дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • September: Fischfang auf Sachalin

    September: Fischfang auf Sachalin

    Satt und speckig wölbt sich das Ölzeug des Fischers auf Deck, der Kabeljau im Tanzschwung schwebt prall vorm glasigen Himmel, eine bleigraue Welle scheint wie gewischtes Wachs, wie der Rand eines übergroßen Fingerabdrucks hinter der schwankenden Schaluppe zu stehen: In den Fotografien von Oleg Klimov gibt es kaum einmal eine Bildfläche. Die Gegenstände seiner Fotografie sind in höchstem Maße plastisch, es sind Dinge, Volumina, die Aufnahmen strotzen geradezu vor Relief und Tiefe.

    Mit solcher empfindungsstarker, sinnlicher Dokumentarfotografie ist Oleg Klimov (geb. 1964 in Tomsk, nun in Moskau lebend) zu einem der renommiertesten Reportagefotografen Russlands geworden. In den 1990er Jahren hat er als Kriegsfotograf die Konflikte des postsowjetischen Raums dokumentiert. Doch sein Thema ist schon immer auch das Wasser. Er machte die Wolga zum Inhalt seiner Arbeiten, drei Mal verbrachte er Monate am Weißmeer-Ostsee-Kanal, um sich mit einem fotografisch-forscherischen Projekt – Klimov ist studierter Astrophysiker – auf die Spuren des Zusammenhangs zwischen Bild und Politik zu begeben: Der Kanal wurde von Strafarbeitern erbaut, der Bauvorgang selbst vom großen sowjetischen Fotografen Alexander Rodtschenko in hochgradig ästhetisierender Weise dokumentiert, ohne jegliche Achtung des menschlichen Leids und Unrechts. Klimov, der einige Zeit Dozent an der zu Ehren Rodtschenkos benannten Schule für Fotografie und Multimedia in Moskau war, hat sich diesen Fall ethischer Blindheit des fotografischen Dokumentalisten auch schreibend zum Thema gemacht.

    Seit 2007 erforscht Klimov mit der Kamera die Meeresgrenzen Russlands, immer wieder kehrt er auf die Kurilen und die Insel Sachalin zurück. Dort, nördlich von Japan im Ochotskischen Meer, hat er die Fischer auf ihren Fahrten begleitet. Von den dabei entstandenen Aufnahmen werden einige hier erstmals gezeigt.

    Die Insel Sachalin gehört zur Oblast Sachalin – der einzigen Region Russlands, die sich vollständig über 59 Inseln erstreckt.

    Alles, was man aus der Oblast Sachalin verkaufen kann, ist Erdöl, Gas und Fisch.

    ​​Ein Fischer wirft einen Rochen über Bord, der sich zufällig im Netz verfangen hatte. Die Arten der Fische und ihre Anzahl sind durch Quoten begrenzt, weswegen der Rochen nur Platz wegnimmt auf dem Fischerboot № 47.
     

    Eigentlich fängt nur einer auf dem Schiff den Fisch – und zwar der Kapitän. Alle anderen helfen ihm dabei.Es werden „Küsten-“ von „Meeresarbeitern“ unterschieden. Letztere nennt man auch Mobr, von Matros-Obrabotschik: Matrose, der den Fisch zerlegt. Hier bereitet ein Mobr erstmal das Fangnetz vor.

    Fischer „schütten“ ihren Fang in den Laderaum des Fangschiffes Taimanija. Als Mobry arbeiten vor allem Einheimische.

    Die einfachen Obry, Fischverarbeiter zu Lande, brauchen keinerlei Qualifikation und sind meist Zugereiste, auf der Suche nach dem schnellen Geld.

    ​​Die Mobry erhalten ein Vielfaches an Gehalt gegenüber den Obry. Letzten Endes hängt die Höhe des Lohns auch von der Fangmenge ab.

    Ein gefangener Hai an Bord des Fangschiffs Star.

    Fischwilderer in der Terpenija-Bucht bei Poronaisk auf Sachalin. Wer kann, verkauft den Fang nicht in Russland, sondern in Japan, China oder Korea. Auch die Wilderer. Denn das bringt bedeutend mehr ein.

    Dorsch und Seelachs sind so rentabel wie die Öl- und Gasförderung auf Sachalin. 

    Die Menschen auf den Inseln leben in Armut und vom Fisch. Den verkaufen sie in Russland und Japan, die bis heute darüber streiten, zu wem die Inseln eigentlich gehören.

    ​​Fisch überall – selbst im Aufenthaltsbereich.

    Beliebter Zeitvertreib zwischen den Fangzeiten: Domino-Spiel auf einem Fischerboot.

    Die Fischer werden ähnlich wie Zeitarbeiter eingesetzt – sie bleiben für die gesamte Dauer der Fangfahrt auf dem Meer.

    Fisch satt: Eine Lachszucht auf den Kurilen.

    An der Küste gibt es kaum genügend Infrastruktur, wie sie die Sowjetbehörden nach 1945 eigentlich geplant hatten.

    ​​Die Fischverarbeiter sind meist Saisonkräfte. Sie kommen aus allen möglichen ehemaligen Sowjetrepubliken, aus Russland, aus China oder aus ärmeren Inselgegenden des Stillen Ozeans.

    Die Einheimischen nennen die Saisonarbeiter die „Zugezogenen“. Obwohl es auf den Kurilen keine wirklich Einheimischen gibt, letzten Endes besteht die große Mehrheit aus „Zugezogenen“.

    Da ein Teil des Fisches exportiert und nicht in Sachalin auf den Markt gebracht wird, ist der Fisch in den Geschäften vor Ort nicht günstiger als zum Beispiel in Moskau, manchmal sogar teurer.

    Ein Fischer fängt Lodden (die dort „Ujok“ genannt werden) an der Küste des Ochotskischen Meeres, unweit des Dorfes Wsmorje auf Sachalin.

    Fotos: Oleg Klimov
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko
    einführender Text: Martin Krohs
    Veröffentlicht am 02.09.2016

    Weitere Themen

    Januar: Backstage im Bolschoi

    Februar: Gruppe TRIVA

    März: Alexander Gronsky

    April: Liebe in Zeiten des Konflikts

    Mai: Beim Volk der Mari

    Juni: Grooven auf den Leeren Hügeln

    Juli: Gefundene Fotos

    August: Olympia 1980

    Das Ochotskische Meer

    Omsk

  • Editorial: Übers Übersetzen

    Editorial: Übers Übersetzen

    Was ist nötig, liebe Leserinnen und Leser, damit diejenigen von euch, die kein Russisch können, die Texte bei dekoder lesen können? Genau, die Artikel müssen übersetzt werden. 

    Wir bei dekoder übersetzen in mehrfacher Hinsicht. Denn Übersetzen, das meint auch ein Auswählen, ein Auslassen, ein Hinzufügen und ein Einordnen: Es beginnt mit unserer Textauswahl, geht weiter mit dem Kuratieren der Texte und endet mit dem Erstellen von Gnosen und Blurbs. Aber all das würde nichts nützen, wenn nicht vorher eine Übersetzerin oder ein Übersetzer den einzelnen Text im ganz herkömmlichen Wortsinn vom Russischen ins Deutsche übersetzen würde. Der September ist nun der Monat, wo in immer breiteren Kreisen an das Übersetzen gedacht und nicht zuletzt das Übersetzen gefeiert wird: Denn am 30. September ist der Internationale Übersetzertag.

    Unser Anliegen ist es, euch mit jeder Veröffentlichung einen interessanten und gut übersetzten Text zu bieten, den man gern liest und der euch russische Realitäten näherbringt, ohne das Relief des Fremden abzuflachen. Dafür braucht es entsprechende Übersetzer – und das sind spannende Wesen: Sie müssen einerseits genau sein, wie nur irgendwas, und andererseits geradezu freiheitsliebende Anarchisten, die alle Regeln über Bord zu werfen imstande sind, wenn es nötig ist – ungefähr in diese Worte fasste das mal eine Kollegin. Wir haben solche bei uns im Boot.

    Im September wird dekoder nun auch beginnen, visuell zu übersetzen: Infografik heißt das Zauberwort, das komplexe Wirklichkeiten in Bilder fasst. Ihr werdet sie bald bei uns entdecken!

    Wie immer bringt der neue Monat auch neue Bilder auf unserem dekoder Visual – vielleicht unser einziges Format, bei dem wir gar nichts übersetzen: Wir klappen einfach ein Fenster auf, durch das man direkt nach Russland hineinschauen kann. Diesmal auf die Fischer der Insel Sachalin, nördlich von Japan im Ochotskischen Meer, mit denen der Fotograf Oleg Klimov auf See gefahren ist. 

    Aber zurück zum Übersetzen. Den Monat des Internationalen Übersetzertags wollen wir außerdem zum Anlass nehmen, die Biografien unserer Übersetzerinnen und Übersetzer auf unserer Seite zu ergänzen. So erfahrt ihr mehr über den Menschen, aus dessen Feder die deutsche Veröffentlichung geflossen ist.

    Noch nie habe ich einen Text geschrieben, in dem das Wort Übersetzen so oft vorkam. Aber es ist ein schönes Wort. Wir bei dekoder danken allen, die für uns übersetzen, für die wunderbare Zusammenarbeit. Ein Hoch aufs Übersetzen, auf die, die es tun, und auf die, die es wertschätzen! 

    Und last but not least: dekoder gibt es heute genau seit einem Jahr! Hurra!

    Herzlich,
    eure dekoder Übersetzungsredakteurin
    Friederike Meltendorf

    Weitere Themen

    Editorial: Gnose und Gnu

    Editorial: Es geht los

    Editorial: Unser Geist …

    Editorial: dekoder-Gnosmos

    Editorial: Wenn es kompliziert wird

    Editorial: Lesen, Wischen, Recherchieren

    Editorial: Popcorn!

  • Dumawahl 2016

    Dumawahl 2016

    Was heißt wählen in Russland? 

    Am 18. September 2016 hat Russland ein neues Parlament, eine neue Duma gewählt. Sowohl von der Opposition als auch von der Machtpartei Einiges Russland wurde die Wahl als ein Meilenstein des aktuellen politischen Geschehens wahrgenommen. Noch muss sich zeigen, welches Profil die neue Duma entwickelt. Zudem galt die Wahl als erster Gradmesser für die bevorstehende Präsidentschaftswahl im Jahr 2018. 

    Was aber heißt wählen in Russland? Wer ging zur Wahl im September, und hat der Bürger überhaupt eine? Was hat die Zentrale Wahlkommission zu tun, warum ist sie umstritten und welche Rolle spielte die sogenannte administrative Ressource (und was wiederum ist das eigentlich?)? Fragen wie diese wurden in der russischen Öffentlichkeit unter Politikern, Journalisten aber auch unter den Wählern selbst sehr kontrovers diskutiert. 

    Mit dem dekoder-Dossier haben wir die Wahl begleitet und Materialien zusammengestellt, die Antworten geben, wo es möglich ist, oder Teile der Debatte nachzeichnen, wo es spannend und unauflöslich ist. Eine Debatte, die über den konkreten Wahltermin hinausweist, weil sie ganz allgemeine Aspekte der politischen Wirklichkeit in Russland berührt.

    Inhalte

    Staatsduma

    Die Entwicklung des russischen Parteiensystems

    Die kurze Geschichte der Demokratischen Koalition

    Nicht-System-Opposition

    Vorwahlen

    Was bekommt der Wähler?

    Duma: Masse statt Klasse?

    FAQ zur Dumawahl 2016

    Wahlen, na und?!

    Administrative Ressource

    „ … sonst bleibt nur der Revolver“

    Infografik: Wie beliebt ist Putin?

    Zentrale Wahlkommission der Russischen Föderation (ZIK)

    Das Labyrinth der Pandora

    Sofa oder Wahlurne?

    Infografik: Dumawahl 2016

    „Der Point of no Return liegt hinter uns“

    Presseschau № 41: Dumawahl 2016

    Ist was faul an der Kurve?

    Sieg der Stille

    Drei Russlands

    Ella Pamfilowa

    Wahlfälschungen in Russland

    „Und Sie glauben nicht, dass Sie benutzt werden?“

    Die schleichende Wende

    Jedinaja Rossija

    LDPR

    Sprawedliwaja Rossija

    Siebte Legislaturperiode der Staatsduma

    PARNAS (Partei der Volksfreiheit)

  • FAQ zur Dumawahl 2016

    FAQ zur Dumawahl 2016

    Am 18. September 2016 wird in Russland die Staatsduma gewählt, das Unterhaus des russischen Parlaments. Aber was heißt „wählen” in Russland? dekoder gibt Antworten auf die wichtigsten Fragen:

    DIE DUMA

    1. Was überhaupt ist die Duma?

    2. Was macht die Duma eigentlich? Entscheidet Putin nicht eh alles selbst?

    3. Warum wird die Duma als „durchgedrehter Drucker“ bezeichnet?

    DIE WAHL

    1. Steht das Ergebnis der Wahl nicht sowieso schon fest?

    2. Warum geht dann überhaupt jemand wählen?

    3. Was haben Karusselle, Reigen und Kreuzfahrten mit den Wahlen zu tun?

    4. Wieso wird der ehemalige Vorsitzende der Wahlkommission Wladimir Tschurow auch  „Zauberer“ genannt?

    5. Es gibt 2016 doch einige Neuerungen im Wahlmodus. Machen diese die Wahl nicht auch demokratischer?

    6. Nach der letzten Wahl gab es 2011/12 heftige Proteste. Ist damit in diesem Jahr wieder zu rechnen?

    7. Wenn es ihr angeblich doch nur darum geht, an der Macht zu bleiben, warum führt die Regierung dann Wahlen durch?

    8. Warum gilt Einiges Russland  als Machtpartei, obwohl Putin gar kein Mitglied ist?​

    9. Gibt es denn eine richtige Opposition in Russland?

    10. Was gehen uns im Westen die Wahlen in Russland an?


    DIE DUMA

    1. Was überhaupt ist die Duma?

    Die Staatsduma ist das Unterhaus des russischen Parlaments, sie ist also mit dem Deutschen Bundestag vergleichbar. Die 450 Abgeordneten, die im Gebäude am Ochotny Rjad im Herzen Moskaus arbeiten, dürfen offiziell ansonsten ausschließlich wissenschaftlichen oder künstlerischen Tätigkeiten nachgehen. Sie werden in der kommenden Legislaturperiode alle Gesetzesentwürfe – die sowohl von ihnen selbst als auch von anderen Staatsinstanzen eingebracht werden – besprechen, redigieren, annehmen oder ablehnen.

    Allerdings gehört die Duma zu denjenigen politischen Institutionen, die am wenigsten Vertrauen im Volk genießen. An manchen Tagen scheint die Duma nur zur Hälfte besetzt, und viele Abgeordnete stimmen für ihre fehlenden Kollegen ab. Auch die Tatsache, dass viele Millionäre im Parlament sitzen, dürfte zum schlechten Ruf der Duma beitragen.

    Es ist also denkbar, dass die bisherige kleine Duma-Riege der populären Stars, Sportler, Filmleute und Playboy-Sternchen diesmal erweitert wird, um die unpopuläre Duma populärer zu machen. Manche Kandidaten der Regierungspartei Einiges Russland, die aus den Reihen der nationalpatriotischen Dachorganisation Volksfront rekrutiert werden, sollen außerdem mehr Bürgernähe in die Volkskammer bringen. ­­­

    2. Was macht die Duma eigentlich? Entscheidet Putin nicht eh alles selbst?

    So einfach ist das nicht. Zwar ist das Regierungssystem Russlands (semi)präsidentiell – der Präsident hat hier also das verfassungsmäßige Recht, an der Duma mit Hilfe eines Ukas vorbei zu regieren. Allerdings tut er das aber weitaus seltener, als beispielsweise noch sein Vorgänger Boris Jelzin.

    Das sogenannte „System Putin“ zeichnet sich dennoch durch eine Art politische Deckungsgleichheit von Präsident, Parlament und anderen Staatsorganen aus. Bei schwach ausgeprägter Gewaltenteilung zählt nicht nur die Machtpartei Einiges Russland zum politischen Lager des Präsidenten. Auch der Großteil der parlamentarischen Opposition steht hinter ihm. Deshalb wird diese oft auch als Systemopposition bezeichnet.

    Da dem Präsidenten also eine starke eigene Mehrheit in der Duma zur Verfügung steht, kann er sich meistens darauf verlassen, dass die dort getroffenen Entscheidungen seinem politischen Kurs entsprechen.

    3. Warum wird die Duma als „durchgedrehter Drucker“ bezeichnet?

    Die Duma beschließt Gesetze – in den vergangenen Jahren sogar so viele Gesetze, dass es ihr den sarkastischen Beinamen des „durchgedrehten Druckers“ einbrachte. Ihren Rekord von 2007 bis 2011 mit durchschnittlich circa 395 Gesetzen pro Jahr konnte sie mit entsprechenden 363 Gesetzen in der Legislaturperiode 2011 bis 2016 allerdings nicht toppen. Zum Vergleich: Der Deutsche Bundestag verabschiedete zwischen 2009 und 2013 durchschnittlich circa 138 Gesetze pro Jahr.

    Der „Drucker“ gilt auch deshalb als „durchgedreht“, weil er eine Menge repressiver Gesetze produziert.

    Doch allein die schiere Menge ist ein wichtiges Indiz für rechtsstaatliche Defizite: Da Bürger sich ständig an die fortwährenden Neuerungen anpassen müssen, bewirkt die Gesetzesschwemme eine instabile Rechtslage.

    Außerdem haben Bürger ob der Schnelligkeit kaum die Möglichkeit, den Gesetzgebungsprozess konsequent zu verfolgen und gegebenenfalls darauf einzuwirken. Wie auch in anderen (semi)autokratischen Systemen fallen Entscheidungen oft plötzlich und überraschend. Das schafft ein Klima der Unsicherheit und zementiert Machtstrukturen.

    DIE WAHL

    1. Steht das Ergebnis der Wahl nicht sowieso schon fest?

    Wahrscheinlich werden die meisten Wähler ihre Stimme für die Regierungspartei Einiges Russland abgeben. Und das hat zwei wichtige Gründe:

    Da der Großteil der Medienlandschaft Russlands staatlich kontrolliert wird, werden die meisten Medien den Wahlkampf der Machtpartei Einiges Russland unterstützen und ihr zum Triumph verhelfen. Die Staats- und staatsnahen Medien, vor allem TV-Sender, bieten nur staatstreuen Akteuren Präsenz beziehungsweise Sendezeiten. Deshalb lernt die Mehrheit der Wähler schlicht keine anderen Wahlinhalte kennen.

    Neben dieser medialen Ressource verfügt Einiges Russland auch über die sogenannte Administrative Ressource – einen Amtsbonus, der Möglichkeiten bietet, eigene Regeln durchzusetzen und somit auch den Wahlausgang zu beeinflussen. Diese Gründe sprechen dafür, dass die Machtpartei also mit höchster Wahrscheinlichkeit gewinnen wird.

    ​2. Aber warum geht dann überhaupt jemand wählen?

    Die offizielle Wahlbeteiligung bei Parlamentswahlen liegt meist zwischen 55 und 65 Prozent. Damit liegt Russland im osteuropäischen Durchschnitt. Dass viele Menschen zur Wahl gehen, obwohl sie sicher sind, dass es keine Überraschungen geben wird, kann viele Gründe haben:

    Die Partei Einiges Russland  ist weniger beliebt als der Präsident, da sie aber als Machtpartei gilt, wählen die Unterstützer von Präsident und Regierung mehrheitlich Einiges Russland. Da außerdem zurzeit viel von äußeren Bedrohungen die Rede ist, kann eine solche Wahl einen demonstrativen Schulterschluss mit der nationalen Führung ausdrücken. Zusätzlich werden in staatlichen Einrichtungen wie Kasernen, Schulen oder Behörden und auch in manchen Unternehmen Wahlempfehlungen für die Regierungspartei ausgesprochen.

    Wähler, die sich politischen Wandel wünschen, diskutieren dagegen häufig, ob es sich unter den gegebenen Umständen überhaupt lohnt, zur Wahl zu gehen. Dabei unterscheiden sich die Positionen: Die einen glauben, dass Beteiligung an den Wahlen die zunehmend undemokratischen Institutionen legitimiert, die anderen finden, dass man jede noch so kleine Gelegenheit nutzen sollte, die eigene Stimme einzubringen.

    3. Was haben Karusselle, Reigen und Kreuzfahrten mit den Wahlen zu tun?

    Bei der Dumawahl 2011 gab es zahlreiche Hinweise auf organisierte Form von Wahlfälschungen: Karussell (oder Kreislauf) nennt sich eine Methode, die sehr häufig kritisiert wurde. Dabei wird dem Wähler ein Anreiz geboten, einen bereits ausgefüllten Stimmzettel in die Wahlurne zu stecken und den leeren dem Karussell-Organisator zu übergeben. Dieser füllt den leeren Zettel aus und übergibt ihn dem nächsten Wähler.

    Kreuzfahrten (oder Bächlein bzw. Reigen) werden demgegenüber mit gefälschten Unterlagen durchgeführt. Diese entbinden den Wähler vom Wahlbezirk und ermöglichen ihm so eine mehrfache Stimmabgabe in verschiedenen Wahlbezirken. Die Kreuzfahrt-Organisatoren sorgen dafür, dass die Wähler (zumeist in Bussen) vom einen zum anderen Wahllokal gebracht werden. Das Entgelt für diese Wahlfälschungsmethoden, die gemeinhin unter dem Begriff Karussell subsumiert werden, erhalten die Wähler im Nachhinein.

    4. Wieso wird der ehemalige Vorsitzende der Wahlkommission Wladimir Tschurow auch  „Zauberer“ genannt?

    „Sie sind ja fast ein Zauberer“, lobte Dimitri Medwedew den Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission Wladimir Tschurow, nachdem dieser bemerkt hatte, dass seine Prognose zur Dumawahl 2011 näher am Endergebnis lag, als die Prognosen von zehn Meinungsforschungsinstituten. Der Spott über die Zauberkräfte Tschurows entlud sich in anschließenden Protesten, die eine Untersuchung der Wahlfälschungsvorwürfe forderten.

    Tschurow wurde zu einem sarkastischen Abziehbild der Manipulationen, die Metapher des Zauberns wurde scheinbar aufs Engste mit der Zentralen Wahlkommission verknüpft – bis März 2016, als Tschurow überraschenderweise durch Ella Pamfilowa, ehemals Vorsitzende der Menschenrechtskommission, ersetzt wurde.

    5. Es gibt 2016 doch einige Neuerungen im Wahlmodus. Machen diese die Wahl nicht auch demokratischer?

    Die Dumawahl 2016 läuft – wie schon zwischen 1993 und 2003 – wieder nach dem sogenannten Grabenwahlprinzip ab. Das ist eine Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahl. Dabei hat jeder Wahlberechtige zwei Stimmen: eine für einen Kandidaten im lokalen Wahlkreis und eine für eine Parteiliste. Die Wahlen von 2007 und 2011 dagegen waren nach reiner Verhältniswahl erfolgt, das heißt: die Duma wurde ausschließlich durch Parteilisten besetzt.

    Eine weitere Änderung in diesem Jahr ist die Absenkung der Sperrklausel von sieben auf fünf Prozent. Obwohl dies den kleineren Parteien den Einzug ins Parlament erleichtern soll, wird damit gerechnet, dass sie dennoch an der Einzugshürde scheitern werden. Die Rückkehr des Grabenwahlsystems bietet zugleich einen Vorteil für die Machtpartei Einiges Russland: In den Wahlkreisen reicht die einfache Mehrheit aus, um den Sitz zu erringen, die Stimmen für die anderen Kandidaten gehen verloren.

    Während diese Neuerungen also eher Vorteile für Einiges Russland bringen werden, spricht zurzeit viel dafür, dass die Wahl freier ablaufen wird als 2011. Präsident Wladimir Putin hat Stabilität und Vertrauen der Bürger zu Schlüsselfaktoren in der Entwicklung Russlands erklärt. Auch andere wichtige Hinweise deuten darauf hin, dass die politische Elite des Landes ein neuerliches Bolotnaja-Szenario der Jahre 2011/12 vermeiden will. Der zu erwartende Triumph von Einiges Russland wird diesmal wohl nicht von Wahlfälschungsvorwürfen überschattet.  

    Vor allem die Ernennung Ella Pamfilowas zur Leiterin der Zentralen Wahlkommission stellt eine Wahl ohne Fälschungen in Aussicht. Pamfilowa, die zuvor das Amt der Menschenrechtsbeauftragten bekleidete, hat sich mehrmals als eine scharfe Kritikerin der politischen Situation Russlands gezeigt. Oppositionelle Kräfte begrüßten die Quasi-Absetzung ihres Vorgängers Wladimir Tschurow. Sie äußerten aber zugleich die Skepsis, dass mit der Personalentscheidung nur eine demokratische Kulisse geschaffen werde, hinter der ein unfaires System aus Filtern und Barrieren bestehe, das echte politische Konkurrenz verhindere.

    6. Nach der letzten Wahl gab es 2011/12 heftige Proteste. Ist damit in diesem Jahr wieder zu rechnen?

    Ein Wiederaufflammen der politischen Proteste von 2011/12 ist unwahrscheinlich. Denn zurzeit wird vieles dafür getan, um Wahlfälschungen wie 2011 zu vermeiden. Die meisten Wahlberechtigten begrüßen tatsächlich den aktuellen politischen Kurs, viele sehen dazu keine Alternative, einige sind im Zuge der autoritären Konsolidierung unpolitisch geworden und gehen gar nicht erst wählen.

    Diejenigen, die sich aus demokratischen Erwägungen gegen den Kurs des „Systems Putin“ stellen, rufen zu Wahlboykotten auf. Doch die Aufsichtsbehörde Roskomnadsor unterbindet die Aufrufe teilweise, in dem sie die entsprechenden Internet-Ressourcen blockt.

    Nicht zuletzt weil die Wahl auf einen Termin kurz nach den Sommerferien vorverlegt wurde, dürfte die Wahlbeteiligung niedrig bleiben – und damit die faktische Legitimität der Duma schmälern.

    7. Wenn es ihr angeblich doch nur darum geht, an der Macht zu bleiben, warum führt die Regierung dann Wahlen durch?

    Formal ist Russland eine repräsentative Demokratie – und in einer solchen finden Wahlen statt. Zwar wurde die demokratische Substanz der Verfassung in den vergangenen 15 Jahren abgebaut, unter anderem durch Politisierung der Justiz, staatliche Kontrolle von Medien, Einschränkung der Beteiligungsmöglichkeiten und repressive Gesetze. Doch niemand in der Regierung hat ein Interesse daran, die Wahlen als solche abzuschaffen.

    Sie dienen erstens zur formalrechtlichen Legitimierung der Wahlsieger.

    Zweitens können dadurch frische Kandidaten der Regierungspartei ins Parlament geholt werden – und so weniger effektive oder unpopuläre Abgeordnete ersetzen.

    Drittens sind die Wahlen und die damit verbundenen öffentlichen Auseinandersetzungen ein guter Stimmungstest: Regierungen benötigen Unterstützung in der Bevölkerung und müssen daher wissen, was im Volk so los ist.

    8. Warum gilt Einiges Russland als Machtpartei, obwohl Putin gar kein Mitglied ist?

    Vordergründig geht es um eine machttragende Partei, also eine Partei, die in der Duma die meiste Macht hat. Einiges Russland ging aus den Parlamentswahlen 2003, 2007 und 2011 als jeweils stärkste Kraft hervor. Sie ist außerdem mit über zwei Millionen Mitgliedern die zahlenmäßig größte Partei Russlands.

    Doch ist der Begriff mehrdeutig, und die synonyme Verfestigung von Einiges Russland und Machtpartei verweist darauf, dass diese politische Kraft auch machtnah ist. Da die politische Macht durch die Person des Präsidenten verkörpert wird, und Einiges Russland sich nur sehr selten als uneinig mit ihm zeigt, wird die Machtpartei oft als ein Zustimmungsinstrument des „Systems Putin“ gesehen, das dazu da sei, dem präsidentiellen Kurs weitere Legitimität zu verleihen.​

    9. Gibt es denn eine richtige Opposition in Russland?

    Der Begriff der Opposition funktioniert in Russland anders als in Westeuropa. Zwar gibt es auch in Russland die begriffliche Trennung zwischen Parteien, die gerade an der Regierung sind und solchen, die sich in der Opposition befinden. Legt man diesen formalen Maßstab an, dann sind alle Parteien außer Einiges Russland zurzeit Oppositionsparteien. Allerdings wird häufig noch eine weitere Differenzierung vorgenommen: die drei parlamentarischen Oppositionsparteien KPRF, LDPR und Gerechtes Russland gelten als Systemopposition; das heißt, dass diese Parteien ihren nachgeordneten Platz akzeptiert haben und zum „System Putin“ – dem einheitlichen politischen Lager des Präsidenten – gehören.

    Viele kleinere, liberale, kommunistische und nationalistische Parteien dagegen bilden die Nicht-System-Opposition. Diese fordert Wladimir Putin und die Regierung offen heraus. Die Unterscheidung ist allerdings weniger trennscharf als der Begriff suggeriert.

    10. Was gehen uns im Westen die Wahlen in Russland an?

    Wie spätestens die Ukraine-Krise gezeigt hat, ist die Stimmungslage innerhalb Russlands und sind die damit zusammenhängenden politischen Entscheidungen für Europa und die Welt von großer Bedeutung. Wer daran interessiert ist, dass sich die Spannungen zwischen Russland und dem Westen langfristig wieder abbauen, der kommt nicht umhin, sich mit den innerrussischen Entwicklungen zu beschäftigen – nicht zuletzt, um angemessen reagieren zu können: Das Erstaunen über Russlands harsches Vorgehen in der Ukraine-Krise zeigt auch, dass viele in Europa sich nur unzureichend mit Russland beschäftigt hatten. Deswegen sind die Wahlen, die Beziehungen zwischen den politischen Kräften und der Fortgang der politischen Diskussionen in Russland für westeuropäische Beobachter ebenso wichtig wie Entwicklungen in Frankreich oder den USA.

    Text: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 18.08.2016

     


    Dieser Text wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

  • Editorial: dekoder-Gnosmos

    Editorial: dekoder-Gnosmos

    Bei unserer Gnosen-Umfrage, liebe Leser, konntet Ihr zwischen drei Themen auswählen: Ella Pamfilowa, Sowjetmensch und Russische Rockmusik. Die meisten Likes haben entschieden – und hier ist sie nun, die Gnose zu einem zentralen Phänomen der politischen Kultur der UdSSR: dem Sowjetmenschen.

    Normalerweise wählen wir  unsere Gnosen-Themen so aus: Wir scannen den journalistischen Artikel, den wir übersetzen, auf Begriffe und Formeln, die einer Entschlüsselung bedürfen. Für manche davon reicht eine lexikalische Notiz: die nennen wir Blurb, das ist ein kleines Textfenster, das aufspringt, wenn Ihr mit der Maus drauf geht. Weiterführende Begriffe dagegen, die wir zu Knotenpunkten unseres dekoder-Wissensnetzes machen wollen, lassen wir „vergnosen“. Konkret heißt das: Wir beauftragen Experten, einen Artikel darüber zu schreiben. Und tragen so das Wissen aus den Forschungszimmern der Institute in den öffentlichen Raum des Internets.

    Der Weg, den wir nun mit der Umfrage eingeschlagen haben, ging nun nicht vom Artikel zur Gnose, sondern andersherum: Ihr habt einen dieser Knotenpunkte ausgewählt, und wir fragten als Autor für die Gnose über den Sowjetmenschen Benno Ennker (geb. 1944) an – einen Osteuropahistoriker mit Lehraufträgen in St. Gallen und Tübingen, der schon seine Doktorarbeit zum Thema Leninkult geschrieben hat. Wir konnten uns sicher sein, dass der Wissenschaftler das Thema sowohl mit Leidenschaft als auch mit nötiger Distanz beleuchten wird. Außerdem haben wir zur Gnose einen Artikel gefunden – den wir Euch morgen präsentieren werden. 

    Dekodieren, das hieß in diesem Fall: In Zusammenarbeit mit dem Autoren zerlegten wir die so vielfältige Chiffre des Sowjetmenschen in ihre Einzelteile, übersetzten ihren Kontext und fügten alles zu einer systematischen, gut verständlichen Analyse zusammen.

    Der Sowjetmensch ist einer der zentralen Bezugspunkte, mit denen wir Russland entschlüsseln können. So eröffnet die Gnose viele neue Blickwinkel innerhalb unseres „Gnosmos“: etwa zum Begriff des Liberalen, der im Russischen schon seit Sowjetzeiten eine negative Bedeutung hat. Auch der Anpassungsdruck der Kommunalka – einer Lebensform der Sowjetmenschen im Kleinen – lässt sich besser verstehen, wenn man den Anpassungsdruck auf den Sowjetmenschen im Großen kennt.

    Schon bald werden wir außerdem zeigen, wie die Kraft der Rockmusik daran mitwirkte, den Mythos über diesen Idealmenschen ins Wanken zu bringen. Wir werden uns auf den Sowjetmenschen beziehen, wenn wir Euch bald den großen Unterschied zwischen Russen und Russländern präsentieren. Deshalb möchten wir Euch für Eure Auswahl danken!

    Wenn Ihr Euch durch den dekoder „Gnosmos“ klickt, werdet Ihr außerdem viele weitere solcher Bezüge, Querverweise und Ergänzungen entdecken.

    Wir wünschen Euch viel Freude beim Lesen,

    Eure dekoder Gnosenredakteure
    Anton Himmelspach und Leonid A. Klimov

    Weitere Themen

    Editorial: Gnose und Gnu

    Editorial: Es geht los

    Editorial: Unser Geist …

    Editorial: Übers Übersetzen

    Editorial: Wenn es kompliziert wird

    Editorial: Lesen, Wischen, Recherchieren

    Editorial: Popcorn!

  • August: Olympia 1980

    August: Olympia 1980

    August 2021 – der Monat der Olympischen Spiele in Tokio.

    41 Jahre vorher, im Jahr 1980, war Moskau der Ort der Spiele. Damals boykottierten die USA und viele westliche Staaten das Sportereignis – Auslöser war der sowjetische Einmarsch in Afghanistan.

    Die Fotografin Anastasia Tsayder hat sich angesehen, was heute noch in Moskau von den damaligen Spielen zeugt, wie die Architektur das Stadtbild prägt, wie die Sportstätten nun genutzt werden.

    Die Bauwerke stammen zum Großteil aus den Jahren 1975–1978. Ihre futuristische Architektur sollte die Hoffnung auf eine lichte Zukunft zum Ausdruck bringen. „Viele dieser Gebäude, die eigentlich als Botschafter aus der Zukunft entworfen wurden“, sagt die Fotografin zu ihrer Serie, „wirken heute wie außeridische Gäste aus der Vergangenheit.“

    Anastasia Tsayder wurde 1983 in St. Petersburg geboren, wo sie an der Fakultät für Fotokorrespondenten des Petersburger Journalistenverbands auch ihre Ausbildung erhalten hat. Sie lebt derzeit in Moskau. Ihre Arbeiten wurden international veröffentlicht (u. a. The Guardian, Die Zeit, WIRED, GEO, Prime Russian Magazine, Colta). 2015 war sie Finalistin des russischen Kandinsky-Preises, eines Analogons zum Londoner Turner Prize. Die hier gezeigten Fotos sind in den Jahren 2012–2014 entstanden.

    Der Sportkomplex Druzhba (dt. Freundschaft), fertiggestellt 1980, war der Wettkampfort für die Volleyballer. Heutzutage finden hier Tennismeisterschaften und Musikveranstaltungen statt. Fotos © Anastasia Tsayder
    Der Sportkomplex Druzhba (dt. Freundschaft), fertiggestellt 1980, war der Wettkampfort für die Volleyballer. Heutzutage finden hier Tennismeisterschaften und Musikveranstaltungen statt. Fotos © Anastasia Tsayder
    Turnhalle des Olympischen Sportkomplexes in Moskau. Die 1980 fertiggestelltе Sportanlage ist immer noch die größte in Europa. Während der Olympischen Spiele in Moskau fanden hier Wettkämpfe in 22 unterschiedlichen Disziplinen statt. Heutzutage gibt es hier Sport- und Musikveranstaltungen, außerdem Büros, Bars, Cafes, verschiedenste Geschäfte und einen Kleidermarkt.
    Turnhalle des Olympischen Sportkomplexes in Moskau. Die 1980 fertiggestelltе Sportanlage ist immer noch die größte in Europa. Während der Olympischen Spiele in Moskau fanden hier Wettkämpfe in 22 unterschiedlichen Disziplinen statt. Heutzutage gibt es hier Sport- und Musikveranstaltungen, außerdem Büros, Bars, Cafes, verschiedenste Geschäfte und einen Kleidermarkt.
    Schwimmhalle des Moskauer Olympiakomplexes
    Schwimmhalle des Moskauer Olympiakomplexes
    Punktrichter-Tribüne in der Krylatskoje-Arena. Das 2300-Meter-Becken für Kanu- und Rudersport wurde speziell für die Olympischen Sommerspiele in Moskau errichtet, wird seitdem allerdings nicht mehr regelmäßig genutzt.
    Punktrichter-Tribüne in der Krylatskoje-Arena. Das 2300-Meter-Becken für Kanu- und Rudersport wurde speziell für die Olympischen Sommerspiele in Moskau errichtet, wird seitdem allerdings nicht mehr regelmäßig genutzt.
    Außenansicht des Bitza-Reitsportstadions. Der 1980 errichtete Sportkomplex ist immer noch das größte Reitsportstadion in Europa. Während der Olympischen Spiele in Moskau fanden hier alle Pferdesport-Wettkämpfe statt. Der Komplex wird auch weiterhin für den Pferdesport genutzt.
    Außenansicht des Bitza-Reitsportstadions. Der 1980 errichtete Sportkomplex ist immer noch das größte Reitsportstadion in Europa. Während der Olympischen Spiele in Moskau fanden hier alle Pferdesport-Wettkämpfe statt. Der Komplex wird auch weiterhin für den Pferdesport genutzt.
    In den Gängen des Dynamo-Stadions. Der Dynamo-Sportpalast wurde 1980 eröffnet und war Austragungsort der Basketballwettkämpfe. Das Stadion, die Heimat des Fußballclubs Dynamo Moskau, wurde inzwischen fast vollständig abgerissen und wird derzeit in völlig neuer Form wieder aufgebaut.
    In den Gängen des Dynamo-Stadions. Der Dynamo-Sportpalast wurde 1980 eröffnet und war Austragungsort der Basketballwettkämpfe. Das Stadion, die Heimat des Fußballclubs Dynamo Moskau, wurde inzwischen fast vollständig abgerissen und wird derzeit in völlig neuer Form wieder aufgebaut.
    In der 1979 errichteten Sportanlage im Olympischen Dorf konnten die Sportler trainieren. Hier trainierten Schwimmer, Leichtathleten, Basketballer, Boxer und Gewichtheber. Auch heute noch findet hier Kampfsport- und Leichtathletiktraining für Kinder und Erwachsene statt; die Schwimmanlage ist in Betrieb.
    In der 1979 errichteten Sportanlage im Olympischen Dorf konnten die Sportler trainieren. Hier trainierten Schwimmer, Leichtathleten, Basketballer, Boxer und Gewichtheber. Auch heute noch findet hier Kampfsport- und Leichtathletiktraining für Kinder und Erwachsene statt; die Schwimmanlage ist in Betrieb.
    In der kleinen Gymnastikhalle des Olympiakomplexes turnten seinerzeit nicht die Kleinen – sondern die Großen ihrer Disziplin mit Band und Ball.
    In der kleinen Gymnastikhalle des Olympiakomplexes turnten seinerzeit nicht die Kleinen – sondern die Großen ihrer Disziplin mit Band und Ball.
    Die Reithalle des Bitza-Reitsportstadions wurde 1980 fertiggestellt und ist immer noch in Betrieb.
    Die Reithalle des Bitza-Reitsportstadions wurde 1980 fertiggestellt und ist immer noch in Betrieb.
    Das internationale Terminal am Flughafen Scheremetewo. Es wurde 1980 fertiggestellt, kurz bevor die Olympischen Spiele begannen. Während der Spiele wurden an diesem Terminal beinahe eine halbe Million internationaler Fluggäste abgefertigt.
    Das internationale Terminal am Flughafen Scheremetewo. Es wurde 1980 fertiggestellt, kurz bevor die Olympischen Spiele begannen. Während der Spiele wurden an diesem Terminal beinahe eine halbe Million internationaler Fluggäste abgefertigt.
    Die Lobby des Hotels Kosmos, das 1979 hauptsächlich für Besucher fertiggestellt wurde,   aber auch eines der Olympischen Pressezentren beherbergte.
    Die Lobby des Hotels Kosmos, das 1979 hauptsächlich für Besucher fertiggestellt wurde, aber auch eines der Olympischen Pressezentren beherbergte.
    Konzertsaal im Olympischen Dorf, hier konnten die Sportler pausieren. Während der Olympiade traten Folklore-Ensembles auf, es gab Theaterstücke und Disko. Heute ist das Gebäude eine Spielstätte der Moskauer Philharmonie.
    Konzertsaal im Olympischen Dorf, hier konnten die Sportler pausieren. Während der Olympiade traten Folklore-Ensembles auf, es gab Theaterstücke und Disko. Heute ist das Gebäude eine Spielstätte der Moskauer Philharmonie.
    Museum der Verteidigung Moskaus und Sitz der Staatsanwaltschaft. In diesem Gebäude waren das Pressezentrum und die Leitung des Olympischen Dorfs untergebracht.
    Museum der Verteidigung Moskaus und Sitz der Staatsanwaltschaft. In diesem Gebäude waren das Pressezentrum und die Leitung des Olympischen Dorfs untergebracht.
    Feuerschale für das Olympische Feuer in der Großen Sportarena des Lenin-Zentralstadions und das Maskottchen Mischa, der Bär. Das Maskottchen der Olympischen Sommerspiele 1980 wurde als Denkmal in Lushniki aufgestellt. Die Große Sportarena des Lenin-Zentralstadions in Lushniki war 1956 erbaut und für Olympia 1980 renoviert worden. Hier fand die Eröffnungs- und Abschlusszeremonie statt.
    Feuerschale für das Olympische Feuer in der Großen Sportarena des Lenin-Zentralstadions und das Maskottchen Mischa, der Bär. Das Maskottchen der Olympischen Sommerspiele 1980 wurde als Denkmal in Lushniki aufgestellt. Die Große Sportarena des Lenin-Zentralstadions in Lushniki war 1956 erbaut und für Olympia 1980 renoviert worden. Hier fand die Eröffnungs- und Abschlusszeremonie statt.

     

    Fotos: Anastasia Tsayder
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko
    Veröffentlicht am 01.08.0216, aktualisiert am 30.07.2021

     

    Weitere Themen

    März: Alexander Gronsky

    April: Liebe in Zeiten des Konflikts

    Mai: Beim Volk der Mari

    Juni: Grooven auf den Leeren Hügeln

    Juli: Gefundene Fotos

    Moskau 1980: Die Olympischen Sommerspiele

  • Editorial: Unser Geist …

    Editorial: Unser Geist …
    Foto © Theaucitron
    Foto © Theaucitron

    … liebe dekoder-Leser, funktioniert ja meist ziemlich anarchisch. Nur selten hangelt er sich zielstrebig von einem Gedanken fort zum nächsten. Seine Bewegung gleicht eher dem Gang über ein lockeres Wolkenfeld: Da ist zwar manchmal ein gezielter Sprung von einem wattigen Gebilde zum nächsten angesagt, an anderen Stellen aber wollen so viele Assoziationen, Erinnerungen, Vermutungen andocken, dass es einen nach rechts und links und noch in mehrere Diagonalen zugleich weiterzieht.

    Im Zeitalter der papierenen Bücher und der Bibliotheken war es eine mühsame Sache, solchen Querverbindungen des Geistes zu folgen. Man musste sich durch Fußnoten, Verweisapparate und Bibliographien kämpfen, es dann mit Zettelkatalogen und Bibliothekaren aufnehmen, und wenn man schließlich die nächste ersehnte Gedankeninsel in den Händen trug, war der Grund, aus dem man sie aufsuchen wollte, vielleicht schon fortgeweht.

    Das Internet macht es uns heute viel einfacher, in alle Richtungen zugleich zu lesen – so, wie die Dynamik unseres Geists und unseres Hirns es uns vorschlägt. Der Hyperlink hat aus dem Text das gemacht, was er ursprünglich schon einmal gewesen sein sollte: eine Textur, ein Gewebe, in dem die Fäden in Kreuzform ineinandergelegt sind.

    Das muntere Sprießen des Netzes bringt aber auch eine Gefahr mit sich: die nämlich, von den allseits lockenden Linkkaskaden fortgetragen zu werden. Jeder hat ja schon erlebt, wie sich ein neugieriger Klick auf eine vermeintlich notwendige Zusatzinfo hinterrücks in eine ausgewachsene Prokrastinations-Sitzung verwandelte. Nicht, dass nicht auch das gelegentlich produktiv sein könnte. Aber will man bei einem Thema bleiben, dann ist eben das richtige Verhältnis zwischen grob angepeiltem Kurs und seitlichen Sprung- und Abzweigungsmöglichkeiten entscheidend.

    Sie ahnen, worauf ich hinaus will. Natürlich können Sie einen journalistischen Artikel hernehmen und immer dann, wenn ein Begriff Ihre Aufmerksamkeit erregt oder ein Fakt nach Überprüfung ruft, ein weiteres Browserfenster öffnen und dort Google oder Wikipedia befragen. Aber nicht nur bekommen Sie dabei Material höchst unterschiedlicher Güte geboten, das Sie zunächst selbst wieder auf seine Verlässlichkeit überprüfen müssen. Sie laufen auch Gefahr, sich nach einiger Zeit nicht auf einer tragfähigen und für Ihre Frage relevanten Gedankenscholle wiederzufinden, sondern weit abseits, in irgendeinem Wolkenkuckucksheim.

    Deshalb ist bei dekoder die Grundidee, dass sich alles bereits beieinander befindet, was man für den Ritt durch ein Thema benötigt: Der Haupt-Text, der zu einem Ziel will, und der Kon-Text, der sich beidseits von ihm aufbauscht. Auf  langgestreckten Wolkenbahnen kann man so seiner eingeschlagenen Richtung folgen und dennoch den Bedürfnissen des lesenden Geistes nach dem Links und dem Rechts, dem Kreuz und dem Quer nachgehen: Man hat gewissermaßen das Beste beider Welten.

    In solchen hybriden Textformen steckt viel Zukunft, davon bin ich überzeugt. Stand das vielleicht mit dahinter, als dekoder Ende Juni in Köln mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde? Der renommierte Preis geht an „herausragende Beiträge, die demonstrieren, wie das Internet oder Apps für aktuelle Formen des Online-Journalismus und der Informationsvermittlung eingesetzt werden können“. Die Auszeichnung jedenfalls ist gerade für ein so junges Medium wie dekoder von hochmotivierendem Wert.

    Eine flüssige Juli-Lektüre wünscht –  egal ob längs, kreuz oder quer – Ihr

    Martin Krohs
    Herausgeber

    Weitere Themen

    Editorial: Gnose und Gnu

    Editorial: Es geht los

    Editorial: dekoder-Gnosmos

    Editorial: Übers Übersetzen

    Editorial: Wenn es kompliziert wird

    Editorial: Lesen, Wischen, Recherchieren

    Editorial: Popcorn!

  • Editorial: Es geht los

    Editorial: Es geht los

    Liebe dekoder-Leser,

    начинается, es geht los, und das in vielerlei Hinsicht: Nicht nur die Sommersonne lacht endlich vom Himmel, auch bei dekoder tut sich viel Neues und Erfreuliches. 

    Aufmerksame Leser haben’s längst bemerkt: Seit Mai sieht unsere „Presseschau“ ganz anders aus. Das Format erscheint nun in loser Folge zu jeweils nur einem, dafür aber besonders wichtigem Thema – wie etwa der Freilassung Sawtschenkos, den Entwicklungen beim unabhängigen Investigativmedium RBC oder dem Tag des Sieges.

    Zu jedem Thema bringen wir mehrere und unterschiedliche Stimmen: aus staatlichen wie unabhängigen Medien, aber auch Social Media und Blogs. Dazu stellen wir übersetzte Textausschnitte: In einer Box können Sie jeweils zwischen dem Original-Absatz und seiner Übersetzung hin und her schalten (und unseren Übersetzern auf die Finger gucken). Diese Änderungen geben uns die Möglichkeit, den Fokus zu weiten und die russischen Medien-Debatten zu einzelnen, aktuellen Themen für Sie in ihrer ganzen Breite abzubilden. 

    Zu den Besonderheiten von dekoder zählt sein hybrides Format, der Mix aus Artikeln und Gnosen. Das spiegeln auch Sie uns immer wieder, wenn Sie uns etwa auf neue Gnosen-Themen aufmerksam machen. Diesen Dialog mit Ihnen wollen wir in Zukunft ein bisschen weiter treiben: In den nächsten Tagen werden wir eine kleine Umfrage auf Facebook starten, welche Gnose Sie auf dekoder gerne lesen möchten. Wir freuen uns schon auf Ihre Vorschläge!  

    Und weil Festivals mindestens so zum Sommer gehören wie pivo und moroshenoje (Bier und Eis), gibt es bei uns diesen Monat Sommer, Sonne, Groove satt – in unserem aktuellen Visual von Fotograf Nikita Shokhov. Er hat die besondere Festival-Mischung aus Sex, Drugs and Rock’n’Roll mit direktem Blick eingefangen: nackte, tanzende Körper, ausgelassenes Feiern und die Stille abseits am See.

    Aufregend wird es für uns nochmal am Monatsende: Am 24. Juni wird der Grimme Online Award in Köln vergeben. dekoder ist nominiert – drücken Sie uns also die Daumen und wir freuen uns, wenn Sie hier bis einschließlich 16. Juni für uns abstimmen. Herzlichen Dank!

    In jedem Fall: Auch Ihnen einen spannenden Sommeranfang mit viel Rock’n’Roll, pivo und moroshenoje,

    Ihre Tamina Kutscher
    Chefredakteurin

    Weitere Themen

    Editorial: Gnose und Gnu

    Editorial: Unser Geist …

    Editorial: dekoder-Gnosmos

    Editorial: Übers Übersetzen

    Editorial: Wenn es kompliziert wird

    Editorial: Lesen, Wischen, Recherchieren

    Editorial: Popcorn!

  • Juli: Gefundene Fotos

    Juli: Gefundene Fotos

    Eine große Altbauwohnung in St. Petersburg. Die Wohnung steht leer, die Bewohner sind längst ausgezogen, längst verstorben. Es waren viele.

    Die Wohnung soll entrümpelt werden, das Alte soll fort, doch es sind Menschen vor Ort, die gerade für dieses Alte einen Blick haben: eine Gruppe Architekten und der Fotograf Max Sher. Ihm fallen Fotoalben der früheren Bewohner in die Hände. Aufnahmen aus den 1960ern, den 1970ern, den 1980ern. Der Fotograf ist Sohn eines Archäologen, und mit einem solchen Blick – einem archäologischen – macht er sich ans Betrachten.

     

    Gefundene Fotografien, Gebrauchsfotografie: Hinter den englischen Stichwörtern found photography und vernacular photography steht eine aktuelle Bewegung, die dem alltäglichen Bild einen hohen Wert beimisst. Die Fotos, mit denen sie arbeitet, entdeckt sie auf Flohmärkten, Dachböden, ja auf der Straße. Das gefundene Bild wird zum zufälligen Zeugnis eines Lebens, das real war wie das eigene, das noch nicht lang vergangen ist, das doch fremd bleibt und sich nie ganz erschließt. Sammeln und Zusammenstellen ist hier Forschung und Kunst zugleich.

    Die Fotos, die Max Sher in der Petersburger Wohnung fand, offenbaren auf doppelte Weise eine besondere Welt. Es ist die Zeit des Tauwetters, dann die Breshnew-Zeit. Eine schüchterne Romantik durchwehte die Sowjetunion, man war nicht mehr ständig beobachtet, nicht mehr alle, nicht auf Schritt und Tritt kontrolliert. Liedermacher sangen nicht von der Partei, sondern vom Leben. Und die Archäologie – sie spielt nicht nur beim forschenden Fotografen, sondern auch in den Fotoalben selbst eine wichtige, wenn auch kaum sichtbare Rolle – wurde zu einer Nische der Freiheit: Sie erlaubte es zu reisen, um zu forschen, auch denen, die keine Fachleute waren. Im Sommer „zu Ausgrabungen” zu fahren, in den Süden, in die Natur, wurde zum verbreiteten kleinen Abenteuer.

    Eine besondere Welt zeigen diese Bilder auch, weil die Alben aus einer Kommunalka stammen. Aus einer Wohnung, in der man zusammenlebte, ob man es wollte oder nicht: meist eine Familie pro Zimmer, oft die des Lehrers neben der der Schauspielerin, die der Professorin neben der des Säufers. Die Kommunalka ist legendär, im guten wie im üblen Sinne. Sie hat eine ganze Generation geprägt, mit ihrem Mangel an Privatheit, ihrem Zwang zum endlosen Improvisieren, den Streits, den Versöhnungen, den verschlungenen Geschichten, die sie gebar.

    Die Dame mit dem strengen Blick: Galina Babanskaja, geboren 1920 in dieser Wohnung, gestorben 2002 ebenfalls in dieser Wohnung. Sie war Ethnografin und Archäologin. Ihr gehörten die Alben, sie waren ihr persönliches Familienarchiv. Babanskajas erster Mann, Alexander Bernstam: einer der führenden Archäologen der UdSSR. Er starb 1956 – in dieser Wohnung –, nachdem die sowjetische Propaganda auf ihn als einen „kirgisischen Bourgeois” eingehackt hatte (Bernstam ist auf den Fotos nicht zu sehen, dafür aber mehrfach Galinas zweiter Mann, Wenjamin Awerbach, ein Ingenieur, gestorben 2009). Und, Verkettung von Umständen: Zwischen der Familie des Fotografen Max Sher und den Personen auf den Fotos gab es eine Verbindung, wenn auch nur eine haarfeine. Max Shers Vater war Bernstam einmal begegnet, 1951, das Treffen hatte seine Begeisterung für den zukünftigen Beruf geweckt. All das ließ sich nun nach und nach rekonstruieren.

    Alle hier gezeigten Fotos stammen aus den gefundenen Archiven, mit Ausnahme der quadratischen, die Max Sher in der Wohnung vor ihrer Entrümpelung aufgenommen hat. Max Sher ist 1975 in St. Petersburg, damals Leningrad, geboren, wuchs in Sibirien auf, studierte Linguistik in Kemerowo und Straßburg und wandte sich 2006 der Fotografie zu. Seine Fotografien sind international publiziert, waren nominiert unter anderem für den niederländischen Paul Huf Award und den Cord Prize. Aus seiner Arbeit mit gefundenen Fotografien ist ein Buch entstanden mit dem Titel A Remote Barely Audible Evening Waltz – ein Zitat aus einem Roman von Sascha Sokolov.

    Die Bilder in den Alben waren bereits vergessen, der Container, der sie vernichtet hätte, stand auf der Straße bereit. Sie wurden erhalten, und nun schauen wir, Fremde, sie an: Worüber diskutierten diese Menschen rauchend am Besprechungstisch? Wie klangen ihre Stimmen? Wer fotografierte die Troika der Stechfliegen? Wohin kämpfte sich der Bus durch die tauenden Schwaden von Schnee?

    Fotos: Max Sher
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko
    Text: Martin Krohs
    Veröffentlicht am 01.07.2016

    Weitere Themen

    Januar: Backstage im Bolschoi

    Februar: Gruppe TRIVA

    März: Alexander Gronsky

    April: Liebe in Zeiten des Konflikts

    Mai: Beim Volk der Mari

    Juni: Grooven auf den Leeren Hügeln

  • Presseschau № 32: Fußball-Hooligans

    Presseschau № 32: Fußball-Hooligans

    Die UEFA hat durchgegriffen: Nachdem russische Fans am Samstag beim EM-Fußballspiel Russland gegen England randaliert und englische Fans heftig attackiert hatten, verhängte die UEFA nun eine Geldstrafe von 150.000 Euro. Kommt es erneut zu Zwischenfällen, wird die russische Mannschaft disqualifiziert.

    Etwa 150 russische Hooligans hatten nach dem EM-Spiel englische Fans im Stadion von Marseille attackiert, schon vor dem Spiel kam es zu Ausschreitungen. Ein Engländer schwebte danach in Lebensgefahr.

    In russischen Medien war nach den Hooligan-Attacken vor allem über die Äußerungen des stellvertretenden Duma-Vorsitzenden und Vorstandsmitglieds des Allrussischen Fußballverbands RFS Igor Lebedew diskutiert worden. Еr hatte die Hooligans auf Twitter in Schutz genommen: „Ich kann nichts Schlimmes an kämpfenden Fans finden. Im Gegenteil, gut gemacht, Jungs. Weiter so!“

    So gab es auch Stimmen, die die Schuld nicht bei den gewalttätigen Hooligans, sondern bei westlichen Provokateuren sahen. Debattiert wurde auch, ob die Randalierer vom russischen Staat gesteuert seien – oder eben einfach Hooligans wie deutsche, britische oder polnische auch.

    Echo Moskvy: Immer gegen Russland!

    Der einstige Fußballprofi und Trainer Alexander Tschugunow empfindet die Strafe der UEFA als ungerecht, wie er auf Echo Moskvy schreibt:

    [bilingbox]Eine Frage bleibt offen: Warum wurden keine Sanktionen gegen das Gastgeberland verhängt? Warum blieb Frankreich außen vor, während  Mütterchen Russland wie immer die ganze Suppe auslöffeln muss? Ich bin fest davon überzeugt: Hätten sich englische und walisische Fans geprügelt oder deutsche und ukrainische oder wer auch immer – Frankreich hätte auf jeden Fall schuldig dagestanden. Aber hat man einmal russische Fans in der Schlägerei gesichtet, dann heißt es gleich: Also sorry, Russland gehört bestraft und disqualifiziert.~~~Остаётся один вопрос. Почему не наложили санкции на принимающую сторону? Почему Франция осталась за бортом, а расхлёбывать всё пришлось как всегда матушке-России? Я уверен, произошла бы стычка между болельщиками Англии и Уэльса, Германии и Украины, да кого угодно — Франция осталась бы виновата! Но раз в драке увидели русских, то, уж извините — России штраф и дисквалификация.[/bilingbox]

    Komsomolskaja Prawda: Feinde des Vaterlands

    Die Boulevard-Zeitung Komsomolskaja Prawda dagegen lässt nach dem Urteil weniger Milde mit den gewalttätigen Fans und ihren Unterstützern walten:

    [bilingbox]Zu gewinnen reicht Sluzkis Team nicht mehr. Die Fußballer müssen hoffen, dass jetzt kein Dummkopf vor der ganzen Welt seinen Schlagradius demonstrieren will  oder dunkelhäutigen Spielern etwas zuruft.

    Natürlich wissen wir, wer Schuld hat. Wussten es schon vorher: Die Feinde des Vaterlands, die englischen Provokateure, die Polizisten von Marseille … In Wirklichkeit (können wir uns das eingestehen?) wird bei uns gegen die Hooligans nichts unternommen. Im Gegenteil, man unterstützt sie in jeder Weise, streichelt ihnen über die Köpfe, bespaßt sie.~~~Теперь команде Слуцкого мало выиграть. Футболисты должны надеяться, что ни один придурок не захочет показать миру размах своего удара и не крикнет что-нибудь в адрес темнокожих игроков.

    Конечно, мы уже знаем кто виноват. Заранее. Враги Отечества, английские провокаторы, марсельские полицейские… На самом деле (сами себе-то мы можем признаться?) с футбольными хулиганами у нас не борются. Наоборот, всячески поддерживают, гладят по голове, организуют досуг.[/bilingbox]

    Grani.ru: Kreml managt die Ultras

    Unmittelbar vor der UEFA-Strafe reagiert Journalist Ilja Milstein auf dem oppositionellen Portal grani.ru auf die Worte von Igor Lebedew, der der Sohn des rechtspopulistischen LDPR-Chefs Wladimir Shirinowski ist. Dabei bringt Milstein organisierte Hooligans in direkte Verbindung zum Kreml:

    [bilingbox]Igor Lebedew plaudert Geheimnisse aus, aber man muss es ihm nachsehen. Immerhin ist er Shirinowskis Sohn […] Ja und auch das Geheimnis selbst gehört nicht zu den streng gehüteten. Im Gegenteil. Dass die russische Führung die Ultras managt und sie zur Lösung unterschiedlichster staatlicher Aufgaben heranzieht, das ist schon lange bekannt. […]

    Ähnlich wie die Traktoristen und Bergarbeiter im Donbass, sind die russischen Fußballfans seit einiger Zeit Figuren im großen politischen Spiel. Zunächst im innenpolitischen, und jetzt, bittesehr, auch in der internationalen Arena. Deswegen haben sie, umhegt von staatlicher Fürsorge, kurz vor der Europameisterschaft in Frankreich vermutlich auch trainiert – wie die Fußballer. Nur eben auf ihrem Gebiet.~~~Игорь Лебедев выбалтывает сокровенное, но ему простительно. Все-таки он сын Жириновского […]. Да и сама тайна не принадлежит к разряду тщательно охраняемых. Напротив. О том, что российское начальство руководит ультрас и обращается к ним для решения разнообразных государственных задач, известно уже давно. […]

    Подобно трактористам и шахтерам в Донбассе, российские футбольные фанаты с некоторых пор стали фигурами в большой политической игре. Сперва в игре внутриполитической, а теперь вот и на международной арене. Поэтому они, окруженные государственной заботой, незадолго до чемпионата Европы во Франции тоже наверняка тренировались, подобно футболистам. Только на свой лад.[/bilingbox]

    Novaya Gazeta: Vollpfosten haben keine Nationalität

    Eine solche Verbindungslinie zum Kreml sieht Wladimir Rodionow in der unabhängigen Novaya Gazeta dagegen nicht und wundert sich, wer die Ausschreitungen gutheißt:

    [bilingbox]Die Zusammenstöße der russischen und britischen Fußballfans in Frankreich bestätigen meiner Meinung nach nur, dass Vollpfosten keine Nationalität haben. Zwei Gruppen aggressiver angetrunkener Männer haben sich einfach entschieden, auf alle Konventionen zu pfeifen und gedankenlos die Fäuste zu schwingen.

    […] Doch diese traurige, für einige auch tragische Geschichte wurde auf Facebook zum Anlass für Stolz. Den Stolz bekunden dabei nicht mal die Fußball-Hooligans, die aus irgendwelchen Gründen zuhause geblieben waren, sondern die denkbar intelligentesten Leute. Oder zumindest Leute, die sich als solche ausgeben.~~~Столкновения во Франции российских и британских футбольных фанатов только подтвердили, на мой взгляд, что у отморозков нет национальности. Просто две группы агрессивных подвыпивших мужчин решили отбросить все условности и бездумно помахать кулаками.

    […] Но эта грустная, а для кого-то и трагичная история стала поводом для гордости в Facebook. Причем эту гордость выражали не футбольные хулиганы, по каким-то причинам оставшиеся дома, а самые что ни на есть интеллигентные люди. Ну или, по крайней мере, позиционирующие себя таковыми.[/bilingbox]

    Rossijskaja Gaseta: Die brüllenden Engländer auseinander gejagt

    Die offizielle Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta nimmt die russischen Hooligans kurz nach dem Spiel in Schutz – und lobt ihre Taten:

    [bilingbox]Ehrlich gesagt, ist mir vollkommen unklar, wie man mehrere Tage am Stück hemmungslos saufen kann und sich rundherum für gar nichts interessiert. Aber für englische Fußballfans im Ausland ist das wohl das einzig denkbare Verhalten. Die russischen Fans, von denen viele mit ihren Frauen und Kindern zu den Spielen fahren, verbringen ihre Zeit völlig anders: Sie machen Exkursionen, kaufen Kleidung und schaffen es auch noch, Sehenswürdigkeiten zu bestaunen […]

    Prügeleien, an denen Engländer beteiligt waren, gab es schon drei Tage lang mehr als genug, die Russen traten erst unmittelbar vor dem Spiel auf den Plan. Und innerhalb von ein paar Minuten gelang ihnen, was weder Polizei noch einheimische Fans geschafft hatten: Sie jagten diese brüllende Menge hunderter Engländer einfach auseinander.~~~Честно говоря, с трудом понимаю, как можно беспробудно пить несколько дней подряд, не интересуясь вообще ничем вокруг, но для английских футбольных фанатов такое поведение на выезде является чуть ли не единственно приемлемым. Те же россияне, многие из которых приезжают на футбол с женами и семьями, проводят время совсем иначе – ходят на экскурсии, закупают одежду, успевая любоваться достопримечательностями. […]

    Драк с участием англичан за три дня происходило достаточно, а вот русские вышли на авансцену уже непосредственно перед игрой. И за несколько минут сделали то, чего не смогла ни полиция, ни местные ребята – попросту разогнали эту орущую английскую толпу из нескольких сотен человек.[/bilingbox]

    dekoder-Redaktion

    Weitere Themen

    Presseschau № 24

    Presseschau № 25

    Presseschau № 26

    Presseschau № 27

    Presseschau № 28: Tschernobyl

    Presseschau № 29: Tag des Sieges

    Presseschau № 30: RBC – Medium unter Druck

    Presseschau № 31: Freilassung Sawtschenkos