Im kollektiven Gedächtnis Russlands spielt der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg die Hauptrolle. Der Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland 1941 bis 1945 forderte schätzungsweise 25 bis 42 Millionen sowjetische Todesopfer, kaum ein Familienschicksal blieb davon unberührt.
Am 9. Mai, dem Tag des Sieges, gedenkt ganz Russland der Opfer und feiert das Kriegsende. Hunderttausende sind auf den Straßen, der Kreml lässt neueste Panzer und atomar bestückbare Interkontinentalraketen auffahren, und die Staatsmedien überbieten sich in Glorifizierung des Kriegsheldentums.
Am mittlerweile wichtigsten Nationalfeiertag des Landes gibt es aber auch Kritik: Unabhängige Medien sehen den 9. Mai von staatlicher Geschichtspolitik vereinnahmt, und Wissenschaftler spotten darüber, dass er nun als Universalantwort auf alle Fragen der russischen Wertepolitik diene.
Dieses Dossier ist ein Fundus mit Hintergrundartikeln und Analysen zum Großen Vaterländischen Krieg. In manchen Beiträgen beantwortet und in anderen stellt es viele wichtige Fragen über diese Vergangenheit Russlands und den heutigen Umgang mit ihr.
In diesem Dossier sammelt dekoder Hintergrundartikel, Analysen und Interviews zu Fragen wie diesen:
Welche Rolle spielt das Fernsehen in Russlands Medienlandschaft?
Und welches Bild wird darin vermittelt?
Wer sind die Personen, die im russischen Staatsfernsehen als „Experten“ auftreten?
Triumphiert am Ende Propaganda über Journalismus?
Einige Artikel, Gnosen und Presseschauen widmen sich außerdem den letzten verbliebenen unabhängigen Medien in Russland, aus denen dekoder immer wieder übersetzt. Es gibt sie – doch ihre Freiräume wurden in den vergangenen Jahren immer kleiner. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat sich ihre Lage zudem dramatisch verschärft: Die Redaktionen sowie die Journalistinnen und Journalisten, die für sie arbeiten, sind in Gefahr. Mehr dazu in unserem Dossier: Zensierte Medien – Journalisten in Gefahr.
Seit 2015 kämpft Russland an der Seite Baschar al-Assads im Syrischen Bürgerkrieg. Mit den Luftangriffen will der Kreml nach eigenen Angaben vor allem gegen islamistische Terrororganisationen vorgehen.
Ist das die ganze Wahrheit? In welchen Rollen finden sich Russland, Europa, die USA? Analysen, Interviews und Hintergründe zu Russlands Einsatz in Syrien.
normalerweise melden sich an dieser Stelle die redaktionellen Macher von dekoder zu Wort – für das heutige Editorial wurden wir gebeten, einige Zeilen beizusteuern – was wir sehr gerne tun!
Wir sind das Palasthotel, Gesellschaft für digitale Pracht mbH. Wir sind die technischen Macher, die dem dekoder-Team beim Aufbau der Seite geholfen haben. Vor allem bei der Programmierung und Realisation der Seite mit dem Content-Management-System Drupal, aber auch konzeptionell und gestalterisch, um die von Herausgeber Martin Krohs im Artikel Unser Geist so wunderbar beschriebene Idee von Assoziationen, Querverweisen und mehrdirektionalen Diagonalen im Internet in eine reale und responsive, also auch mobil vollständig benutzbare Webseite zu verwandeln.
Für die kombinierte Darstellung der zentralen Artikel und ihrer weiterführenden Begriffserklärungen (Gnosen) entwickelten wir ein Design, das sich an die Bedienung alter Mikrofiche-Lesegeräte anlehnt, bei denen der Benutzer den Mikrofilm unter dem Objektiv hin- und herschiebt. Auf dekoder.org verschiebt der Leser die Spalten Medien und Gnosen und kann bequem zwischen Inhalten wechseln. Um dieses ungewöhnliche Design zu realisieren, haben wir das ein klein wenig unflexible Drupal nicht nur mit unserer OpenSource-Eigenentwicklung Grid ausgestattet, mit dem Redaktionen möglichst komfortabel Landingpages mit statischen sowie dynamischen Inhalten bestücken können. Sondern wir haben mittels jQuery und Ajax auch dafür gesorgt, dass die beiden Inhaltsbereiche (links Medien, rechts Gnosen) animiert hin und her verschoben werden können. Javascript sorgt dann für das asynchrone Nachladen von Inhalten sowie entsprechende Animationen.
Damit sich die dekoder-Redaktion hinter dem Vorhang, also im Innern des Redaktionssystems, im täglich größer werdenden Meer aus verknüpften Artikeln und Gnosen trotzdem möglichst gezielt und genau bewegen kann, zeigt ein sich permanent selbst aktualisierendes Modul alle bereits bestehenden Verweise zwischen verschiedenen Inhalten an. Dabei werden Querverbindungen nicht nur manuell, sondern auch vollautomatisiert hergestellt: Ein von uns gebauter Autolinker durchsucht die Texte in Echtzeit auf Schlagwörter aus Gnosen-Titeln und verlinkt sie entsprechend. Ungewollte Autoverlinkungen können dabei natürlich auch ausgeschlossen werden – um zu vermeiden, dass Sie als Leser etwa im Wort SchaFSBock einen Link auf den russischen Inlandsgeheimdienst FSB angeboten bekommen. Die Redaktion kann sich also meist auf das reine Erstellen neuer Inhalte konzentrieren, um das hypertextuale Netz immer noch dichter und größer aufzuspannen.
Wir wünschen viel Vergnügen beim Lesen, Wischen, Recherchieren, Assoziieren – und sich einfach mal Verlieren!
Sascha Hagemann Palasthotel, Gesellschaft für digitale Pracht mbH
Das Jahr 1917 nimmt in der Geschichte Russlands eine besondere Stellung ein. Innerhalb eines Jahres erlebte Russland massive Umwälzungen, die die Entwicklung des Landes für viele Jahrzehnte stark geprägt haben. Bis heute ist das Erbe dieses Umbruchsjahres noch nicht vollständig verarbeitet: Viele Schlüsselereignisse, vor allem die Machtübernahme durch die Bolschewiki – in die Geschichte eingegangen als Oktoberrevolution – benötigen eine grundsätzlich neue Einordnung.
Zuvor, im Februar/März 1917, war die herrschende Zarendynastie zu Fall gebracht worden und eine parlamentarische Übergangsregierung entstanden. Nach einigen politischen Krisen mündete die Entwicklung – die als demokratischer Ansatz angelegt war – in der Machtergreifung einer einst wenig bedeutenden radikalen Splittergruppe, den Bolschewiki. Diese konnten sich in dem darauf folgenden blutigen Bürgerkrieg (1918–1921) behaupten.
Im heutigen Russland spielt die Vergangenheit mindestens eine genauso wichtige Rolle wie die Gegenwart. Die Debatten um historische Ereignisse und Persönlichkeiten beschäftigen nicht nur Fachkreise, sondern auch die breite Öffentlichkeit. Bei Beobachtung dieser Debatte zeigt sich, dass es nicht nur Unterschiede in der Wahrnehmung der Geschichte gibt, sondern vielmehr eine Spaltung der russischen Gesellschaft selbst. Die Gegenwart wird mit historischen Epochen verglichen, die als Modelle fürs Heute dienen sollen. Geschichte wird so auch zu Politik. Das gilt ebenso für das Jahr 1917.
Der Historiker Boris Kolonizki meint, in der russischen Gesellschaft dauere die Revolution von 1917 immer noch an. Im Jahr 2017 ist sie in jedem Fall aktuell wie nie.
Das dekoder-Dossier wirft Schlaglichter auf das Jahr 1917 und stellt den Kontext zur Gegenwart her: Wie ist der Umgang mit der Geschichte 100 Jahre danach? Welche Ereignisse sind zentral? Und welche Debatten werden geführt?
Dies ist eine der eigentümlichsten Episoden aus der Geschichte der russischen Fotografie, und sie ist bis heute noch nicht vollständig erforscht.
Ein junger Mann aus einer St. Petersburger Adelsfamilie begeistert sich für das damals noch junge Fach Chemie. Er studiert bei Dimitri Mendelejew, dem russischen Entwickler des Periodensystems der Elemente. 1889 geht Sergej Prokudin-Gorski („so der Name unseres Helden“, müsste man schreiben, wäre man sein Zeitgenosse) nach Berlin, wo er für zwei Jahre an der Technischen Universität unterrichtet. Zugleich forscht er zur Darstellung der Spektralfarben in der Fotografie und schließt Bekanntschaft mit Adolf Miethe, ebenfalls Chemiker. Miethe hatte eine Technik entwickelt, um mittels dreier übereinander projizierter Schwarzweiß-Diapositive (die Farbfotografie im eigentlichen Sinne wurde erst 1935 von Kodak praxistauglich gemacht) eine vollfarbige Abbildung eines fotografierten Objektes zu erhalten.
1901 kehrt Prokudin-Gorski nach St. Petersburg zurück. Er entwickelt die fotochemischen Methoden weiter, die er in Berlin erlernt hat, und in ihm reift ein Plan heran: Er will die Menschen, Landschaften und Bauwerke Russlands fotografisch dokumentieren – in Farbe. Etwas ähnliches hatten vor ihm nur die Peredwishniki versucht, aber sie waren Maler gewesen, ihre Ausrüstung beschränkte sich auf Palette und Staffelei. Prokudin-Gorski würde mehr benötigen: Die modernste Fotoausrüstung seiner Zeit, zerbrechlich, schwer und voluminös – und eine Menge Geld. Er musste den Zaren für sein Vorhaben begeistern. Dies gelang ihm nicht zuletzt durch ein Portrait des Schriftstellers Lew Tolstoi, das er bei einer Audienz an die Wand projizierte.
Nikolaus II finanzierte ihm ein mobiles Labor, das in einer Pferdekutsche untergebracht wurde und sogar einen Eisenbahnwaggon mit einem zweiten Labor. Und er stellte ihm Dokumente aus, die es ihm ermöglichten, sich auf den geplanten Routen frei zu bewegen – keine Selbstverständlichkeit im damaligen Russland. 1909 machte Prokudin-Gorski sich auf den Weg. Bis 1915 bereiste er das Zarenreich: den Westen Russlands, die Wolga-Gebiete, den Kaukasus, Mittelasien, Teile von Sibirien. Er fotografierte seine Sujets, wie er sie vorfand: Es mischen sich Arbeitsszenen, Ansichten industrieller Anlagen, Stadtpanoramen, Portraits. Insgesamt entstanden so über 3.000 Aufnahmen.
Zur geplanten großen Wanderausstellung seiner Bilder kam es in Russland nicht mehr, bald nach Beginn des ersten Weltkriegs versiegte die Finanzierung. 1917, nach der Oktoberrevolution, musste Prokudin-Gorski das Land verlassen, ging erst nach Norwegen, dann nach London und schließlich nach Paris, wo er 1944 starb. Sein Archiv wurde von der Library of Congress (Washington DC) erworben und ist heute in digitaler Form öffentlich zugänglich.
Die von Adolf Miethe entwickelte Technik, die Prokudin-Gorski verwandte, beruhte auf dem Prinzip dreier verschiedenfarbiger Filterscheiben (rot, grün und blau), die vor drei vertikal übereinander angeordneten Glasplatten-Negativen angebracht waren. Auf diese Weise konnte nur jeweils das entsprechende Teilspektrum des Lichts auf die einzelne Glasplatte einwirken. Während der Aufnahme wurden die Platten eine nach der anderen belichtet.
Zum Betrachten der Bilder existierte ein spezieller Dreifarben-Projektor, der die drei nacheinander entstandenen Einzelbilder, wiederum durch entsprechende Farbfilter, an die gleiche Stelle projizierte, so dass sich ein vollfarbiges Bild ergab.
Diese additive Dreifarben-Fotografie bringt einige Besonderheiten mit sich, so scheint etwa ein bewegtes Objekt in verschiedenen Farben zu schillern – unten in der Fotoserie zu sehen beim Wasser auf dem Bild des Schleusenwärters Karlinski oder auch beim Gesicht eines der Besatzungsmitglieder des Dampfschiffs Scheksna. Hier finden sich weitere technische Details zu dieser längst vergessenen Fotografier-Methode.
Prokudin-Gorski wurde 1863 auf dem Familiengut Funikowa Gora im Gouvernement Wladimir geboren. Mit ihm und seinem Werk befassen sich verschiedene Buchveröffentlichungen, auf Deutsch unter anderem beim Gestalten-Verlag. Ein russisches Internet-Projekt widmet sich der Erforschung seiner Reisen und seines Werks, ein anderes rekonstruiert die Aufnahmeorte und dokumentiert ihren heutigen Zustand im Vergleich zum historischen. Einen Dokumentarfilm auf Prokudin-Gorskis Spuren drehte 2013 der Moskauer Journalist Leonid Parfjonow. Wohl keine andere visuelle Quelle erschließt die Realitäten des späten russischen Zarenreichs mit solcher Unmittelbarkeit wie die Aufnahmen dieses wissenschaftsbegeisterten Forschers und Fotografen.
Oben: Selbstbildnis Sergej Michailowitsch Prokudin-Gorski am Flüsschen Skuritskhali, bei Batumi, Georgien, 1912
Bahnhof von Borodino. Als Fotolabor ausgerüsteter Eisenbahnwaggon, Borodino, 1911
Preobrashenski Kirche, innerhalb der Kremlmauern, Belosersk, 1909
Mittagessen während der Heuernte, 1909
Kornblumen im Roggenfeld, 1909
Bauernmädchen, 1909
Holzfäller am Fluss Swir, 1909
Zwischen dem Staubecken am Fluss Tschussowaja und dem Reschotka-Flüsschen, 1912
Hütte des Siedlers Artemi, mit Spitznamen Kot [Kater], der seit über 40 Jahren dort lebt, 1912
Ernte nahe dem Dorf Bytschi, 1912
Mühlen im Bezirk Jalutorowsk im Gouvernement Tobolsk, 1912
Beim Spinnen von Garn, Dorf Iswedowo, 1910
Blick über die Stadt von der Kreml-Mauer aus, Belosersk, 1909
Igumen Xenofont, Vorsteher des Klosters in Werchoturje, 1910
Links: Wundertätige Ikone der Gottesmutter Hodegetria in der Mariä-Entschlafens-Kathedrale, Smolensk, 1912.
Rechts: Phelonion aus Seidenbrokat, zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, an der Schulterpartie perlenbestickter karminroter Samt. Im Museum von Rostow Weliki, 1911
Mönche bei der Feldarbeit, Kartoffelsaat. Gethsemane-Kloster, 1910
Friedhof des Uspenski-Klosters, 1909
Links: L. N. Tolstoi in Jasnaja Poljana, 23. Mai 1908 (der Verbleib des originalen Negatives ist unbekannt, hier handelt es sich um die Reproduktion eines durch Prokudin-Gorski selbst angefertigten dreifarbigen fotolithografischen Abzugs)
Rechts: Arbeitszimmer von L. N. Tolstoi in Jasnaja Poljana, 1908
Links: Im Museum von Borodino. Kugeln und Geschosse aus der Schlacht bei Borodino (1812), 1911
Mitte: Befestigungsanlagen auf dem Schlachtfeld von Borodino, wo ein Denkmal errichtet werden soll, 1911
Rechts: Gemälde von Napoleon, zwischen 1905 und 1915
Grenze zwischen Europa und Asien bei der Bahnstation Urshumka. In der Nähe von Tscheljabinsk, 1910
Wolgaquelle, 1910
Pinchus Karlinski, 84 Jahre alt. Davon 66 im Dienst als Schleusenwärter der Tschernigow-Schleuse, 1909
Dampfschiff Tjumen des Verkehrsministeriums, auf dem Prokudin-Gorski den Fluss Tobol befuhr. Prokudin-Gorski ist auf dem Deck des Schiffes zu sehen, an einem Tisch sitzend, 1912
Mannschaft des Dampfschiffs M. P. S. Scheksna, auf dem Prokudin-Gorski von der Mündung des Flusses Swir bis Rybninsk fuhr, 1909
Blick auf die Stadt Tobolsk von Norden. Vom Glockenturm der Preobrashenskaja-Kirche aus, 1912
Herstellung von Stahlbeton-Rahmen für die Wände einer Schleuse, Beloomut, 1912
Eine Speiche wird aus einem Damm gezogen (nach der Methode von Poiré), 1909
Signalmast beim Dorf Burkowo, 1909
Schmelzöfen der Eisenhütte bei Satka, 1910
Österreichische Kriegsgefangene vor einer Baracke nahe Kiappeselga / Kannesemga, 1915
Arbeit in der Eisenmine, bei Bakal, Ural 1910
Auf der Draisine über die Murmansk-Bahnstrecke, bei Petrosawodsk, 1915
Brücke der Transsibirischen Eisenbahnlinie über den Fluss Kama nahe Perm am Ural, 1910
Die Evgenieski-Mineralwasserquelle Borshomi, Georgien, zwischen 1905 und 1915
Versand des Borshomi-Mineralwassers. Borshomi, Georgien, zwischen 1905 und 1915
Menschen in Dagestan, zwischen 1905 und 1915
Links: Bambus-Hain. Tschakwi, Georgien, zwischen 1905 und 1915
Rechts: Knurrhahn. Batumi, Georgien, zwischen 1905 und 1915
Eine Gruppe von Arbeitern bei der Tee-Ernte (griechische Frauen), Tschakwi, Georgien, zwischen 1905 und 1915
In der Abwiege-Abteilung der Teefabrik von Tschakwi, Georgien, zwischen 1905 und 1915
Haus von Umsiedlern mit einer Gruppe von Landarbeitern bei Nadeshdinsk, zwischen 1905 und 1915
Beobachten einer Sonnenfinsternis am 1. Januar 1907. In der Nähe der Bahnstation Tschernjajewo im Tian-Shan-Gebirge oberhalb der Saljutkin-Minen, Golodnaja Steppe 1907
Die rechte Kuppel der Sher-Dor-Moschee, Samarkand, zwischen 1905 und 1915
Der Emir von Buchara, zwischen 1905 und 1915
Sarten-Frau in einem Paranja, Samarkand, zwischen 1905 und 1915
Studenten in einer Medresse (Islamschule), Samarkand, zwischen 1905 und 1915
Friseure auf dem Registan in Samarkand, zwischen 1905 und 1915
Arbeiter, zwischen 1905 und 1915
Hanffeld, 1910
Bildredaktion: Nastya Golovenchenko Text: Martin Krohs Veröffentlicht am 01.12.2016
Im November wird dekoder zu einer Galerie. Wir zeigen ein Kunstprojekt, das auf langsame Wahrnehmung angelegt ist, auf ein gemächliches Eintauchen – ein Projekt, in dem sich Bild und Text zu einer Einheit verbinden.
Die Künstlerin und Fotografin Anastasia Khoroshilova nimmt in der russischen Fotografie-Szene eine Sonderstellung ein. Sie ist in Moskau geboren, hat an der Folkwang-Schule in Essen studiert und wohnt derzeit in Berlin. Ihre Sujets aber findet sie weiterhin in Russland, wobei sie ein besonderes Augenmerk auf die Themen richtet, die den großen visuellen Narrativen entgehen: auf die subtilen Spuren, die das Leben des Einzelnen hinterlässt, auf das Schicksal der namenlosen Menschen, auf ihre Verletzlichkeit und immer wieder auf die russische Provinz. Mit deren Bildwelt und ihrem unaufhaltsamen, an ein stilles, unendlich langsam fortschreitendes Naturgeschehen erinnernden Wandel beschäftigt sich auch diese Arbeit. Ein Ort aus den Erzählungen von Turgenjew, zugleich Heimat der Vorfahren von Anastasia Khoroshilova, verwandelt sich über die mehr als zehn Jahre, die sie sich ihm fotografierend nähert, in eine Landschaft des Übriggebliebenen, eine zeitvergessene Lichtung, bis er allein aus verblassender Erinnerung zu bestehen scheint – kaum mehr als die Metapher seiner selbst.
Anastasia Khoroshilova ist Mitglied der Deutschen Fotografischen Akademie und Dozentin an der Rodchenko School of Photography and Multimedia in Moskau. Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen Einzelausstellungen unter anderem in Wien, Tokyo, Toronto, Moskau und St. Petersburg gezeigt und sind in den Sammlungen des Stedelijk Museum, Amsterdam, der Pier 24 Photography Collection, San Francisco, und vielen anderen vertreten. Wir freuen uns besonders, dass die Fotografin uns ihre neue Arbeit Einst war hier das Meer zur online-Erstveröffentlichung anvertraut hat.
Blick auf Beshin Lug (Beshin-Wiese), von Norden
Von 2003 bis 2004 habe ich an der Serie Beshin Lug (Beshin-Wiese) gearbeitet. Sie war den Realien des russischen Dorfes in postsowjetischer Zeit gewidmet. Die Reisen, die ich dafür machte, eher Expeditionen, dienten dem Ziel, dokumentarisches Fotomaterial für visuelle Forschung zu sammeln. Der Titel der Arbeit stand für mich damals in Zusammenhang mit russischen Werken, wie der gleichnamigen Erzählung von Iwan Turgenjew, dem Film von Sergej Eisenstein und dem Roman mit dem Titel Romanvon Vladimir Sorokin. Inzwischen ist dieser Arbeitstitel für mich zu etwas Allgemeinerem geworden, zu einem Symbol dessen, was ich im sich verändernden Raum des russischen Dorfes entdeckte.
Im Dorf Bogorodizkoje (aus der Serie Beshin Lug, 2004)
2015 und 2016 habe ich mich dem Thema des russischen Dorfes erneut zugewandt. Die Veränderungen, die ich nun sah, erschienen mir noch grundlegender und unumkehrbarer. Der metaphorische Charakter dessen, was schon geschehen war und sich weiterhin vor meinen Augen abspielte, erhielt einen klar umrissenen Sinn: den des Verschwindens. Und so basiert die Arbeit Einst war hier das Meer auf der Metapher des Fortnehmens.
Im Dorf Chludnewo, Maria Iwanowna (aus der Serie Beshin Lug, 2004)
Die Ortschaften, die ich vor mehr als 10 Jahren besucht hatte, haben sich sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Dörfer verwandelten sich in Datschen-Siedlungen und wurden von Städten aufgesogen. Die abgelegenen Dörfer verschwinden – einerseits physisch, aber auch, nach und nach, aus der administrativen Topographie. Das Dorf beispielsweise, in dem mein Urgroßvater zur Welt kam, wurde fast vollständig von seinen Einwohnern verlassen.
Die Aufnahmen entstanden vielfach an historischen „Turgenjewschen Orten” (in den Gebieten Orlow und Tula). Die historische Beshin-Wiese ist heute ein Ort, der gelegentlich von Touristen aufgesucht wird, ab und zu werden lokale Feste gefeiert. (Die Beshin-Wiese selbst liegt mitten in einem Wirrwarr elektrischer Leitungen, es gibt auch eine stillgelegte Sandgrube – unerlaubt in einem Schutzgebiet ausgehoben – und ein Privathaus am Rand der Wiese).
In der Ortschaft Seljonaja Sloboda (aus der Serie Beshin Lug, 2004)
Fast alle „Turgenjewschen Orte“, die einst existierten und die in das Leben der Einheimischen eingeschrieben sind, gibt es heute nur noch in den Akten des Katasteramtes. Man kann sie der Erinnerung nach ausfindig machen, oder anhand einer bestimmten Anordnung der Bäume und ihrer Arten.
Das Projekt beschreibt das Dorf sozusagen als Grundtyp, verallgemeinernd. Auf den Bildern sind fast keine Menschen zu sehen, kaum Spuren ihrer Anwesenheit zu bemerken.
Die Titel der Bilder ergeben sich aus dem dokumentatorischen Anspruch des Projekts. Sie bilden gemeinsam mit meinen Notizen den textuellen Teil der Arbeit.
Anastasia Khoroshilova
2016
Im Dorf NawolokWera Iwanowna Lusanowa. In NawolokMaria Iwanowna. In der Ortschaft Pokrowskoje (Nishnjaja Ljubowscha)Beim Dorf KolotowkaIm Dorf Beshin Lug, Haus des Generals (ehemalige Schule)Valentina Fjodorowna Petrowa. Im Dorf Chotjash, PooserjeСлева: Деревня Велевашево. Справа: In der Ortschaft Golun. Pferdehof auf dem Gut der Grafen GolizynSt.-Nikolas-Kirche auf Lipno, 13. Jh., AltarapsisViktor Iwanowitsch Jakowlew. Inseldorf WoizyBei der Ortschaft Pokrowskoje (Nishnaja Ljubowscha). Hauptstraße
Früh am Morgen. Gestern war ich noch in Moskau, jetzt – auf Nowgoroder Boden. Nach zwölf Jahren bin ich wieder hier. Ich gehe schnellen Schrittes zur Anlegestelle am Ilmensee, wo ein Boot auf uns wartet. Mein Körper fühlt den Schlafmangel, der Rucksack hängt schwer auf den Schultern, das Stativ baumelt unbequem am Arm. Ich ärgere mich über mich selbst wegen dieser spontanen Idee, jetzt auf die Insel zu fahren – irgendwann später wäre das sicher auch noch möglich gewesen.
An der Anlegestelle treffe ich Leute. Wir kommen ins Gespräch. Einer, in einem gestreiften Hemd, ist, wie sich herausstellt, ein bekannter russischer Schriftsteller. Eine andere, mit Strohhut, ist Restauratorin, Ehefrau eines Archäologen. Außerdem ist dort eine Künstlerfamilie. Sie sind mit ihren Kindern, verschlafen und in Wolldecken gepackt, zur Anlegestelle gekommen. Auch sie wollen nach Lipno hinüber.
Das Wetter spielt nicht mit! Dicke Wolken ballen sich zusammen, es zieht wohl ein Gewitter auf. Wir sind jetzt schon über eine Stunde hier. Jelena (sie betreut ein Museum und begleitet uns) sagt, wir sollen noch ein wenig warten. Ich hatte keine Zeit zum Frühstücken, das lässt mich mein Magen jetzt spüren. Nochmal vergeht eine halbe Stunde.
Endlich kommt aus einem Haus nebenan ein Fischer. Ich schaue zu, wie er ohne Eile zwei einfache, sehr alte Boote aneinanderbindet. Danach fängt er an, mit einer abgeschnittenen Flasche das Wasser aus ihnen herauszuschöpfen … „Man braucht ziemlich lange da rüber”, sagt er.
Na gut, genug. Ich verzichte, sage, die Überfahrt sei für meine Fototausrüstung zu gefährlich. Die Frau mit Hut will auch nicht mehr zur Insel übersetzen. Die anderen tauschen Blicke, möchten aber anscheinend weiterhin fahren.
Auf dem Weg ins Hotel wird mir klar: Auf die Insel muss ich trotz allem. An der Anlegestelle im Ort überrede ich den Besitzer eines Bootes, der Touristenfahrten auf dem Fluss Wolchow anbietet.
Ich bin auf der Insel Lipno. Kämpfe mich durch hohe Sträuche und Gras. Brennnesseln brennen an den Beinen, einen Pfad gibt es nicht. Es ist sehr heiß, der Rucksack klebt am Rücken. Ich räume mir den Weg mit dem Stativ frei. Ich schaue zum Himmel: Ein Gewitter wird es doch nicht geben. Mit einem Mal sehe ich eine Kuppel, dann eine Apsis und schließlich finde ich mich vor einer Kirche wieder. Rundherum Stille. In der Ferne sind Vögel zu hören. Jelena macht die Tür auf, und wir treten hinein.
Durch die Fenster fällt gedämpftes Licht in die Kirche. Die Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Die Umrisse alter Gerüste von Restaurationsarbeiten zeichnen sich ab. An den Wänden erkenne ich Fresken. Jelena erzählt mir von der Geschichte der Kirche. Ihre Worte, bemerke ich bald, klingen wie von weit weg.
Schweigend hole ich meinen Fotoapparat hervor. Wir sind allein. Es ist still, gelegentlich klickt der Verschluss. Ich fotografiere wenig. Ich spüre: Dieser Tag wird mir lange im Gedächtnis bleiben.
Ich gehe hinaus. Sergej kommt zu mir herüber. Er lebt auf der Insel, mit seiner Mutter. Sie bleiben sogar den Winter über hier, mit Vorräten an Proviant und allem Nötigen, ohne Strom und Telefon. Sonst wohnt hier niemand.
Sergej ist unleidlich, wir haben ihn gestört. Meine Frage, ob ich ihn fotografieren kann, wehrt er gleich ab, unterbricht mich grob, dreht sich von mir weg und geht. Das ist seine Insel und seine Kirche. Wir sind für ihn Zufallsbesuch, lästige Touristen.
Wir kehren zum Boot zurück. Am Ufer treffen wir auf unsere Bekannten vom Vormittag: den Schriftsteller und die Künstlerfamilie. Sie haben es doch bis hierher geschafft. Über einem Lagerfeuer braten Fleischspieße. Wir unterhalten uns über das Wetter und über Moskau. Der Kapitän des Bootes schaut mürrisch auf seine Uhr.
Anastasia Khoroshilova
2015
Im Dorf Beshin LugLinks – Im Dorf Stekolnaja Slobodka. Rechts – Maria IwanownaIn Pokrowskoje (Nishnaja Ljubowscha). Historisches Zentrum der OrtschaftDas Örtchen Petrowskoje. Beim Gutshaus von Warwara Petrowna Turgenjewa, TeicheOrtschaft Wjashi-Sawerch, VerwaltungsgebäudeLinks – im Dorf Tschastowa. Rechts – Pelageja Alexejewna Kuljabina, Dorf Guschtschino
Ich kehre in das Dorf Beshin Lug (Beshin-Wiese) zurück. Seit genau einem Jahr war ich nicht mehr hier. Ich möchte noch einmal Maria Iwanowna fotografieren. Sie ist 86 Jahre alt und hat ihr ganzes Leben am gleichen Ort zugebracht. Ihr Haus an der Malenkaja-Straße finde ich recht schnell. Im Hof erwartet mich ihre Tochter. Ich bitte sie um Erlaubnis einzutreten.
Maria Iwanowna spricht während der Aufnahme nicht, sie schaut nur unverwandt ins Objektiv. Meine Arbeit wird von ständigen Kommentaren der Tochter begleitet. Sie ist beunruhigt, dass der Ofen in ihrem Haus schief sei, und das Zimmer nicht mit Ruschniki geschmückt. Sie seien ganz stockig und vergammelt und zu nichts mehr gut. Sie will nicht, dass der Ofen ins Bild gerät.
Maria Iwanowna sagt kein Wort und posiert geduldig, ohne ihre Tochter zu beachten.
Ich bitte sie, sich für die letzte Aufnahme auf die Bank vor dem Hauseingang zu setzen. Wir gehen in den Hof hinaus. Maria Iwanowna geht hinter mir, setzt sich schweigend hin. Wir sprechen nicht miteinander. Für eine Weile sind nur die Klickgeräusche des Kameraverschlusses zu hören. Danach herrscht wieder Stille.
Ich habe heute viel vor, muss noch an viele andere Orte. Ich bedanke mich und packe die Geräte zusammen und verabschiede mich.
Maria Iwanowna nickt mir zu. Dann, auf einmal, winkt sie mich zu sich. Ich gehe zu ihr hin, und jetzt spricht sie das erste Mal mit mir: „Wollen Sie wissen, was hier früher war?“ „Ja, natürlich“, antworte ich höflich und richte mich auf eine Erzählung über die Kolchose ein, die es im Ort früher gab.
Maria Iwanowna hält für einen Augenblick inne, schaut in die Ferne und sagt: „Einst war hier das Meer.“
Dann geht sie ins Haus zurück.
Anastasia Khoroshilova
2016
Inseldorf WoizyLinks – beim Dorf Schelamowo. Lindenallee auf dem verschwundenen Gut Turgenjews. Rechts – Sergej Wasiljewitsch Tolstow, im Dorf TschortowoIm Dorf SpeschnewoSpeschnewo, Dorfplatz, Ruine der Kirche des Heiligen Johannes des TheologenBeim Dorf Tschastowa, Fluss Msta
Fotos und Texte: Anastasia Khoroshilova Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, einführender Text: Martin Krohs
Sei es die europäische Flüchtlingskrise, sei es der Ukraine-Konflikt: Wenn fundamental gegensätzliche Narrative das Gespräch erschweren oder gar unmöglich machen – was ist da die Rolle der Medien? Um Fragen wie diese ging es auf der n-ost Medienkonferenz On the Tightrope. Journalism in a polarized Europe, zu der an diesem Wochenende in Moskau mehr als 100 Teilnehmer zusammenkamen. Wir von dekoder waren als Medienpartner dabei und haben in unserem Workshop Curate, Translate, Contextualize intensiv darüber diskutiert, inwiefern ein Nationalgrenzen überschreitender Journalismus eine Antwort auf die Herausforderungen für einen Dialog sein kann.
Vor allem aber haben wir viele spannende Menschen kennengelernt – darunter nicht wenige, die wir auch schon auf dekoder übersetzt haben: Etwa Irina Prochorowa, die neulich im Meduza-Interview eine neue politische Sprache forderte. In ihrem Diskussionsbeitrag betonte sie, dass totalitäre Ideen derzeit in Ost wie West attraktiv und populär werden, und rief zu einer gemeinsamen Anstrengung auf, um sie zu überwinden: „Russland und Europa“, sagte sie, „sitzen im selben Boot.“
Alexey Kovalev, der Nudelentferner, berichtete über die Anfänge seines Projekts InoSMI.ru, das ausländische Medienartikel ins Russische übersetzt und inzwischen – ohne ihn – Teil der staatlichen Medienagentur Rossija Sewodnja ist. Von Dmitry Okrest konnten wir uns nochmal ausführlich schildern lassen, was Besucher im militärpatriotischen Park Patriot erwartet. Und daheim bei Olga Beshlej (die mit dem riesigen rosa … und der hassgeliebten Studienkameradin aus Lettland) haben wir – ganz nach sowjetischer Tradition – bis spät in die Nacht philosophisch-politische кухонные разговоры, Küchengespräche, geführt.
Die großen Probleme konnten in diesen drei Tagen nicht geklärt werden. Viele der Panel-Diskussionen schienen die Kommunikationsschwierigkeiten eher zu veranschaulichen als zu lösen. Und dennoch ist es gut zu wissen, dass es so viele Menschen gibt, die sich auch in einer derart polarisierten Welt und allen oft ernüchternden Resultaten zum Trotz immer wieder zusammensetzen, um nach einer gemeinsamen Sprache zu suchen – Menschen, denen gerade aufgrund der bestehenden Deutungs- und Meinungsunterschiede an einem tieferen Verständnis der Lage gelegen ist.
„Russland und Europa sitzen im selben Boot.“ (Irina Prochorowa)
Das nehmen wir dankbar mit, um auch weiterhin mit unseren Artikelübersetzungen, Gnosen und Presseschauen einen Beitrag zu leisten dafür, dass Ost und West füreinander lesbar werden. Mehr und mehr bemühen wir uns, dabei neben den Text auch das Bild zu stellen: Mit unseren Infografiken haben wir im vergangenen Monat ein neues Format eingeführt, um Informationen unmittelbar visuell darzustellen.
Die Grafiken zeigen etwa, wie sich Putins Umfragewerte über die letzten Jahre entwickelt haben, wie sich die neu gewählte und in dieser Woche konstituierende Duma zusammensetzt oder welche statistischen Anomalien der Physiker Sergej Schpilkin bei der Dumawahl festgestellt hat. Bei fast allen Darstellungen lässt sich dabei allerlei klicken, auseinander- und zusammenschieben oder auswählen – es war uns wichtig, dass die Grafiken viele interaktive Möglichkeiten bieten, was technisch gesehen mitunter unerwartet kompliziert war. Aber so ist es eben mit der Interaktion: Es ist nicht immer einfach, sie in Gang zu bringen. Doch wenn sie einmal funktioniert, dann lohnt sie sich.
Es grüßen aus Moskau
Social-Media-Redakteur Daniel Marcus und Gnosen-Redakteur Leonid Klimov
Was vom Fortschritt übrig bleibt: Danila Tkachenko fotografiert Relikte technischer Utopien im postsowjetischen Raum. Viele der Objekte befinden sich in Restricted Areas, ehemaligen Sperrzonen, die früher nur einem sehr engen Kreis von Mitarbeitern zugänglich waren. Einsam stehen die technischen Gebilde auf Tkachenkos Fotografien da, außerhalb aller Zivilisation, die Farbe ist bis auf ein Minimum zurückgenommen, die Zeit scheint in Schnee und Eis zum Stillstand gekommen zu sein.
Danila Tkachenko (geboren 1989 in Moskau und Absolvent der dortigen Rodchenko School of Photography and Multimedia) begreift sich als Visual Artist, der mit den Mitteln der Dokumentarfotografie arbeitet. Zu seiner Serie Restricted Areas sagt er: „Ich suche auf meinen Reisen Orte, die einen großen Stellenwert für den technischen Fortschritt hatten und die nun verlassen sind. Diese Orte haben ihre Bedeutung verloren zusammen mit der utopischen, nun obsolet gewordenen Utopie: Die perfekte technokratische Zukunft, die nie eingetreten ist.“
Tkachenko ist einer der wichtigsten Vertreter der jungen russischen Fotokunst. Für seine Serie Escape, die modernen Einsiedlern in Russland gewidmet ist, wurde er 2014 mit einem ersten Platz beim World Press Photo Award ausgezeichnet. Auch Restricted Areas (entstanden von 2013 bis 2015) wurde vielfach prämiert, das zugehörige Buch in fünf Sprachen übersetzt. Derzeit wird die Arbeit im Rahmen des Europäischen Monats der Fotografie in der traditionsreichen OstberlinerFotogalerie Friedrichshaingezeigt, ergänzt durch Archivmaterial zu den abgebildeten Objekten. Die Ausstellung läuft bis zum 28. Oktober.
Landekapseln für Rückkehr der Astronauten und Forschungsausrüstung zur Erde – Kasachstan, Gebiet Qysylorda, 2013Verlassenes Observatorium – Kasachstan, Gebiet Almaty, 2015
„Tschaika“ – Antenne für Troposphärenfunk – Russland, Autonomer Kreis der Jamal-Nenzen, 2014
Berijew WWA–14, Amphibien-Flugzeug mit Senkrechtstart-Möglichkeit (VTOL) – Russland, Monino bei Moskau, 2013
Förderpumpen auf einem erschöpften Ölfeld – Russland, Republik Baschkortostan, 2014
Sarkophag über einem 4 km tiefen Bohrloch, seinerzeit eine der tiefsten wissenschaftlichen Bohrungen weltweit – Russland, Region Murmansk, 2013
Test auf Wasserkontaminierung in einem See bei Osjorsk (früher Tscheljabinsk-40). Im Jahr 1957 kam es hier zum ersten Kernkraftunfall; er wurde etwa 30 Jahre lang geheimgehalten. Die Stadt ist umgeben von Seen, die bis heute radioaktiv kontaminiert sind
Geborgenes Wrack des Passagierschiffs „Bulgaria“, bei dessen Untergang 122 Menschen ertrunken sind – Republik Tatarstan, 2014
Schutzschirm gegen die biologischen Einflüsse von Radarstrahlung – Kasachstan, Qaraghandy Gebiet, 2015
Anlage zur Kohleverarbeitung. Russland – Republik Komi, 2014
Busludscha-Denkmal zu Ehren der sozialistischen Bewegung Bulgariens – Bulgarien, Chadschi Dimitar, 2015
Fotos: Danila Tkachenko Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, Text: Martin Krohs Veröffentlicht am 01.10.2016