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„Man hat das Gefühl, das Leben eines Menschen ist nichts wert“
Wenn Eltern in Russland, zumal in Kriegszeiten, nicht mehr wissen, was sie sonst für ihre Söhne tun sollen, dann wenden sie sich an die Soldatenmütter. Die Organisation mit zahlreichen Zweigstellen in ganz Russland, die es sich vor mehr als 30 Jahren zur Aufgabe gemacht hat, die Misshandlungen in der russischen Armee aufzudecken, ist später vor allem für ihre Hilfe in den beiden Tschetschenienkriegen bekannt geworden: um Söhne zu finden, die an die Front geschickt wurden und um Gefallene zu dokumentieren und den Verwandten Nachricht geben zu können.
Schon Wochen vor dem großflächigen Angriff, den Wladimir Putin mit den russischen Streitkräften seit dem 24. Februar 2022 gegen die Ukraine führt, haben die Anfragen bei den Soldatenmüttern wieder zugenommen.
Vor allem die Wehrdienstleistenden rückten dabei ins Zentrum der Aufmerksamkeit, weil schnell die Vermutung aufkam, auch sie seien in die Ukraine geschickt worden: Schilderungen junger Rekruten legten schon Tage nach dem Einmarsch nahe, dass sie in der Ukraine in Gefangenschaft geraten waren. Videos kursierten davon im Netz, oft veröffentlicht vom ukrainischen Militär, außerdem auf dem Telegram-Kanal Ischi Swoich. Aber auch Eltern wandten sich mit Hinweisen an unabhängige russische Journalisten.
Nachdem Präsident Putin zunächst geäußert hatte, Wehrpflichtige würden nicht eingesetzt, sondern nur Berufs- und Zeitsoldaten, so räumte das russische Verteidigungsministerium am 9. März das Gegenteil ein. Dabei versicherte die Militärführung, die Wehrpflichtigen seien, bis auf die Kriegsgefangenen, inzwischen wieder in Russland. Doch Transparenz ist kaum gegeben, auch mit Opferzahlen hält sich die russische Staatsführung bedeckt, spricht offiziell bislang lediglich von rund 500 getöteten Soldaten auf russischer Seite. US-Angaben und ukrainische Angaben gehen von mehreren tausend Toten bei den russischen Streitkräften aus. Wie viele es wirklich sind, ist unklar.
Die Leiterin der Petersburger Soldatenmütter, Oxana Paramonowa, spricht im Interview mit dem russischen Exil-Medium Meduza darüber, wie sich ihre Arbeit vor dem Hintergrund des neuen Krieges gestaltet – über mütterliche Ohnmacht, einen Staat, der wenig preisgibt, und wie sie als Organisation auch selbst durch eine verschärfte Gesetzeslage in ihrer Arbeit beschnitten werden.
Sascha Siwzowa: Wie hat sich die Arbeit der Soldatenmütter von Sankt Petersburg seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar verändert?
Oxana Paramonowa: Die Arbeit unserer Organisation haben wir [bereits] im Oktober letzten Jahres verändert – wir haben so gut wie jeden Rechtsbeistand für Armeeangehörige eingestellt und nur den Auskunftsdienst beibehalten. Allein die Zahl der Anfragen bei diesem Auskunftsdienst ist seit dem 24. Februar gestiegen. Und zwar deutlich.
Warum haben Sie das Format Ihrer Arbeit geändert?
Unsere Organisation hat 30 Jahre lang Ersuche entgegengenommen. Die Menschen wandten sich über verschiedene Kanäle an uns, meist persönlich. In den letzten Jahren gab es eine Hotline und Online-Beratungen. Unsere Anwälte haben sich um diese Anfragen gekümmert. Wir haben Treffen mit Kommandostäben und der Militärstaatsanwaltschaft organisiert. Die Grundlage für die Arbeit waren Informationen, die wir persönlich von den Menschen erhielten.
Im Oktober wurde der unglückselige FSB-Erlass verabschiedet, der das Sammeln jedweder Information über die Armee faktisch verbietet. Dadurch drohte den betreffenden Personen eine strafrechtliche Verfolgung, und wir waren gezwungen, diese Arbeit einzustellen.
Was hat sich seit diesem neuen Gesetz verändert? Sie haben aufgehört, Informationen zu sammeln und Rechtshilfe zu leisten?
Da wir jetzt keine Informationen mehr sammeln, können wir uns nur aus den Anfragen ein Bild von der allgemeinen Lage machen, aber wir können keinen aktiven Rechtsbeistand mehr leisten. Faktisch wurde uns die Möglichkeit genommen, im Namen der Organisation zu agieren, weil wir nicht schreiben können, dass uns irgendwer irgendwo irgendetwas erzählt hat. Wir brauchen konkrete Angaben, um jemanden als Organisation vertreten zu können. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir praktisch keine Daten mehr erheben – angefangen bei personenbezogen Daten bis hin zu medizinischen Auskünften, Angaben zu Straftaten und begonnenen Ermittlungen. Wir haben nicht mehr das Recht, solche Informationen zu sammeln.
Wie stark ist die Zahl der Anfragen seit Kriegsbeginn gestiegen?
Bis Oktober waren es viele Anfragen – um die zweitausend im Jahr. Dann gingen die Anfragen natürlich zurück, weil wir erklärt hatten, dass wir unser Arbeitsformat ändern und keine Rechtshilfe mehr anbieten können. Aber die Zahl der Anfragen, die wir seit dem 24. Februar erhalten, ist im Vergleich zu dem, was wir seit Oktober hatten, sprunghaft gestiegen. Im Oktober und November erreichten uns ein bis zwei Anrufe täglich. Jetzt sind es zwanzig.
Was möchten die Angehörigen der Wehrpflichtigen von Ihnen wissen?
Alle Fragen beziehen sich auf die Ereignisse seit dem 24. Februar. Uns rufen Eltern an, die meisten von ihnen bitten um Hilfe bei der Suche nach ihren Söhnen.
Was erzählen Ihnen die Eltern der Armeeangehörigen?
Wir sammeln praktisch keine Informationen, mit Ausnahme derer, die uns die Leute selbst geben. Je nach Fragestellung geben wir Orientierung, was man tun kann. Unter diesen Umständen fällt unsere Hilfe recht mager aus.
Aber an der Menge der Anrufe und daran, wie es den Menschen geht, sehen wir, dass sie nirgendwo sonst anrufen können. Sie finden unsere Nummer und melden sich. Manche sagen, dass sie in der Armee-Einheit angerufen haben, aber nicht durchgekommen sind oder zu hören bekamen: „Warten Sie, Sie werden informiert.“ Manche erzählen, dass sie versucht hätten, beim Verteidigungsministerium anzurufen. Aber auf der Webseite des russischen Verteidigungsministeriums wurden seit dem 24. keine Informationen veröffentlicht, an wen sich Angehörige wenden können [das Verteidigungsministerium hat einen Tag nach dem Interview, am 9. März, eine Hotline eingerichtet – dek].
Wir geben den Leuten einfach Kontakte aus dem Verteidigungsministerium weiter, die wir im Laufe der Jahre gesammelt haben. Wir arbeiten ja ziemlich eng mit verschiedenen Abteilungen innerhalb des Verteidigungsministeriums und in den jeweiligen Bezirken zusammen. Wir geben ihnen die Kontakte, die wir haben, und empfehlen den Leuten, überall anzurufen, um Kontakt zu ihren Söhnen herzustellen. Hauptsächlich geht es darum.
Was tun Sie noch, abgesehen von der Empfehlung, welche Behörden man kontaktieren soll?
Wir versuchen, die Eltern untereinander zu vernetzen. Das ist für uns als Organisation eine schwierige Aufgabe, manchmal nicht machbar.
Aber es ist wichtig, dass die Eltern gemeinsam handeln. Dass sie sich koordinieren, dass jemand direkt an den Dienstort [d. h. in die Militäreinheit] fährt, an dem sie das letzte Mal Kontakt [mit dem Vermissten] hatten, dass ein anderer am Telefon sitzt und wieder ein anderer Schreiben [an das Verteidigungsministerium und andere Behörden] aufsetzt. Sie müssen sich zusammentun.
Wir haben auch früher alles dafür getan, solche Supportgruppen entstehen zu lassen: Damit der Rekrut nicht alleine zur Musterungsbehörde geht, damit er eine Gruppe von Eltern oder seine Kameraden plus seine Eltern hinter sich hat, die wenigstens eine minimale Kontrolle darüber haben, wie der Armeedienst abläuft.
Bei uns melden sich auch Eltern, deren Kinder erst zwei oder drei Monate gedient haben. Aber meistens sind es Eltern von Vertragssoldaten, die schon mehrere Jahre im Dienst sind
Gibt es jetzt solche Gruppen?
Die Menschen schätzen die aktuelle Situation sehr unterschiedlich ein. Das ist ein Problem, denn manche warten lieber ab, und andere finden, dass man sofort handeln sollte.
Was ist besser, abwarten oder handeln?
Die Entscheidung muss jeder selbst treffen. Ich persönlich finde immer, handeln ist besser. Ich verstehe, dass Beten auch eine Form von Handeln ist. Aber meines Erachtens nicht die einzige. Manche entscheiden sich dafür zu warten. Man kann nur hoffen, dass irgendwann das eintritt, worauf sie warten.
In den ersten Tagen war ich sehr aufgewühlt und habe den Eltern versucht zu erklären, dass man etwas tun muss, anstatt zu warten. Bei manchen hat es funktioniert, bei anderen nicht. Die Kooperation zwischen den Eltern ist sehr schwierig. In den meisten Fällen haben die Eltern, die bei uns anrufen, weder die Telefonnummern der Militäreinheiten noch Kontakte zu den Eltern der Kameraden ihrer Söhne.
Bei uns melden sich auch Eltern, deren Kinder erst zwei oder drei Monate gedient haben. Aber meistens sind es Eltern von Vertragssoldaten, die schon mehrere Jahre im Dienst sind. Und selbst die haben zum Beispiel oft keine Kontaktdaten der Einheit. Ich finde das merkwürdig.
Inwiefern merkwürdig?
Ich habe das Gefühl, sie sind völlig abgekoppelt vom Dienst in der Armee. Die Familien haben alles dem Staat überlassen. Aber die Folgen davon, dass wir alles dem Staat überlassen haben, baden wir jetzt aus.
Das nächste Problem wird sein, dass der Staat für das, was passiert, nur eine minimale Verantwortung übernehmen wird. Dessen muss man sich bewusst sein. Das ist es den Eltern leider nicht. Ihnen ist nicht klar, dass, egal was mit ihren Söhnen jetzt passiert, die vom Staat übernommene Verantwortung minimal sein wird.
Wladimir Putin hat Angehörigen von in der Ukraine gefallenen Soldaten zusätzliche Kompensationen versprochen.
Wir kriegen ein paar Vorzeigebeispiele präsentiert – Kompensationen in Millionenhöhe [in Rubel – dek] und so was. All das, was uns der Präsident versprochen hat. Der Rest wird diesen Kompensationen jahrelang hinterherrennen – im besten Fall. Schlimmstenfalls versuchen sie es einmal und geben dann auf, sagen: „Tja, so läuft das eben in unserem Land.“ Danach werden sie nur in ihrem Umfeld darüber sprechen, dass es ihnen so ergangen ist.
Verstehen Sie, wie die Verluste gezählt werden? Das Verteidigungsministerium spricht von 498 Gefallenen auf russischer Seite.
Dazu kann ich nicht viel sagen, weil die Zahlen auseinandergehen: Die beiden Kriegsparteien nennen unterschiedliche Zahlen. Das ist normal, die Menschen sollen auf diese Art beeinflusst werden. Wie sie das jeweils zählen, ist schwer zu sagen. Wenn im Netz Informationen auftauchen, dass dieser Held mit Ehren bestattet wurde, dass jener Held mit Ehren bestattet wurde, dann kann man davon ausgehen, dass das auch eine Rolle spielen wird.
Was meinen Sie?
Dass möglicherweise für manche gar nichts ausgezahlt werden muss, weil sie Heldenbegräbnisse bekommen, eine Gedenktafel in ihrer Schule und in ihrem Heimatdorf, und fertig. Ich fürchte, dass sich ein Teil der Gesellschaft auch damit zufrieden geben wird, leider.
Wie könnte die Suche nach vermissten Soldaten offiziell aussehen?
Auf der Website des Verteidigungsministeriums läuft kein rotes Band, wo man nach Soldaten suchen kann. Es gibt auch keine Listen mit Gefallenen.
Außerdem unterliegen Informationen über Verluste bei „Spezialoperationen“ seit 2015 der Geheimhaltungspflicht. So gesehen stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage sie jetzt die Namen der Gefallenen offiziell verlautbaren lassen.
Liegen Ihnen Zahlen über Verluste vor?
Nein, wir sammeln sie nicht. An uns wenden sich Eltern, die jemanden suchen und in der Regel keine Informationen haben. Sie versuchen, Kontakt zu ihren Söhnen herzustellen, zu erfahren, wo sie sind und wie es ihnen geht. Wir dürfen keine Daten zu Verlusten sammeln. Wir hatten ein paar Anfragen, bei denen Eltern sagten, sie hätten ihre Söhne unter den Kriegsgefangenen erkannt. Die reichen wir an Kollegen weiter, die sich mit der Suche von Kriegsgefangenen auskennen. Wir geben den Eltern den Kontakt, alles weitere erfahren sie dort, was man überhaupt machen kann.
Mich bedrückt ihre Erwartungshaltung. Da ist keinerlei Handlung, vielmehr eine Art mütterliche Ohnmacht. Das geht mir sehr nahe
Können Sie eine Institution nennen, die sich mit Kriegsgefangenen befasst?
Das sind einfach Sankt Petersburger Menschenrechtsaktivisten, die bereits aus anderen Militärkampagnen Erfahrung haben. Sie wissen, an wen sich die Eltern wenden können. Aus Gesprächen mit Journalisten, die sich während des Tschetschenienkriegs mit solchen Fragen beschäftigt haben, weiß ich, dass die Menschenrechtsbeauftragte der Russischen Föderation [Tatjana Moskalkowa] dabei helfen kann. Ich empfehle den Angehörigen, dort einen Gefangenenaustausch anzuregen. Ansonsten sind es zivilgesellschaftliche Initiativen, keine offiziellen Strukturen.
Es heißt, die russische Armee führe womöglich mobile Krematorien mit sich. Stimmt das?
Dazu haben wir keine gesicherten Informationen.
Haben die Anfragen der Angehörigen, die jetzt nach Soldaten suchen, etwas gemeinsam?
Mich bedrückt ihre Erwartungshaltung. Da ist keinerlei Handlung, vielmehr eine Art mütterliche Ohnmacht. Das geht mir sehr nahe. Ich habe verschiedene Mütter in verschiedenen Situationen erlebt, und ich weiß, wie Mütter handeln können. Momentan höre ich auf viele meiner Vorschläge nur: „Was bringt das?“ Verstehen Sie? Das klingt für mich, als sähen die Leute keinen Sinn darin, das Leben ihrer Söhne zu retten. „Wozu denn? Lassen die mich denn dort rein?“ Wenn ich zum Beispiel sage: „Fahren Sie zum Kommandostab, und fragen Sie dort nach.“ Wenn eine Mutter das will, dann lassen sie sie rein, und dann reden sie auch mit ihr. Aber wenn sie sich von all diesen Fragen abschrecken lässt und ihre eigene Kraft in Zweifel zieht, dann wird sie höchstwahrscheinlich nicht durchkommen.
Ist das eine Art allgemeine Ohnmacht?
Wie auch immer man das nennen will. Es herrscht ein allgemeiner Zustand der Passivität: Apathie, Ohnmacht. Man könnte es auch schärfer formulieren. Jedenfalls hat man das Gefühl, das Leben eines Menschen sei nichts wert. Es gibt den Wunsch, irgendwo etwas zu beweisen, aber die Fähigkeit zum Handeln, um ein Leben zu retten, ist blockiert. Ich weiß nicht, ob es Angst ist, oder Schuld. Wenn man genauer hinschaut, hat da wahrscheinlich jeder sein Päckchen zu tragen. Aber dass dieser Impuls in der heutigen Zeit praktisch fehlt, ist, glaube ich, eine Tatsache. Da ist kein Impuls, Leben zu retten.
Was werden diese Geschehnisse noch für Folgen haben?
Welche Folgen diese „Spezialoperationen“ in Russland haben werden? Das wird in jeder Familie anders sein. Die Frage ist, ob sie zu einem gemeinsamen Bild zusammengefügt werden, anhand dessen die Verantwortung und Beteiligung der Gesellschaft sichtbar werden, die Verantwortung des Staates, und ob daraus irgendwelche tiefgreifenden Veränderungen resultieren. Aber wahrscheinlich wird das eher ein Mosaik bleiben. Das heißt, jede Familie wird eine eigene Geschichte erleben, mit individuellen Folgen – und irgendwie damit zurechtkommen, so gut es eben geht. Und wir werden in dem Zustand verharren, in dem wir jetzt sind. Oder es wird noch schlimmer.
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FAQ #1: Putins Angriffskrieg auf die Ukraine
Warum Putin die Ukraine grundsätzlich missversteht
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Brief an die Ukraine
Seit Alexander Lukaschenko das Territorium von Belarus als Aufmarschgebiet für den Krieg Russlands gegen die Ukrainer zur Verfügung gestellt hat, toben auch in den sozialen Medien scharfe Auseinandersetzungen. Von der ukrainischen Seite wird den Belarussen vorgeworfen, sie müssten kollektive Verantwortung für diesen Krieg übernehmen. Die Anfeindungen zeigen mitunter, dass das Wissen bei den Nachbarländern über die jeweiligen politischen Systeme nicht sonderlich ausgeprägt ist. Der litauische Politologe Vitis Jurkonis beispielsweise sagt: „Man muss das Regime in Belarus und sein Volk auseinander halten.“ Denn es waren Belarussen, die sich bereits früh ab Ende 2013 den Maidan-Protesten in der Ukraine angeschlossen haben und auch teilweise in den Krieg in der Ostukraine gezogen sind. Auch aktuell gibt es Freiwillige, die sich für den Einsatz in der Ukraine melden, sowie zahlreiche Solidaritätsaktionen, die Belarussen für die Ukraine organisieren. Nach den Protesten im Jahr 2020 sind mehr als 100.000 Belarussen vor den Repressionen in ihrem Land in die Ukraine geflohen. Nun müssen sie wieder fliehen.
Der belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevič wendet sich in einem offenen Brief, der auf der Webseite der ukrainischen Zeitschrift Ukrajinsky Tyshden (dt. Die Ukrainische Woche) veröffentlicht wurde, an die Ukrainer. Darin erklärt er nicht nur seinen persönlichen Schmerz über den und seine persönliche Schuld an dem Krieg, sondern auch die seiner Landsleute, dazu die zahlreichen Beziehungen, die sich zwischen Ukrainern und Belarussen entwickelt haben und die Bedeutung der Proteste in Belarus. Er wendet sich gegen den Vorwurf, dass seine Heimat nun grundsätzlich als „Fleck der Schande“ angesehen werden soll.
Liebe Ukrainerinnen und Ukrainer! Meine Helden, meine Freunde.
Ihr Menschen, um die es uns allen heute weh ist.Ich will nicht, dass dieser Text als Beschönigung oder Entschuldigung gelesen wird. Für Entschuldigungen ist es schon zu spät – und es hat auch keinen Sinn. Die Kriegsmaschinerie läuft, der Tod kommt gleichzeitig aus mehreren Richtungen, darunter auch vom Staatsgebiet meiner Heimat, und mit Entschuldigungen hält man sie nicht auf. Ich will auch nicht, dass mein Text als Buße verstanden wird. Buße tun sollen die, die Blut an ihren Händen haben. Ihr seid im Krieg, Ihr verteidigt euer Land – und wir sind nicht in der Kirche. Wir alle stehen vor dem Gericht der Geschichte, auf unterschiedlichen Seiten einer Zivilisationsgrenze, die nicht wir gezogen haben. In hässlichen Tagen, vor allem für die Ukraine, aber auch für ganz Europa, das in der Falle seines Strebens nach „Frieden um jeden Preis“ gefangen ist. Das ist das Europa, an das ich noch glaube und auf das ich hoffe. Dessen Hoffnung Ihr jetzt seid. Ich will so sehr, dass Ihr diesen Text bis zum Ende lest. Danach könnt ihr uns Belarussen hassen, ihr könnt uns verachten – oder doch nachdenken, wer euer Gegner ist, ob mein Belarus wirklich euer Gegner ist.
„Wir Belarussen sind friedliche Menschen …“
So beginnt die Nationalhymne der Republik Belarus. Die Musik stammt noch aus sowjetischen Zeiten, nur der Text ist neu. Irgendwann klang an dieser Stelle ein sklavisches: „Wir Belarussen, verbrüdert mit Russland …“ Aber weder die alte noch die neue Hymne hat mein wahres Belarus anerkannt. Diese Hymne ist für uns ebenso Symbol der Diktatur wie die rot-grüne Fahne und das sowjetische Wappen. Doch das interessiert die Welt bereits nicht mehr.
„Wir Belarussen sind friedliche Menschen …“ Lange Zeit befriedigte diese Formel alle Seiten. Sowohl die staatliche Propaganda als auch die Gegner des Regimes verwendeten sie gern. Wir sind friedliche Menschen. Das war eine Erklärung, der alle gern zustimmten, ob nun Machthaber oder Opposition.Belarus ist jetzt der Aggressor und reiht sich damit in die Liste der finstersten Länder der Weltgeschichte
Jetzt ist es eine Lüge. Die schöne alte Erzählung von den friedliebenden Menschen und ihren guten Nachbarn wurde von einem Augenblick zum anderen zum heuchlerischen und blutigen Lügenmärchen. Zusammen mit dem „verbrüderten Russland“ ist Belarus zum Aufmarschgelände für den Angriff auf die Ukraine geworden. Belarus ist jetzt der Aggressor und reiht sich damit in die Liste der finstersten Länder der Weltgeschichte. Das Bild vom „friedlichen Menschen“ ist im Nu zerstoben – für immer. Auch das Bild, das uns als Opfer zeigt, die jahrhundertelang unterdrückt und vernichtet wurden, aber überlebten und dafür respektiert werden sollten. Lukaschenka hat Belarus und sein Volk endlich in die letzte Sackgasse geführt, aus der nun alle herausklettern müssen, auch die, die sich „für Politik nie interessiert haben“. Niemand kann es aussitzen und wegschweigen. Niemand wird mehr sagen können: „Ich bin ein kleiner Mensch, ich habe damit nichts zu tun“. Aber das Entsetzlichste ist: Für diese hässliche Rolle, die Belarus jetzt spielt, werden auch die nächsten Generationen zahlen. Beim Wort „Belarus“ werden im Bewusstsein der Welt noch sehr lange die Bilder des Krieges auftauchen: die Bilder jenes Krieges, in dem Belarus zum ersten Mal in seiner Geschichte nicht Opfer oder Verteidiger ist, sondern der getreue Handlanger von Putins Faschismus.
Noch vor Kurzem waren wir so stolz, dass wir in den Augen der Welt endlich ein schönes, starkes Antlitz haben: das Bild der mutigen Frauen und Männer, die 2020 ohne Waffen, nur mit ihrem Freiheitswillen und Protestworten auf die Straßen gingen und sich gegen die bis zu den Zähnen bewaffneten Militäreinheiten stellten, die sich selbst als „Miliz“ und „Armee“ bezeichneten. Jetzt ist dieses Bild durchgestrichen und verschmiert. So überpinselt man in meiner Heimatstadt Minsk bis heute die Revolutionsgraffitis. Doch jetzt wird es mit ukrainischem Blut verschmiert – von Menschen, die sich – wie auch ich – Belarussen nennen. Aber wir, die wir von einem anderen Belarus träumen und seit Jahren versuchen, diese Träume wahrzumachen – wir fühlen uns stärker mit Euch Ukrainern verbunden als mit unseren Generälen und Soldaten, die in Euer Land einmarschieren.
Deshalb bin ich, der belarussische Schriftsteller Bacharevič, bereit, meinen Teil der belarussischen Verantwortung auf mich zu nehmen. Ich bin bereit, die belarussische Schuld und die belarussische Schande auf mich zu nehmen, wie es seinerzeit während des Zweiten Weltkriegs auch die deutschen Literaten in der Emigration taten. Das ist eine der Aufgaben der Literatur heute. Schuld und Schande anzuerkennen.Aber ich bin dagegen, dass mein Belarus heute ausschließlich ein Fleck der Schande und des Hasses für die Welt sein soll.
Ihr, die Ukrainer, verteidigt Euer Land. Eure Armee, eure Territorialverteidigung, jeder Ukrainer und jede Ukrainerin widersetzen sich dem Aggressor. Euer Krieg ist ein Verteidigungskrieg, ein Krieg für die Freiheit. Ihr seid schon einen so langen Weg zur Freiheit gegangen, dass Putins Imperium Euch nie wieder in sein Gefängnis zurückholen kann. Die Ukraine hat sich für immer verändert.
2020 haben wir, die Belarussen, uns davon überzeugt, dass wir keine belarussische Armee haben. Die Einheiten, die uns verteidigen sollten, führten Krieg gegen unbewaffnete Menschen. Die Belarussen haben gesehen, wie die, die dem Volk ihre Treue geschworen hatten, dieses Volk ohne mit der Wimper zu zucken verrieten, wie sie aktiv an Massenrepressionen gegen die eigenen Mitbürger teilnahmen. Seitdem hält niemand im Land die belarussische Armee mehr für wirklich belarussisch. Belarus hat keine Armee. Es hat nur Lukaschenkas Generäle, die von Putins Medaillen träumen. Es hat diejenigen, die deren verbrecherische Befehle ausführen. Und es hat Menschen – die jetzt als Kanonenfutter in einem verbrecherischen Krieg benutzt werden.
Ich glaube an Worte als die letzte Waffe des Menschen
Man sagt mir wieder und wieder, das seien nur Worte. Die Ukraine erwarte von uns Belarussen entschlossenes Handeln. Doch das, was ich kann, sind eben nur Worte. Worte, für die ich mich verantworte. Ich glaube an Worte als die letzte Waffe des Menschen. Ich schreibe euch aus der Emigration – aus dem Europa, in dem noch Frieden herrscht, ein sehr wackeliger Frieden. Ich schreibe aus dem Europa, das heute unglaubliche Einigkeit demonstriert, aus dem Europa, das für euch einsteht. Und was die Entschlossenheit angeht: Im Jahr 2020 gingen Hunderttausende Belarussen gegen dieses Regime auf die Straße, das heute die Ukraine überfallen hat. Darunter war ich, waren meine Freunde und Kollegen. Zehntausende wurden in Gefängnisse gesteckt, wo sie gefoltert wurden und weiterhin gefoltert werden. Zehntausende emigrierten. Und Tausende, die in der Heimat geblieben sind, führen den Widerstand im Untergrund fort.
Dort, in der Heimat, ist alles vernichtet. Selbst das kleinste bisschen, das zuvor hartnäckig, der Macht zum Trotz, in den letzten zehn Jahren herangewachsen war. Nicht einmal diese minimale Freiheit, die uns früher kritisches Denken und produktives Schaffen erlaubte, ist geblieben. Es gibt keine freien Informationsplattformen mehr, die die Wahrheit über die Ereignisse in der Ukraine erzählen könnten und helfen könnten, den Krieg mit ukrainischen und belarussischen Augen zu sehen. Sie alle sind blockiert, als „extremistisch“ und „staatswidrig“ abgestempelt, die Journalisten sitzen im Gefängnis oder arbeiten im Ausland. In Belarus herrschen nach dem August 2020 Schmerz und Furcht. Belarus ist eine einzige, große Wunde. Ich weiß nicht, ob es noch Familien gibt, die nicht von den Repressionen betroffen sind. Belarus konnte seit der Zerschlagung der Proteste kaum einatmen, da wurde es schon in einen blutigen Krieg gezogen. Für mich sieht es so aus: Man hebt einen schwer Verletzten auf und beginnt, mit seinem Kopf die Tür des Nachbarn einzuschlagen. Wer trägt die Schuld? Natürlich der Verletzte. Es ist ja sein Kopf.
Damals, 2020, unterstützten uns die UkrainerInnen sehr stark in unserem Kampf. Sie unterstützten uns vor allem mit Worten – und es waren sehr wichtige Worte, die wir nie vergessen werden. Ist es wirklich die Schuld der Belarussen, dass wir die Mauer nicht zerstören konnten? Dass wir Putin unser Land besetzen ließen? Dass wir dem russischen Faschismus erlaubten, unser Land zu benutzen? In historischer Perspektive – ja, vielleicht. Aber wir leben hier und jetzt. Zehntausende Belarussen sind Repressionen ausgesetzt und sitzen im Gefängnis. Und ich werde nie zustimmen, dass sie Hass und Verachtung verdienen. Was sie getan haben, war nicht umsonst. Wenn auch sehr langsam, so ist Belarus doch aus dem süßen Lukaschenkaschlaf erwacht. Geschichte wird nicht an einem Tag gemacht. Die Belarussen, die für Freiheit waren, werden sie vielleicht niemals sehen. Aber bedeutet das wirklich, dass alles, was sie taten, umsonst war?
Ist wirklich alles, was die ukrainischen Medien 2020 über Belarus berichteten, so rasch vergessen worden? Vielleicht schon lange vor dem Krieg? Wenn ich heute lese, was die ukrainischen Medien über das sogenannte Referendum schreiben, das am Sonntag in Belarus abgehalten wurde, traue ich meinen Augen kaum. Diese weitere Farce, von der Diktatur organisiert, um das Land unter totale Kontrolle zu bringen und endgültig Russland auszuliefern, wird als antiukrainische „Willensäußerung des belarussischen Volkes“ dargestellt. Ich verstehe, dass der Informationskrieg in vollem Gang ist. Dass der Hass auf den Feind eine heilige Sache ist. Aber es war keine „Willensäußerung“. Es war nur eine weitere absurde Inszenierung in Lukaschenkas Staatstheater, ein weiterer „eleganter Sieg“, wie Lukaschenka es gern nennt.
Belarus lebt jetzt in einer Situation, die man als Bürgerkrieg unter ausländischer Okkupation beschreiben kann. Belarus ist nicht die Ukraine. In Belarus gibt es keine belarussische Regierung, keine belarussische Armee, keine belarussische Miliz, keine belarussische Politik, keine belarussischen freien Medien. Belarus ist verstümmelt, Belarus ist gespalten, Belarus weiß nicht, was es mit sich selbst anfangen soll, wie es überleben und nicht von der Weltkarte und aus dem Territorium der Moral verschwinden kann. Mein Belarus existiert jetzt als über das Land und darüber hinaus verstreute Widerstandsherde, die nur eine Aufgabe haben: überleben und Kräfte sammeln. Die Hoffnung, dass sie heute in der Lage sein könnten, sich zu vereinen, die Regierung zu stürzen und den Krieg zu beenden, habe ich nicht. Aber diese Widerstandsherde sind die Grundlage des zukünftigen friedlichen Staates, der freien Nachbarin der freien Ukraine. Diese Widerstandsherde unterstützen heute die Ukraine, sie machen für euch alles was in ihrer Macht steht. Ist es wirklich richtig, diese Bemühungen zu ignorieren, wenn sie doch euch gelten – euch, genau wie dem zukünftigen Belarus?
Belarussen leben jetzt in einer Leere – zwischen Licht und Dunkelheit
Irgendwann im Jahre 1968 schrieben die Tschechen über sieben (nur sieben) sowjetische Dissidenten, die auf dem Roten Platz in Moskau gegen die Invasion in der Tschechoslowakei protestierten: Diese sieben Menschen seien sieben Gründe, warum wir Russland nicht hassen können. Nur am Sonntag und am Montag wurden in Belarus etwa eintausend Menschen dafür verhaftet, dass sie gegen den Krieg in der Ukraine protestierten. Und ich wage zu hoffen, dass diese Menschen ebenfalls eintausend Gründe sind, Belarus nicht zu hassen.
Ich will nicht, dass dieser Text wie Weinen oder Jammern wirkt. Als würde ich vor Euch auf die Knie gehen. Wenn ich, wie viele andere Belarussen, meine Honorare an die ukrainische Armee und für humanitäre Hilfe spende, wenn meine Frau und ich Sachen für ukrainische Flüchtlinge bringen – dann bin ich kategorisch dagegen, dass dies als Freikaufen von Schuld verstanden wird. Ich tue das als Gleicher für Gleiche, vor allem als Mensch, aber auch als Belarusse, der helfen will. Wenn meine Frau und ich zu Unterstützungsdemonstrationen für die Ukraine gehen, dann tun wir das nicht, weil wir ein schlechtes Gewissen haben, sondern um Einfluss auf die Politiker im Westen auszuüben, die noch darauf hören, was das Volk ihnen sagt. Wenn ich, ein Emigrant in Graz, diesen Text schreibe, dann tue ich das nicht, um Vergebung zu erhalten, sondern weil ich nicht schweigen kann und will. Als ich meine Bücher schrieb, als ich in meinem Roman Die Hunde Europas vor der Gefahr des Putinschen Imperiums warnte, las die Mehrheit das als Phantasmagorie und Dystopie. Jetzt leben wir alle in dieser Dystopie. Habe ich alles getan, was ich konnte? Diese Frage richtet sich nicht an euch, ich muss sie selbst beantworten. Wie alle Belarussen.
Und doch kann ich nicht ruhig und verständnisvoll zusehen, wie die Ukrainer uns im Netz immer öfter schreiben: „Ihr, Belarussen, liebt doch euren Putin!“ Sie schreiben es nicht den chronischen Putinoiden, sondern den Belarussen, die jahrelang gegen Putins Faschismus gekämpft haben und Belarus nicht zu Europas Schande werden ließen. Ich kann nicht ohne Entsetzen lesen, dass man den Belarussen, die ukrainischen Flüchtlingen helfen, die Autoscheiben zerschlägt – nur, weil das Auto ein belarussisches Kennzeichen hat. Ich kann nicht ertragen, wenn jemand Menschen, die durch Lukaschenkas Repressalien gegangen sind, schreibt: „Ihr Schweinehunde, küsst euren Lukaschenka.“ Ich kann nicht sehen, wie die Belarussen, die in der Ukraine eine Zuflucht vor dem Regime gefunden haben, heute aus ihren Häuser gejagt werden. À la guerre comme à la guerre … Aber was gibt euch dieser Hass? Wenn Ihr überzeugt seid, dass der Hass euch hilft, die Besatzer zu besiegen, werden wir ihn schweigend ertragen. Wir werden euch unterstützen auch wenn ihr uns hasst. Dieser rückhaltlose Hass auf alles Belarussische bringt euch keinen Freund im feindlichen Land mehr als ihr schon habt. Aber Belarus ist kein feindliches Land. Die Belarussen leben jetzt in einer Leere – zwischen Licht und Dunkelheit. Wir schämen uns, wir fürchten uns, und wir sind beleidigt – aber wir sind auf eurer Seite. Mit Worten, mit Gedanken, mit Taten und auch mit Waffen – denn für Euch kämpfen heute auch Belarussen. Und viele meiner Landsleute können nicht einschlafen, sie lesen Nachrichten und verfluchen die zwei Verrückten, die diesen Krieg entfacht haben: Putin und Lukaschenka.
Wir haben uns nicht ausgesucht, wo wir geboren sind. Genau wie Ihr.
Ein Teil des teuflischen Moskauer Plans ist die Vermehrung des Hasses. Wo immer es geht. Das ist ihre langfristige Aufgabe, mit der sie schon vor langer Zeit begonnen haben. Für den Kreml ist es besonders wichtig, den Hass zwischen seinen Nachbarn zu schüren. Diesen Hass auf ein solches Niveau zu treiben, dass eine Rückkehr zur Normalität in den Beziehungen unmöglich wird.
Darauf folgt, nach ihrem Plan, das klassische divide et impera.Liebe Ukrainerinnen und Ukrainer, wir haben einen gemeinsamen Feind. Er freut sich über jeden Konflikt zwischen uns. Wenn Putin und Lukaschenka sehen, dass der Hass zwischen uns wächst, lächeln sie zufrieden. Das bedeutet, alles geht nach Plan. Wollen wir wirklich, dass sie zufrieden lächeln?
Wir haben einen gemeinsamen Feind. Bitte lasst uns das nicht vergessen.
Wer weiß, vielleicht ist es auch schon zu spät.
Alhierd Bacharevič (* 1975, Minsk/Belarus) ist ein belarussischer Schriftsteller und Dichter. Seine Romane und Essaybände sind ins Deutsche, Englische, Französische, Polnische, Russische und Schottische übersetzt. 2017 erschien das Hauptwerk des Autors: Die Hunde Europas. Das Belarus Free Theater inszenierte den Roman in Minsk und in London. Die Neuauflage des Romans wurde im Frühjahr 2021 von Lukaschenkos Behörden konfisziert und als „extremistisch“ und „staatswidrig“ eingestuft. Bacharevič ist für sein Schreiben in Belarus vielfach ausgezeichnet worden. 2021 wurde er mit dem deutschen Erwin-Piscator-Preis geehrt. Auf Deutsch sind aktuell der Roman Die Elster auf dem Galgen sowie die Essay-Sammlungen Berlin, Paris und das Dorf und Sie haben schon verloren erhältlich. Seit Dezember 2020 lebt Alhierd Bacharevič mit Julia Cimafiejeva mit dem Literaturstipendium Writer in Exile in Graz.
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„Die naheliegendste Analogie sind die Jahre 1938/39“
Es ist Tag acht im russischen Krieg gegen die Ukraine. Aber ist es nur Wladimir Putins Krieg? Bei aller Ohnmacht müssen alle jetzt herausfinden, wo die eigene Verantwortung liegt – und was nötig ist, um weiter mit sich leben und in den Spiegel schauen zu können. Der russische Soziologe Grigori Judin spricht darüber im Interview mit Meduza, das hier in Ausschnitten zu lesen ist – und in dem er auch seine Einschätzung zur Proteststimmung darlegt. Er selbst ist am 24. Februar bei einem Antikriegsprotest in Moskau zusammengeschlagen worden.
Swetlana Reiter: [Die unterschwellige Unzufriedenheit, die wir sehen,] steigt langsamer als der militärische Konflikt.
Grigori Judin: Ja, sie steigt nicht schnell genug, aber sie steigt, und es steigt auch die Zahl der öffentlichen Personen, die sich dagegen aussprechen: Abgeordnete, verschiedene Verbände. Prominente versuchen zwar zu schweigen, äußern sich mittlerweile aber immer öfter dagegen als dafür. Das bringt zwar nicht viel, aber immerhin.
Sollten diese Äußerungen der subelitären Kreise auf die elitären, näher an der russischen Führung befindlichen übergehen, dann ist klar, was das für Putin heißt. Dann sieht plötzlich alles wie ein irrwitziges Abenteuer mit grauenhaften Folgen aus und einer unausweichlichen Niederlage am Horizont. Deswegen stehen wir jetzt an einem Wendepunkt: Die Welt, in der wir im jetzigen Moment leben, wird es nur sehr kurz geben …Mir ist klar, dass das Land noch nie mit einer solchen Situation konfrontiert war. Aber können Sie als Soziologe trotzdem eine Prognose versuchen: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir nach diesem Wendepunkt, an dem wir derzeit stehen, den erfreulicheren Weg einschlagen oder das Gegenteil?
Das ist für die ganze Weltgeschichte eine nie dagewesene Situation – nie hat es etwas Derartiges gegeben. Die ganze Welt steht in diesem Augenblick auf der Kippe zu einer ungeheuren Katastrophe, daher verfügen wir über keinerlei logisches Wissen, auf das wir uns stützen könnten.
Schon jetzt wird der Welt bewusst, dass am 24. Februar die lange Nachkriegsepoche zu Ende gegangen ist, eine neue Ära ist angebrochen. Das hat Deutschlands Kanzler Olaf Scholz ganz richtig festgestellt: Unter anderem werden wir in dieser neuen Ära auch ein neues Deutschland sehen, das bereit ist, eine neue Verantwortung zu übernehmen.Wir müssen begreifen, dass das kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist. Dieser Krieg wird von einer Gruppe geführt, die sich Waffen geschnappt hat, die gewohnt ist, Menschen damit Angst zu machen
Wir stehen heute am Rand eines riesigen Krieges. Seine potenziellen Teilnehmer verfügen über Atomwaffen, und es gibt jemanden, der sogar schon ganz offen damit droht. Wörter wie „Nazis“ und „Entnazifizierung“ sind alles andere als harmlos – in der heutigen Sprache haben sie das Potenzial einer völligen Entmenschlichung und bilden die Grundlage für eine „Endlösung des Problems“. Es ist nicht auszuschließen, dass da etwas Vergleichbares zurückschallen wird … Die naheliegendste Analogie sind die Jahre 1938/39. Aber damals war die Welt gespalten und am Ende, heute findet sie zusammen. Vielleicht nicht vollständig, aber der Ernst der Lage wird von Tag zu Tag immer klarer erkannt. Deshalb stehen wir, wie mir scheint, an einer auf Jahrzehnte hinaus bestimmenden Wegscheide, an der die ganze Welt und vor allem die drei Völker stehen, die jetzt Geiseln von Leuten sind, die Waffen auf sie gerichtet haben und sie gegeneinander aufhetzen wollen. Das sind Belarus, Russland und die Ukraine.
Wir müssen begreifen, dass das kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist. Dieser Krieg wird von einer Gruppe geführt, die sich Waffen geschnappt hat, die gewohnt ist, Menschen damit Angst zu machen und jetzt schlicht zu Kampfhandlungen gegen alle drei Völker übergegangen ist.
Fühlen Sie sich in solchen Momenten eher als Mensch oder als Wissenschaftler? Oder ist das eine zu dumme Frage? Lassen Sie es mich anders sagen: Soll man analysieren oder sich in Sicherheit bringen?
Die Frage ist keineswegs dumm, sie liegt in entscheidenden historischen Momenten auf der Hand. Man muss verstehen, dass das zwei Haltungen sind, die sich in jedem Wissenschaftler finden und die miteinander in Kontakt kommen müssen. Du musst dir bewusst machen, woran du glaubst und zu welchem Zweck du deine Analysen vornimmst: Wenn du einfach nur auf Befehl oder Auftrag hin arbeitest, kannst du eine Elwira Nabiullina [die Chefin der Zentralbank der Russischen Föderation] werden und möglicherweise als Kriegsverbrecher enden.
Sie halten Elwira Nabiullina für eine Kriegsverbrecherin?
Albert Speer war ein Kriegsverbrecher.
Ist sie nicht eine Geisel der Situation?
War Adolf Eichmann eine Geisel der Situation? Ganz im Ernst: Irgendwann muss man aufhören, sich zum Rädchen zu machen und zu einer inneren moralischen Haltung finden. Und dann seine analytischen Fähigkeiten in den Dienst dieser Haltung stellen.
Es ist wichtig, die moralische Haltung nicht aufzugeben, vor allem in so entscheidenden Situationen
Und hier kommt es darauf an, kritische Distanz zu gewinnen, einen kühlen Kopf zu bewahren und die Kontrolle über sich selbst nicht zu verlieren. Aber es ist wichtig, die moralische Haltung nicht aufzugeben, vor allem in so entscheidenden Situationen.
Wie sehr kann man darauf hoffen, dass jeder Mensch in sich selbst Halt findet? Und was muss getan werden, damit Elwira Nabiullina und, sagen wir, Sergej Schoigu ihr Verhalten ändern?
Das ist eine Frage ihrer Beziehung zu Gott. Wissen Sie, wir sind jetzt an einem Punkt, der bei allem, was daran einmalig ist, doch an die Ereignisse des 20. Jahrhunderts erinnert. Hannah Arendt hat dazu sehr richtig gesagt, dass es Zeiten gibt, in denen man sich eingestehen muss, dass man die Welt im Ganzen nicht ändern kann. Man muss herausfinden, wo jetzt die eigene Verantwortung liegt – was man tun muss, um weiter mit sich leben und in den Spiegel schauen zu können.
Durch kleine Aktionen mit deutlicher Wirkung lässt sich die Angst kurieren – und dann zeigt sich, dass der Teufel nicht so schrecklich ist, wie er gemalt wird
Das ist die wichtigste Frage, und jeder Mensch muss diese Frage für sich selbst beantworten – im Bewusstsein, dass die Dinge sich nach dem schlimmsten überhaupt vorstellbaren Szenario entwickeln können und die Wahrscheinlichkeit dafür sehr hoch ist.
Und wie bekämpft man in diesem Fall die eigene Angst?
Es gibt da bekannte Methoden, die immer funktionieren: kleine Aktionen, die eine deutlich messbare Wirkung haben. So lässt sich die Angst kurieren, und dann zeigt sich immer wieder, dass der Teufel nicht so schrecklich ist, wie er gemalt wird. Wenn man eine Grundsatzposition einnimmt, wenn man die moralische Herausforderung annimmt, nicht so tut, als ob nichts wäre und man sowieso nichts machen könne, sondern begreift, dass man vor eine ungeheure moralische Aufgabe gestellt ist, auf die jeder Mensch reagieren muss, dann kann man sich nicht vormachen, dass man einfach nur Zuschauer ist. Man muss überlegen, wie man mit kleinen Aktionen eine messbare Wirkung erzielt.
Selbstanklagen, Scham … Diese Gefühle sind nachvollziehbar und herzensgut, aber sie bahnen nicht den Weg zum Handeln
Theodor W. Adorno hat einmal den Dramatiker Christian Dietrich Grabbe zitiert: „Nichts als nur Verzweiflung kann uns retten“. Viele Russen, die unter dem Geschehen leiden, reagieren gerade mit Selbstanklagen, Scham, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsversuchen. Diese Gefühle sind nachvollziehbar und herzensgut, aber sie bahnen nicht den Weg zum Handeln. Dies ist letztlich kein Krieg, den das russische Volk gegen die Ukraine führt. Dieser Krieg wird den Russen nichts bringen. Sie werden auf die furchtbarste Weise verlieren. Das wird eine ungeheure Katastrophe für das Land, die uns allgemeinen Hass, eine zerstörte Wirtschaft, eine niedergewalzte Gesellschaft und vermutlich eine besiegte Armee einträgt.
Wir müssen diese Katastrophe stoppen, und zwar gemeinsam mit den Ukrainern und Belarussen
Letztlich verlieren wir die unerschütterliche Grundlage für das Ansehen, das bei den Menschen auf der ganzen Welt immer Respekt hervorgerufen hat: Das Image des Befreiers, des Landes, das im denkbar schrecklichsten Krieg heldenhaft gesiegt hat. Deshalb müssen wir diese Katastrophe stoppen, und zwar gemeinsam mit den Ukrainern und Belarussen. Nun ist es so gekommen, dass die Ukrainer das auf ihre Art tun und die Belarussen und Russen auf ihre eigene Weise handeln müssen – so, dass wir uns später ruhig in die Augen schauen können.
Ich weiß, es ist merkwürdig, diese Frage an Sie zu richten, aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs, wenn wir die Ereignisse vom 27. Februar analysieren?
Eine solche Möglichkeit besteht. Nach Putins Aussagen zu urteilen, würde ich sie bisher nicht als unmittelbare und unabwendbare Gefahr betrachten. Bislang ist das eine Maßnahme, die zeitgleich mit der Anreise zu den Verhandlungen erfolgte – die natürlich rein dekorativen Charakter haben, es sind keine echten Verhandlungen. Aber diese Aussage (in Bezug auf die Waffen) ist eher eine Erpressungsmaßnahme, um die eigene Verhandlungsposition zu untermauern.
Doch allein die Tatsache, dass diese Drohung ausgesprochen wurde – und das unter diesen Umständen, als Putin und seine Mannschaft deutlich machten, dass sie bereit sind, alles zu tun, um ihren Willen zu kriegen – macht die Nuklearfrage relevant. Zudem sollten wir die Risiken des Einsatzes taktischer Kernwaffen nicht vergessen.
Ich habe immer geglaubt, dass der Mensch vor allem vom Selbsterhaltungstrieb geleitet wird. Die Entscheidung, Atomwaffen einzusetzen, wäre, gelinde gesagt, selbstmörderisch.
Der Mensch ist ein interessantes Wesen, das viele Denker gerade über seine Fähigkeit definiert haben, Selbstmord zu begehen. Aus irgendeinem Grund ist der Mensch imstande zu sagen: „Ich sage Nein zu meiner physischen Existenz.“ Sei es, weil er seine weitere Existenz als unvereinbar mit dem eigenen Selbst empfindet, sei es der Wunsch nach Prestige, nach Ruhm – solche Dinge haben Menschen in der Geschichte dazu gebracht, Selbstmord zu begehen.
Allerdings hatten die keinen Atomknopf – aber was ändert das letztlich? Auch die, die nuklearen Selbstmord begehen, sind Menschen und also dazu imstande.
Entschuldigung, ich muss mich verabschieden – gerade ruft meine Frau an, die vermutlich bei einer Antikriegsaktion festgenommen worden ist.
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Krieg der Sprache
Es ist Tag sechs im russischen Krieg gegen die Ukraine. Nach Angaben der Vereinten Nationen gibt es seit Donnerstag mehr als 100 getötete Zivilisten und mehr als 300 Verletzte in der Ukraine; mehr als 660.000 Menschen sind auf der Flucht. Die ukrainische Regierung geht von mehreren hundert Toten aus.
Von russischen Medien angesprochen auf die UN-Angaben zu Opfern unter der Zivilbevölkerung, hält Kreml-Sprecher Dmitri Peskow weiter an der Darstellung fest, wonach lediglich militärische Anlagen das Ziel seien. Statt von einem Krieg spricht er, wie es das offizielle Russland seit Beginn der Angriffe insgesamt tut, von einer „militärischen Spezialoperation“, von so genannter „Demilitarisierung“ und „Entnazifizerung“ der Ukraine. Die verbliebenen unabhängigen Medien innerhalb Russlands haben den Krieg dagegen von Beginn an Krieg genannt – und berichten außerdem von ersten Opfern auf der russischen Seite, die am Sonntag auch erstmals das russische Verteidigungsministerium bekannt gab (ohne allerdings Zahlen zu nennen).
Bei der The New Times wurde ein solcher Artikel nach Anordnung durch den russischen Generalstaatsanwalt blockiert, den Medienberichten zufolge außerdem zahlreiche ukrainische Medien und diese gleich vollständig.
Verschiedene Medien, darunter die renommierte Novaya Gazeta, der Telekanal Doshd und das Portal Mediazona, berichten, Anordnungen der Medienaufsicht erhalten zu haben. Ihnen wurde mitgeteilt, angeblich „unzuverlässige Information“ zu verbreiten. Welche Begriffe die Behörde darunter versteht, ließ sie ebenfalls offiziell wissen: „Angriff“, „Invasion“ und „Kriegserklärung“.
Auch die Nutzer sozialer Netzwerke berichten gegenüber russischen Journalisten von Problemen: Demnach laufen Twitter, Facebook und Instagram langsamer.Der Druck, im Internet blockiert zu werden, wird einigen Redaktionen mittlerweile zu groß: Die Novaya Gazeta etwa schrieb am Dienstag (heute, 1. März) in einer Hausmitteilung, nach Aufforderung durch die Generalstaatsanwalt drohten „gigantische Strafen“ bis hin zu „der Aussicht einer Liquidierung der Medien“. Deshalb habe man nach Abstimmung im Redaktionsausschuss mehrheitlich entschieden, „unter den Bedingungen der Kriegszensur“ weiterzuarbeiten. In den Artikeln, die online zu sehen sind, wird nun getitelt: „Russland greift die Ukraine an“. Nutzer reagierten überwiegend mit Verständnis: „Besser irgendwie arbeiten als gar nicht.“ – „Uns ist allen völlig klar, dass Krieg ist. Sie brauchen ihn gar nicht direkt Krieg zu nennen.“
Auch bei Echo Moskwy werden Hörer und Nutzer von Chefredakteur Alexej Wenediktow in einem Interview darauf hingewiesen, dass der Sender aus diesen Gründen – anders als in ersten Meldungen – von „Spezialoperation“ spreche.Update 1. März, 19.30 Uhr: Echo Moskwy hat auf seinem Telegram-Kanal mitgeteilt, dass die Radiostation abgeschaltet worden sei. Außerdem hat die Medienaufsicht angeordnet, Echo sowie Doshd im Internet zu sperren; laut Medienberichten setzen die Provider das bereits um.
Update, 2. März: Doshd-Chefredakteur Tichon Dsjadko auf Telegram mit, dass er sowie weitere Mitarbeiter das Land verlassen. Ihre „persönliche Sicherheit ist bedroht”.
Lew Rubinstein, russischer Lyriker, Schriftsteller, Essayist und früherer Dissident, schreibt kurz nach dem Angriff über den Kampf der Begriffe und einen Krieg der Sprache – der für ihn lange Zeit vor diesem echten Krieg begonnen hat.
„Aber es ist ein richtig echter Krieg. Und er muss unbedingt gestoppt werden“, schreibt Lew Rubinstein auf Echo Moskwy / Foto © IMAGO, Lehtikuva
Wörter der Nachkriegszeit wie „Nazismus“ und „Faschismus“ haben im sowjetischen und postsowjetischen Propaganda-Diskurs allmählich ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. Sie entbehren heute jeglichen semantischen Inhalts. Sie, diese Wörter, werden als reine Instrumente verwendet, als vermeintlich starke und überzeugende rhetorische Figuren.
In den vergangenen Jahren gehörte es in der Rhetorik des politischen Establishments in Russland zum guten Ton, diese bereits völlig sinnentleerten Wörter in Bezug auf den ukrainischen Staat zu verwenden.
Der russische Präsident sagt, die „Aufgabe, die mit der militärischen Operation verfolgt“ werde, sei die „Entnazifizierung und Demilitarisierung der Ukraine“. Wenn man das in irgendeine Sprache übersetzt, deren Sprecher nicht den Kontakt zur Realität verloren haben, führt das bei einem normalen modernen und zivilisierten Menschen unmittelbar zu dem, was in der Psychologie kognitive Dissonanz genannt wird: Er zweifelt sofort entweder an der psychischen Gesundheit der Person, die das sagt, oder an seiner eigenen.In den vergangenen Jahren gehörte es in der Rhetorik des politischen Establishments in Russland zum guten Ton, diese bereits völlig sinnentleerten Wörter in Bezug auf den ukrainischen Staat zu verwenden.
Wie soll man aus Sicht der klassischen Logik verstehen, dass „das friedliebende Russland die faschistische Ukraine“ angegriffen hat, zwecks ihrer „Demilitarisierung“ und „zum Schutz der eigenen Sicherheit“? Das lässt sich gar nicht verstehen, wenn man nicht bedenkt, dass im politischen Wörterbuch des modernen Russland Wörter überhaupt nicht das bedeuten, was sie in akademischen Wörterbüchern bedeuten. Oft haben sie sogar eine komplett gegensätzliche Bedeutung.
Unsere Geschichte unterscheidet sich von den anderen dadurch, dass sich die wichtigsten Ereignisse im Raum der Sprache abspielen – der beinahe einzigen Realität im irgendwie sonst nicht so realen Leben Russlands.
Und immer wiederholt sich alles. Das heißt, nein, es wiederholt sich nicht, es reimt sich. Reim ist ja keine Wiederholung, Reim ist Zusammenklang. Deswegen wiederholt sich nie etwas wortwörtlich.
So haben wir zum Beispiel vor Kurzem noch Angst davor gehabt, das Wort „Krieg“ in den Mund zunehmen.
Das heißt, es wurde natürlich in den Mund genommen. Aber es gab nur den einen „Krieg“, den Zweiten Weltkrieg. Andere Kriege gab es nicht. Bis vor ein paar Tagen.
Es gab im Übrigen noch einen Krieg, der nie erklärt worden war und immer währte: Das russische Volk war immer geteilt in zwei ungleiche Teile. Der eine – der kleinere – bezeichnete hartnäckig Gemeinheiten als Gemeinheiten, Feigheit als Feigheit, Dummheit als Dummheit und Faschismus als Faschismus. Der andere, der größere, war anfällig für die offizielle Rhetorik und bezeichnete Gemeinheiten als Patriotismus, Feigheit als die Notwendigkeit, den Umständen Rechnung zu tragen, eine offene Aggression als Schutz der eigenen Sicherheit, und das Streben von Völkern und Gesellschaften nach Freiheit und Offenheit als Nazismus.
Aber es ist ein richtig echter Krieg. Und er muss unbedingt gestoppt werden.
Dieser Krieg, dieser Krieg der Sprache, dieser Krieg um die Bedeutung von Wörtern und Begriffen, war und bleibt der zentrale und endlose Bürgerkrieg.
Und auch der Krieg, der schon den zweiten Tag [der Text erschien am 25. Februar 2022 – dek] vor den Augen der ganzen Welt in der Ukraine entbrennt, wird ebenfalls nicht Krieg genannt. Er heißt „Militäroperation“.
Aber es ist ein richtig echter Krieg. Und er muss unbedingt gestoppt werden. Wie? Irgendwie, aber unbedingt. Und darüber müssen wir uns unbedingt Gedanken machen, wir alle gemeinsam und jeder für sich.
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Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine haben sich zahlreiche liberale Stimmen in Russland entsetzt gezeigt, gerade in Sozialen Netzwerken Schock und Scham geäußert, darunter auch viele Kulturschaffende und Künstler. Laut OWD-Info sind bis Donnerstagnacht in 52 russischen Städten mehr als 1742 Menschen bei Protestaktionen gegen den Krieg festgenommen worden [Stand: 23:57 Ortszeit (MSK)].
Aber wie steht die breite Masse zu diesem Krieg: Glauben die Menschen in Russland, es sei legitim, in die Ukraine einzumarschieren? Hat Putin mit seinem Krieg Unterstützung in der Gesellschaft? Gibt es gar eine ähnliche Euphorie wie 2014? Diese Fragen hat Meduza wenige Tage vor Kriegsbeginn dem Soziologen Denis Wolkow, Direktor des unabhängigen Meinungsforschungszentrums Lewada, gestellt.
Dazu muss man wissen: Tatsächlich erschienen vielen Menschen in Russland solche Probleme wie Armut und Inflation bislang drängender als geopolitische Themen, die für die Gesellschaft ganz unten auf der Prioritätenliste rangierten.
Hinzu kommt, dass Meinungsumfragen in Russland nur eine begrenzte Aussagekraft haben: Da Menschen in autoritären Systemen Angst haben, eine sozial nicht erwünschte Meinung kundzutun, würden sie häufig das wiedergeben, was sie aus den Abendnachrichten vom Vortag behalten haben, so der Soziologe Grigori Judin: „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen.“Demgegenüber liefert die Soziologie aber handfeste Hinweise, dass Meinungsumfragen die öffentliche Meinung in Russland abbilden können: Wenn Menschen ihre Informationen etwa jahrelang nur aus Propaganda-Medien beziehen, dann ist es naheliegend, dass sie diesen Informationen irgendwann glauben, dann verfestigt sich bei ihnen auch die Meinung, die ihnen schon seit Jahren vorgesetzt wird: Dass die Ukraine etwa vom Westen gesteuert, dass sie eigentlich kein richtiger Staat sei, oder eben dass die „Ukro-Faschisten“ Russen in der Ukraine töten würden – und die Ukraine deshalb, wie Putin es in seiner TV-Rede vor dem Marschbefehl sagte, „entnazifiziert“ werden müsse.
Wie also steht die russische Gesellschaft zu einem Krieg? Denis Wolkow spricht im Interview vom Dienstag über die Wirkung von Propaganda, Angst und darüber, wie sich die Haltung zu Putin entwickeln könnte.
Denis Wolkow sprach im Interview mit Meduza über die Wirkung von Propaganda, Angst und darüber, wie sich die Haltung zu Putin entwickeln könnte / Foto © duma.gov.ru/wikimedia unter CC BY-SA 4.0
Anastasia Jakorewa: Putin hat in seiner Rede zur Anerkennung der Donezker und Luhansker Volksrepublik [am Montag, 21.02.2022 – dek] gesagt, er sei sicher, dass die Bürger in Russland diese Entscheidung unterstützen werden. Kann man wirklich von einer rückhaltlosen Unterstützung sprechen?
Denis Wolkow: Die Daten, die wir in den vergangenen Jahren gesammelt haben, geben uns eine grobe Vorstellung davon, wie die Menschen reagieren. Es gibt unterschiedliche Einstellungen zu einem Krieg und zu dem, was da vor sich geht. Die erste: Amerika ist an allem Schuld. Nicht mal die Ukraine, nein, Amerika und der Westen: Die setzen die Ukraine unter Druck, die ihrerseits irgendwas gegen die nicht anerkannten Republiken im Schilde führt – auf deren Seite soll Russland sich einmischen. Denn es geht um die russischsprachige Bevölkerung, um Menschen mit russischen Pässen, also „unsere“ Leute. Es ist eine Situation, in der auf unsere Leute eingeprügelt wird, und natürlich müssen wir ihnen helfen und sie verteidigen.
In den vergangenen sieben Jahren haben wir die Menschen regelmäßig befragt, welches Schicksal sie für diese Republiken sehen. Ein gutes Viertel sagt, die Republiken müssten unabhängig werden. Ein weiteres Viertel sagt, sie müssten Russland angegliedert werden. Und in etwa ähnlich viele sind für einen Verbleib in der Ukraine. Der Rest ist unentschieden.
Die Situation wird als Bedrohung dargestellt für das russischsprachige Brudervolk. Beziehungsweise nicht mal für das Bruder-, sondern für das eigene Volk
Es gibt also keine vorherrschende Meinung. Aber als wir gefragt haben: Wenn die Republiken darum bitten, an Russland angegliedert zu werden, sollten wir sie dann angliedern? Da haben etwa 70 Prozent mit „Ja“ geantwortet: Man muss ihnen helfen, und man muss sie aufnehmen. Darum denke ich, dass jetzt, wo die Anerkennung entschieden ist, die Mehrheit diese Entscheidung unterstützen wird – zumal die Situation, wie auch schon 2014, als Bedrohung dargestellt wird für das russischsprachige Brudervolk, beziehunsgweise sogar nicht mal für das Bruder-, sondern für das eigene Volk.
Wie groß ist die Angst bei den russischen Bürgern vor westlichen Sanktionen und den damit verbundenen ökonomischen Einbußen?Die Angst vor Sanktionen, den ersten Schock gab es ganz am Anfang, als sie verhängt wurden. Dann hat man sich mit der Zeit daran gewöhnt. Zusätzlich haben viele der Befragten das Gefühl: Was auch immer Russland tut – Sanktionen wird es so oder so geben, denn der Westen will Russland schwächen und demütigen. So, wie man uns schon 2014 gesagt hat: Wenn es die Krim nicht gäbe, hätten sie sich was anderes ausgedacht. Das ist eine feste Überzeugung, die auf einem Misstrauen gegenüber der US-Außenpolitik gründet – die konnten wir schon Ende der 1990er Jahre feststellen, als die NATO-Osterweiterung begann.
In einem Ihrer Gastbeiträge [Wolkow publiziert regelmäßig in unabhängigen russischen Medien – dek] habe ich gelesen, in Russland würden sowohl diejenigen, die der Staatsführung gegenüber loyal sind, als auch diejenigen, die ihr gegenüber oppositionell eingestellt sind, dem Westen die Schuld für den Konflikt geben. Die Mehrheit beider Gruppen meint, dass Amerika schuld sei – nur die Prozentanteile der Mehrheiten unterscheiden sich. Woher diese Eintracht?
Eine eindeutige Antwort habe ich darauf nicht. Ich denke, hier spielt mit rein, dass man die Konfrontation zwischen Russland und den USA als internationalen Hauptkonflikt wahrnimmt. Das ist ein Ausdruck von Patriotismus. Man muss sich klar positionieren, wo man steht. Und wenn es so einen Konflikt gibt – dann sind natürlich mehr Leute auf der Seite Russlands.
Wobei ja offensichtlich ist, dass diese beiden Gruppen ihre Informationen aus unterschiedlichen Quellen schöpfen.
Das sagt wirklich etwas darüber aus, wie Menschen Nachrichten konsumieren: Über den Konflikt berichten vor allem das Fernsehen und die offiziellen Medien, und sobald Menschen etwas davon interessant finden, dann suchen sie noch nach weiteren Quellen. Zu diesem Thema suchen die Menschen aber anscheinend nicht nach zusätzlichen Quellen. Wie sie auch in den Umfragen sagen: Wenn ich nur etwas über die Ukraine höre, schalte ich sofort um, ich will nichts davon hören, will nichts davon wissen.
Die Politik gegenüber den „ausländischen Agenten“-Medien beeinflusst auch, wie der Informationsfluss gelenkt wird
Das heißt, bei vielen läuft der Fernseher im Hintergrund, er ist irgendwie einfach da, und dann [sagen die Menschen – dek]: Ich sehe nur fern, und wenn mich diese Geschichte berühren würde, dann würde ich noch was im Internet lesen [unabhängige russische Medien sind fast ausschließlich online zugänglich, wie auch der TV-Sender Doshd – dek]. Oder eben nicht.
Die Politik gegenüber den „ausländischen Agenten“-Medien beeinflusst auch, wie der Informationsfluss gelenkt wird. Früher hat es der Fernsehsender Doshd zumindest manchmal in die Top-Suchergebnisse von Yandex geschafft. Ich habe Nachrichten über Alissa [eine von Yandex entwickelte virtuelle Sprachassistentin] gehört. Als all das anfing, hat Alissa plötzlich keine Nachrichten [der „ausländischen Agenten“-Medien – dek] mehr wiedergegeben.
Wie stehen die Menschen zu einer möglichen Militäraktion [das Interview wurde am 22.02.2022 geführt – dek]?
Schwer vorherzusagen, denn womit können wir es vergleichen? Wir können das nur mit [dem Georgienkrieg] 2008 vergleichen. Worin besteht hier die größte Gefahr? Darin, dass unsere Truppen tatsächlich Gefechte gegen ukrainische Truppen führen. Früher gab es dazwischen einen Puffer; vielleicht waren [russische Truppen im Donbass], aber nicht offiziell …
Angst, Widerwillen – doch weil die Schuld dafür den anderen zugeschrieben wird: Was sollen wir schon tun?
Wir haben den Menschen folgende Frage gestellt: „Glauben Sie, dass die Situation zu einem Krieg zwischen Russland und der Ukraine führen könnte?“ Ende 2021 hat dies rund eine Hälfte für wahrscheinlich gehalten, und die andere für nicht wahrscheinlich. Die Gefühle diesbezüglich: Angst, Widerwillen – doch weil die Schuld dafür den anderen zugeschrieben wird: Was sollen wir schon tun? Wir wollen Frieden, von den Normalbürgern hängt nichts ab ab. Nicht mal von der russischen Staatsführung hängt [dem öffentlichen Bewusstsein nach] etwas ab. Also sagen die Leute: Ja, wir müssen uns verteidigen, ja, wir dürfen nicht klein beigeben, aber was genau ist dieses Klein-Beigeben – die werden versuchen, uns niederzuwalzen, sollen wir uns da etwa zurückziehen?
In einem Ihrer Gastbeiträge haben Sie geschrieben, die Gesellschaft sei „innerlich auf einen Konflikt vorbereitet“. Auch auf einen militärischen Konflikt?
Im Grunde ja, auf einen militärischen Konflikt. Auch hier gilt es, dass die Gesellschaft latent bereit ist – denn wie lange schon wird darüber gesprochen. Das heißt aber nicht, dass sich diese Haltung nicht ändern wird, dass keine Müdigkeit einsetzt. Es ist unmöglich vorherzusagen, wie sich die Situation entwickeln wird und wie die Menschen darauf reagieren werden. Anfangs wird es wahrscheinlich eine Mobilisierung um den Führer geben. Aber was dann?
Wenn es ein kurzer Krieg wird, dann wird es wahrscheinlich ähnlich wie mit Georgien: Auch damals hatten die Menschen das Gefühl, dass es nicht um Georgien und Russland ging – sondern um die USA und Russland. Und dass wir unsere Brüder gerettet hätten. Wichtig war, dass es schnell vorbei war und niemand das Gefühl von ernsthaften Verlusten hatte.
Ein andauernder Krieg kann [Putins] Zustimmungswerten einen beachtlichen Schlag verpassen, ich kann aber ganz bestimmt nicht vorhersagen, wie sich der Konflikt entwickeln wird.
Gibt es mögliche Trigger für russische Bürger, wegen derer sie sich scharf gegen einen Krieg wenden würden?
Das ist schwer zu sagen. Ich denke, vor allem eine große Zahl an Opfern oder die Dauer des Konflikts, ein Sich-Hinziehen.
Welche Möglichkeiten sehen die russischen Bürger, um den aktuellen Konflikt zu lösen – außer einen Krieg?
Sie sehen nicht wirklich welche. Am häufigsten haben die Menschen Verhandlungen genannt. Aber man kann nicht sagen, dass sie geglaubt haben, dass daraus etwas wird, dass die Verhandlungen helfen würden, etwas zu zu lösen. Wir wollten, baten, haben vorgeschlagen, aber niemand ist darauf eingegangen – so sehen die Menschen das.
Wenn man die Situation 2014 mit heute vergleicht, worin unterscheidet sie sich?Die Sorge, die Angst vor einem Krieg, ist größer. Aber auch um die Zivilgesellschaft ist es inzwischen ganz anders bestellt – damals war sie viel freier, viel präsenter, es gab eine Antikriegsbewegung, es gab Oppositionspolitiker, die noch Unterstützung aus den Jahren 2011/2012 in Teilen der Gesellschaft genossen: Boris Nemzow, Alexej Nawalny, eine ganze Reihe. Jetzt ist da niemand, außer Jabloko als Partei – die, ich sag mal so, nicht sehr populär ist. Und: Proteste sind verboten. Auch deswegen sehen wir keine Antikriegsbewegung. Sowohl die unabhängigen Politiker als auch die unabhängigen Medien sind ausgedünnt.
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Der Fall Kamila Walijewa
Nach fünfeinhalbstündigen Videoanhörungen in der Nacht zum Montag hat der Sportsgerichtshof CAS entschieden: Die 15-jährige russische Eiskunstläuferin Kamila Walijewa darf weiter an Olympia teilnehmen. Am 8. Februar – ausgerechnet einen Tag, nachdem die russische Mannschaft im Teamwettbewerb Gold gewonnen hatte – war die Nachricht gekommen, dass Kamila Walijewa am 25. Dezember vergangenen Jahres positiv auf Trimetazidin getestet worden war.
Dies hatte für viel Aufsehen gesorgt. Sowieso können russische Athleten bei Olympia nicht unter russischer Flagge antreten, sondern als Vertreter des ROC (Russischen Olympischen Komitees) – weil Russland wegen der Manipulation von Doping-Daten von der Welt-Doping-Agentur (Wada) gesperrt wurde. Zudem gilt die positiv getestete 15-jährige Walijewa als Eiskunstlauf-Ausnahmetalent. Im Teamwettbewerb brillierte sie mit gleich zwei Vierfachsprüngen, was Kommentatoren zu Vergleichen mit den Eislauf-Männern hinriss; nach ihrem Kurzprogramm jubelte auch Hollywood-Star Alec Baldwin auf Instagram: „Ein Lied. Ein Gedicht. Ein Gemälde.“
Der Sportsgerichtshof hat nun allerdings nur über eine Sperre Walijewas und nicht über den Dopingfall generell entschieden. Es kann immer noch passieren, dass dem ROC-Team wie auch Walijewa im Nachgang zu den Olypmpischen Spielen Medaillen aberkannt werden.
Die Aufregung um die 15-jährige Walijewa – die als Minderjährige im Sinn des Welt-Anti-Doping-Codes als „geschützte Person“ gilt – hat außerdem eine Debatte um das Alter der Eiskunstläuferinnen ausgelöst. Die ehemalige Eiskunstläuferin und zweimalige Olympiasiegerin Katarina Witt schrieb auf Facebook: „Vielleicht sollte das Alter für die Teilnahme auf der olympischen Weltbühne auf 18 Jahre festgelegt werden. Wäre es nicht richtig, ein Kind reifen zu lassen?“ Für 15-Jährige seien die Youth Olympic Games ins Leben gerufen worden.Auch in russischen Medien hat der Fall Kamila Walijewa eine Debatte über die zunehmend jungen Athletinnen ausgelöst, die auch in Sozialen Medien lebhaft geführt wird. Für Kirill Schulika auf Republic ist diese Frage die entscheidende.
Für Kamila Walijewas Trainerin Eteri Tutberidse gibt es noch schlimmere Nachrichten als Walijewas Dopingtest: Beim internationalen Eislaufkongress der ISU 2022 soll darüber beraten werden, die Altersgrenze im Eiskunstlauf schrittweise anzuheben. In der nächsten Saison soll das Eintrittsalter zum Erwachsenen-Wettbewerb in allen Disziplinen noch bei 15 Jahren bleiben, dann soll es nach und nach erhöht werden: in der Saison 2023/24 auf 16 Jahre, 2024/25 auf 17.
Damit will die Union Tutberidses „Kindergarten“ einen niederschmetternden Schlag versetzen. Fans ihres Trainerinnen-Talents halten das natürlich für eine Verschwörung der Konkurrenz. Zumal diese Trainerin in Russland über jede Kritik erhaben ist. Ja, manchmal gibt es Zoff mit dem mehrfachen Eislauf-Olympiasieger Jewgeni Pljuschtschenko und vor allem seiner Frau Jana Rudkowskaja, aber das wirkt eher wie ein banaler Social-Media-Hype um Gnom Gnomytsch, [Spitzname vom] Sohn der beiden.
Warum aber darf man Tutberidses Methoden nicht öffentlich anzweifeln? In der Sportwelt herrscht die Meinung, sie werde von der Eiskunstläuferin Tatjana Nawka protegiert – die ist die Gattin von Putins Pressesprecher Dmitri Peskow.„Tutberidse entwickelt keine großen Sportlegenden. Sie trainiert Sprünge“
Aber wenn im Wettbewerb der Erwachsenen eine 15-Jährige die olympische Eisfläche betritt, scheint es doch, als würde Tutberidse ihre Schützlinge nicht trainieren, sondern dressieren. Und, oh weh, später geraten diese Sportlerinnen dann leider in Vergessenheit. Wer kennt jetzt noch Julia Lipnizkaja [geboren 1998, war 2014 Europameisterin und mit der russischen Mannschaft Olympiasiegerin als bis dahin jüngste Eisläuferin – dek]? Sie ist gerade mal 23, hat ihre Karriere aber schon mit 19 beendet! Auch die Olympiasiegerin von 2018 in Pyeongchang Alina Sagitowa stand mit 19 Jahren am Ende ihrer Laufbahn. Während etwa die legendäre Italienerin Carolina Kostner bis ins Alter von 32 aktiv war.
Offenbar ist aus dem Frauen-Eiskunstlauf mittlerweile ein Kinderwettkampf geworden. Tutberidse entwickelt auch keine großen Sportlegenden wie Kostner oder Pljuschtschenko. Sie trainiert Sprünge, damit ihre Zöglinge die höchsten Punktzahlen und Preise absahnen. Die olympische Idee ist eigentlich eine andere.
Das Geheimnis von Tutberidses Erfolg liegt einzig und allein im Alter ihrer Sportlerinnen. Vierfachsprünge schaffen nur Mädchen, deren Körper noch nicht vollständig entwickelt sind. Wenn also ein solcher Sprung zu einem Element wird, ohne das man keine großen Wettbewerbe mehr gewinnen kann, dann ist der Eiskunstlauf für Mädchen über 18 vorbei.Außerdem muss eine Eiskunstläuferin enorm viel Kraft aufwenden, um bei einem Vierfachsprung den Moment des vertikalen Absprungs von der Eisfläche mit dem Beginn der Drehung zu verbinden. Die nötige Rotation kann aufgrund des weiblichen Körperbaus – breitere Hüften und geringere Sprungkraft als bei den Männern – nicht erreicht werden, sodass Frauen bei Vierfachsprüngen den Rumpf schon vor dem Absprung zu drehen beginnen, was sehr gefährlich für die Wirbelsäule ist.
„Dem System ist ganz egal, wie viel menschliches Material umsonst verbraucht wird“
Die finnische Eiskunstläuferin Kiira Korpi, die nach dem Ende ihrer Karriere Sportpsychologin wurde, formuliert noch einen weiteren für Kinder gefährlichen Aspekt des Eiskunstlaufs: „Ich kenne viele Sportler, die emotional und körperlich gebrochen sind, weil dem System ganz egal ist, wie viel menschliches Material umsonst verbraucht wird, solange es ein paar gibt, die den Ansprüchen gerecht werden. Aber am schlimmsten ist, dass auch jene, die es schaffen, nur wenige Jahre dabeibleiben und dann ebenfalls aussortiert werden – weil sie angeblich zu alt sind, weiterzumachen. Eteris ‚Kinderfabrik‘ ist einfach nur eine Folge der unmenschlichen Kultur unserer Sportart. Das war nicht ihre Idee. Viele Trainer arbeiten auf ähnliche Art und Weise, und viele Verbände begrüßen solche Methoden des Nachwuchstrainings“, meint Korpi.
Jetzt kümmern sich anscheinend auch die Sportfunktionäre um dieses Problem. Russland wird sicher dagegen sein und möglicherweise seine lobbyistischen Ressourcen im ISU einsetzen. In der Öffentlichkeit werden uns alle, von Tatjana Nawka bis zu Tatjana Tarassowa, von einer Verschwörung gegen den russischen Sport und vom Neid auf die Erfolge „unserer Mädels“ erzählen. Und wenn der Skandal um Walijewa weiter an Fahrt aufnimmt, dann werden wir bestimmt auch zu hören kriegen, dass ihr die verbotene Substanz heimlich verabreicht oder die Blutprobe vertauscht wurde, um die russische Schule der Eiskunstläuferinnen in Verruf zu bringen.
Nichts kann jedoch den russischen Sport nachhaltiger zerstören, vor allem wenn es praktisch um Kinder geht, als wenn Ärzte wie Philipp Schwetski mit im Boot sind, die nachgewiesenermaßen Sportlerinnen mit Dopingsubstanzen versorgt haben.
Das Mindestalter der Eiskunstläuferinnen wird bestimmt angehoben. Und eines der Argumente dafür wird die Geschichte von Kamila Walijewa und dem Trimetazidin sein, für dessen Einnahme sie [als unter 16-Jährige – dek] nicht bestraft und nicht einmal offiziell angeklagt werden darf.Weitere Themen
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„Bulgaren sind begeistert vom Lada Niva“, „Bulgaren sind Russland dankbar für Hilfe“, „Bulgaren lachen über Kiews Plan zur Einmischung in das Genehmigungsverfahren von Nord Stream 2“: Woher kommt diese Faszination der Bulgaren für alles, was mit Russland zu tun hat? Stehen die Bewohner der Balkanrepublik wirklich immer auf der Seite Putins, so wie es die Überschriften bei RIA Nowosti vermuten lassen? Und warum übersetzt eine staatliche Nachrichtenagentur eigentlich anonyme Leserkommentare?
Meduza-Investigativchef Alexej Kowaljow über einen bizarren Trend in staatlichen russischen Nachrichtenmedien – an dem er selbst nicht ganz unschuldig ist.
„Bulgaren sind begeistert von russischem [hier etwas Beliebiges einsetzen]“. Dieses Mem ist derart hartnäckig, dass es jetzt kaum einen Tweet des offiziellen Accounts von RIA Nowosti gibt, bei dem sich der geneigte Leser nicht fragt, was denn mit den Bulgaren los ist.
Angemerkt sei, dass Bulgaren sich nicht nur begeistern. Sie „äußern sich“ auch, sie „lachen über“ Dinge, sie „bewerten“ … Und zugegeben, auf den Internetseiten von RIA Nowosti zeigen auch Leser aus anderen Ländern Gefühle zu den Ereignissen in Russland unterschiedlichster Art.
Die Briten beispielsweise, die einen Artikel des Daily Telegraph über mögliche Sanktionen der USA gegen Moskau kommentieren, „haben Angst“, dass sie frieren werden, wenn Russland vom Zahlungssystem SWIFT ausgeschlossen werden sollte.
„Als ich eine blutjunge Reporterin war“, schreibt die Moskaukorrespondentin des Daily Telegraph und Mitautorin dieses Beitrags Natalja Wassiljewa auf Twitter, „da gab es bei uns diese Passantenbefragungen. Du gehst auf die Straße und fragst das Volk, was es denkt. Aber bei RIA sind wohl alle zu jung, um sich daran zu erinnern.“
Das Format Anonyme Leserkommentare zu Artikeln ausländischer Medien über Russland gibt es auf der Website von Inosmi schon seit Mitte der 2000er Jahre. Das Portal übersetzt Artikel ausländischer Medien und gehört zur internationalen Mediengruppe Russia Today.
Achtung, hier ein Hinweis auf einen möglichen Interessenkonflikt: Der Autor dieses Artikels und Investigativchef von Meduza, Alexej Kowaljow, schreibt im Weiteren über den damaligen Chefredakteur von Inosmi, Alexej Kowaljow. Es handelt sich hierbei um ein und dieselbe Person (Anm. Meduza).
Der ehemalige Chefredakteur von Inosmi Alexej Kowaljow, zeichnet sich für die Schaffung dieser Rubrik voll verantwortlich. Unter seiner Leitung wurden im Rahmen einer allgemeinen thematischen Ausweitung des Online-Portals nicht nur Leserkommentare zu Artikeln über Russland aufgenommen, sondern auch zu allgemeineren Themen, etwa zum Gerichtsverfahren gegen Anders Breivik oder zum Tod von Margaret Thatcher. Seinerzeit war noch nicht allgemein bekannt, dass Internetseiten ausländischer Medien mit Kommentaren professioneller Kreml-Trolle zugemüllt werden. Und es war auch noch nicht so, dass Trolle Artikel kommentierten, in denen es überhaupt nicht um Russland ging.
„Begeisterte Bulgaren“ und „in Furcht versetzte Briten“ gelangen auf die Internetseite staatlicher und regierungsfreundlicher Medien
Vom Portal Inosmi gelangen die „begeisterten Bulgaren“ und „in Furcht versetzten Briten“ auf die Internetseite von RIA Nowosti und wandern dann weiter zu anderen staatlichen und regierungsfreundlichen Medien, die beginnen, das Format zu kopieren. Immerhin geht Inosmi bei der Auswahl anonymer Kommentare zu Artikeln aus dem Ausland relativ sorgsam vor: Es landen dort positive wie kritische Anmerkungen.
Wenn die Kommentare von RIA übernommen werden, verschwinden gewöhnlich die negativen Anmerkungen. So erschien beispielsweise ein Beitrag von Inosmi vom 21. Mai 2021 unter der Überschrift Leser der Daily Mail über die neue „Putin-Rakete“: Die Russen sind Habenichtse, woher haben sie so viel Knete? Die hierfür ausgewählten Kommentare zum Artikel der Daily Mail über Tests der Hyperschall-Rakete unter der Codebezeichnung Ostrota spiegeln allgemein die Haltung der Leser dieser Zeitung wider: „Putin folgt dem niederträchtigen, von Despoten seit jeher ausgetretenen Pfad: Drohe dem eigenen Volk mit einem äußeren Feind, um es von den Misserfolgen im Innern abzulenken“, schreibt etwa der User Ravfox. Nachdem das Material zu RIA gewandert war, blieb dort nur eine Emotion übrig: „Das ist unser Ende“ – Briten in Angst vor supergeheimer russischer Rakete. Deshalb erschienenbei RIA – im Unterschied zu Inosmi – von den Kommentaren zum Artikel der Daily Mail nur die unpopulärsten Reaktionen mit den meisten Down-Votes. Übrigens ist dieser Artikel bei RIA eine weitere Variante dieses Genres über (angeblich) begeisterte Ausländer: „[Bewohner des Landes X, meist der USA] fürchten sich vor [russische militärische Erfindung].“
Was Bulgaren über die „begeisterten Bulgaren“ denken
Übersetzungen bulgarischer Kommentare, denen wir das Mem über die „begeisterten Bulgaren“ zu verdanken haben, gibt es erst seit 2020. Das ist wahrscheinlich auf eine Rotation bei den freischaffenden Übersetzern von Inosmi zurückzuführen. Im Juni 2021 schloss sich endlich der Kreis mit den „begeisterten Bulgaren“: Zu diesem Zeitpunkt berichtete das bulgarische Portal OFFNews von dem russischen Medienphänomen.
„Diese Strategie, die Meinung einzelner (womöglich trolliger) Kommentatoren als Stimme des ganzen Volkes hinzustellen, das vermeintlich einhellig die russische Außenpolitik unterstützt, wird nicht nur bei den Bulgaren angewendet“, hebt das Portal hervor. „Auf gleiche Weise werden Kommentare der Amerikaner, der Chinesen, Briten, Franzosen, Japaner usw. aufgearbeitet. Unklar ist nur, warum bei dieser Medienkampagne so viel Meldungen ausgerechnet den Bulgaren gewidmet sind“.
Die Strategie, einzelne womöglich trollige Kommentare als Stimme des ganzen Volkes hinzustellen, wird nicht nur bei den Bulgaren angewendet
Unter den bulgarischen Medien, die RIA „begeisterte Bulgaren“ liefern, ist am häufigsten das Portal fakti.bg zu finden, das dem bulgarischen Unternehmen Rezon Mediya gehört. Zu dessen Konglomerat gehören auch die populärsten Internetportale Bulgariens zum Kauf und Verkauf von Immobilien und Gebrauchtwagen. Georgi Angelow, ein bulgarischer Journalist und Autor des Artikels über die „begeisterten Bulgaren“ auf OFFNews, erklärte gegenüber Meduza, warum gerade fakti.bg bei den Redakteuren von Inosmi und RIA beliebt ist: Diese würden sich vor allem Portale aussuchen, auf denen Kommentare nur wenig oder gar nicht moderiert werden. Wahrlich ein Grund für Begeisterung!
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„Die russische Propaganda hat sich selbst besiegt“
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In entlegenen Dörfern
Dörfer ticken anders als dicht besiedelte Großstädte, und noch einmal mehr, wenn sie in Grenznähe zu den Nachbarländern liegen: Der Minsker Dokumentarfotograf Siarhei Hudzilin interessiert sich für diese sehr spezielle Kultur. Über mehrere Jahre fotografierte er in den grenznahen Dörfern von Belarus.
Neben den persönlichen Projekten, die er verfolgt, arbeitet Hudzilin seit 2011 als Fotojournalist für das unabhängige, in Belarus inzwischen blockierte, Online-Portal Nasha Niva. Auch in der New York Times und bei National Geographic wurden seine Bilder veröffentlicht. Zur Dokumentarfotografie fand er in seiner Zeit bei der Armee, als er begann, den kargen Alltag der Rekruten in den Kasernen festzuhalten und für diese Bilder ausgezeichnet wurde.Im Interview berichtet er von seinen Besuchen in den Dörfern – sowohl an der Grenze zur Europäischen Union, als auch zu Russland und zur Ukraine – und davon, wie schwierig das Leben in diesen Orten ist, zum Beispiel im Norden, wo der Aswejasee wichtiger ist als die Hauptstadt Minsk. Mit seinen Bildern gibt er einen sensiblen Einblick in diesen Alltag.
Ein junges Mädchen steht in der Stadt Dsisna inmitten von roten Backsteinruinen. Sie gehören zu einem früheren Krankenhaus, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebaut worden war. Dsisna gilt als kleinste Stadt des Landes / Foto © Siarhei Hudzilin
dekoder: In welche Orte sind Sie für Ihre Bilder gefahren und was macht diese Gegenden genau aus?
Siarhei Hudzilin: Als ich dieses Projekt entwickelt habe, wählte ich die entlegensten bewohnten Orte von Belarus. Im Norden ist das Asweja, im Süden Kamaryn, im Westen Wyssokaje und im Osten Chozimsk. Das sind praktisch alles Grenzgebiete. Sie sind geprägt von den jeweiligen Ländern und Grenzen. Die Grenze zur EU beispielsweise ist klar definiert, und diese klare Abgrenzung lässt die belarussische Identität sehr eindeutig hervortreten. An der EU-Grenze herrscht Visumspflicht und es gibt eine Sprachbarriere. Daher ist das Alltagsleben der Bewohner dieser Gegend kaum beeinflusst. Die Grenzen zur Ukraine und zu Russland sind dagegen fließend – der Einfluss dieser Kulturen auf die Identität der Menschen ist dort stärker spürbar. In der Nähe der Ukraine nimmt man das Ukrainische in der gesprochenen Sprache und auch in den Nachrichtensendungen wahr, in diesen Regionen sehen die Einwohner ukrainische Fernsehsender und interessieren sich sogar für ukrainische Politik. Dort bildet sich dadurch eine besondere Identität heraus, die Menschen fühlen sich zum Teil einer eigenen ethnischen Gruppe zugehörig, den Polessiern.
An der östlichen Grenze zu Russland ist die Situation ähnlich, und überhaupt, das ist ganz interessant, gibt es diese Grenze eigentlich gar nicht, auch historisch gesehen, schon seit seit mehreren Jahrhunderten nicht (angefangen von der Aufteilung der Rzeczpospolita im 18. Jahrhundert, dann kam das Russische Reich, dann die Sowjetzeit, und nun ist es der mythische Unionsstaat). Die Einflüsse sind dort stark: Die Bewohner der Grenzstädte fahren nach Russland zur Arbeit und betrachten eher Großstädte in Russland als ihre Metropolen, statt Minsk in Belarus.Sie waren in Asweja, wo es ja auch den beeindruckenden Aswejasee gibt. Wie leben die Meschen dort an diesem nördlichsten Punkt mit und neben dem See?
Der Norden von Belarus ist die Region, die wirtschaftlich am wenigsten entwickelt ist. Asweja ist ein sehr depressiver Ort, eine aussterbende Kleinstadt. Das Einzige, was dort womöglich Potenzial hat, ist Tourismus. Alles, was ich dort fotografieren konnte, waren Menschen, die ums Überleben kämpfen.
Die Besonderheit dieser Gegend ist, dass sie im Grenzdreieck zwischen der EU und Russland liegt. Wie sieht der Alltag mit diesen Nachbarn dort aus? Und hat sich das Leben über die vergangenen Jahre verändert?
Das Leben hat sich nicht sonderlich verändert. Die EU-Grenze ist für die dortigen Einwohner weniger durchlässig. Das liegt nicht nur an den Visa, sondern auch am niedrigeren Lebensstandard im Vergleich zu Lettland. Russland dagegen bringt vor allem wirtschaftliche Vorteile, viele Fischer verkaufen ihren Fang aus dem Aswejasee in Russland. Der Alltag ist hier unverändert, diese Orte verkommen und sterben immer weiter aus. Obwohl das belarussische Landleben durchaus beginnt sich zu transformieren. Teils haben Covid-19 und die Digitalisierung der Wirtschaft Einfluss auf diese Entwicklung: Viele Menschen, die im Homeoffice arbeiten, verlegen ihren Hauptwohnsitz nach und nach in die Dörfer. Und die pflegen in dieser dörflichen Umgebung natürlich einen anderen Lebensstandard.
Wie ist die Idee zu diesem Fotoprojekt genau entstanden?
Mich hat die kulturelle Identität der Belarussen und der Zustand des Landes im „Hier und Jetzt“ interessiert, ich wollte mich aber auf keinen Fokus und kein Gebiet festlegen – was und auf welche Weise ich fotografieren wollte. Daher brauchte ich eine Art Koordinatensystem und habe mich aus dem Geografieunterricht an die äußersten geografischen Punkte von Belarus erinnert. Ich habe gesehen, dass diese Orte quasi weiße Flecken sind, denn es gibt davon praktisch keine Fotos. So kam es zu dem Entschluss, hinzufahren und Aufnahmen zu machen. Zumal die Frage nach den Grenzen für Belarus sehr wichtig ist: Grenzen existieren in Werten, in der Kultur, in Denkweisen und sogar in der Sprache.
Dieser Dualismus ist vielleicht schon anthropologisch begründet – zwei Sprachen (Russisch und Belarussisch), zwei Fahnen (die offizielle rot-grüne und die nationale weiß-rot-weiße), Stadt und Land als zwei Existenzformen der belarussischen Kultur. Deswegen habe ich mich für abgelegene Orte entschieden, an denen die Gegensätze vielleicht am sichtbarsten und frei vom Einfluss moderner, massenkultureller Trends der Großstädte sind. Daher trägt das Projekt auch den Titel Along the Edge (dt. Am Rand entlang) – es ist gewissermaßen ein Querschnitt entlang der Ränder des belarussischen Raumes, nicht nur im geografischen, sondern auch im sozialen und kulturellen Sinne.Wie wählen Sie die Motive für Ihre Bilder aus?
Vor jeder Fahrt mache ich eine kleine Recherche, studiere diverse Quellen und versuche, Kontakte zu Einheimischen zu knüpfen. Vor Ort bemühe ich mich dann aber, kein bestimmtes Programm zu verfolgen, und lasse mich von der Umgebung inspirieren. Das hat etwas von einem Spiel. Auf diese Art glaube ich, in das Leben der Räume und Menschen eindringen zu können, die ich fotografiere. Ich muss einfach viel herumlaufen und mit Leuten sprechen, die ich nicht kenne, wobei ich denen dann immer erzähle was ich hier überhaupt mache und vorhabe. Bei konzeptuellen Projekten ist das natürlich nicht so, da dauern die Aufnahmen manchmal nur wenige Stunden.
Gibt es ein Lieblingsbild, das Sie von dort mitgebracht haben?
Da habe ich die Qual der Wahl, aber am besten gefällt mir wahrscheinlich das erste Foto des Projekts – das weiß gekleidete Mädchen auf den Ruinen. Für mich steht es gewissermaßen als Bild von Belarus: Weite Räume mit riesigen Ruinen und Rätseln, aus Trümmern und Fragmenten verschiedener Kulturen und aus Einsamkeit. Das ist eine Leere, in der alles möglich ist, doch das Ergebnis ist unvorhersehbar und es gibt keine klaren Regeln und Algorithmen.
Belarus ist ein Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung in Großstädten lebt. Wie sehen Sie die aktuelle Entwicklung in solchen Dörfern und der politischen Lage insgesamt?
Diese Gegenden verkommen immer mehr, und die Bevölkerung zieht weg. Die einzige Besonderheit ist, dass an solchen Orten die Hauptstadt Minsk sehr weit weg ist und wenn Menschen von hier wegziehen, dann um Arbeit in der nächsten Stadt, maximal in der Gebietshauptstadt zu suchen. Die aktuelle politische Situation erinnert mich ebenfalls an den Zustand in Grenzgebieten. An diese Zonen, in denen keine konkreten Regeln, Normen und traditionellen Gesetzmäßigkeiten greifen. Wir haben gleichsam eine Grenze des Normalen überschritten, und dahinter beginnen Chaos und Instabilität. Und wir als Bewohner eines solchen Raumes befinden uns jetzt in diesem Grenzzustand.
Aber ich glaube, dieser Zustand tritt bei jeder Art von Veränderung auf. Ich für mich sehe hier eine organische Verbindung mit dem Projekt Am Rand entlang: Dieses An-der-Grenze-Sein hat sich jetzt über ganz Belarus ausgeweitet. Wenn du daher als Dokumentarfotograf oder -filmer, als Künstler oder einfach als Mensch die Kraft und die Fähigkeit aufbringen kannst, das Unbeständige in den Griff zu kriegen und Sinn und Ziel im Leben zu finden, dann bist du verpflichtet, diese Zeit zu durchleben und bestimmte Werte und Bedeutsamkeiten für die Zukunft festzuhalten.
Norden
Ein Mann läuft über den gefrorenen Aswejasee im Norden von Belarus / Foto © Siarhei Hudzilin
Eine Frau vor einer Kirchenmauer in Asweja / Foto © Siarhei Hudzilin
Der Blick aus einem Wohnungsfenster fällt auf einen Schulbus, der am winterlich eisbedeckten Aswejasee vorbei fährt / Foto © Siarhei Hudzilin
Bewohner von Druja – ein Agrogorodok im Norden an der Grenze zu Lettland – setzen über den Grenzfluss Dswina zu einer Insel über, auf der sie ihre Kühe weiden lassen … / Foto © Siarhei Hudzilin
… Auf der Insel angekommen, haben sie ihre Kühe gemolken und tragen im Dunkeln vor Tagesanbruch die Milch davon / Foto © Siarhei Hudzilin
Süden
Im Dorf Kamaryn, in der Woblasz Gomel, spielt ein Junge Federball. Kamaryn ist der am südlichsten gelegene Ort von Belarus / Foto © Siarhei Hudzilin
Straßenszene auf dem Land: Ein Ehepaar auf einem Motorrad / Foto © Siarhei Hudzilin
Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges vor einem Gedenkstein im Stadtzentrum von Kamaryn – zum Tag des Sieges am 9. Mai / Foto © Siarhei Hudzilin
Stofftiere in Plastiktüten sind das Handelsgut einer Frau, die im Dorf Retschyza an der Grenze zur Ukraine (Woblasz Gomel) zum Bahnhof eilt. Dort stoppen international verkehrende Züge, und der Verkauf von Waren an die Passagiere ist für Einheimische eine Möglichkeit, Geld zu verdienen / Foto © Siarhei Hudzilin
Eine Gänseschar auf der Hauptstraße des Agrogorodok Turow / Foto © Siarhei Hudzilin
Eine ältere Dame in der Stadt Dawyd-Haradok: Das Kopfsteinpflaster, auf dem sie steht, stammt aus vorsowjetischen Zeiten. In früheren Jahrhunderten gehörte die Stadt zu unterschiedlichen Herrschaftsbereichen, zum Großfürstentum Litauen, zur Polnisch-Litauischen Adelsrepublik und zum Russischen Reich / Foto © Siarhei Hudzilin
Westen
In den Abendstunden sitzt eine junge Frau im Zentrum der Stadt Wyssokaje vor einer Lenin-Statue. Wyssokaje ist der am weitesten westlich liegende Ort des Landes / Foto © Siarhei Hudzilin
Osten
Im Wald nahe Chozimsk sammelt eine Frau Pilze und passiert den Grenzstein zwischen Belarus und Russland. Die Grenze existiert nur formell, ohne Grenzposten oder -kontrollen / Foto © Siarhei Hudzilin
Ein Pferd grast in Chozimsk, Woblasz Mahiljou (russisch: Mogiljow) / Foto © Siarhei Hudzilin
Eine Frau am Zaun vor ihrem Haus in Chozimsk / Foto © Siarhei Hudzilin
Ein angelnder Mann nahe dem Dorf Schaladonauka. Sein Auto hat er hinter sich inmitten der Birken abgestellt / Foto © Siarhei Hudzilin
Chozimsk bei Nacht / Foto © Siarhei Hudzilin
Busbahnhof in Chozimsk / Foto © Siarhei Hudzilin
Fotos: Siarhei Hudzilin
Bildredaktion: Andy Heller
Übersetzung: Ruth Altenhofer
Text: dekoder-Team
Veröffentlicht am 17.01.2022Weitere Themen
Blick in das Innere von Belarus
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Das „Babyn Jar Russlands“
In Rostow am Don ist der größte NS-Tatort des Holocaust auf dem Gebiet des heutigen Russlands. Ungefähr 20.000 Jüdinnen und Juden sind dort am 11./12. August 1942 an der Smijowskaja Balka (dt. Schlangenschlucht) ermordet worden. Was in Deutschland wenig bekannt ist: Der Holocaust begann in Osteuropa, auf den von Deutschen besetzten Gebieten der Sowjetunion. Meist wurden die Jüdinnen und Juden, Männer, Frauen, Kinder, erschossen und in Massengräbern verscharrt.
In Russland allerdings spielt der Holocaust in der offiziellen Erinnerungspolitik eine untergeordnete Rolle. Jüdinnen und Juden werden als Opfer der systematischen NS-Vernichtungspolitik meist ausgeblendet. Das drückt sich häufig in dem schon zu Sowjetzeiten ideologisch überformten Begriff der „friedlichen Bevölkerung“ aus, der auf zahlreichen Erinnerungstafeln zum Gedenken an die Toten zu finden ist. Unter der Präsidentschaft Wladimir Putins ist der Sieg über Hitlerdeutschland zudem massiv staatsideologisch instrumentalisiert worden. Eine differenzierte Erinnerungsarbeit, auch in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust, steht daher immer auf einer fragilen Basis.
Das Schicksal der jüdischen Bevölkerung jedoch hat – Hürden und Widersprüchen zum Trotz – vor allem durch das unermüdliche Engagement zivilgesellschaftlicher Kräfte seit einigen Jahren vielfach Beachtung finden können. Das sagt Historikerin Christina Winkler, die intensiv zur Geschichte des Holocaust in Rostow am Don geforscht und eine Ausstellung dazu gemacht hat.
Für Christina Winkler steht Rostow exemplarisch für viele besetzte Städte in den damaligen Sowjetrepubliken, in denen die Nationalsozialisten grauenhafte Verbrechen verübt haben. Im Interview spricht sie über die Massenerschießung von Rostow, den Wert von Lokalhistorikern bei der Aufarbeitung von NS-Gräueltaten in Russland und darüber, wie in Rostow mit dem Gedenken umgegangen wird. dekoder veröffentlicht dazu einzelne Bilder ihrer Ausstellung.dekoder: Rostow am Don war von den Nationalsozialisten zwei Mal besetzt: im Winter 1941 für acht Tage und ab Sommer 1942 mehr als ein halbes Jahr. Wie sind die Nazis gegen die jüdische Bevölkerung vorgegangen?
Christina Winkler: In den wenigen Tagen der ersten Besatzung gingen sie sehr brutal gegen die Zivilbevölkerung vor. In dieser Zeit gab es die ersten Morde an den Jüdinnen und Juden, mit bereits rund tausend Opfern. In der zweiten Besatzung begannen die Deutschen in großem Maßstab und systematisch gegen die jüdische Bevölkerung Rostows vorzugehen. Die Stadt hatten sie ab dem 24. Juli 1942 in ihrer Gewalt. Schon ab August wurden Appelle in der Stadt ausgehängt, in denen die jüdische Bevölkerung dazu aufgefordert wurde, sich registrieren zu lassen. Außerdem nicht-jüdische Familienmitglieder, Ehemänner und -frauen sowie Kinder.
Aus Zeitdokumenten der Deutschen ist bekannt, dass sich nach dem ersten Aufruf schnell etwa 2000 Personen registriert hatten. Wenige Tage später gab es einen zweiten, in dem es hieß, dass die Juden sich am 11. August an verschiedenen Sammelpunkten in der Stadt einzufinden hätten, um dann angeblich – so lautete der Vorwand – umgesiedelt zu werden. Ihnen wurde versprochen, sie würden an einem anderen Ort leben und arbeiten können. Es war das Vorgehen, wie es auch aus Babyn Jar und von den Deportationen zum Vernichtungsort Maly Trostenez bekannt ist.
Diesem zweiten Aufruf sind sehr viele Leute gefolgt. Das ist aus Zeugenaussagen bekannt, die in russischen Archiven in den Akten der sowjetischen Sonderkommission zu finden sind. In den Aufrufen, die wie Plakate in der Stadt aushingen, wurde gesagt, man solle Wertgegenstände und Kleidung für wenige Tage und die Schlüssel zu den Wohnungen mitbringen. An den insgesamt sechs vorgegebenen Sammelpunkten warteten Angehörige des Sonderkommandos 10a, die SS, aber auch Kollaborateure. Sie sorgten dafür, dass die Menschen mit bereitstehenden Lkw weggebracht wurden. Aus den Augenzeugenberichten ist auch bekannt, dass einige zu Fuß gehen mussten.Es war das dritte Jahr des Zweiten Weltkrieges, an anderen Orten der Sowjetunion hat es bereits Gräuel an der jüdischen Bevölkerung gegeben, darunter in Babyn Jar. Hat sich das nicht herumgesprochen? Gab es kein Misstrauen gegen die Besatzer?
Es gab tatsächlich verschiedene Gerüchte von Gräueltaten gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Das trugen unter anderem Flüchtlinge aus Polen und der Ukraine weiter, die sich in Rostow aufhielten. Allerdings hatten die Deutschen zu der damaligen Zeit einen positiven Ruf. Zum Teil ging dieser auf den russischen Bürgerkrieg zurück, als deutsche Truppen zwischenzeitlich Regionen im Westen Russlands besetzt hielten, darunter auch die Stadt Rostow. Viele Rostower waren es durch die Sowjetmacht zudem gewohnt, Anordnungen der Obrigkeiten einfach zu erfüllen. So schenkten die meisten dieser Menschen den Gerüchten keinen Glauben. Trotzdem sind nicht alle zu den Sammelpunkten gegangen. Es gibt auch Berichte, dass sich Juden nach Bekanntwerden dieser angeblichen Umsiedlungsaktion das Leben nahmen. Sie hatten also geahnt, was sie tatsächlich erwartet. Alle anderen wurden von den Sammelpunkten direkt zu einer Schlucht – der Smijowskaja Balka – nordwestlich des Stadtzentrums gebracht. Die meisten wurden erschossen, ein Teil von ihnen wurde in Gaswagen1 erstickt. Ein dafür abgestelltes Sonderkommando hatte auf die Ankommenden bereits gewartet.
Als Verbrechensort des Holocaust ist Rostow in Deutschland kein Begriff, auch andere Vernichtungsorte auf dem früheren Gebiet der Sowjetunion und den von ihr annektierten Gebieten sind es kaum. Wie kommt das?
Bis die Wissensvermittlung in den Schulen anfängt, dauert es natürlich immer seine Zeit: Das Thema muss in den Hochschulen mit validen Erkenntnissen beforscht worden sein, um es an Lehrer vermitteln zu können, die es wiederum in den Schulunterricht einbringen können. Zwar wird das Thema seit den 1980er Jahren schon deutlich besser wahrgenommen, doch das reicht noch nicht. Woher soll es kommen, wenn noch wenig Forschung vorliegt? Zur Realgeschichte des Holocaust auf dem früheren sowjetischen Gebiet gibt es noch viele weiße Flecken. Dadurch berichten auch die Medien viel weniger darüber. Bisher liegt Forschung zwar auf Deutsch, Englisch und Russisch vor, allerdings sind das schwerpunktmäßig militärhistorische Arbeiten, sodass dieses Thema noch nicht ins deutsche Bewusstsein vorgedrungen ist. Patrick Desbois’ Der vergessene Holocaust von 2009 hat hier aber immerhin viel in der Wahrnehmung einer breiteren Öffentlichkeit bewirkt.
Teil des Problems ist vielleicht auch ein grundsätzliches Wegschauen vom Leid im Osten. Vielleicht, weil die Opferzahl von 27 Millionen Menschen unter der sowjetischen Bevölkerung so gigantisch ist, bringt sie eine gewisse Abneigung mit sich, sich diesem Leid zuzuwenden. Das ist eine persönliche Vermutung. Defacto habe ich von westlichen Historikern nur ganz wenige Studien gefunden, die sich mit der deutschen Besatzung in Russland insgesamt beschäftigt haben. Als ich 2010 mit meiner Arbeit begonnen hatte, waren die Studien, die es zu Rostow selbst gab, in der Regel von russischen Historikern, meist Lokalhistorikern, die nur in Originalsprache vorlagen. Die Arbeit von Andrej Angrick2 zur Einsatzgruppe D bildete hier eine Ausnahme. Mittlerweile gibt es ein paar mehr Arbeiten zu dieser Region.Wie ist das Wissen um die Massenerschießung an der jüdischen Bevölkerung Rostows in Russland?
Es ist nicht so, dass jeder in Russland erzählen könnte, was in Rostow passiert ist.
Doch seit gut zehn Jahren hat sich durchaus viel getan. Der Holocaust auf russischem Gebiet ist mehr ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Das hat damit zu tun, dass es inzwischen mehr öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen gibt, darunter die jährliche „Gedenkwoche für die Opfer des Holocaust“, die vor allem für die Schulen eine wichtige Bedeutung hat. Das befördern Institutionen wie das Zentrum Holocaust, das seit 30 Jahren nichts anderes macht als Forschung zu übernehmen, Tatorte zu identifizieren und Erinnerungsarbeit zu leisten. Gemeinsam mit dem Russischen Jüdischen Kongress werden an den Orten von Massenerschießungen auch Denkmäler aufgestellt. Das ist eine gigantische Arbeit, die mich eigentlich am meisten beeindruckt. Diese Aufarbeitung geschieht unter sehr intensiver Beteiligung der Bevölkerung, darunter von Lokalhistorikern und Lehrern, die sich mit ihren Schülern mit der Geschichte ihrer Heimatstadt beschäftigen. Ich glaube, die Massenerschießung an der Smijowskaja Balka von Rostow bezeichnet heute nicht nur ein Fachpublikum als das „Babyn Jar Russlands“.
Dazu, dass es in Russland bekannter geworden ist, dürfte auch ein Eklat um die Gedenktafel in Rostow beigetragen haben, der landesweit Aufsehen erregte.Können Sie den Hintergrund für diesen Streit um das Denkmal in Rostow kurz erläutern?
An der Smijowskaja Balka steht seit dem 30. Jahrestag im Jahr 1975 ein Denkmal, vor dem wiederum im Jahr 2004 eine Gedenktafel angebracht wurde. Auf dieser wurde in Bezug auf die Opfer explizit vom Holocaust gesprochen. Dazu muss man wissen, dass es dort bis dahin keinerlei Erläuterung gegeben hatte. Sieben Jahre später, im November 2011, wurde diese Tafel in einer Nacht- und Nebelaktion – wie sich herausstellte im Auftrag der städtischen Kulturverwaltung von Rostow – entfernt und ausgetauscht. Auf der neuen Tafel wurde auf die Formel aus Sowjetzeiten zurückgegriffen, dass dort „friedliche Bürger“, unterschiedlicher ethnischer Herkunft umgekommen seien. Die jüdische Gemeinde in Rostow klagte dagegen erfolglos. Später gab es einen Kompromiss. Der sieht so aus, dass die jüdischen Opfer auf der Tafel explizit erwähnt werden, der Begriff Holocaust allerdings ausgespart bleibt.
Für die Aufarbeitung des Holocaust sprachen Sie von der aktiven Rolle ganz anderer Akteure als dem Staat. Neben den jüdischen Gemeinden erwähnten Sie Lokalhistoriker. Warum?
Weil sie in vielen Orten für die Erinnerungsarbeit bedeutend sind. In Rostow zum Beispiel gibt es einen Lokalhistoriker, der auch an der Universität Dozent war. Er hatte sich bereits in den 1990er Jahren mit der Geschichte seiner Heimatstadt und dem Holocaust beschäftigt. Es gibt auch einen Lokalhistoriker aus Arsgir in der Region Stawropol, Anatolij Karnauch. Er hat nicht nur die Leidensgeschichte der jüdischen Bevölkerung minutiös recherchiert und aufgearbeitet, sondern sogar die Namen von Opfern ausfindig gemacht. Das ist ein Anliegen, das besonders schwer zu erfüllen ist. Das, was diese Menschen leisten, ist eine ganz starke zivilgesellschaftliche Initiative. Teilweise handelt es sich dabei – wie es auf Russisch oft genannt wird – um „Enthusiasten“. Das wird solchen Menschen aber gar nicht gerecht, weil es eine Lebensarbeit ist, die zum Beispiel dieser Mann in Arsgir übernommen hat. Vom Russischen Jüdischen Kongress wurde er dafür geehrt.
In Rostow gab es weitere Opfergruppen unter nationalsozialistischer Besetzung. Wer waren die Opfer, wer die Täter?
Was die Täter angeht: Es gab die SS, verschiedene SS-Sonderkommandos, aber auch Wehrmachtsoldaten waren zum Beispiel bei der Absicherung von Tatorten beteiligt. Zudem gab es einheimische Helfer, die verraten, denunziert und ausgeliefert haben. Bei den weiteren Opfergruppen haben wir allein mehr als 50.000 Rostower, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert wurden. Diejenigen, die nach dem Krieg von dort zurückkehrten, hatten es ebenfalls schwer, weil sie dafür in ihrer Heimat oft ausgegrenzt und verfolgt wurden.
Weiterhin gab es mehrere tausend Kriegsgefangene in einem Lager in Rostow. Sie sind durch die katastrophalen Zustände umgekommen oder erschossen worden. Die mehr als 70 Patienten der Städtischen Psychiatrischen Klinik wurden allesamt in Gaswagen erstickt. Die Not war auch für die Zivilbevölkerung wahnsinnig groß: Man muss sich vorstellen, das Rostow bereits im Sommer 1941 stark bombardiert und massiv zerstört worden war. Viele Menschen wurden im Bombenhagel getötet. Die Überlebenden litten vor allem Hunger. Das berichteten mir Zeitzeugen, die den Besatzungsalltag als Kinder noch miterleben mussten. Die Massenerschießung an den Juden in Rostow macht die Stadt zum größten NS-Tatort des Holocaust auf dem Gebiet der heutigen Russischen Föderation.
Es ist eine schreckliche Bilanz, die man ziehen muss. Rostow steht dabei exemplarisch für die vielen besetzten Städte in den damaligen Sowjetrepubliken – wo das Fazit gleichsam grauenhaft zu nennen ist.
Die Ausstellung unter dem Titel Die Vergessenen war erstmals zum 75. Jahrestag der Massenerschießung der Jüdinnen und Juden in Rostow zu sehen. Christina Winkler hat sie recherchiert, ausgearbeitet und kuratiert. Partner waren das Stanley Burton Centre for Holocaust and Genocide Studies, das Zentrum Holocaust in Russland und das Museum Karlshorst. Es gibt eine deutsch-englische Fassung mit Metallständen sowie einer Medienstation, die bisher in verschiedenen Städten in Großbritannien und Deutschland zu sehen war, darunter in Glasgow (Rostows Partnerstadt), Berlin und Gera sowie in der Gedenkstätte Dachau.
Eine weitere, russischsprachige Fassung ist auf leichteren Rollup-Ständen gestaltet und wird in Südrussland bis heute gern in Schulen gezeigt.Einwohner Rostows beim Ausheben von Schützengräben im Zentrum der Stadt / Foto © Gosudarstwenny Archiw Rostowskoi Oblasti, GARO
Im Zuge der Kämpfe um Rostow zerstörtes Haus in einem Vorort der Stadt (1943) / Foto © Staatliches Russisches Film und Foto Archiv
Einwohner transportieren Sarg ihres von den Deutschen erschossenen Verwandten (1943) / Foto © GARO
Zerstörtes Gebäude des ehemaligen Kinos „Burewestnik“ / Foto © Gosudarstwenny Archiw Rostowskoi Oblasti, GARO
Links: Der zweite Aufruf der SS an die jüdische Bevölkerung, mit dem sie aufgefordert worden war, am 11. August 1942 zu den Sammelpunkten in der Stadt zu kommen. / Dokument aus dem Gosudarstwenny Archiw Rostowskoi Oblasti, GARO / Rechts: Eine Gedenktafel erinnert an einen der Sammelpunkte von damals / Foto © Christina Winkler
Das als „Lazarett 192“ bezeichnete Lager für sowjetische Kriegsgefangene / Foto © Gosudarstwenny Archiw Rostowskoi Oblasti, GARO
Leichen ermordeter sowjetischer Soldaten auf dem Gelände des „Lazarett 192“ (1943) / Foto © Gosudarstwenny Archiw Rostowskoi Oblasti, GARO
Das Denkmal in Rostow an der Smijowskaja Balka / Foto © Kurt Blank
Bildredaktion: Andy Heller
Interview: Mandy Ganske-Zapf
Veröffentlicht am 27. Dezember 2021Die Bildauswahl zeigt dekoder mit freundlicher Genehmigung der Archive in Rostow und Moskau und mit großem Dank an Christina Winkler und Kurt Blank.
1.Dabei handelte es sich um umgebaute Lkw, in die Dutzende Menschen gepfercht wurden, um sie dann durch das Einleiten von Auspuffgasen zu ersticken. ↑
2.Gemeint ist die Publikation „Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941–1943“. ↑
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