкортостан и Кемеровская область — строго контролируются властью. Такой была и Ростовская область, но сейчас она колеблется в сторону протестности. Там сложная ситуация из-за миграции, ухудшения криминогенной обстановки, плюс там как раз начинался Пригожинский мятеж.
Оставшиеся 13 регионов являются конкурентными в плане выборов. Большинство из них находятся в Сибири и на Дальнем Востоке, включая Хакасию, Забайкальский край, Бурятию, Якутию и Иркутскую область. Кроме того, многие муниципалитеты, такие как Красноярска и Абакана, также являются конкурентоспособными. Также конкуренция есть в Архангельской области и Ненецком автономном округе — в 2020 году там голосовали против изменений в Конституции. Великий Новгород и Екатеринбург — два региона, где представлена фракция Яблоко.
В конкурентных регионах происходит оживление политической жизни по сравнению с прошлым годом, если судить по текущим политическим кампаниям. Я вижу две основные причины этого оживления. Первая причина историко-географическая. Так сложилось, что некоторые регионы, например Крайний Север, всегда были более протестны и конкурентоспособны, там живут активные люди. Вторая причина — это стабилизация политической системы. В прошлом году многие были в шоке и не знали, что делать дальше. Сейчас же стало понятно, что режим устойчив и не собирается никуда исчезать. Он, скорее всего, будет меняться изнутри, следуя своим внутренним законам. Поэтому дискурс меняется в сторону того, как выживать, и какие должны быть ставки в этом выживании.
Искать различия между кандидатами на основе их отношения к СВО бессмысленно, так как большинство из них об этом просто не говорят. Основное разделение происходит между теми, кто активно поддерживает спецоперацию, и теми, кто за возвращение к нормальной жизни. Радикальных борцов за прекращение СВО нет просто из-за рационального поведения игроков. Партии ведут себя по-разному: одни ассоциируют себя с властью, другие строят кампанию на поддержке бизнеса. Но нет такой партии, которая бы выступала за мир. Есть партии войны, которые конкурируют друг с другом. И есть несколько партий здравого смысла.
В целом, внешнеполитическая тематика не имеет никакого отношения к региональным выборам: органы этого уровня не влияют на принятие таких решений. Идти на местные выборы с внешнеполитической повесткой — это вводить избирателей в заблуждение. Региональные органы власти решают локальные задачи, такие как ремонт дорог или строительство больницы.
Там, где это выборы неконкурентные, губернаторские, СВО в избирательной кампании не для избирателей, а для системы. Это защитная реакция: многие губернаторы боятся, что на них кто-то донесет, пожалуется, поэтому они перестраховываются, надевают камуфляж, посещают госпитали и ездят на фронт.
В остальном, агитационная история касается социальной защиты. Защита семей тех кто призван или погиб, выделение путевок детям из этих семей или помощь конкретным социальным группам из Восточной Украины. Таких инициатив много, и я бы рассматривал их как часть социальной политики. Судя по локальным социологическим исследованиям, запрос на помощь пострадавшим существует и вызывает одобрение людей. Раз на глобальные вещи повлиять не могут, то надо помогать тем, кто пострадал — такое убеждение присутствует на региональном уровне.[/bilingbox]
Grigori Judin: Russland braucht erfahrene Demokraten in Freiheit, nicht im Gefängnis
[bilingbox]Für die Regierung sind Wahlen unabdingbar, weil die Legitimität in Russland auf demokratischen Prinzipien basiert. Das bedeutet nicht, dass bei uns Demokratie herrscht, aber darauf basiert eben die Legitimität der Regierung. Die Regierung behauptet, allen Entscheidungen würden auf Grundlage des Volkswillens getroffen. Daher müssen regelmäßig Wahlen stattfinden. Der Erste, der ein solches System eingeführt hat, war im 19. Jahrhundert Napoleon III. in Frankreich. Es war dem im heutigen Russland sehr ähnlich. Das gesamte Verwaltungssystem des Landes ist an der Durchführung dieser Wahlen beteiligt, um die demokratische Legitimität der Regierung zu unterstützen.
Andererseits sehe ich einen Bedarf an echter Demokratie in Russland, der vor allem von unten kommt, nämlich auf der Ebene der regionalen Selbstverwaltung. Das ist weniger die Forderung nach fairen Wahlen als vielmehr der Wunsch, auf regionaler Ebene selbständig entscheiden zu können. Vor dem Hintergrund der Wahlfälschungen bleibt dieses Bedürfnis nach Demokratie leider oft unbemerkt. Aber es ist real und stimmt optimistisch.
Ich bewundere das Engagement von Menschen, die sich derzeit aktiv am politischen Leben beteiligen, und glaube daran, dass gerade solche Menschen in der Zukunft etwas verändern können. Derzeit jedoch, unter den aktuellen Bedingungen, wird ihr Tun wohl kaum zu wesentlichen Veränderungen führen. Ich will die Aktivisten nicht kritisieren und sie nicht öffentlich von ihrer Mission abbringen, aber sie gefährden sich selbst: Während sie früher ihren Job riskierten, landen sie jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach im Gefängnis. Gerade weil ich ja glaube, dass sie die Zukunft in der Hand haben, will ich nicht, dass sie in Haft sitzen.
Was den Zusammenhang zwischen den aktuellen Wahlen und dem bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf betrifft, so sind die aktuellen Wahlen für die Verwaltung eine Art Probelauf. Es geht nicht nur um die Darstellung der Ergebnisse, sondern auch um das Funktionieren des Systems. Peskow nannte das eine „kostenintensive Bürokratie“, und ich gebe ihm Recht. Das ist nicht nur Bürokratie, sondern eine Investition ins System. Wenn man das billig machte, würde das System nicht funktionieren – nicht, weil es nicht billiger ginge, sondern weil genau das der Sinn dahinter ist. Jetzt, ein halbes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen, ist es an der Zeit, die Funktionsfähigkeit des Systems unter den neuen Bedingungen zu testen, vor allem mit Rücksicht darauf, dass das System unter Stress steht. Doch das nächste große Plebiszit wird unter einem ganz anderen Druck stattfinden. ~~~Для правительства выборы необходимы, потому что в России легитимность строится на демократических принципах. Это не означает, что у нас демократия, но именно так устроена легитимация правительства. Правительство утверждает, что все решения принимаются на основе воли народа. Поэтому требуется регулярное проведение голосований. Такая система была впервые введена Наполеоном III во Франции в 19 веке и очень похожа на то, что происходит в России сейчас. Вся административная система страны работает на проведение этих выборов, чтобы поддерживать демократическую легитимность правительства.
С другой стороны, я вижу запрос на настоящую демократию в России, который исходит, прежде всего, снизу — с уровня местного самоуправления. Это не столько требование честных выборов, сколько желание иметь возможность самостоятельно принимать решения на местном уровне. Этот демократический запрос, к сожалению, часто остается незамеченным на фоне проблем с фальсификацией выборов. Но он реален и внушает оптимизм.
Я уважаю усилия тех, кто сейчас активно участвует в политической жизни, и верю, что именно такие люди в будущем смогут что-то изменить. Однако сейчас, в сложившихся условиях, их действия, скорее всего, не приведут к существенным изменениям. Я не критикую и публично не отговариваю активистов, но считаю, что сегодня их деятельность просто опасна для них самих, — если раньше их просто снимали отовсюду, то сейчас, вероятней всего, будут сажать. Именно потому, что я считаю, что за ними будущее, мне не хочется, чтобы их сажали.
Что касается связи между текущими выборами и предстоящей президентской кампанией, то в административной логике текущие выборы являются своего рода репетицией. Важно не просто рисование результатов, а работающая система. Песков назвал это «дорогостоящей бюрократией», и я согласен с ним. Это не просто бюрократия, это инвестиция в систему. Если делать это дешево, система не будет работать, — не потому, что нельзя сделать дешевле, а потому что именно в этом и смысл. Сейчас, за полгода до президентских выборов, — время для проверки функционирования системы в новых условиях, особенно учитывая, что система находится под стрессом. Но следующий, большой, плебисцит будет проведен с совершенно другим уровнем давления.[/bilingbox]
Julia Galjamina: Die Teilnahme an Wahlen gibt Aktivisten und Wählern Hoffnung
[bilingbox]Ich finde es wichtig, an den Wahlen teilzunehmen, weil das eine Möglichkeit ist, gegen den Autoritarismus zu protestieren. Wir können und dürfen die Hoffnung nicht verlieren und müssen jede Gelegenheit nutzen, für unsere Werte einzustehen – für Frieden, Demokratie und politische Teilhabe. In jeder Situation und in jedem Kontext kann und muss man für seine Werte einstehen und entsprechend handeln, statt nur zu warten.
Es gibt drei triftige Gründe, an den Wahlen teilzunehmen: die Unterstützung des aktiven Teils des politischen Spektrums in Russland, die Repolitisierung der Gesellschaft und die Einflussnahme in den jeweiligen Städten. Die Wahlkampagne der Jabloko-Kandidaten in Weliki Nowgorod zum Beispiel ist im ganzen Land bekannt und gibt allen ein Fünkchen Hoffnung – den Aktivisten genauso wie den einfachen Wählern.
Wie viele Kandidaten überhaupt zu den Kommunalwahlen zugelassen werden, ist regional unterschiedlich. In Krasnojarsk zum Beispiel wurden alle Kandidaten zugelassen, aber ihre Zahl lässt zu wünschen übrig. Einer der Gründe dafür ist, dass es keine politische Kultur und keine Akteure gibt, die systematisch und nicht nur vor den Wahlen an die Öffentlichkeit gehen. In Jekaterinburg im bereits erwähnten Weliki Nowgorod, und im erweiterten Stadtgebiet von Moskau, wo permanent und systematisch gearbeitet wurde, gibt es viele Kandidaten, und die meisten von ihnen wurden auch zugelassen. In Belgorod wurden die wenigen unabhängigen Kandidaten nicht zugelassen, aber dort ist die Situation auch sehr angespannt.
Generell werden derzeit nicht so viele unabhängige Kandidaten aufgestellt und registriert. Aber ich finde nicht, dass das nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. In einer konkreten Stadt kann sogar ein einziger Abgeordneter eine große Stütze für die Bevölkerung sein. So hat beispielsweise der einzige unabhängige Abgeordnete in meinem Bezirk geschafft zu verhindern, dass das Parken in den Innenhöfen kostenpflichtig wird. Auch wenn nur wenige handeln, schöpfen viele daraus Hoffnung. Deshalb muss man weiter mit gutem Beispiel vorangehen, in Übung bleiben und die über Jahre gesammelte Erfahrung mit Wahlkampagnen wachhalten.~~~Мне кажется, участие в выборах важно, потому что это один из способов сопротивления авторитаризму. Мы не можем и не должны терять надежду и использовать все возможности для продвижения своих ценностей, таких как мир, демократия и политическое участие. Сегодня с двух сторон нам навязывается двойственное видение мира: страшная тьма и прекрасный свет. Только стороны света и тьмы меняются в зависимости от того, чья это пропаганда. Но нужно противостоять этой большевистской логике. В любой ситуации, в любом контексте можно и нужно продвигать свои ценности и действовать, а не просто ждать.
Можно выделить три главных смысла участия в выборах: поддержание активной части политического спектра России, реполитизация общества и локальное воздействие в каждом городе. Пример кампании, которую показывают, например, кандидаты от «Яблока» в Великом Новгороде (участники Земского съезда) становятся известными во всей стране и дают луч надежды всем — и активистам, и простым избирателям.
Ситуация с количеством и регистрацией кандидатов на муниципальных выборах различается по регионам. В Красноярске, например, кандидаты были зарегистрированы, но их количество оставляет желать лучшего. Одна из причин — отсутствие сложившейся культуры политических партий и действующих игроков, которые работали бы системно, не только в период выборов. А вот в Екатеринбурге и упомянутом Великом Новгороде, в Новой Москве, где велась постоянная системная работа, — кандидатов много и большинство из них зарегистрировали. В Самаре и Воронеже, несмотря на системную работу оппозиции, просто мало мест разыгрывается, так как проводятся довыборы, поэтому кандидатов не регистрируют. В Белгороде немногочисленных независимых кандидатов тоже не зарегистрировали, но там ситуация тоже очень напряженная.
В общем, независимых депутатов сейчас и выдвигается и регистрируется не так много. Но я не согласна, что это капля в море. В конкретном городе даже один депутат может стать большим подспорьем для местных жителей. Например, единственный депутат в моем районе смог остановить введение платных парковок во дворах. Пусть немногие действуют, но многие испытывают надежду. Поэтому важно продолжать показывать пример, сохранять практики, навыки и предвыборный опыт, наработанный годами.[/bilingbox]
Die zwei Diktaturen Russland und Belarus sind eng miteinander verwoben. Nicht nur ist Putins Russland der Garant für Lukaschenkos Herrschaft in Belarus. Auch der kleinere Nachbar kann dem großen Kriegsherren noch innenpolitisches Vorbild sein.
Die Strategien des Machterhalts moderner Diktaturen setzen weniger auf Unterdrückung als auf eine Imitation von Demokratie. Manche Experten bezeichnen diesen Ansatz als Smart Authoritarianism. Der oppositionelle russische Ökonom Sergej Gurijew schlägt den Begriff der Spin Dictatorship vor. Demgegenüber stehen Diktaturen, die sich auf bloße Gewalt und Angst stützen.
In der belarussischen Morgen-Talkshow Obytschnoje Utro verortet Gurijew das Machthaber-Gespann Putin und Lukaschenko in diesem Konzept und skizziert Szenarien für ihr Ende.
Sergej Gurijew: Wir haben Lukaschenko von Anfang an als Diktator der Angst eingestuft. Natürlich waren die Repressionen vor 2020 nicht so heftig, aber es gab sie von Beginn [seiner Herrschaft − dek] an, und zwar offen: Oppositionelle Politiker sind nicht erst vor der Wahl 2020 verschwunden, sondern auch schon zehn Jahre davor. Präsidentschaftskandidaten wurden inhaftiert. Das waren offene Repressionen. Und erinnern Sie sich, wie Lukaschenko 2020 begann, über Propaganda nachzudenken – dazu musste er Experten aus Russland einladen. Da kamen Flugzeuge voller Propagandisten an, die ihm halfen, seine Propaganda in Schwung zu bringen. Bis dahin hatte Lukaschenko nie wirklich darüber nachgedacht, dass er irgendwelche Medienmechanismen brauchen könnte. Er hatte sich einfach auf Gewalt verlassen.
Obytschnoje Utro: Er ist also von Anfang an ein Diktator der Angst, interessant. Können Sie sich an diesen Wettlauf von Lukaschenko und Putin ab etwa 2000 erinnern: „Wer von beiden ist der größere Diktator?“ In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Putin eher ein Diktator der Täuschung ist.
Ja, jedenfalls was die Anwendung von Gewalt anging, lag Putin hinter Lukaschenko zurück. In Russland hieß es immer, man müsse nach Belarus schauen, weil das, was in Belarus jetzt passiere, Russland ein paar Jahre später erreiche. Aber wir sehen Putin bis 2021/2022 wirklich als einen Diktator der Täuschung.
Die erste Auflage unseres Buchs erschien 2022 auf Englisch. Das Manuskript war im Frühjahr 2021 fertig. Damals sagten wir, dass sich Putin anscheinend bereits in diese Richtung bewegte. Abgeschlossen war diese Transformation in der ersten Woche nach Beginn des großen Angriffs auf die Ukraine 2022, als alle unabhängigen Medien geschlossen, Facebook, Twitter und Instagram blockiert wurden und Putin eine offizielle Zensur installierte, sodass man für solche Gespräche, wie wir sie gerade führen, für viele Jahre im Gefängnis landen kann. Das ist etwas, was es in Russland in den Jahren davor noch nicht gab. Aber diesen Wettlauf, den gab es tatsächlich.
Insgesamt bewegt sich das russische Regime auf eine Ausweitung der Repressionen zu
Wir beschreiben auch, wie Diktatoren voneinander lernen. Diktatoren der Täuschung lernen voneinander, wie man Propaganda und Zensur am besten einsetzt. Diktatoren der Angst wiederum bilden andere Diktatoren der Angst sowie Diktatoren der Täuschung weiter. Insofern studieren nicht nur wir die Diktatoren, sondern auch sie tauschen untereinander ihre Erfahrungen aus.
Seit Beginn des großangelegten Angriffskriegs 2022 wetteifern sie jetzt, wer der Abgebrühtere ist? Zum Beispiel, wenn es um das Foltern der Bevölkerung geht? Oder wer die meisten politischen Gefangenen hat? Wer ist denn der größere Herodes, wie sehen Sie das?
Na ja, so weit wie Lukaschenko geht Putin definitiv noch nicht. Russische Oppositionelle haben noch Kontakt zur Außenwelt, wenn auch sehr beschränkt. Sogar Alexej Nawalny kann aus dem Gefängnis heraus Botschaften schicken und mit seinem Anwalt reden. Von den belarussischen Oppositionellen hört man seit Monaten gar nichts mehr. Putin macht nicht, was Lukaschenko macht: Aufnahmen aus dem Jahr 2020 durch Gesichtserkennungsprogramme jagen und die Protestierenden von damals verhaften und foltern lassen. So etwas gibt es in Russland bisher nicht. Aber insgesamt bewegt sich auch das russische Regime auf eine Ausweitung der Repressionen zu.
Einige Politologen, wie zum Beispiel der Belarusse Waleri Karbalewitsch, der häufig bei uns zu Gast ist, sind der Meinung, dass Lukaschenko heute sehr fest auf seinem Thron sitzt und nicht vor hat abzudanken. Gleichzeitig werden die Schrauben [der Repressionen − dek] von Tag zu Tag fester angezogen. Sie aber schreiben im Vorwort zu Ihrem Buch, dass Einschüchterung immer ein Zeichen von Verzweiflung ist, das eher auf Schwäche als auf Stärke hindeutet. Je mehr Belarus zu einem Konzentrationslager werde, desto sicherer könne man davon ausgehen, dass Lukaschenkos Kräfte mit jedem Tag schwinden.
Ja, weil es eine Sackgasse ist. Man kann nicht mehr dahin zurückkehren, wo Belarus noch vor 2020 stand. Trotz aller Unzulänglichkeiten des Wirtschaftsmodells gab es doch einen Sektor für Spitzentechnologie, der Dienstleistungen in die ganze Welt exportierte. Belarus hatte trotz aller Probleme einen konkurrenzfähigen Wirtschaftszweig. Natürlich war das Land abhängig von Hilfe aus Russland, aber trotzdem − das, was früher war, wird nicht mehr wiederkommen. Und jetzt, wo im Land russische Truppen stehen, hat Belarus natürlich seine Souveränität verloren. Putin kann, wann immer er will, den Staatschef austauschen. Auch in diesem Sinne führt das, was Lukaschenko macht, sein eigenes Regime in die Katastrophe. Er hat keine wirkliche Wahl mehr, er ist direkt von Putin abhängig, nicht nur von Putins Geld, sondern auch von Putins Soldaten. Das ist ein klares Zeichen dafür, dass sein Modell gescheitert ist.
Apropos scheitern, nicht nur sein Regime scheitert, er stürzt auch uns ins Verderben, nicht wahr? Er ist schon seit fast 30 Jahren an der Macht. Dass er seit 2020 nicht mehr abdanken kann, ist klar. Aus Ihrer Sicht als Wirtschaftswissenschaftler, wie teuer kommt uns Lukaschenkos Wunsch zu stehen, bis zu seinem Tod an der Macht zu bleiben? Kann man sagen, je länger er auf dem Thron sitzt, desto weiter wird er Belarus herunterwirtschaften?
Das sowieso, mit Sicherheit. Das haben wir auch 2011 und 2012 gesehen, als die Regime in Nordafrika und im Nahen Osten gestürzt wurden. Wir haben gesehen, dass es in einem Land, in dem jahrzehntelang ein brutaler Diktator an der Macht war, weder eine Zivilgesellschaft noch eine Opposition gibt. Und je länger der Diktator an der Macht war, desto schwieriger ist das Schicksal des betreffenden Landes nach seinem Ende. Das heißt nicht, dass die Demokratisierung schädlich ist. Das bedeutet, dass die Perspektive eines Landes schlechter wird, je länger ein Diktator an der Macht ist. Und die Schuld daran liegt nicht bei jenen Menschen, die nach dem Diktator kommen, sondern beim Diktator, der die Zivilgesellschaft zertrampelt und ausmerzt und die Wirtschaft ruiniert. Daher ist in einem Land, in dem ein brutaler Diktator jahrzehntelang alles Lebendige und Unabhängige im Keim erstickt hat, nichts Gutes zu erwarten.
Was könnten wir der Welt anbieten, sagen wir mal, wenn Lukaschenko nicht mehr wäre? Landwirtschaft? Also, wenn zum Beispiel die Schweiz für Käse und Schokolade steht und Belgien für Bier und Schokolade, womit könnte Belarus sich nützlich machen für die normale Welt?
Wie gesagt, Belarus hatte eine konkurrenzfähige Branche, nämlich die Programmierung. Aber generell ist Belarus ein ganz normales europäisches Land. Man kann sich ansehen, was in Polen oder den baltischen Nachbarländern von Belarus in diesen besagten 30 Jahren passiert ist. Das sind Länder mit hohen Einkünften geworden. Zwar jammern viele Leute, sie hätten Probleme, die Jugend wandere ab, die Wirtschaft bleibe immer noch hinter der deutschen zurück. Das stimmt alles. Aber welchen Weg zum Beispiel Polen in diesen 30 Jahren zurückgelegt hat, zeigt, um wieviel reicher Belarus sein könnte. Polens Pro-Kopf-Einkommen lag vor 30 Jahren auf demselben Niveau wie das der Ukraine vor dem Krieg. Heute ist es dreimal höher. Und Polens Beitritt zur EU und dass es trotz aller Probleme irgendwie die Korruption in den Griff bekommen und demokratische Institutionen geschaffen hat, zeigt, wie viel auch ein Land wie Belarus gewinnen könnte, wenn es den demokratischen europäischen Weg einschlagen würde.
Könnte da sozusagen die Export-Marke des „belarussischen IT-Fachmanns“ entstehen, die man auf der ganzen Welt kennt, oder …
Diese Marke gab es ja schon, nämlich bis 2020. Der High-Tech-Park war tatsächlich eine Marke, da gab es Firmen auf globalem Spitzenniveau, darunter natürlich EPAM, das man auf der ganzen Welt kennt. Natürlich litt die belarussische Wirtschaft unter der staatlichen Dominanz, aber gerade der High-Tech-Park war so eine Insel der Freiheit und der Orientierung am Weltmarkt. Aber der Gedanke, dass Belarus nur ein einziges Produkt liefern soll, ist ja eigentlich Unsinn. Belarus ist ein ganz normales europäisches Land und könnte Teil der Weltwirtschaft werden. Daran ist nichts Übernatürliches. Wir haben gesehen, wie verschiedene Länder in der globalen Arbeitsteilung ihren Platz gefunden haben. Die Slowakei zum Beispiel produziert Autos. Hätte man vor 30 oder 40 Jahren ahnen können, dass die Slowakei einer der führenden Autoproduzenten der Welt sein wird? Ja, da wurde der Tatra hergestellt, aber der war ja, wie Sie wissen, nicht das qualitativ beste Auto der Welt. Und trotzdem werden heute in der Slowakei alle möglichen Marken hergestellt. Belarus war, wie gesagt, ein Exporteur von Spitzentechnologien und hochqualifizierten IT-Dienstleistungen. Und man kann davon ausgehen, dass Belarus auch andere Sachen produzieren könnte.
In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie wichtig die Unterstützung durch echte demokratische World Leader für Länder ist, die diesen Weg erst noch beschreiten wollen. Wir Belarussen haben große Angst, dass es Lukaschenko nach Russlands Niederlage im Krieg, wenn es denn eine geben wird, gelingen wird, trocken aus dem Wasser zu steigen. Kürzlich hatten wir Ekaterina Schulmann in der Sendung, die mutmaßte: „So schlau, wie er ist, könnte er es durchaus schaffen, mit den Ländern des Westens in eine Art Dialog zu treten.“ Gleichzeitig finden wir in Ihrem Buch den Satz: „Wenn der Mythos der Diktatur einmal entlarvt ist, kann man ihn nicht mehr wiederherstellen.“ Wie sehen Sie das, wie wahrscheinlich ist ein Szenario, in dem Lukaschenko unbescholten bleibt und obendrein vielleicht sogar noch als Friedensstifter wahrgenommen wird?
Ja, das ist eine berechtigte Frage. Das hatten wir 2015 schon, als er sich freute: „Ich bin nicht mehr Europas letzter Diktator.“ Da gab es die Minsker Abkommen, und Lukaschenko sagte: „Der Westen braucht mich, weil ich nicht ganz so übel bin wie Putin.“ Ich habe den Eindruck, dass so etwas seit 2020 nicht mehr möglich ist. Nach den Massenrepressionen, die wir gesehen haben, nach der Folter, nach Lukaschenkos Beteiligung an dem Großangriff auf die Ukraine 2022 sehe ich keinen Weg zurück mehr. Obwohl wir auf der Welt auch schon alles Mögliche gesehen haben.
Lukaschenkos Schicksal hängt von Putins Schicksal ab
Insofern, wenn es ein größeres Übel als Lukaschenko gibt, nämlich Putin, dann kann es durchaus passieren, dass der Westen wieder nach Abstufungen von Irrsinn und Brutalität unterscheidet. Aber ich glaube nicht, dass Lukaschenko in den Klub der Zivilisierten zurückkehren kann, weil die Welt die Folter gesehen hat, weil die Welt die Misshandlungen gesehen hat, weil die Welt die gestohlenen Wahlen gesehen hat. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Belarus von Russland: Denn in Russland gibt es keine legitimen Politiker, die eine Wahl gegen Putin gewonnen hätten. Aber in Belarus gibt es sie. Und es hat natürlich seinen Grund, warum 2022 nicht nur gegen das Putin-Regime Sanktionen verhängt wurden, sondern auch gegen Lukaschenkos Regime. Dann war da noch die Flugzeugentführung. Da macht es schon nochmal einen Unterschied, ob man die eigene Bevölkerung foltert oder Staatsbürger westlicher Länder in Gefahr bringt. Also, ich glaube, für Lukaschenko gibt es keinen Weg zurück.
Wie stellen Sie sich dann sein Ende vor? Muss er vielleicht doch nach Den Haag? Oder gibt es ein anderes Szenario? In Belarus gibt es ja genug Menschen, die gern Gaddafis Schicksal für Lukaschenko sehen würden.
Ich glaube nicht, dass in Belarus dasselbe passieren wird wie in Libyen. Ich glaube, dass irgendwann ein Haftbefehl gegen Lukaschenko erlassen wird. Doch das Ende des Regimes wird davon abhängen, wie es in Russland weitergeht. Ein mögliches Szenario ist, dass Putin und Lukaschenko sich überwerfen. Aber ich halte es für wahrscheinlicher, dass Putin Lukaschenko an der Macht lässt und Lukaschenko ab dem Moment, da Putin weg ist, weder Soldaten noch Geld haben wird, um sich im Sattel zu halten. Dann wird er sich irgendwohin nach Dubai oder Venezuela absetzen und das Regime in sich zusammenbrechen.
Ich glaube nicht, dass er festgenommen und umgebracht wird. Ich glaube, dass er versuchen wird zu flüchten. Jedenfalls wurde bereits 2020 deutlich, dass dieses Regime ohne Putins Unterstützung nicht lebensfähig ist. Für Russland sind das keine hohen Geldbeträge, mit denen es Lukaschenko stützt, das könnte es sich bis in die Ewigkeit leisten. Aber für Belarus ist die Unterstützung durch Russland entscheidend. Also hängt Lukaschenkos Schicksal von Putins Schicksal ab.
Auf diese Ewigkeit möchte ich genauer eingehen. Was passiert momentan mit Russlands Wirtschaft? Seit Kriegsbeginn sind schon eineinhalb Jahre vergangen … Mein Gott, seit 2014! Und dann kamen Sanktionen und nochmal Sanktionen, immer mit der Erwartung, gleich ist es mit der russischen Wirtschaft aus und vorbei – aber es geht immer weiter. Was hat Russland da zum heutigen Tag für eine Knautschzone?
Die Wirtschaft in Russland durchläuft keine Krise, sie steht nicht vor dem Untergang, aber sie wächst auch nicht, und Putin geht langsam das Geld aus. Wenn die Sanktionen weiter verschärft werden, wird er noch weniger Geld haben. Das wirkt sich unmittelbar auf das Geschehen auf dem Schlachtfeld aus. Putin hat nicht Geld und Munition ohne Ende, daher kann er auch nicht immer wieder neue Gebiete erobern. Andererseits sehen wir, dass die Menge an Soldaten und Munition, die Putin zur Verfügung hat, ausreicht, um die aktuelle Frontlinie zu halten. Deswegen muss der Westen, wenn er Putin wirklich auf dem Schlachtfeld besiegen will, auch mehr liefern − mehr Waffen an die Ukraine liefern, die Sanktionen verschärfen und auch die Schlupflöcher stopfen und den Preisdeckel für den Export russischen Erdöls senken.
Ein per internationalem Haftbefehl gesuchter mutmaßlicher Kriegsverbrecher im Propaganda-Gewand eines fürsorglichen Opas: Die sogenannten Imagemakery des russischen Präsidenten inszenieren ihn zunehmend als „gütigen Opa der Nation“. Die Philologin Xenja Turkowa beschreibt auf Holod, weshalb sie dieses Bild gebastelt haben – obwohl „Opa“ anfangs noch eine hämische Diffamierung war.
Am 8. Juli ließ der stellvertretende Chef des russischen Sicherheitsrats, Dimitri Medwedew, wieder einmal eines seiner patriotischen Postings vom Stapel, in dem er wie üblich nicht mit heftigen Ausdrücken geizte. Er nannte US-Präsident Joe Biden einen „verschlafenen Volltrottel“ und „kranken, dementen alten Mann“ und schloss mit der Vermutung: „Vielleicht ist aber auch alles ganz anders. Vielleicht hat der von kranken Fantasien geplagte sterbende Alte einfach beschlossen, einen schönen Abgang hinzulegen – das nukleare Armageddon auszulösen und die halbe Menschheit mit ins Jenseits zu nehmen …“
Medwedews Bild vom alten Biden, der die nukleare Keule schwingt
Medwedews Äußerung über „den Alten“ wurde prompt überall in den sozialen Netzwerken zitiert, allerdings aus dem Zusammenhang gerissen und umgedeutet. Bei dem Bild eines sterbenden alten Mannes, der die nukleare Keule schwingt und die halbe Welt mit in den Abgrund reißen will, dachten die Menschen an jemanden ganz anderen, als der Autor wohl beabsichtigt hatte.
Medwedews Worte sind schon die zweite öffentliche Äußerung in den letzten Monaten, bei der das Bild des Großvaters oder Opas als Anspielung auf Putin verstanden wird. Die erste hatte es in einem Monolog von Jewgeni Prigoshin gegeben, in dem der Chef der Wagner-Gruppe nach Kräften einen gewissen „Opi“ beschimpfte: „Opi ist glücklich und glaubt, dass es ihm gut geht. […] Aber was soll das Land tun, wenn sich, nur mal angenommen, plötzlich herausstellt, dass dieser Großvater eigentlich ein Flachwichser ist?“
Mit dem glücklichen Opi sei keinesfalls Putin gemeint, so Prigoshin
Prigoshin selbst erklärte dann, mit „Opi“ sei keinesfalls Putin gemeint gewesen, und bot drei Alternativen zur Auswahl an: Michail Misinzew, ehemaliger stellvertretender russischer Verteidigungsminister, Waleri Gerassimow, Chef des Generalstabs der russischen Armee, sowie Natalja Chim, ehemalige Teilnehmerin der Reality-Show Dom 2, die in den sozialen Netzwerken Kisten mit Munition feilgeboten hatte. Weshalb er für die Rolle des mysteriösen „Opas“ auch eine Frau aufführte, blieb Prigoshins Geheimnis.
Wen auch immer Prigoshin gemeint haben mag, sein Monolog und Medwedews Telegram-Post haben gezeigt, wie stark das Bild des Opas mittlerweile mit Wladimir Putin assoziiert wird.
Lange Zeit war er ein echter Superman und Macho
Der russische Präsident hat sich lange als echter Superman, Macho und Sexsymbol inszeniert: Er schwang sich mit nacktem Oberkörper aufs Pferd, tauchte nach antiken Amphoren, flog mit Kranichen, und Frauen besangen ihn und machten ihm Liebeserklärungen in den sozialen Medien.
Wann wurde aus dem Macho der „gute Opa der Nation“, und ab wann genau wurde „Großvater“ zum bevorzugten Spitznamen für Putin?
Dem Newsletter Signal zufolge verdankt er diese Bezeichnung dem Meme „Opa, nimm deine Tabletten, sonst kriegste nen Tritt in den Arsch“, das nach Alexej Nawalnys Verhaftung im Januar 2021 als Parole bei Unterstützungsaktionen verwendet wurde.
Wann wurde aus dem Macho der „gute Opa der Nation“?
In Wirklichkeit begann Putins Metamorphose jedoch schon lange davor. Anfang September 2017 erschien im Magazin The New Times die Kolumne Putin als Großvater der Nation. Der Journalist Andrej Kolesnikow verglich darin den russischen Präsidenten mit Lenin:
„Auch Putin trifft sich in letzter Zeit oft mit der Jugend – jedenfalls öfter als mit den Vertretern anderer Altersgruppen. Wladimir Iljitsch wurde „Großväterchen Lenin“ genannt, obwohl er in einem Alter war, in dem ein ordentlicher Staatsoligarch heute gerade mal seine alte Frau gegen eine neue austauscht, die besser zu seiner eben erworbenen Yacht passt. Und ja, auch Putin verwandelt sich im Lauf seiner Direkten Drähte, Tauriden und Offenen Unterrichtsstunden nach und nach vom Vater der Nation zu ihrem Opa. Die Jugend unterhält er größtenteils mit fantastischen Erzählungen über Drohnen, Marsflüge, künstliche Intelligenz und die Passionarität des russischen Volkes, dank derer es seine Souveränität für tausend Jahre sichern und ausweiten, die eigenen Stiefel im Pazifik sauber– und alle anderen im Scheißhaus kaltmachen wird.“
Tatsächlich wurden damals, 2017, einige Zusammentreffen Putins mit Studierenden und Schülern organisiert. Grund dafür war vermutlich die wachsende Popularität Nawalnys, der sich schon immer darauf verstand, eine gemeinsame Sprache mit der Jugend zu finden. Damals gab es überall im Land Kundgebungen seiner Anhänger gegen die Korruption. Laut der Politologin Maria Snegowaja „versuchten die Imagemacher des Kreml, als sie Nawalnys Popularität unter jungen Leuten bemerkten, zunächst auch Putin ein für diese Altersgruppe attraktives Image zu verleihen“. Dies habe jedoch nicht funktioniert und deshalb habe der Kreml auf das Bild des „Großvaters der Nation“ zurückgreifen müssen.
Selbst sein Markenzeichen, die politisch unkorrekten Scherze, sind schon veraltet
Die bekannte Linguistin Jelena Schmeljowa, die die rhetorischen Profile von Politikern untersucht, stellte schon 2018 in einem Interview mit dem Radiosender Golos Ameriki (Voice of America) fest, dass sich der Wandel von Putins Image vom Macho zum Großvater bereits vollzogen habe. Die Treffen mit den Schülern hätten nicht die (vom Kreml) erwünschte Wirkung gehabt, sondern Putins Unfähigkeit, die Sprache der heutigen Jugend zu sprechen, nur noch offensichtlicher werden lassen.
„Selbst sein Markenzeichen, die politisch unkorrekten Scherze, sind schon veraltet. Sie finden bei dieser Zielgruppe keinerlei Anklang. Bei einem Treffen mit Schülern des Sirius-Zentrums für hochbegabte Kinder in Sotschi stellte ein Junge eine Frage – eine sehr kluge übrigens: Er nannte seinen Familiennamen, der armenisch war, und sagte, er sei aus Tjumen. Darauf sagte Putin (ich erinnere mich nicht genau an den Familiennamen des Jungen, sagen wir Aslamasjan): ‚Aslamasjan aus Tjumen? Ist es da nicht ein bisschen zu kalt für dich?‘ Dem Jungen kippte die Kinnlade runter, er verstand das einfach nicht. Denn das ist nicht die Art von Scherzen, die bei der Jugend heute gut ankommt.“
Putin bekam das Image des drögen Großvaters verpasst
Laut Schmeljowa habe man wohl nach diesem Vorfall beschlossen, Putin das Image des redlichen, langweiligen Großvaters zu verpassen, der durch Erfahrung lebensklug ist und sich um alle kümmert.
Etwas später bestätigte auch Putin selbst, dass er sich dieses Image zu eigen gemacht hatte. Auf seiner traditionellen Pressekonferenz bemerkte er eine Journalistin, die ein Plakat mit der Aufschrift „Putin bye-bye“ hielt, und ließ ihr das Wort erteilen. Wie sich herausstellte, stand auf dem Plakat in Wirklichkeit „Putin – babai“. Die Journalistin, die aus Tatarstan kam, erklärte, dass „babai“ das tatarische Wort für „Großvater“ sei. Putin tat die Sache mit einem Scherz ab: Im Alter habe eben seine Sehkraft nachgelassen.
Beim Wettbewerb Wort des Jahres 2021 war „Bunker-Opa“ einer der Hauptkandidaten
Kurz, das Image Putins als Opa kam schon lange vor 2021 in Umlauf. Massenhafte Verbreitung, später dann noch mit dem Beiwort „Bunker-“, hat dieser Spitzname jedoch tatsächlich durch Nawalny und seine Anhänger gefunden. Beim unabhängigen russischen Wettbewerb Wort des Jahres 2021 war „Bunker-Opa“ einer der drei Hauptkandidaten.
Der Ausdruck entstand ursprünglich während der Pandemie, als viel von Putins Selbstisolierung, seiner Angst vor Ansteckung und den strikten Quarantänevorschriften für alle die Rede war, die öffentlich mit ihm zusammentrafen. Im Juni 2020 sagte Alexej Nawalny über Putin und die ungeheuren Ausgaben für die Siegesparade in Moskau:
„Kauft mit dem Geld doch Medikamente für Rentner. […] An die Parade denken die als Letztes. Aber der Bunker-Opa will seine Parade, er muss sich ja auf der Tribüne inszenieren.“
Dieser Spitzname etablierte sich später durch den Enthüllungsfilm des Nawalny-Teams zu Putins Palast in Gelendshik, in dem ein riesiger Bunker erwähnt wird.
Im Februar 2021 fügte Nawalny ihm bei seinem Schlusswort vor dem Stadtgericht in Chimki ein weiteres Beiwort an: „Der langfingrige Bunker-Opa“.
Yandex blockiert das Anzeigen von Putin-Bildern beim Suchbegriff Bunker-Opa
Im Januar 2023, auf dem Höhepunkt des Kriegs gegen die Ukraine, brachte ein großes Datenleck des Quellcodes der Yandex-Dienste an den Tag, dass die Suchmaschine das Anzeigen von Putin-Bildern blockiert, wenn der Suchbegriff „Bunker-Opa“ (bunkerny ded) eingegeben wird. Die Wörter „Ded“ und „Deduschka“ haben auf Russisch unterschiedliche Konnotationen. Inzwischen hat der Kreml jedoch offenbar mit beiden Probleme – sowohl mit dem Begriff „Ded“, der mit der Armee bzw. dem kriminellen Milieu assoziiert wird, als auch mit dem drolligen „Deduschka“ (dem Opa in Pantoffeln, der vergessen hat, seine Tabletten zu nehmen). Nach Informationen von Journalisten der Moscow Times wurde sofort nach Prigoshins Meuterei und seinen Anspielungen auf den „glücklichen Opi“ damit begonnen, auf schnellstem Weg ein neues Image für Putin zu kreieren.
Ein neuer Putin?
Der neue Putin soll nicht mehr im Bunker hocken, sondern für alle zugänglich sein – ein Präsident zum Anfassen, dem man sogar einen Kuss geben kann. Was bei Putins dritter Metamorphose nach dem Macho und dem Großvater herauskommen wird, ist noch offen. Doch es wird sicher nicht leicht werden, das neue Image durchzusetzen – gerade, weil der Spitzname schon ziemlich fest haftet. Um es mit Andrej Kolesnikows Worten aus der letztjährigen Kolumne zu sagen: „Man kann den Opa aus dem Bunker herausholen, aber nie den Bunker aus dem Opa.“
Die Spannungen zwischen Polen und der belarussischen Führung steigen, seitdem Alexander Lukaschenko Wagner-Söldnern in Belarus Unterschlupf gewährt hat. Was die polnische Regierung als Bedrohung empfindet. Zudem kam es kürzlich zu einer Verletzung des polnischen Luftraums durch belarussische Militärhubschrauber. Und seit Herbst 2021 schwelt ein massiver Konflikt aufgrund von Migranten an der polnisch-belarussischen Grenze.
Polen hat mittlerweile seine Truppenpräsenz an der Grenze zu Belarus verstärkt, was wiederum Wladimir Putin zu Drohungen veranlasste. Und zu einer Aussage, die in Polen als Affront aufgefasst wurde. Der russische Präsident meinte, dass die Polen nicht vergessen sollten, dass der Zugewinn vormals deutscher Gebiete im Westen infolge des Zweiten Weltkrieges „ein Geschenk Stalins“ gewesen sei. Dabei unterschlug Putin den Hitler-Stalin-Pakt, in dessen Folge die Sowjetunion 1939 die östlichen Gebiete der Zweiten Polnischen Republik besetzte.
Ist es wirklich denkbar, dass die Wagner-Truppen gegen ein NATO-Mitglied wie Polen eingesetzt werden könnten? Was steckt hinter den Drohungen und Aussagen Lukaschenkos, die wie gewohnt paradox sind? Alexander Klaskowski geht diesen Fragen in seiner Analyse für das belarussische Online-Medium Pozirk auf den Grund und sucht dabei nach einer stringenten Logik in den jüngsten Entwicklungen.
Nachdem Alexander Lukaschenko Polen mit der Wagner-Gruppe gedroht hatte, ruderte er nun zurück. Er betonte, Prigoshins Leute seien in Belarus unter Kontrolle, und den Suwałki-Korridor hätte Minsk „seit tausend Jahren nicht gebraucht“.
Diese neuen Erkenntnisse verlautbarte er am 1. August anlässlich eines Treffens mit Bewohnern des Agrostädtchens Beloweshski im Rajon Kamenez. Lukaschenko hielt sich dennoch nicht mit Drohgebärden zurück – die Rede war sowohl von den Wagner-Truppen als auch von Atomwaffen und sogar dem „friedlichen Atom“, einer möglichen Beschädigung des Belarussischen Kernkraftwerks (BelAES).
Wird der belarussische Führer zum Sündenbock gemacht?
Bei einem Treffen mit Wladimir Putin am 23. Juli in Sankt Petersburg hatte Lukaschenko ein breites Publikum, vor allem in Polen und Litauen, mit der Äußerung in Aufruhr versetzt, die nach Belarus verlegten Wagner-Einheiten würden ihn „langsam belasten“ und angeblich einen „Ausflug nach Warschau und Rzeszów“ planen. (In Rzeszów befindet sich ein wichtiger Umschlagplatz für Militärlieferungen in die Ukraine).
Offensichtlich wollte der belarussische Gast dem „großen Bruder“ in die Hände spielen, indem er eine psychologische Attacke an das ihm verhasste Warschau richtete, das Kyjiw aktiv unterstützt. Doch die Polen ließen sich nicht einschüchtern und drohten stattdessen damit, in Absprache mit Litauen und Lettland endgültig die Grenze zu Belarus zu schließen. Das wäre für das Regime kein unbedeutendes wirtschaftliches Risiko.
Unterdessen diskutierten unabhängige Analytiker, aber auch Politiker und Militär in den NATO-Staaten, ob Putin die nach Belarus verlegten Wagner-Gruppe dazu einsetzen könnte, einen wenn nicht offenen, so doch hybriden Krieg gegen Europa zu entfesseln. Um sich danach auf seine Tschekistenart die Hände in Unschuld zu waschen, indem er beteuert: Diese „Wildgänse“ unterstehen mir nicht, sie haben unlängst sogar einen Putsch angezettelt, weil sie keine Verträge mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu schließen wollten. Deshalb hätte man sie auch zum „kleinen Bruder“ geschickt. Und die Waffen für ihren Feldzug auf Rzeszów hätten sie bestimmt auf dem belarussischen Waffenmarkt gekauft.
Natürlich weiß jedes Kind, dass es in Belarus keinen unkontrollierten Waffenmarkt gibt und geben kann, solange alles unter Lukaschenkos Fuchtel steht. Seine Weste würde also im Falle eines Wagner-Feldzugs gegen die NATO-Nachbarstaaten keinesfalls weiß bleiben. Bereits 2021 hatte er vorgegeben, nichts mit dem Massenandrang von Geflohenen an der belarussischen Grenze zur EU zu tun zu haben, was ihn jedoch nicht vor Sanktionen gerettet hat. Wenn also jetzt Diversions- und Spionagegruppen (DRG) der Wagner-Armee von belarussischem Boden aus in Polen oder Litauen eindringen, dürfte die Reaktion um einiges härter ausfallen.
Denn für die Nachbarländer und den gesamten Westen wird absolut klar sein, dass diese Gruppen ihre Ausrüstung per Handschlag vom belarussischen Oberbefehlshaber bekommen haben, und dass es Prigoshins Truppen nur mithilfe des belarussischen Militärs, des Grenzschutzes und der Geheimdienste möglich gewesen sein kann, auf fremdes Territorium vorzudringen. So zu tun, als hätte man nichts damit zu tun, wäre vollkommen sinnlos. Mehr noch, Lukaschenko wäre der Sündenbock, während Putin tatsächlich den Ahnungslosen spielen könnte.
Derweil hat der belarussische Regent höchstwahrscheinlich keine Lust, die Folgen der Scharmützel seiner aggressiven Gäste mit der NATO auszubaden. Während der Kreml an imperialem Phantomschmerz leidet und globale Ambitionen hegt, will Lukaschenko vor allem, dass seine Alleinherrschaft auf seinem „Fleckchen Erde“, wie er Belarus nennt, unangetastet bleibt. Also versucht der belarussische Führer, die Atmosphäre auf seine Art ein wenig zu entschärfen und seine politische Eigenständigkeit zu demonstrieren.
„Sie sind es gewohnt, Befehle auszuführen“ – bloß wessen Befehle?
Lukaschenko entpuppte sich als großer Humorist. Am 1. August sagte er im Kreis Kamenez: „Das war ein Scherz, dass die Wagner-Leute untereinander tuscheln: Wir machen einen Ausflug nach Rzeszów.“ Dann gab er wiederum zu verstehen – in dem ihm eigenen paradoxen Stil – Prigoshins Leute seien wirklich kriegerisch eingestellt und führten gegen Polen Böses im Schilde. Dort solle man, so sagte er, „ruhig beten“, dass Belarus sie „aufhält und versorgt“. Andernfalls wären sie längst in Warschau und Rzeszów eingefallen, und die Polen hätten „ihr blaues Wunder erlebt“.
Was für eine Logik: „Ich habe diese terroristische Organisation an eure Grenzen geholt, und ihr sollt mir gefälligst dankbar sein“.
Lukaschenko ließ sich natürlich auch den Trumpf mit den Atomwaffen nicht nehmen und sagte beiläufig, mehr als die Hälfte der von Russland zugesagten Menge sei bereits geliefert und im Land verteilt („Guckt ruhig nach“). Darüber hinaus sei das Kernkraftwerk von Astrawez ein großer Sicherheitsfaktor: „Sollte es, Gott bewahre, beschädigt werden, dann wird das auch dort [in den NATO-Nachbarstaaten] schlimme Folgen haben“, sagte Lukaschenko.
Lukaschenko hat also wie immer nicht mit Drohungen gespart, diesmal aber die Akzente anders verteilt: Anstatt auf Angriff setzte er auf Verteidigung: „Wir steigen niemandem in den Garten, also klettert gefälligst auch nicht über unseren Zaun“. Mit anderen Worten: „Lasst mein Regime in Ruhe!“
Lukaschenko hat außerdem davon abgesehen, die westlichen Nachbarn übermäßig zu verteufeln: „Die Polen sind nicht dumm, diese Leute sind uns ähnlich, sie nehmen ihre Regierung gerade schon in die Mangel …“ Die Verlegung polnischer Truppeneinheiten an die belarussische Grenze bezeichnete er verächtlich als „Ränkespiel“. „500 Soldaten hier abgezogen, 500 Soldaten dort […]. Ich glaube nicht, dass sie uns wirklich einschüchtern wollen.“
Das steht einerseits im Widerspruch zum Mantra der belarussischen Generäle von der wachsenden Bedrohung durch die NATO und andererseits zu früheren Äußerungen Lukaschenkos, die polnischen Militaristen würden schon mit ihren Kettenraupen rasseln und nur darauf warten, halb Belarus einzukassieren.
In der Geschichte um Wagner stellte sich Lukaschenko nun als absoluter Herr der Lage dar und hob hervor, dass er die Situation unter Kontrolle habe: „Die Truppe befindet sich in Ossipowitschi, mitten in Belarus, und ist nirgendwohin unterwegs. Die Jungs sind es gewohnt, Befehle auszuführen.“
Die Frage ist nur, wessen Befehle sie ausführen werden, wenn der Tag X eintritt.
Wie eigenständig sind Prigoshin und Lukaschenko?
Es war kein anderer als der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der russischen Duma, General a. D. Andrej Kartopolow, der die Schließung des Suwałki-Korridors (der in Moskau als Achillesferse der NATO betrachtet wird) im passenden Moment als Mission der in Belarus abgestellten Wagner-Truppen benannte.
Wenn Lukaschenko jetzt also hervorhebt, dass er diesen Korridor eintausend Jahre lang nicht gebraucht hätte, dann tritt er in einen offenen Meinungsstreit mit den Moskauer Kriegstreibern, um seine politische Eigenständigkeit zu behaupten. Diejenigen, die eine Anti-NATO-Mission der Prigoshin-Truppe in Belarus postulieren, lassen diese Eigenständigkeit Lukaschenkos praktisch völlig außer Acht.
Diese Hypothesen weisen einige Schwachstellen auf. Erstens ist es zweifelhaft, ob Jewgeni Prigoshins Putschversuch eine scharfsinnige Inszenierung war, mit dem Ziel, die Wagner-Truppen nach Belarus zu verlagern, um dann einen Angriff oder Sabotageaktionen gegen die NATO-Länder durchführen zu können. Wie es in einem alten Witz treffend heißt: „Das ist zu subtil für unseren Zirkus“.
Eine ganze Reihe von Fakten, Anzeichen und Informationsleaks sprechen dafür, dass der russische Präsident während des Putschversuchs tatsächlich erschrocken und irritiert war. Infolgedessen trug er einen riesigen Imageverlust davon. Das wäre schon eine sehr subtile Inszenierung. Zur Vergeltung und um eine Wiederholung zu vermeiden, schwächt der Kreml offen Prigoshins Wirtschaftsimperium. Zudem ist unklar, inwieweit Putin seinem ehemaligen Koch aktuell überhaupt Befehle erteilen kann. Prigoshins Eigenständigkeit sollte keinesfalls schon abgeschrieben werden.
Er und der russische Machthaber versuchen zwar, ihren Konflikt auf ihre Weise aus der Welt zu schaffen, aber aller Voraussicht nach werden sie Feinde bleiben. Und welches Interesse sollte Prigoshin haben, seine Kämpfer in einen wahnwitzigen Sturm des Suwałki-Korridors oder in einen tödlichen Feldzug nach Warschau und Rzeszów zu schicken? Wenn unerwünschte Gäste so weit auf fremdes Territorium vordringen, wird aus ihnen sehr schnell Hackfleisch gemacht.
Schon eher möglich wären schnelle hybride Operationen im feindlichen Grenzgebiet (zum Beispiel ein wenig Unruhe in Terespol stiften), mit guten Überlebens- und Rückkehrchancen, doch welchen Nutzen hätten sie? Schließlich geht es hier um Söldner, die für ihre sehr spezielle Arbeit sehr gutes Geld gewöhnt sind. Auch Prigoshin selbst ist in erster Linie ein Geschäftsmann, keinesfalls ein Kamikaze. Für ihn ist es günstiger, seine „Adler“ für Projekte in Afrika zu schonen (wo alle möglichen Goldminen und Diamanten zu bewachen sind). Dass Afrika Priorität hat, sagte er selbst bei seiner berühmten Ansprache im Lager bei Ossipowitschi.
Lukaschenko sagte heute nun, er wolle einen Teil „dieser Jungs“ im belarussischen Militär behalten und „mit ihrer Unterstützung eine Vertragsarmee aufbauen“. Die belarussische Staatskasse ist jedoch kaum üppig genug, um die Wagner-Söldner nach deren üblichen Sätzen zu vergüten. Nehmen wir trotzdem einmal an, dass einige Söldner als Berufssoldaten in die belarussische Armee wechseln würden. Sich mit dem Rest der Gruppe aber die Anarchie ins Haus zu holen, die Wagner-Gruppe zu einer (wilden?) Raubkatze zu machen, die frei durch Belarus spaziert, und darüber hinaus noch die Schließung des Suwałki-Korridors zu bezahlen (plus im Nachhinein die Folgen dieses Abenteuers zu verantworten), das will Lukaschenko ganz sicher nicht. Putin teilte unterdessen mit, dass Prigoshins Gruppe in Russland keine Zuwendungen mehr erhalten würde. Wer trägt also eigentlich die Kosten für dieses Theater?
Sollten die Wagner-Truppen also wirklich in Polen und Litauen einmarschieren, dann würde das erstens bedeuten, dass der Kreml sie vollständig kontrolliert, zweitens, dass er ihre Aktionen bezahlt, und drittens, dass er Lukaschenko tatsächlich zu einem Diener ohne jegliche Entscheidungsgewalt gemacht hat.
Dass ein Vertrauter von Putin den Kreml direkt herausfordert und mit schweren Waffen auf die Hauptstadt zumarschiert, erschien am 23. Juni ungeheuerlich. Bei seinem „Marsch“ sagte Prigoshin Dinge, für die Oppositionelle in Russland viele Jahre Haft bekommen würden: Weder die Ukraine noch die NATO hätten eine Bedrohung für Russland dargestellt. Der Krieg sei nur begonnen worden, „weil ein paar Typen sich aufplustern wollten“.
Putin reagierte in einer Videobotschaft: „[…] womit wir es hier zu tun haben, ist Verrat. Unverhältnismäßige Ambitionen und persönliche Interessen haben zum Betrug geführt“. Am 29. Juni soll Putin offiziellen Angaben zufolge Prigoshin im Kreml empfangen haben.
War das nun ein Militärputsch? Еine Spaltung der politischen Elite? Ist Putin wirklich angezählt? The Bell hat mit dem Politikwissenschaftler Grigori Golossow gesprochen.
Denis Kassjantschuk: Gleich nach dem Aufstand waren sich westliche Experten relativ einig, dass Putins Regime einen schweren Schlag erlitten habe. Ist das tatsächlich so?
Grigori Golossow: Ich weiß nicht, wieso sie das denken. Eigentlich hat Putin ein ernstes Problem, das ihm schon lange bewusst war, verhältnismäßig leicht gelöst – das Problem Prigoshin. Wie hätte Putin denn sonst erreichen können, dass sich die Wagner-Strukturen dem Verteidigungsministerium unterordnen, was ganz klar das Ziel der russischen Staatsmacht war.
Wie wird Prigoshin nun einen neuen Platz für sich finden?
Das ist die Frage. Aber Tatsache ist, dass jene, die am Aufstand beteiligt waren, nicht mehr wie früher Putins Vertrauen genießen werden (wenn sie es denn je genossen haben). Und insgesamt hat der russische Präsident infolge der jüngsten Ereignisse seine Kontrolle über die Sicherheits- und Machtstrukturen eher gestärkt.
In Russland wird oft von einem Kampf der Eliten gesprochen, von einem „Krieg zwischen unterschiedlichen Türmen des Kreml“. Aber wirklich manifestiert hat sich dieser Kampf für das breite Publikum nie. Ist Prigoshins Aufstand eine solche Manifestation? Oder ist Prigoshin eine zufällige Erscheinung, eine Randfigur, deren Handlungen die Prozesse in den russischen Eliten nicht widerspiegeln?
Ein Großteil dessen, was über die „Türme des Kreml“ gesagt wurde, war reine Phantasie. Was Prigoshins Handlungen betrifft, ist klar, dass er von der herrschenden Klasse ziemlich weit entfernt stand und dort kein sonderlich großes Vertrauen genoss. Mehr noch, er machte nie einen Hehl aus den tiefen Zerwürfnissen, die zwischen ihm und dieser Klasse bestehen. Prigoshins Aufstand lässt sich also nur im weitesten Sinne als Manifestation dessen interpretieren, was in den russischen Medien normalerweise als „Spaltung der Eliten“ bezeichnet wird.
Viele Beobachter fragten sich in den Monaten vor dem Aufstand: Warum stopft Prigoshin keiner das Maul? Warum lassen sie ihn vor aller Welt den Verteidigungsminister und den Generalstabschef grob beschimpfen? Und bedeutet das, dass die Situation für den Kreml außer Kontrolle gerät? War dem so?
Das ist eine ziemlich naive Frage, wenn man bedenkt, welch kolossale Rolle die Söldnertruppe Wagner bis zuletzt auf dem Schlachtfeld spielte. Wie hätte man sie aus dem Weg räumen können, wenn doch sie es waren, die Bachmut eingenommen haben. Und das war die entscheidende Schlacht in der vorangegangenen Etappe der Kampfhandlungen.
Genau das ist ja der Punkt, dass Prigoshin für Putin zum Problem wurde, weil man ihn nicht ausschalten konnte. Man musste ihn aber ausschalten, weil seine politischen Ambitionen offensichtlich wurden.
Wie kamen diese Ambitionen zum Ausdruck?
Prigoshin strebte danach, als politische Figur in der Öffentlichkeit zu stehen. Er machte zutiefst politische Vorwürfe – die Regierung sei ineffektiv, deshalb sei die herrschende Klasse ineffektiv, korrupt und unfähig, die Interessen von Volk und Staat zu vertreten. Das ist eine populistische Position, die bei Wahlen gut funktioniert. Ich glaube zwar nicht, dass Prigoshin in nächster Zeit bei irgendwelchen Wahlen kandidieren wollte. Aber dass er schon begonnen hatte, sich nicht nur als militärischer Führer, sondern auch als Politiker einen Namen zu machen, das war ganz offensichtlich.
Und ich nehme an, für Putin war das ein Teil des Problemkomplexes, der mit Prigoshins mangelhafter Loyalität zu tun hatte. Dieses Problem ist aus Putins Sicht jetzt gelöst. Und ich sehe das genauso.
Es zeigt sich: Solange Putin an den Kontrollhebeln sitzt, hat Prigoshin keine Chance, in Russland eine politische Rolle zu spielen. Wenn sich die Situation grundlegend ändert und Prigoshin dann noch lebt und er sein in den letzten Monaten erarbeitetes politisches Kapital weiterentwickeln will, dann können sich für ihn durchaus realistische Perspektiven auftun. Sein politisches Kapital ist zwar nicht gerade groß, aber unter bestimmten Bedingungen durchaus ausbaufähig.
Wahrscheinlich ist Putin die mangelnde Effektivität von Schoigu und Gerassimow bewusst, aber dafür sind sie so loyal
Was meinen Sie, was war Prigoshins Ziel? Und warum hat er es nicht erreicht?
Prigoshin hat klar gesagt, dass sein Ziel ein Führungswechsel im Verteidigungsministerium ist. Das glaube ich ihm. Wenn Prigoshin das gelungen wäre, dann wäre sein Einfluss nicht nur auf das militärische Establishment, sondern auch auf Putin kolossal gestiegen: Die Personen, die Schoigu und Gerassimow abgelöst hätten, hätten mehr in Prigoshins Gunst gestanden als unter der Kontrolle des Präsidenten.
Das ist der Grund, warum Putin sich darauf nicht einließ. Wahrscheinlich ist ihm die mangelnde Effektivität von Schoigu und Gerassimow bewusst, aber er schätzt sie für ihre Loyalität und glaubt, dass er sich rückhaltlos auf sie verlassen kann. Ich glaube, dass für ihn deshalb ein Rücktritt von Schoigu und Gerassimow nicht in Frage kam.
Eine weit verbreitete Meinung über Putin ist, dass er Verrat nicht verzeiht. Bedeutet das, dass Prigoshin keine Ruhe mehr finden wird?
Sobald Putin der Meinung ist, dass er seinen Teil der Abmachungen erfüllt hat und dass alle Fragen zu den Aktivitäten der Söldnertruppe Wagner in und außerhalb Russlands geklärt sind, kommt der Moment, von dem an Putin zu dem Schluss kommt, dass er mit Prigoshin nach eigenem Gutdünken verfahren kann. Und dann kann es durchaus sein, dass er sich an ihm rächen wird. Doch Prigoshin – der kann für seine Sicherheit sorgen. Was weiter mit ihm geschehen wird, ist also nochmal ein eigenes Thema.
Wird es jetzt Säuberungen geben?
Möglicherweise werden einige Offiziere mittlerer und sogar höherer Ränge ausgetauscht. Doch wenn es Umstellungen auf höchster militärischer Führungsebene gäbe, dann hieße das, dass Prigoshin sein Ziel erreicht hat. Deswegen sind solche Umbesetzungen nicht zu erwarten.
Im Westen ist die Meinung verbreitet, dass es für Putin schwer, wenn nicht sogar unmöglich sein wird, sein Ansehen bei den Russen wiederherzustellen. Was denken Sie darüber?
In der politisierten Öffentlichkeit ist das Bild entstanden, die russische Führung sei geschwächt. Aber diese Vorstellung gab es auch früher schon. Sie wurde von einflussreichen Bloggern wie Girkin-Strelkow und anderen, die für den Krieg sind, kultiviert. Weit verbreitet war auch eine Skepsis gegenüber den Methoden, mit denen die Militäroperation geführt wurde. Diese Skepsis wurde auf die allgemeine Vorstellung von der Effektivität der russischen Regierung projiziert.
Wahrscheinlich hat sich diese Skepsis nach dem Aufstand ein wenig verstärkt. Aber man muss wissen, dass es sich da um eine vergleichsweise kleine Gruppe extrem politisierter Bürger handelt. Natürlich gibt es auch eine andere Gruppe von Bürgern, die Putin schon lange nicht unterstützt und seiner Regierung gegenüber immer skeptisch eingestellt war. Ich nehme an, dass sie zahlenmäßig größer ist als die der „Turbopatrioten“. Aber bezüglich jener Gruppe, die Putin nie unterstützt hat, hat sich ganz bestimmt nichts verändert: Sie waren früher nicht für ihn und sind es auch jetzt nicht.
Eine landesweite Unterstützung für Putin war während des Aufstands auch nicht zu sehen. Wie so oft musste der Kreml Staatsbedienstete mobilisieren, um Unterstützung vorzutäuschen. Was bedeutet das? Dass Putins Rückhalt übertrieben dargestellt wird?
In Russland gab es nie eine Unterstützung für Putin, die in irgendeiner politischen Handlung hätte zum Ausdruck kommen können. Das liegt in der Natur des russischen Regimes, das darauf setzt, dass die Bürger sich aus der Politik heraushalten. Es wäre seltsam, wenn die Leute spontan auf die Straße gehen, eine Niederschlagung des Aufstands fordern und ihre Begeisterung für Putin zum Ausdruck bringen würden. Für Massenaktionen braucht es organisatorische Mechanismen. Doch das russische Regime ist so angelegt, dass unabhängig davon, wie viel Unterstützung Putin erfährt, derartige Demonstrationen gar nicht möglich sind.
Die Mehrheit der Russen hat ihren Schluss gezogen: Es ist noch einmal gut gegangen
Welche Schlüsse können die Russen aus den Ergebnissen dieses Aufstands überhaupt ziehen? Und bringt das die Staatsmacht ins Wanken?
Die überwiegende Mehrheit der Russen hat meiner Einschätzung nach ihren Schluss gezogen: Es ist noch einmal gut gegangen. Das ist alles, was der großen Masse der Bevölkerung durch das Geschehen klar geworden ist. Ich glaube, viele haben diesen Aufstand als Bedrohung empfunden, vor allem die Moskauer. Aber es hat sich ja alles erledigt, na wunderbar.
Und die Eliten? Kommt es da zu einer Spaltung oder rücken sie jetzt noch näher um Putin zusammen?
In der herrschenden Klasse herrscht schon lange eine negative Einstellung bezüglich Putins Handlungen. Die meisten in der russischen Elite fühlen sich von Putin hintergangen.
Was lernen sie daraus? Die meisten neigen, nehme ich an, zu der Ansicht, dass Putin ihnen Probleme eingebrockt hat. Aber diese Probleme sind ihrer Meinung nach wiederum leichter unter Putins Mitwirkung zu lösen, wenn er an der Macht bleibt. Und sie glauben, dass das immer noch möglich ist. Und Putin nährt diesen Glauben natürlich nach Kräften.
Was ist jetzt Putins größte Herausforderung?
Seine größte Herausforderung besteht darin, aus der Situation wieder herauszufinden, die er letztes Jahr im Februar geschaffen hat. Offenbar vor diesem Hintergrund schenkt Putin dem wachsenden Unmut in der herrschenden Klasse einiges an Aufmerksamkeit, er erwartet von seinen Sicherheitsdiensten, dass sie eventuell auftretende Unmutsbekundungen rasch unterbinden.
In seiner Rede hat Putin den Westen beschuldigt, diesen Aufstand organisiert zu haben. Worin besteht die Logik dieser Vorwürfe, wenn wir doch genau wissen, wer der Organisator und die Hauptperson des „Marsches der Gerechtigkeit“ war?
Nun, hier gibt es keine Logik. Das ist die übliche Rhetorik: An allem Schlechten, was in Russland passiert, ist der Westen schuld.
An der Beziehung zwischen Putin und Lukaschenko hat sich nichts geändert
Einige sagen, dass es für Putin die größte Erniedrigung war, sich auf Alexander Lukaschenkos Vermittlung verlassen zu müssen. Welche Rollen spielen die beiden jetzt füreinander ?
Ich glaube nicht, dass Putin das als Erniedrigung empfindet. Er betrachtet Lukaschenko schon lange als seinen Juniorpartner. Wenn der Juniorpartner dem Senior bei der Lösung von Problemen helfen kann, dann ist das aus dem Blickwinkel der geschäftlichen und politischen Logik Russlands ein völlig normales Phänomen. Und da hat sich in der Beziehung zwischen Putin und Lukaschenko auch nichts geändert.
Lukaschenko hat Putin einen wichtigen Dienst erwiesen und ist jetzt womöglich der Meinung, dass der russische Präsident in seiner Schuld steht. Aber die Balance ihrer Beziehung hat sich keineswegs verändert. Das ist eine ungleiche Partnerschaft mit Putin in der Führungsrolle.
Für den militärischen Aufstand und die Piloten, die dabei umkamen, wurde niemand bestraft. Was denken Sie, warum verzichtet die Staatsmacht hier auf Ermittlungen?
Wegen diverser Umstände, die uns im Detail nicht bekannt sind, hat Putin beschlossen, sein Versprechen gegenüber Prigoshin zu halten. Dazu gehört, dass die Anschuldigungen gegen ihn fallengelassen werden und Prigoshin sich mit einem Teil seiner Anhänger nach Belarus absetzen kann. Aber das ist nur das, was wir wissen.
Vielleicht hat Prigoshin noch weitere Garantien bekommen. Tatsache aber ist, dass Putin ganz einfach Wort hält, und zwar jenseits jeder Rechtslogik, auf die Sie verweisen. Das sind in höchstem Maße politische Handlungen. Dass Justiz und Verwaltung in Russland politisiert sind, ist nichts Neues. Jetzt sehen wir ein weiteres Mal, dass politische Erwägungen weit über dem Gesetz stehen.
Prigoshins Aktion war kein versuchter Militärputsch. Es war ein Aufstand mit dem Ziel, konkrete Ziele durchzusetzen
Sie haben bereits vor dem Aufstand geschrieben, dass eine militärische Revolte eines der Zukunftsszenarien Russlands sei. Sehen Sie das immer noch so? Oder werden jetzt die Schrauben angezogen, damit das so schnell keiner mehr versucht?
Dass es eine militärische Revolte geben wird, habe ich nicht geschrieben. Allerdings musste man kein Prophet sein, um mit radikalen Aktionen von Prigoshin zu rechnen.
Was eine weitere Verschärfung der Sicherheitskomponente in der russischen Politik angeht, so folgt sie aus der Entwicklungsdynamik eines politischen Regimes, das sich unter Bedingungen des Krieges immer stärker auf die Streitkräfte und den Sicherheitsapparat verlassen können muss. Und wenn ein Land von einer solchen Dynamik erfasst wird, dann erhöht das generell die Möglichkeit einer militärischen Revolte.
Aber wie sieht eine solche Revolte aus? Das wiederum ist eine Frage, die von der Dynamik des Regimes abhängt. Militärische Revolten können ganz unterschiedlich sein. Es gibt Situationen, in denen die Sicherheitsstrukturen zusammen mit den Streitkräften die Macht an sich reißen und ein konsolidiertes Regime errichten, das ziemlich lange bestehen kann, wie das etwa in den 1970er Jahren in Chile der Fall war. Eine solche Wendung halte ich in Russland für extrem unwahrscheinlich.
Aber es gibt auch Situationen, in denen sich innerhalb der Sicherheitsstrukturen schwere Spannungen bemerkbar machen. Und dann kann eine unkonsolidierte Militärregierung entstehen. Solche Regimes halten nicht lange. Häufig lösen sie einander ab, ohne sich grundlegend voneinander zu unterscheiden. So etwas ist in Russland durchaus möglich, zeichnet sich aber derzeit nicht ab.
Ich möchte aber noch einmal betonen, dass Prigoshins Aktion kein versuchter Militärputsch war. Es war ein Aufstand mit dem Ziel, konkrete Ziele durchzusetzen. Und selbst wenn die Aufständischen erfolgreich gewesen wären, hätten sie nicht ein Militärregime installiert, sondern einen Ausbau des Sicherheitsapparats in den Strukturen des russischen Regimes forciert.
Am 24. Juni hat der Kreml die wohl schwersten 24 Stunden seiner jüngsten Geschichte erlebt. Plötzlich schien ein großes Blutbad vor Moskau oder gar ein Bürgerkrieg im Land möglich. Wagner-Chef Jewgeni Prigoshin hatte am frühen Morgen des 24. Juni das Militärhauptquartier in Rostow am Don unter Kontrolle gebracht, seine Miltärkolonne konnte im Laufe des Tages nahezu ungehindert mehrere hundert Kilometer Richtung Hauptstadt vorrücken. Putin sprach von Verrat und kündigte „unausweichliche Strafen“ für die Organisatoren und Beteiligten des bewaffneten Aufstandes an.
Dem vorausgegangen war ein Konflikt zwischen der Wagner-Truppe und dem russischen Verteidigungsministerium, der sich seit Monaten zuspitzte. Während der Kämpfe um die ostukrainische Stadt Bachmut beschuldigte Prigoshin mehrfach öffentlichkeitswirksam Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerassimow und beklagte, dass sie den Wagner-Truppen absichtlich Munition vorenthalten würden. Am 10. Juni ordnete Schoigu an, dass alle „Freiwilligenverbände“ bis zum 1. Juli Verträge mit dem Verteidigungsministerium abschließen müssen, was Prigoshin – wohl um seine Söldner-Firma fürchtend – entschieden ablehnte. Am Abend des 23. Juni behauptete Prigoshin schließlich, die russische Armee habe Wagner-Camps im Hinterland beschossen. Dabei seien zahlreiche Kämpfer ums Leben gekommen. Für diese (unbestätigten) Vorfälle kündigt Prigoshin eine Antwort an.
Der von ihm als „Marsch der Gerechtigkeit“ bezeichnete Marsch auf Moskau endet keine 24 Stunden später damit, dass Prigoshin seine Militärkolonne zurückzieht und in Rostow unter dem Jubel der Schaulustigen in einen SUV steigt, der ihn nach Belarus bringen soll. Er hat offiziell unter Vermittlung von Alexander Lukaschenko eine Einigung mit dem Kreml erzielen können, die ihm Straffreiheit und eine Ausreise gewährt.
Nach diesen turbulenten Ereignissen fragen viele: Was war das eigentlich? Ein versuchter Putsch? Alles eine große Inszenierung (mit mehreren abgeschossenen Helikoptern, mindestens zehn Toten und einem massiven Imageschaden für Putins Machtvertikale)? Tatjana Stanowaja sieht darin eher einen Akt der Verzweiflung Prigoshins, dessen Flucht nach vorne womöglich eine Spur zu groß geraten ist. Die Politikwissenschaftlerin ist Senior Fellow beim Carnegie Russia Eurasia Center und hat 2018 das Analysezentrum R.Politik gegründet. dekoder hat ihre Einschätzung auf Twitter aus dem Englischen übersetzt.
Unten nun eine kurze Beschreibung von Prigoshins Meuterei und den Faktoren, die ihren Ausgang mitbestimmten. Wir Beobachter haben zunächst wichtige Details verpasst – aufgrund einer mageren Informationslage und Zeitmangels für eine tiefgehende Analyse. Hier nun die Sichtweise, die derzeit am plausibelsten erscheint.
Prigoshins Aufstand war kein Greifen nach Macht und kein Versuch, den Kreml zu übernehmen. Es war ein Akt der Verzweiflung – Prigoshin wurde aus der Ukraine gedrängt und war somit unfähig, Wagner so aufrechtzuerhalten wie vorher, während der Staatsapparat sich gleichzeitig gegen ihn stellte. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, ignorierte Putin ihn und unterstützte öffentlich seine gefährlichsten Widersacher.
Prigoshins Ziel war es, Putins Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und eine Diskussion über die Bedingungen zu erzwingen, wie seine Aktivitäten aufrechterhalten werden könnten: eine klar definierte Rolle, Sicherheitsgarantien und Finanzierung. Das waren keine Forderungen, die auf einen Staatsstreich abzielten, es war Prigoshins verzweifelte Offerte, um sein Unternehmen zu retten, in der Hoffnung, dass seine Verdienste bei der Eroberung Bachmuts (dafür brauchte er sie!) berücksichtigt würden und seine Anliegen bei Putin ernsthafte Aufmerksamkeit erregen würden. Jetzt sieht es so aus, dass diese Verdienste Prigoshin halfen, mit dem Leben davonzukommen, aber ohne eine politische Zukunft in Russland (zumindest solange Putin an der Macht ist).
Prigoshin wurde von Putins Reaktion überrascht und war nicht vorbereitet auf seine plötzliche Rolle als Revolutionär. Er hatte auch nicht damit gerechnet, dass Wagner Moskau erreichen würde; dort hätte seine einzige Option darin bestanden, den Kreml zu stürmen – eine Aktion, die zweifelsohne ihn und seine Kämpfer ausgelöscht hätte.
Die Teile der [politischen] Elite, die dazu fähig waren, wandten sich an Prigoshin, doch zu kapitulieren. Das verstärkte wohl bei ihm das Gefühl des drohenden Untergangs. Ich denke jedoch nicht, dass es Verhandlungen auf oberster Ebene gab. Lukaschenko unterbreitete Prigoshin ein von Putin gebilligtes Rückzugsangebot unter der Bedingung, dass Prigoshin Russland verlässt und Wagner aufgelöst wird.
Meines Erachtens war Prigoshin nicht in der Position, um Forderungen zu stellen (wie den Rücktritt von Shoigu oder Gerassimow – den viele Beobachter heute erwarten. Wenn das geschieht, ist der Grund dafür ein anderer.) Nach Putins Ansprache am Morgen des 24. Juni war Prigoshins vorrangiges Ziel, eine Möglichkeit zum Ausstieg zu finden. Die Situation hätte unausweichlich in den folgenden Stunden zu Toten geführt. Möglich ist, dass Putin Prigoshin Sicherheit versprach, unter der Bedingung, dass er ruhig in Belarus verweilt.
Ich bleibe bei meiner Aussage, dass Putin und dem Staat ein schwerer Schlag versetzt wurde (der erhebliche Nachwirkungen auf das Regime haben wird). Doch ich möchte betonen, dass das Image für Putin immer zweitrangig war. Abgesehen von Äußerlichkeiten hat Putin das Wagner- und Prigoshin-Problem tatsächlich gelöst, indem er Ersteres aufgelöst und Letzteren verjagt hat. Die Situation wäre viel schlimmer gewesen, wenn sie in einem Blutbad an Moskaus Stadtrand geendet hätte.
Und: Nein, Putin braucht weder Wagner noch Prigoshin. Er kann es mit eigenen Kräften schaffen. Davon ist er nun mit Sicherheit überzeugt. Viele weitere Details werde ich morgen Abend [Montag] in meinem Bulletin veröffentlichen.