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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Debattenschau № 81: Tumult in Washington

    Debattenschau № 81: Tumult in Washington

    Die Reaktionen auf die Eskalation im Kapitol sind in Westeuropa nahezu einhellig: Allenthalben ist hier die Feststellung „Angriff auf Demokratie“ zu vernehmen. Viele wähnen sich in einem schlechten Film, wenn sie die Bilder der von Trump angefeuerten Menge sehen, die das US-Parlament stürmt und die Abgeordneten in die Flucht treibt. 

    In Russland sind die Reaktionen anders: Das Land befindet sich kollektiv in den traditionell langen Neujahrsferien, heute feiern zahlreiche orthodoxe Kirchen außerdem Weihnachten. Während der Feierlichkeiten dringen nur wenige Kommentare zu den Unruhen im Kapitol an die Öffentlichkeit. Für Kommentatoren in staatsnahen Medien scheinen sie aber ein gefundenes Fressen zu sein. dekoder bringt Ausschnitte aus der Debatte in russischen Medien. 

    Rosbalt: Wie in Kirgistan?

    Bei den Bildern aus dem Kapitol fühlen sich viele Kommentatoren in Russland an Ereignisse aus Nachbarländern erinnert – hier Jewgeni Jewdokimow auf dem unabhängigen Nachrichtenportal Rosbalt

    [bilingbox]Der Ablauf der Ereignisse erinnert an das klassische Szenario einer Farbrevolution in einem Dritte-Welt-Land. Aggressive Anhänger des unterlegenen Kandidaten sind unzufrieden mit dem Wahlausgang und ziehen zum Sturm auf das Parlament – etwas sehr Ähnliches ist Anfang Oktober in Kirgistan passiert.

    Doch nun geht es um eine führende Weltmacht in militärisch-politischer wie auch wirtschaftlicher Hinsicht.~~~Такой ход событий напоминает стандартный сценарий «цветной революции» в странах третьего мира. Агрессивные сторонники проигравшего кандидата, недовольные исходом выборов, идут на штурм парламента — что-то очень похожее в начале октября происходило в Киргизии.

    Однако на этот раз речь идет о ведущей державе мира, как в военно-политической, так и в экономической сферах.[/bilingbox]

    erschienen am 07.01.2021, Original

    RIA Nowosti: Wer Wind sät …

    Farbrevolutionen sind nach Kreml-Lesart meist aus dem Ausland – allen voran von den USA – gesteuert. Nach Ansicht von Leonid Sluzki, Vorsitzender des Duma-Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, rächt sich das nun.

    [bilingbox]Der Bumerang der Farbrevolutionen fliegt offensichtlich zurück in die USA. Das alles droht zu einer Jahrhundertkrise des amerikanischen Regierungssystems zu werden.~~~Бумеранг „цветных революций“, как мы видим, возвращается в США. Все это грозит обернуться кризисом американской системы власти в новом столетии.[/bilingbox]

    erschienen am 07.01.2021, Original

    Rossiskaja Gaseta: Kekse für Krawallmacher

    In der offiziellen Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta, kommentiert Konstantin Kossatschow, Vorsitzender des auswärtigen Ausschusses im russischen Föderationsrat, und zieht einen Vergleich zum Maidan in der Ukraine.

    [bilingbox]Das Fest der Demokratie ist vorbei.

    O weh, das ist wirklich ein Tiefpunkt, und das sage ich ohne Schadenfreude. Amerika gibt nicht mehr den Kurs vor – und hat mithin auch jegliches Recht dazu verloren, den Kurs vorzugeben oder ihn gar anderen aufzuzwingen.

    Zu guter Letzt kann ich mir eine Frage an Frau Nuland nicht verkneifen, die nun wieder ins Außenministerium einzieht, und ihre damaligen Kuratoren des Maidan-Projekts, die jetzt wieder an die Macht kommen. Was würden sie Leuten sagen, die Kekse verteilen an die Krawallmacher auf den Stufen des nationalen Parlaments? „Das Volk hat immer Recht“? „Es lebe die Demokratie“? „Weg mit den Usurpatoren“? Tja …~~~Праздник демократии закончился.

    Это, увы, на самом деле дно, говорю это без тени злорадства. Америка более не прокладывает курс, а следовательно – утратила все права его задавать. И тем более навязывать другим.

    А напоследок, не удержусь – вопрос госпоже Нуланд, возвращающейся в Госдеп США, и ее тогдашним кураторам майданного проекта, возвращающимся в президентскую власть. Что бы они сказали сейчас тем, кто собрался бы раздавать печеньки толпам бузотеров на подступах к национальному парламенту? „Народ всегда прав“? „Да здравствует демократия“? „Долой узурпаторов?“ Ну-ну.[/bilingbox]

    erschienen am 07.01.2021, Original

    Facebook/Sergej Medwedew: Geschenk für die Propaganda

    Der Politologe Sergej Medwedew zeigt sich auf seiner Facebook-Seite betroffen – und sieht in den Ereignissen ein Geschenk für die Kreml-Medien.

    [bilingbox]Keep America Great? Diese Präsidentschaft konnte nicht einfach so enden, mit einer friedlichen Regierungsübergabe. Das, was als böse Clownerie begann, endet mit dem Versuch eines Umsturzes – eigentlich müssten Trump, der den Mob zum Kapitol geschickt hat, Impeachment und Gerichtsverfahren erwarten. Ich kann mir jedoch kaum vorstellen, wie seine 70 Millionen Wähler damit zurechtkommen werden, die durch Propaganda, Soziale Medien und Verschwörungstheorien angeheizt sind – das alles in einem ausgeprägten Föderalismus und mit zig Millionen Waffen, die im Umlauf sind. Für den 20. Januar ist schon ein Marsch auf Washington angekündigt – der Tag der Vereidigung des neuen Präsidenten wird ein wahrer Test für die Regierung. Voller Schmerz schaue ich auf Amerika am Rande eines Bürgerkriegs. Und die Kreml-Propaganda frohlockt – was für ein schönes Weihnachtsgeschenk. Hat jemand gedacht, das alles würde mit dem Jahr 2020 enden? Herzlich willkommen im Jahr 2021! ~~~Keep America Great? Это президентство не могло закончиться просто так, мирной передачей власти. То, что началось, как злая клоунада, заканчивается попыткой государственного переворота — по-хорошему, Трампа, пославшего толпу на Капитолий, должен ждать импичмент и суд. Но мне сложно представить, как с этим смирятся 70 миллионов его избирателей, воспаленных пропагандой, соцсетями, теориями заговора — при наличии сильного федерализма и десятков миллионов единиц оружия. Уже объявлен марш на Вашингтон 20 января — и реальном тестом для власти может стать день инаугурации. С болью смотрю на Америку на грани гражданской войны. А кремлевская пропаганда ликует — такой подарок на рождество.
    Кто-то думал, что все это закончится в 2020 году? Добро пожаловать в 2021й.[/bilingbox]

    erschienen am 07.01.2021, Original

    Twitter/Margarita Simonjan: Frohe Weihnachten!

    Ganz nüchtern klingt auf den ersten Blick der Kommentar von Margarita Simonjan. Doch in dem Tweet der Chefredakteurin von Russia Today – ihre erste Reaktion zum Thema überhaupt – erkennen andere Nutzer auch Spott und Hohn.

    [bilingbox]Ich möchte die Gelegenheit nutzen und den Bürgern der USA zum orthodoxen Weihnachtsfest gratulieren.~~~Пользуясь случаем, поздравляю граждан США с православным Рождеством.[/bilingbox]

    erschienen am 07.01.2021, Original

    Facebook/Dimitri Trawin: Bloß eine Clownerie

    Dimitri Trawin warnt vor einer Überbewertung der Ereignisse: Das was in den USA passiert, ist halb so wild, glaubt der Wirtschaftswissenschaftler und Journalist – und vergleicht den Fall mit Belarus.

    [bilingbox]Stellen wir uns vor, dass die gestrigen Ereignisse nicht in Washington, sondern in der Hauptstadt irgendeiner Bananenrepublik stattgefunden haben. Ein Typ mit Hörnern bricht in das örtliche Kapitol ein, während die Polizei Siesta hält. Ein anderer Typ klettert die Wand hoch, entweder mit Anlauf oder aus Schreck. Wie würden sie das bewerten? Wahrscheinlich als eine alberne Clownerie, die man belächeln kann, aber nicht mehr. […]

    In jedem Land gibt es Freaks mit einem Hang zum Schockieren und Provozieren. […] Und nur selten kann ein Clown ernsthafte Veränderungen herbeiführen, wie es in Italien mit Beppe Grillo der Fall war.

    Der Unterschied zwischen Aktionen einer Gruppe von Freaks und einer ernsthaften demokratischen Bewegung zeigt sich deutlich an den jüngsten Ereignissen in Belarus: Die Belarussen haben zwar verloren, aber […] der starke friedliche Protest in verschiedenen Städten dieses kleinen Landes hat gezeigt, dass ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft eine andere politische Ordnung will. In Amerika gibt es keine Spur von so etwas: Was auch immer für Krawallmacher auf den Straßen oder innerhalb der Mauern des Kapitols auftauchen, die Gesellschaft als Ganzes ist mit dem demokratischen System, in dem man Trump gegen Biden oder Republikaner gegen Demokraten austauschen kann, durchaus zufrieden.~~~Представим себе, что вчерашние события стряслись не в Вашингтоне, а в столице какой-нибудь банановой республики. Мужик с рогами влез в местный Капитолий, пока полиция была на сиесте. Другой мужик забрался на стенку: то ли с разбега, то ли с перепуга. Как бы мы к этому отнеслись? Наверное, как к дурацкой клоунаде, которой можно уделить для смеха немного внимания, но не более того. […]
    В любой стране есть маргиналы, склонные к эпатажу. […] И лишь изредка клоун может спровоцировать серьезные перемены, как это было в Италии с Беппе Грилло.
    Различие между акцией кучки маргиналов и серьезным демократическим движением хорошо видно по недавним событиям в Беларуси. Белорусы проиграли, но […] мощный мирный протест в разных городах этой маленькой страны показал, что значительная часть общества хочет иного политического режима. В Америке ничего подобного нет. Какие бы погромщики не появлялись на улицах или в стенах Капитолия, общество в целом вполне удовлетворено демократической системой, при которой можно свободно менять Трампа на Байдена или республиканцев в целом на демократов.[/bilingbox]

    erschienen am 07.01.2021, Original

    dekoder-Redaktion

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  • Die Vielheit – ein Editorial zum 3. Oktober

    Die Vielheit – ein Editorial zum 3. Oktober

     „Liebes Tagebuch, übrigens ist gerade irgendwas mit der Wiedervereinigung mit der Ex-DDR. Was genau versteh ich nicht ganz, geht mir zu schnell. Ciao Bussi“
    Das schrieb ich am 3.10.1990 als 13-Jährige teenie-cool ins Tagebuch. Dennoch, die Ereignisse von 1989 bis 1991 waren gefühlstechnisch eine zumindest bei mir ziemlich nachhaltige Mischung aus Exotik, Euphorie und Verheißung, die mich in gewisser Weise 30 Jahre später zu dekoder katapultieren sollte. 

    In der dekoder-Textlandschaft zum Jahrestag der Deutschen Einheit geben wir den Russlanddeutschen einen besonderen Platz. Weil bis heute rund 2,4 Millionen Russlanddeutsche nach Deutschland kamen, der größte Teil seit den 1990er Jahren. Sie haben sich mit-vereinigt in das, was Deutschland heute ist und ausmacht. Und weil man an dieser extrem vielseitigen Gruppe viel übers Deutschsein lernen kann. Zum Beispiel:

    Warum man Deutscher sein kann, aber irgendwie auch Russe oder zumindest ein Kind der Sowjetunion
    Warum man Deutscher sein kann, der in Russland lebt und kein Deutsch spricht
    Warum man Deutscher sein kann und gleichzeitig Migrant, der nach Deutschland kommt

    Zu 30 Jahren Deutsche Einheit dekonstruiert unser Dossier Russlanddeutsches Diarama in zunächst sechs unterschiedlichen Beiträgen essentialistische Konzepte vom (Russland-)Deutschsein. Auf Deutsch und auf Russisch. Gestaltet haben wir das Dossier zusammen mit dem IKGN und Studierenden eines Lehrprojekts der Universität Hamburg, gefördert wurde es vom BKM.


    Ach, du Deutsche Einheit, Zweiheit, Dreiheit, du Europäische Vielheit, ick liebe dir.
    So viel Pathos darf heute doch mal sein, oder?
    Ciao Bussi
    Eure Tamina und die anderen dekoderщiki

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    Editorial: Unser erstes jubilej – wir sind jetzt 5!

    Editorial: Was hat der Hieronymus-Tag in diesem Jahr mit Belarus zu tun?

    Hier ist er – der russische dekoder!

    Editorial: Das Tool

    Editorial: dekoder #1 – ein Begleiter für komplizierte Zeiten

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  • Editorial: Was hat der Hieronymus-Tag in diesem Jahr mit Belarus zu tun?

    Editorial: Was hat der Hieronymus-Tag in diesem Jahr mit Belarus zu tun?

    oder: Ode an die Übersetzerinnen und Übersetzer über das, was in ihnen steckt, am Beispiel Belarus

    Was nicht sehr bekannt ist: Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja ist Übersetzerin. Sie hat Englisch und Deutsch studiert und anschließend unter anderem für die in Irland ansässige Organisation Chernobyl Life Line übersetzt. 

    Ihr Interview mit RBC, das dekoder übersetzt hat, atmet den Geist, der im Übersetzen steckt: Sie steht im Dienst der belarussischen Menschen, wie eine Übersetzerin im Dienst eines Textes steht. Vielleicht sind diese Sätze ein bisschen zu groß. Das darf ruhig sein, denn das kommt in Bezug auf Übersetzerinnen selten vor. Und heute ist der Internationale ÜbersetzerInnentag, an dem wir das Übersetzen und die, die es tun, feiern. 

    Dieses Im-Dienst-der-Menschen-Stehen und der Wille, die Menschen zu fragen und das Erfragte zu beherzigen, die bei Tichanowskaja durchklingen (etwa, wenn sie sagt, dass sie diese und jene Frage nicht beantworten kann, denn bei solchen Fragen müsse das belarussische Volk mitentscheiden) – das ist kein Sich-Herauswinden oder arrogantes Drüberstehen. Es ist die Einsicht, das Bewusstsein: dass man fragen muss, dass man kommunizieren muss, bevor man Ziele festlegt, wenn man stellvertretend für jemand anderen spricht. 
    Und es ist die demütige Einsicht, dass man nicht alles wissen kann, was man für seine Tätigkeit oder für die Übersetzung eines Textes braucht. („Wir begrüßen alle Vorschläge, die auf die Entwicklung unseres Landes abzielen. Die … Formen der Unterstützung sollen Experten vereinbaren, und ich weiß, dass sie schon in die Richtung arbeiten.“) Man weiß, wo man findet, was man sucht oder wen man fragt, mit wem man sich berät. Diese Haltung ist keine Entscheidungsschwäche: Denn jeder übersetzte Text steckt voller Entscheidungen, von manchmal schmerzlichen Kompromissen bis hin zu brillanten Würfen. Sonst gäbe es am Ende keinen Text.1

    Diese Fähigkeiten, die ich von vielen Kolleginnen kenne und die ich an ihnen schätze, bringt die derzeit im Zentrum der Weltaufmerksamkeit stehende Swetlana Tichanowskaja mit, zumindest lese ich es aus dem Interview mit ihr heraus. 

    Und da fange ich an, mich ein wenig zu ärgern, dass immer, auch von ihr selbst, die Rede ist von „Hausfrau“ oder der „Stay-at-Home Mom“, die nun zum „Revolution Leader“ wird … Natürlich ist das marketingtechnisch, beziehungsweise genderklischeemäßig ein echter Reißer.2 Viele Übersetzerinnen mit Kindern haben ein paar Jahre lang weniger oder nicht gearbeitet. Die Gründe dafür sind divers, manche schön, manche ärgerlich. In Belarus funktioniert das dann alles noch mal ganz anders, doch das wäre ein Editorial in einem anderen Ressort, und der Feiertag wäre nicht der 30. September, sondern der 8. März.

    S prasdnikom dorogije kollegy i soratniki!
    Herzlichen Glückwunsch zu unserem Tag, liebe KollegInnen und allen, die schätzen, was wir tun!

    eure Rike
    Übersetzungsredakteurin bei dekoder


    1.Nie steht in einer Fußnote: Die Übersetzerin konnte sich nicht entscheiden und hat deswegen einfach selbst etwas gedichtet.
    Obwohl sie in anderen Situationen vielleicht gerne dichtet. Doch da gilt es zu unterscheiden: Wo stehe ich im Dienst eines Textes, eines Volkes und wo kann ich machen, was ich will. 
    2.Als Stay at home Mom ist man übrigens ständig Revolution- oder Counter-Revolution-Leader und Entscheidungsträgerin, oder sehe ich das falsch? 

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    Editorial: Unser erstes jubilej – wir sind jetzt 5!

    Editorial: dekoder an der Uni – oder von der Prawda zum kollaborativen Schreiben

    Hier ist er – der russische dekoder!

    Editorial: Das Tool

    Editorial: dekoder #1 – ein Begleiter für komplizierte Zeiten

    Editorial: Erinnerung

  • Was war da los? #2

    Was war da los? #2

    Am 8. September haben in Minsk erneut zehntausende Menschen friedlich für die Freilassung von politischen Gefangenen demonstriert. Diesmal protestierten vor allem Frauen, einige von ihnen kamen mit Kindern.

    Der von dem Minsker Fotografen Yauhen Yerchak festgehaltene Moment wurde zur Ikone, tausendfach im Netz geteilt: Eine umzingelte Gruppe von Frauen, die sich aneinander an den Händen halten, eine Abwehrkette bilden und unerschrocken auf die Männer blicken. Meduza hat mit dem Fotografen Yauhen Yerchak gesprochen und ihn gefragt, unter welchen Umständen er dieses Foto aufgenommen hat.

    Foto: Yauhen Yerchak / Shutterstock

    Am 8. September gab es in Minsk eine Kundgebung zur Unterstützung all derer, die während der Proteste verhaftet wurden, insbesondere für Maria Kolesnikowa. Diese sollte über die Grenze in die Ukraine gebracht werden, was jedoch nicht gelang – weil sie ihren Pass zerriss, wie der Koordinationsrat sagt.

    Die Menschen hatten sich zunächst auf dem Platz beim Komarowski Markt versammelt – genau dort hatte am 12. August die erste Frauendemonstration stattgefunden. Gleich zu Beginn wurden ungefähr zehn Menschen verhaftet. Dann lief die Menge ins Stadtzentrum, zum Prospekt Nesawisimosti. Sie lief durch enge Straßen, weswegen sich die rund tausend Menschen starke Kolonne zu einer 500 Meter langen, schmalen Kette zog. Plötzlich kamen Busse ohne Nummernschilder mit Silowiki, die anfingen Menschen festzunehmen. Ein paar versuchten wegzurennen, den Rest drängte man am Zaun der ehemaligen Fabrik Horizont zu engstehenden Gruppen zusammen. Eine dieser Gruppen habe ich fotografiert.

    Die meisten Verhaftungen gab es im Zentrum der Kolonne, dort standen überall Soldaten. Besser gesagt, weiß ich nicht, wer das war: Menschen in Militäruniform mit Sturmhauben ohne Erkennungsmarken. Die haben versucht, einzelne Frauen aus der Kette zu reißen. Ich habe diese Aufnahme gemacht und bin dann weitergegangen.

    In den letzten paar Tagen haben sie angefangen, Frauen festzunehmen. Vorher hatten sie sich nur Männer vorgenommen, Frauen mussten sich schon viel Mühe geben, um verhaftet zu werden. Soweit ich weiß, gab es eine Anweisung, Frauen nicht anzurühren. Doch seit gut anderthalb Wochen wächst die Polizeigewalt. Gestern wurde wahllos festgenommen, weil auf diesem Frauenmarsch nur wenige Männer dabei waren.

    Autor: Yauhen Yerchak
    Übersetzung: dekoder-Team, 10.09.2020
    Original: Meduza, 09.09.2020

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  • Editorial: Unser erstes jubilej – wir sind jetzt 5!

    Editorial: Unser erstes jubilej – wir sind jetzt 5!

    Unser erstes jubilej – wir sind jetzt 5!

    Da werden wir 5 und schon fühlt es sich an, als wären wir richtig groß. Unbeschwertes Feiern erinnern wir aus Kindertagen: Heißa, war das eine Freude, als wir 2016 – nach einem Jahr – frei von Erwartungen nach Köln zur Grimme-Gala fuhren und preisgekrönt und durchgefeiert wiederkamen.
     
    Der nächste große Meilenstein war mit 3, als wir selbstständig wurden. Unser Gründer Martin Krohs machte uns zu Gesellschaftern der Dekoder gGmbh und sagte, „Nun macht mal, ihr Teufel“ – ohne uns je Zuneigung, Zuwendung und Kooperation zu entziehen. Das war auch die Geburtsstunde des dekoder-Klubs, der uns seitdem einen stabilen mentalen Hintergrund gibt in der volatilen Online-Welt. Unterdessen haben wir unser erstes Buch produziert, entschlüsseln Deutschland und Europa für russischsprachige Leserinnen und Leser und sind auf dem Weg, die Multimedia-Wissenschaftskommunikationswelt mit Specials aus dem dekoder-Lab zum Leuchten zu bringen.

    Es gibt derzeit nichts zu beschönigen: Die Vergiftung eines Oppositionellen mit heftigem diplomatischem Schock zwischen Deutschland und Russland, das passt nicht zu Geburtstagsfeiern. Und doch zeigen uns die Entwicklungen einmal mehr, wie wichtig das gegenseitige Dekodieren und Entschlüsseln ist. 

    Wir sind jetzt 5 Jahre alt. Das erste Jubiläum! Als uns das bewusst wurde, hatten wir die Idee, uns beschenken zu lassen. Und so haben uns Wegbegleiter, Freunde und Förderer ihre Glückwünsche zugesandt. Und ganz ehrlich: Was kann es Schöneres geben, als sich gemütlich in den Sessel zu setzen und einem Chor der Freude zu lauschen – der Freude über das, was wir seit 5 Jahren tun. Dankbar dafür, in dieser schwierigen Zeit eventuell einen kleinen Beitrag zu leisten, und dankbar, vielen Menschen damit eine Freude zu machen, etwas zu geben, was ihnen wichtig ist. Dieses Gefühl ist ein großes Geschenk. 

    Danke und auf die nächsten 115!
    eure dekoderщiki
     
    Falls ihr uns noch was Kleines oder Großes schenken wollt, wir freuen uns – jede Geburtstagsspende wird von der Konvert-Stiftung verdoppelt!


     

    „Ich kenne kein anderes Portal, wo man sich über den Osten Europas so intensiv, so facettenreich informieren kann. Ich bin ständig auf eurem Portal und ich unterstütze es, soweit es geht!”
    Thomas Wiedling, Wiedling Literary Agency
     

    „Die Wirklichkeit ist nicht immer so, wie sie erscheint. Danke, lieber dekoder, dass du seit 5 Jahren Russland für uns entschlüsselst“
    Ulrich Schmid, Slawist und Buchautor („Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur“)

     

    „Hi dekoder, ich finde toll, dass ich bei komplexen Zusammenhängen oft einfach einen Text von dekoder verlinken kann. Ich danke euch für eure tolle Arbeit.“
    Denis Trubetskoy, Journalist, Kiew
     

    „Cheppi Börsdej“
    n-ost border crossing journalism
     

    „Die Matrix des Putinismus wird von Geheimdienstlern geschrieben. Umso wertvoller die Arbeit des dekoder-Teams, Eindrücke, Hintergründe, Fundstücke für die mühevolle Spurensuche. Danke dafür und herzlichen Glückwunsch.“
    Udo Lielischkies, Journalist und Buchautor („Im Schatten des Kreml“)

     

    „dekoder hat sich zur Aufgabe gemacht, die Themen und Diskurse aus Russland heute nach Deutschland zu bringen. Das Goethe-Institut versucht auf dem Gebiet der Kultur und Sprache etwas sehr Ähnliches. Heute, im Sommer 2020, ist das vielleicht wichtiger denn je!“
    Günther Hasenkamp, Goethe-Institut Sankt Petersburg

     

    https://www.youtube.com/watch?v=R5n_rzTuslQ

    „Fünf Jahre, in denen ihr alle Tage für Aufmerksamkeit gesorgt habt, für Verständnis gesorgt habt, für Genauigkeit und Entschlüsselung …  Eine großartige und hochachtbare Arbeit, die ihr täglich tut, für viele, die ihr habt gewinnen können, sich darüber Gedanken zu machen, wie unsere Länder funktionieren, was dort geschieht, wie sie sich verstehen und verständigen können – man kann es nämlich auch, anders als das berühmte russische Zitat sagt, mit dem Verstand begreifen, durch Lesen und durch Gucken. Wir wünschen euch, dass ihr selbst begeistert bleibt, dass ihr uns weiter so begeistert, dass ihr diese differenzierte Betrachtung für uns weiter schafft.“
    Stefan Melle, Deutsch-Russischer Austausch

     

    „Ich weiß gar nicht, was ich die ganzen Jahre ohne euch gemacht habe – dekoder ist mittlerweile unverzichtbar in der deutschen Medienlandschaft und ein unverzichtbarer Brückenbauer zwischen Russland und Deutschland.“
    Christian Mihr, Reporter ohne Grenzen

     

    https://www.youtube.com/watch?v=JA0_x3gFCOw

    „Ihr schafft auch für jemanden wie mich, der in der alten Gutenberg-Welt zu Hause ist, viele neue Zugänge und Informationen, die mir ganz unentbehrlich sind. Also vorwärts im Kampf, ihr wisst schon!“
    Gerd Koenen, Historiker und Buchautor („Die Farbe Rot“)

     

    „Alle Bücher hinter mir beschäftigen sich mit der alten Sowjetunion und mit Russland. Das war meine Vergangenheit. Heute ist dekoder meine Zukunft, denn dekoder informiert, dekoder orientiert und dekoder hilft zu verstehen, was Russland betrifft.”
    Johannes Grotzky, Journalist und Buchautor („Lenins Albtraum“)

     

    „Happy birthday, dekoder“
    Julia Spiering, Musikerin

     

    https://www.youtube.com/watch?v=3iWhs_TUVyw

    „S prasdnikom. Ich freue mich sehr, dass es euch gibt und dass ich euch kenne. Nicht nur wegen eurer Leidenschaft für Osteuropa, den freien Journalismus und das Dekodieren, sondern weil ihr mir auch die Möglichkeit gebt, dazuzulernen und zu teilen. Und an Wunder zu glauben. Wsego choroschego. Do 120!”
    Irina Bondas, Dolmetscherin und Übersetzerin

     

    „Ihr berichtet ohne rosarote Brille, aber auch nicht schwarzweiß, sondern spendet Durchblick. Die Beschenkten sind wir. Dafür vielen Dank!“
    Henrike Schmidt, Slawistin und dekoder-Gnosistin

     

    Löwenmäulchen Geburtstagsgruß
    Ruth Altenhofer, Übersetzerin

     

    „Ich bin russischer Cellist und wohne in Hamburg. Ich lese euch regelmäßig, ihr seid Teil meines Alltags. Ihr macht eine unglaublich wichtige und tolle Arbeit“
    Alexey Stadler, Cellist

     

    „Eure Arbeit ist eine Bereicherung! Ich habe durch eure Aufsätze und Hintergrundberichte so viel hinzulernen dürfen, dass ich nur sagen kann: Macht weiter so!“
    Dirk Wiese, Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft der Bundesregierung bis August 2020

     

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    Editorials

  • Video #33: „Wir haben eine Reservetruppe für Belarus eingerichtet“

    Video #33: „Wir haben eine Reservetruppe für Belarus eingerichtet“

    Im Interview mit dem russischen Staatssender Rossija 24 am Donnerstag, 27. August 2020, hat Russlands Präsident Wladimir Putin erwähnt, dass Russland „eine Reservetruppe an Sicherheitskräften” für Belarus eingerichtet habe. Dies sei auf Bitten des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenkos geschehen. 
    Seit den Massendemonstrationen gegen die Fälschungen bei der belarussischen Präsidentschaftswahl am 9. August diskutieren Beobachter immer wieder die Frage, wie stark der Kreml in Belarus eingreifen wird – oder nicht. 
    Der russische Blogger und Oppositionelle Maxim Katz interpretiert die aktuelle Äußerung Putins als reine Drohgebärde gegenüber den Tichanowskaja-Anhängern und Gegnern Lukaschenkos: „Dieses Manöver soll einfach dazu dienen, die Demonstranten zu demotivieren. Sie sollen zu dem Entschluss kommen, dass sie eh keine Chance haben – und aufgeben.”

     
    Die Original-Videos finden Sie hier und hier.

    [bilingbox]

    Ich habe [Lukaschenko] gesagt: Russland wird alle seine Verpflichtungen erfüllen.

    Alexander Grigorjewitsch hat mich gebeten eine Reservetruppe der Sicherheitskräfte einzurichten.

    Und das habe ich getan.


    Doch wir haben auch vereinbart, dass sie nur zum Einsatz kommt, falls die Situation außer Kontrolle gerät und wenn extremistische, ich möchte das unterstreichen, Elemente, die sich hinter politischen Losungen verstecken, bestimmte Grenzen überschreiten, anfangen zu plündern, Autos, Häuser und Banken anzünden, Verwaltungsgebäude stürmen und so weiter.

    Aber Alexander Grigorjewitsch und ich sind zu dem Schluss gekommen, dass derzeit keine derartige Notwendigkeit besteht, und ich hoffe, auch in Zukunft nicht, so dass wir deswegen die Reservetruppe nicht zum Einsatz bringen.

    Ich wiederhole noch einmal: Wir gehen davon aus, dass alle aktuellen Probleme in Belarus mit friedlichen Mitteln gelöst werden. Doch wenn es zu Gesetzesverstößen kommt, seitens der staatlichen Organe
    oder derer, die an den Protestaktionen teilnehmen, wenn diese den Rahmen des geltenden Rechts sprengen, so wird das Gesetz entsprechend darauf reagieren.

    Das Gesetz gilt für alle gleichermaßen. Objektiv gesehen, denke ich, dass die Sicherheitsorgane von Belarus trotz allem ziemlich zurückhaltend sind.
    Schauen Sie mal, was da in manchen Ländern alles abläuft, […]
    ~~~

    Я сказал, что Россия исполнит все свои обязательства.

    Александр Григорьевич попросил меня сформировать определённый резерв из сотрудников правоохранительных органов, и я это сделал. Но мы договорились также, что он не будет использован до тех пор, пока ситуация не будет выходить из-под контроля, и когда экстремистские, я хочу это подчеркнуть, элементы, прикрываясь политическими лозунгами не перейдут определённых границ и не приступят просто к разбою: не начнут поджигать машины, дома, банки, пытаться захватывать административные здания и так далее.

    Мы в разговоре с Александром Григорьевичем пришли к выводу о том, что такой необходимости сейчас нет, и надеюсь, её не будет, и поэтому этот резерв мы и не используем.

    Повторяю ещё раз, мы исходим из того, что все сложившиеся проблемы, которые имеют место сегодня в Белоруссии, будут решаться мирным путём, а если где-то есть нарушения со стороны кого бы то ни было: либо со стороны государственных органов власти, правоохранительных органов, либо со стороны тех, кто участвует в акциях протеста, – если они выходят за рамки действующего закона, то и закон будет соответствующим образом на это реагировать. Ко всем закон должен относиться одинаково. Но если быть объективным, то я думаю, что правоохранительные органы Белоруссии ведут себя достаточно сдержанно, несмотря ни на что. Посмотрите, что в некоторых странах происходит.
     

    [/bilingbox]

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  • Belarus 2020 – Russland 2024?

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    Belarus hat gewählt. Es waren keine OSZE-Wahlbeobachter zugelassen, wie jedes Mal hat der autoritär regierende Amtsinhaber Alexander Lukaschenko, seit 26 Jahren an der Macht, laut offiziellen Zahlen die meisten Stimmen geholt, nämlich 80,23 Prozent. Und doch scheint diese Wahl noch längst nicht entschieden: „Lukaschenko mag zum Wahlsieger erklärt werden“, schreibt die belarussische Journalistin Hanna Liubakova, „aber dieser Sieg wird nicht lange dauern.“

    Schon im Vorfeld der Wahl hatte sich erstmals seit vielen Jahren landesweiter Protest geregt: Swetlana Tichanowskaja, Ehefrau des inhaftierten Präsidenschaftskandidaten Sergej Tichanowski, hatte die Kandidatur ihres Mannes übernommen. Tichanowskajas Wahlversprechen: Die Freilassung der politischen Gefangenen und faire Neuwahlen. Zu ihren Ansprachen in der Hauptstadt Minsk und in kleineren Städten des Landes strömten Zehntausende zusammen – ein Novum in der Geschichte von Belarus. 

    Am Wahltag machten in Sozialen Netzwerken Videos von Wahlfälschungen die Runde. Erste offizielle Zahlen sahen Lukaschenko deutlich vorne, es tauchten jedoch zahlreiche Fotos von Auszählprotokollen „ehrlicher“ Wahllokale auf, wonach Tichanowskaja deutlich mehr Stimmen als der Amtsinhaber bekommen hat. Noch in der Nacht kam es zu heftigen Ausschreitungen und Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und der Polizei, in Minsk wurden teils sogar Barrikaden errichtet, die Polizei setzte Gummigeschosse und Blendgranaten ein. Es gab Dutzende Schwerverletzte, nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Viasna sogar einen Toten. Laut offiziellen Zahlen wurden 3000 Menschen festgenommen, darunter auch drei Journalisten des unabhängigen russischen TV-Senders Doshd. Unterdessen hat sich Swetlana Tichanowskaja zur Wahlsiegerin erklärt und bot Lukaschenko Gespräche an.

    In Russland kommentieren zahlreiche Oppositionelle und Liberale das Geschehen im Nachbarland – und diskutieren vor allem, inwiefern es eine Blaupause für die Entwicklung in Russland sein könnte: Nimmt Belarus derzeit die Ereignisse im Russland von 2024 vorweg? Wir bringen Ausschnitte aus den Analysen und Kommentaren, die gleich in der Nacht unmittelbar nach der Wahl in Sozialen Medien gepostet wurden.

    Sergej Parchomenko: Schlüssel zum Erfolg liegt in den Regionen

    Journalist Sergej Parchomenko meint, dass den Regionen derzeit eine besondere Rolle zukomme:

    [bilingbox]Beim belarussischen Protest scheint der Schlüssel zum Erfolg jetzt nicht in Minsk zu liegen, sondern gerade in den kleinen Provinzstädten. Von dort wurden Miliz und OMON abgezogen, um Minsk abzusichern.
    Dort, in den kleinen Städten, wo alles übersichtlich ist und jeder jeden kennt, können die Menschen Druck ausüben auf die örtlichen Wahlkommissionen und Verwaltungen, sie können die Veröffentlichung der echten Wahlergebnisse fordern.
    Es müssten nur zwei, drei Städte auftauchen (ja, ganze Städte und nicht einzelne Wahlbezirke), in denen Tichanowskaja gewonnen hat und wo dieses Ergebnis offiziell festgehalten wird – und sofort würde eine Welle von Forderungen folgen, das echte Ergebnis im ganzen Land anzuerkennen. Das wird sich kaum unterdrücken lassen: Für die Verwaltungsleute und Offiziere ist es in der Provinz deutlich schwerer, das Plattmachen der eigenen Nachbarn zu befehligen, von Menschen, die man oft persönlich und beim Namen kennt.~~~Складывается такое впечатление, что ключ от успеха белорусского протеста сейчас оказался не в Минске, а наоборот, в небольших провинциальных городах. Оттуда забрали милицию и ОМОН […] и бросили на укрепление Минска.
    В такой ситуации люди там – в небольших городах, где все как на ладони, все друг друга знают, – могут надавить на местные избиркомы и на местные администрации и потребовать публикации реальных итогов голосования. 
    Если обнаружится хотя бы два-три города – именно не отдельных участка, а города, – где выиграла Тихановская, и результат этой победы будет зафиксирован официально, поднимется волна требований признать реальный результат по всей стране. Задавить его будет нечем и некому: администрациям и офицерам на местах гораздо труднее отдавать приказы жестко расправляться со своими соседями, с людьми, которых они часто знают по именам и в лицо.
    […] 
    Таким образом, судьба этой "льняной революции" в руках не столичной молодежи, а спокойных, простых, рассудительных, терпеливых людей в Лиде, Молодечно, Полоцке, Орше, Могилеве, Жлобине, Мозыре, Пинске и Гродно. 
    Пожелаем им успеха и будем надеяться на их храбрость и их терпение.[/bilingbox]

    erschienen am 09.08.2020, Original



    Tian'anmen von Brest

    Andrej Loschak: Die Angst besiegt

    Was unterscheidet die Demonstranten in Belarus von denen in Moskau im vergangenen Sommer? Journalist Andrej Loschak macht vor allem einen wesentlichen Unterschied aus, den die belarussischen den russischen Demonstranten (noch) voraus hätten:

    [bilingbox]Wissen Sie, was einem sofort auffällt in den zahlreichen Videos aus Belarus, die diese Nacht alle gucken? Die Menschen haben keine Angst mehr. Wenn der OMON aus jemandem Kleinholz machen will, dann laufen die Demonstranten zusammen und verteidigen ihre Leute. Letzten Sommer in Moskau hat die Bestie in Uniform ebenfalls Demonstranten zusammengeschlagen, aber niemand kam ihnen zu Hilfe. Einer warf einen Abfallkübel in Richtung der Bestie, und bekam dreieinhalb Jahre Gefängnis. Ein Zweiter hat gar nichts geworfen, und bekam dennoch eine Haftstrafe, damit die anderen gar nicht erst auf den Gedanken kommen irgendetwas zu tun. Sie bekamen ihre Strafen, weil alle dort nur rumstanden und zusahen. Ich stand auch rum und schaute zu.
    Vielleicht entwickelt sich dieser Mut, wenn du weißt, dass hinter dir nicht nur ein Häuflein Politaktivisten aus der Hauptstadt steht, sondern das ganze Land. Ich denke, genau so empfinden das die Belarussen, die heute auf die Straße gehen. Letzten Endes werden das auch die Jungs auf der anderen Seite der Barrikade spüren – und das war’s für den Schnauzbärtigen. Aber alles gut, wir haben noch vier Jahre, um so zu werden wie die Belarussen. Ich bin sicher, die Partei und die Regierung werden uns dabei helfen. Und bei den Belarussen ist wirklich alles möglich, denn sie haben die Angst besiegt.~~~Знаете, что бросается в глаза в многочисленных видео из Беларуси, которые все смотрят этой ночью? У людей пропал страх. Если ОМОН кого-то начинает пиздить, демонстранты бросаются скопом и отбивают своих. Прошлым летом в Москве зверье в униформе тоже избивало демонстрантов, но никто им на помощь не приходил. Один бросил в сторону зверья мусорную урну, не попал и получил 3,5 года. А кто-то ничего не бросал, но все равно получил – чтоб другим неповадно было. Они и получили, потому что все вокруг стояли и смотрели. Я тоже стоял и смотрел. Возможно, эта смелость приходит, когда ты знаешь, что за тобой – не кучка столичных политактивистов, а вся страна. Думаю, именно так ощущают себя беларусы, вышедшие сегодня на улицы. В конце концов, это почувствуют и парни по другую сторону баррикад – и тогда все, конец усатому. Но ничего, у нас еще есть 4 года, чтобы дойти до состояния беларусов. Уверен, партия и правительство помогут нам в этом. А у беларусов и вправду все может получиться, потому что они победили страх.[/bilingbox]

    erschienen am 10.08.2020, Original

    Olga Tschurakowa: Viele, unterschiedliche Leute vereint

    Einen ähnlichen Zusammenhalt vieler, sehr unterschiedlicher Menschen empfindet auch Journalistin Olga Tschurakowa von Projekt, die in der Nacht in Minsk vor Ort war und auf Facebook von ihren Eindrücken berichtet:

    [bilingbox]Ich habe NIE erlebt, dass Leute derart solidarisch in ihrer Haltung gegenüber dem Staat waren. Das sieht man auch gut daran, wer alles auf die Straße geht: Sogar in den Randbezirken von Minsk gehen die Leute auf die Straße, spontan organisiert, per Mund-zu-Mund-Propaganda statt Internet [das teilweise blockiert wurde – dek], ganze Familien, Mamas, Papas, alte Leute. […]
    Alle, die wir auf dem Heimweg getroffen haben, versicherten sich gegenseitig und uns, dass sie [wieder] auf die Straße gehen, anders ginge es nicht. Das waren völlig unterschiedliche Leute, die sich für mich in keiner sozialen Gruppen vereinen ließen. Viele haben den Montag vorab freigenommen, viele Cafés werden deswegen geschlossen sein. Das Internet funktioniert heute morgen überraschenderweise. Mir scheint, jetzt wachen alle auf und sind wahnsinnig wütend angesichts der nächtlichen Nachrichten, der Brutalität und Gemeinheit. Und sie werden wieder auf die Straße gehen, ja. ~~~я НИКОДА не видела, чтобы все были настолько солидарны в своём отношении к власти и это очень сильно видно по составу людей на улицах, выходят даже окраины Минска, по интуитивной организации и сарафанному радио вместо интернета. выходят семьями, мамами, папами, пожилые люди 
    […]
    Все, кого мы встречали по дороге домой, говорили друг другу и нам, что сегодня выйдут и иначе нельзя. Это были абсолютно разные люди и ни в какую соц группу они у меня не объединяются. Многие заранее брали на понедельник выходной, многие кафе будут сегодня из-за этого закрыты. Интернет на удивление утром работает, мне кажется, что сейчас все просыпаются и охереневают от ночных новостей, от жестокости и наглости. И снова пойдут на улицы, да. [/bilingbox]

    erschienen am 10.08.2020, Original

    Ekaterina Schulmann: Das belarussische 2020 ist unser 2024

    Es wurden zahlreiche Vorwürfe laut, dass bei der vorzeitigen Stimmabgabe zusätzliche Wahlzettel in die Urnen geworfen wurden. Politologin Ekaterina Schulmann sieht allein in den Zahlen deutliche Anzeichen von Wahlfälschung und fragt außerdem: Was bedeutet die belarussische Wahl für Russland? 

    [bilingbox]Abgesehen von allem anderen kommt auf Belarus nun das Problem zu, dass die Wahlbeteiligung auf über 100 Prozent steigt. Die haben schon bei der vorzeitigen Stimmabgabe eine Wahlbeteiligung von 40 Prozent verzeichnet (die vorzeitige Stimmabgabe ist das wichtigste Instrument der Wahlfälschung). Am eigentlichen Wahltag sind die Menschen aber tatsächlich in Massen an die Wahlurnen geströmt. Übrigens, man hört gar nichts davon, dass eine hohe Wahlbeteiligung die unehrlichen Wahlen ja nur legitimiert. […] Warum ist das aber für uns so wichtig? Weil das belarussische 2020 unser 2024 ist. ~~~Кроме всего прочего, в Беларуси сейчас будет та проблема, что явка начнет превышать 100%. Они сперва на своей досрочке (основной инструмент фальсификаций) 40% набросали, а в собственно день голосования народ взял да и пошел. Кстати, что-то не слышно разговоров, как высокая явка легитимизирует нечестные выборы. […] А нам почему всё это важно: потому что белорусский 2020-ый – это наш 2024-ый.[/bilingbox]

    erschienen am 09.08.2020, Original

    Konstantin Eggert: Vorletztes Kapitel des postsowjetischen Zeitalters

    Der Zerfall der Sowjetunion war einerseits eine einschneidende Zäsur, ist aber andererseits auch ein langanhaltender Prozess, der immer noch andauert – auf diese Formel haben es schon viele Beobachter in Russland gebracht. Wie weit ist es aber nun mit diesem Zerfallsprozess? Der Journalist und politische Analyst Konstantin Eggert kommentiert:

    [bilingbox]In Belarus schreiben sie gerade das vorletzte Kapitel des postsowjetischen Zeitalters. Das letzte wird in Moskau geschrieben werden.~~~В Беларуси прямо сейчас пишут предпоследнюю главу летописи «постсоветского» времени. Последнюю напишут в Москве.[/bilingbox]

    erschienen am 09.08.2020, Original

    Sergej Medwedew: Kartoffelrepublik?

    Manche Russen (gerade auch die liberal-demokratisch eingestellten) belächeln Belarus als eine Art Freakshow. Diese Arroganz ist jedoch blind, schreibt der Politologe Sergej Medwedew:

    [bilingbox]Wenn wir uns jetzt anschauen, was in den Straßen von Minsk und anderen Städten geschieht, sollten wir uns daran erinnern, dass Belarus, das viele hier von oben herab (ich würde sogar sagen kolonialistisch) als Kartoffelrepublik belächelt haben und als Freilichtmuseum der Sowjetzeit –, dass genau dieses Belarus seit zwanzig Jahren Modell steht für Russland. Alle Formen des reifen Autoritarismus sind dort einige Jahre vorher schon aufgetaucht: physische Ausschaltung der Gegner, Vertreibung der westlichen Organisationen, Säuberung der Medien, faktische Verstaatlichung der Wirtschaft durch den herrschenden Clan, Verdrängung von Protesten an die Stadtränder, gepaart mit der Forderung an die Organisatoren, selbst für die Polizei-Begleitung und Auflösung zu zahlen, Umschreiben der Verfassung, Stalins Comeback, totaler Wahlbetrug … außer, dass wir mit der Todesstrafe vorerst in Verzug sind. Und jetzt zeigen uns diese Straßenproteste wahrscheinlich unsere Zukunft – 2024 oder sogar noch früher –, deshalb sind die Ereignisse dieser Nacht und von morgen äußerst wichtig: nicht nur für Belarus, sondern für den gesamten postsowjetischen Raum, für die Schicksalsprognose von Resten des Imperiums.~~~Глядя сейчас на то, что происходит на улицах Минска и других городов, следует помнить, что Беларусь, на которую многие здесь снисходительно (я бы даже сказал колониально) смотрели как на картофельную республику и парк советского периода, […] а — эта самая Беларусь на протяжении двадцати лет была предиктивной моделью происходящего в России. Все формы зрелого авторитаризма появлялись там с опережением на несколько лет: физическое устранение оппонентов, изгнание западных организаций, зачистка СМИ, фактическая национализация экономики правящим кланом, отправка митингов на окраины с требованием организаторам оплачивать их сопровождение и разгон милицией, переписывание конституции, возвращение Сталина, тотальная фальсификация выборов… вот только со смертной казнью мы пока задержались. И вот теперь эти уличные протесты, возможно, показывают нам наше будущее — 2024 или даже ранее — поэтому события этой ночи и завтрашнего дня крайне важны: не только для Беларуси, но для всего постсоветского пространства, для предсказания судьбы остатков Империи.[/bilingbox]

    erschienen am 10.08.2020, Original

    Ilja Jaschin: Lukaschenko steht alleine da

    Der Oppositionpolitiker Ilja Jaschin glaubt, Lukaschenko habe es sich inzwischen mit zu vielen Leuten verscherzt: 

    [bilingbox]Außer den Silowiki hat Lukaschenko keine Verbündeten mehr und kann auch keine mehr haben. Für die westlichen Staatschefs wird er immer ein toxischer Abfall sein, mit dem man nichts zu tun haben sollte. Aber auch für Putin ist er inzwischen ein unberechenbarer Unmensch. Nicht nur wegen der gänzlich auf antirussische Rhetorik gebauten Wahlkampagne. Sondern auch, weil er die Wagner-Kämpfer festgenommen hat. Putin ist nun gezwungen, ihm lange Erklärungen zu schreiben, wie ein Schuljunge, der sich etwas hat zuschulden kommen lassen. Und Lukaschenko verkündet das den Journalisten mit Freude. Die Kreml-Propaganda macht keinen Hehl mehr daraus, dass der belarussische Diktator auf die Nerven geht.
    […]
    Aber so oder so: Der Wandel in Belarus wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Davon bin ich überzeugt.~~~Никаких союзников, кроме силовиков, у Лукашенко больше нет и быть не может. Для западных лидеров он всегда будет токсичным отбросом, с которым нельзя иметь никаких дел. Но и для Путина он теперь непредсказуемый отморозок. Мало того, что Лукашенко построил всю избирательную кампанию на антироссийской риторике, он еще и боевиков из ЧВК «Вагнер» арестовал. Путин теперь вынужден писать ему длинные объяснительные, как провинившийся школьник, а Лукашенко с удовольствием рассказывает об этом журналистам. Пропаганда Кремля уже не скрывает раздражения в адрес белорусского диктатора.
    […]
    Так или иначе, ждать перемен в Беларуси осталось недолго. В этом я уверен.[/bilingbox]

    erschienen am 10.08.2020, Original

    dekoder-Redaktion

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