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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Alexej Nawalny ist tot

    Alexej Nawalny ist tot

    Alexej Nawalny war zweifellos einer der talentiertesten Politiker unserer Zeit. Die Recherchen seines Fonds für Korruptionsbekämpfung haben allen vor Augen geführt, wie Wladimir Putins Umfeld sich bereichert. Noch wichtiger war aber, dass er die Mächtigen der Lächerlichkeit preisgab: Ein Volk, das gelernt hat, Angst zu haben vor dem Staat, lernte von Alexej Nawalny, über dessen Vertreter zu lachen. Das untergrub ihre Macht. „Ich habe keine Angst, und ihr sollt auch keine Angst haben“, war Nawalnys wichtigste Botschaft. Mehrfach haben Putins Geheimdienste versucht, ihn umzubringen. Am 16. Februar 2024 meldete die Strafvollzugsbehörde seinen Tod in einem Straflager hinter dem Polarkreis. 

    Alexej Nawalny verstarb am 16. Februar 2024 im Straflager / Foto © Sergei Fadeichev/ITAR-TASS, imago-images

    Ein politischer Mord 

    Lew Schlosberg, Publizist und Politiker der Partei Jabloko, auf Telegram

    [bilingbox]Beim Tod von Alexej Nawalny handelt es sich um einen geplanten politischen Mord. Es muss wegen eines Anschlags auf das Leben einer öffentlichen Person ermittelt werden, eines Anschlags, der begangen wurde, um seine politische Tätigkeit zu unterbinden oder um sich für eine solche Tätigkeit zu rächen. Gemäß Artikel 277 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation wird das mit einer Freiheitsstrafe von zwölf bis zwanzig Jahren geahndet. Oder mit lebenslanger Haft. Oder mit der Todesstrafe. ~~~Смерть Алексея Навального является спланированным политическим убийством и должна быть расследована как посягательство на жизнь государственного или общественного деятеля, совершенное в целях прекращения его государственной или иной политической деятельности либо из мести за такую деятельность (статья 277 Уголовного кодекса РФ), что наказывается лишением свободы на срок от двенадцати до двадцати лет с ограничением свободы на срок до двух лет, либо пожизненным лишением свободы, либо смертной казнью.  

    большое личное потрясение для граждан России. Мои соболезнования семье, всем родным и друзьям Алексея Навального. Когда в Россию вернется правосудие, убийцы будут установлены и наказаны. [/bilingbox]

    16.02.2024, Original

    Die Hoffnung wurde getötet 

    Ilja Asar, Journalist, Politiker, auf Telegram

    [bilingbox]Nein, diese Mistkerle haben nicht nur Nawalny umgebracht – als ich von seinem Tod las, hatte ich außer Wut und Entsetzen das Gefühl, dass sie in mir jegliche Hoffnung getötet haben darauf, dass in Russland zu meinen Lebzeiten noch irgendetwas Gutes kommen könnte. Als ob in mir noch irgendein irrationaler Glaube gelebt hätte, solange Nawalny noch am Leben war, obwohl er faktisch eine lebenslängliche (putinsche) Haftstrafe absaß. Jetzt ist es vorbei, nur noch Verzweiflung.  ~~~нет, не просто Навального убили эти подонки – я, когда прочитал про его смерть, то почувствовал кроме злобы и ужаса сразу, что убили во мне всякую надежду, что в России еще может быть что-то хорошее впереди, как минимум при моей жизни. получается, пока Навальный был жив, хоть и фактически на пожизненном (путинском) сроке, какая-то вера еще жила иррациональная, а теперь все, только отчаяние [/bilingbox]

    16.02.2024, Original

    Mit allen Mitteln 

    Swetlana Tichanowskaja, belarussische Oppositionsführerin, auf Telegram

    [bilingbox]Dieser Tod ist ein weiterer Beleg dafür, dass für Diktatoren ein Menschenleben keinen Wert hat. Putins Regime entledigt sich seiner Gegner mit allen Mitteln, um die Macht zu erhalten – genau wie Lukaschenkos Regime. In Belarus sind in diesem Moment dutzende von politischen Gefangenen in Isolationshaft – das Leben von Mikolaj Statkewitsch, Mascha Kolesnikowa, meinem Mann Sergej und anderen ist unmittelbar bedroht. Witold Aschurok, Wadzim Chrasko, Ales Puschkin und Mikalaj Klimowitsch sind bereits in der Haft gestorben. Und noch Hunderte Weitere werden unter unmenschlichen Bedingungen und ohne jegliche Hilfe im Gefängnis festgehalten. ~~~Эта смерть – очередное доказательство, что для диктаторов человеческая жизнь не имеет никакой ценности. Режим Путина, как и режим Лукашенко, в стремлении сохранить власть избавляется от оппонентов любыми способами. 

    В Беларуси прямо сейчас десятки политзаключенных находятся в режиме инкоммуникадо – жизни Николая Статкевича, Маши Колесниковой, моего мужа Сергея и других сейчас находятся под прямой угрозой. Витольд Ашурок, Вадим Храсько, Алесь Пушкин, Николай Климович уже умерли в заключении. А еще сотни людей содержатся в нечеловеческих условиях и без всякой помощ.[/bilingbox]

    16.02.2024, Original

    Ein tragischer Held 

    Alexander Friedman, belarussischer Analyst und Historiker, auf Gazeta.by

    [bilingbox]Alexej Nawalny ist ein tragischer Held, der sich für eine Gesellschaft geopfert hat, die ein solches Opfer nicht verdient und es nicht würdigen wird. ~~~Алексей Навальный – трагический герой, пожертвоваший собой ради общества, которое такой жертвы не заслуживало и которое такую жертву не оценит. [/bilingbox]

    16.02.2024, Original

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  • „Plötzlich begreifst du, dass du etwas für alle Zeiten verlassen hast“

    „Plötzlich begreifst du, dass du etwas für alle Zeiten verlassen hast“

    Eine junge Frau steht in einem Treppenhaus, auf Wände und Decken fällt kühlweißes Neonlicht, andere Bereiche liegen im Schatten, wo auch diese Frau steht, die nur schwer zu erkennen ist. Dieses eindrucksvolle Foto ist das Cover des Buches, das enstanden ist aus dem Projekt Connecting einer belarussischen Fotografin, die anonym bleiben möchte. Das Foto steht metaphorisch für die Schwierigkeiten des Ankommens in einem anderen Land, an einem fremden Ort, für das Dazwischensein, in dem Migranten leben, für die Suche nach lichten Orten, die einem helfen anzukommen, sich selbst zu finden in einer neuen Umgebung. 

    Die Fotografin hat sich genau dies zur Aufgabe gemacht: Menschen, die aus vielen anderen Ländern in die polnische Stadt Wrocław gekommen sind, an den Orten zu fotografieren, zu denen sie auf der Suche nach Halt und Orientierung eine Verbindung aufgebaut haben. Es ist auch ein Prozess, den Hunderttausende Belarussen durchmachen, die nach den Ereignissen im Jahr 2020 ihre Heimat verlassen mussten. Wir haben mit der Fotografin gesprochen und zeigen eine Auswahl von Bildern aus ihrem Projekt.

    Wassilissa Swiridowa, Belarus
    „Wrocław hieß mich herzlich willkommen. Der Umzug hierher glich einer großen, fröhlichen Reise, und es fühlte sich ganz natürlich an, hier zu sein. Vielleicht, weil ich Studentin war und alle um mich herum die gleichen Erfahrungen machten. Wir haben die Stadt erkundet und uns in sie und ineinander verliebt.“ / Foto © KK

    dekoder: Wie ist Ihr Projekt entstanden?

    KK: Das Projekt Connecting entstand, als ich aus Belarus nach Polen zog. Ich hatte mich für den Studiengang für bildende Kunst MFA (Master of Fine Arts) an der Akademie für bildende Kunst und Gestaltung in Wrocław beworben und wurde zu meinem Erstaunen angenommen – zusammen mit elf weiteren großartigen Künstlerinnen und Künstlern aus der ganzen Welt. Ich hatte nicht vorgehabt, nach Polen zu ziehen, aber ich konnte mir diese Chance nicht entgehen lassen. Und mein Mann dachte damals schon, dass es für uns immer schwieriger werden würde, in Belarus zu leben und unsere Kinder dort großzuziehen.
    Als ich Ende August 2019 in Wrocław ankam, fühlte ich mich – abgesehen von der Begeisterung über das neue Studium – vollkommen fremd. Wir kannten dort keine Leute, die wir um Unterstützung hätten bitten können. Ich hatte gedacht, ich sei organisiert und verantwortungsbewusst genug, um all die bekannten Probleme rund um die Auswanderung vorherzusehen und damit umzugehen. Aber die Wirklichkeit war dann ganz anders. Ich kam da nicht raus – ich fühlte mich völlig verloren. Um diese Situation psychisch zu bewältigen, traf ich andere Leute an der Akademie und anderen Orten. Ich begann, sie zu fragen und Erfahrungen auszutauschen, die ich bei dem Versuch machte, mich in der neuen, schönen, seltsamen und bis dahin entfernten Stadt Wrocław selbst zu finden.
    Die Kamera diente als Vorwand sich zu treffen und zugleich als Tool, um meine Gedanken und Gefühle zu analysieren.

    Warum haben Sie Belarus schließlich vollends den Rücken gekehrt?

    Ich bin in Minsk geboren und habe mein ganzes Leben dort verbracht. Und ich hatte wie gesagt auch nicht vor, Belarus zu verlassen. Aber im nächsten Jahr dann, 2020, passierte die Sache mit den Präsidentschaftswahlen. In der ersten Nacht der Anti-Regierungs-Proteste hielten meine Töchter die Schüsse für Feuerwerk. Da wurde uns klar, dass es kein Zurück mehr gab. Am nächsten Tag fuhren wir nach Polen, ohne moralisch oder finanziell darauf vorbereitet zu sein.

    Wie war das Ankommen in einem fremden Land für Sie?

    Ich kam also zweimal an, und beide Male waren schwierig. Beim ersten Mal war es dieser typische Migrationsprozess. Du glaubst, du weißt, was du tust und hältst dich für halbwegs vorbereitet. Aber du hast nie darüber nachgedacht, was es eigentlich wirklich heißt, bei Null anzufangen. Ganz einfache Dinge – das Lebensmittelgeschäft, die Apotheke, die Werkstatt, das Verwaltungsbüro, die Schule – musst du dir neu zusammensuchen. Du musst alle Formalitäten auf einmal erledigen, noch dazu in einer Fremdsprache. Mein Studium war auf Englisch, deshalb konnte ich kein Polnisch und hatte auch keine Menschen zum Üben.
    Ich habe einmal gelesen, dass eine Migration so etwas wie ein kleiner freiwilliger Tod ist. Heute kann ich das absolut verstehen. Auch wenn ich damals nicht begriff, warum Leute von Entbehrungen, Sorgen, Depressionen und Psychologen reden.

    Das Fehlen jeglicher Zukunftsvorstellung führt immer wieder zu depressiven Zuständen

    Ich weiß nur noch, dass ich zu dieser Zeit wie besessen Bilder mit einer Polaroid-Kamera aufnahm. Vielleicht war das für mich der einzige Prozess, den ich mehr oder weniger unter Kontrolle hatte und bei dem ich schnell Ergebnisse erzielen konnte. Du drückst auf den Auslöser und hast das Foto. Anders als bei all den anderen Sachen, die sich lange hinzogen und deren Ausgang ungewiss war.
    Die zweite Ankunft war für mich die Rückkehr nach Polen nach den Wahlen von 2020. Diesmal war es wegen des politischen Hintergrunds und der Covid-Einschränkungen einfach nur furchtbar. Plötzlich begreifst du, dass du etwas für alle Zeiten verlassen hast oder es dir vielleicht sogar gestohlen wurde. Das Fehlen jeglicher Zukunftsvorstellung führt immer wieder zu depressiven Zuständen. Wir bekamen mit, was mit unseren Freunden, mit den Menschen in Belarus, geschah, und empfanden Hilflosigkeit, Scham und Frustration.
    Ich brauchte eine Weile, um auf all diese Ereignisse zu reagieren. 2022 begann ich mit dem Projekt My Hut is on the Edge, in dem ich die zeitgenössische Ignoranz gegenüber sozialen und politischen Themen visuell interpretiere. 

    Wie haben Sie die Menschen für Ihr Projekt ausgewählt?

    Die Menschen, die ich für das Projekt Connecting fotografiert habe, waren unterschiedlicher Herkunft. Ich begann mit Leuten aus dem Ausland, die in irgendeiner Beziehung zur Akademie standen, und ihren Bekannten. Wrocław ist eine sehr internationale Stadt. Durch das Zusammentreffen mit meinen Protagonistinnen und Protagonisten wurde die Erfahrung, sich in einer fremden Stadt selbst zu finden, zu einer gemeinsamen, und zugleich lernte ich die Stadt auf diese Weise kennen. Für mich ist auch Wrocław eine Protagonistin dieses Projekts. Es hat eine einzigartig komplexe Geschichte mit zahlreichen Migrationsbiografien, mit denen ich mich später auch in meinem Fotoprojekt Locals beschäftigt habe.

    Die Ausländerinnen und Ausländer, die ich getroffen habe, kamen aus allen Regionen der Welt – zum Beispiel Yukako Manabe aus Japan, Polina Schumkowa aus Russland, Fatima García aus Costa-Rica, Maryam Abid aus Pakistan oder Filippo Gualazzi aus Italien. Die meisten waren zum Studium nach Polen gekommen, aber manche arbeiten auch in internationalen Unternehmen.
    Eines ist interessant: Ich dachte, je weiter das eigene Land entfernt ist, desto weniger spürt man Wrocław. Aber ganz so ist es nicht. So hat etwa Nicolas Crocetti aus Italien gesagt, die großen Unternehmen wie McDonalds und Zara seien das Einzige, was seinen Heimatort und Wrocław verbinde. Ausländer und ein paar offene Menschen aus Polen machen ihm das Leben zwar leichter, aber im Großen und Ganzen fühlt er sich in dieser Stadt wie ein Fremder.

    Was sind das für Orte, zu denen Sie selbst eine Verbindung spüren?

    Ich suche noch immer nach meinem Ort. Oder genauer gesagt, mir ist klar geworden, dass mein Ort zurzeit vielleicht keine geografischen Koordinaten hat. Er ist immer bei mir, und ich nehme ihn überall hin mit. Zumindest kann ich mir so meine Beziehung zu Wrocław erklären. Natürlich bewundere ich seine Architektur und Geschichte. Aber vor kurzem habe ich festgestellt, dass mich viele nostalgische, sentimentale Gefühle überkamen, als ich durch die Plattenbauviertel lief. Der Stil ist dort eher postsowjetisch, aber er ist mir so verständlich und nahe. Vielleicht arbeite ich deshalb jetzt an meiner Serie Betonia.

    Sehr viele Belarussen mussten ihre Heimat verlassen. Kann solch ein Projekt auch Ihnen helfen, Orientierung in einem neuen Leben zu finden?

    Viele sagen, dass Fotografie eine Art Therapie ist. Sie sehen die Arbeit an Fotoprojekten als Heilungsprozess. Ich würde dem zustimmen und zugleich widersprechen. In einer Therapie arbeitet man die Probleme durch und reflektiert sie nicht nur. Bei der Arbeit an einem Fotoprojekt kann es vorkommen, dass man intensiv über den Stoff nachdenkt und zu bestimmten Schlüssen kommt. Aber vielleicht passiert das auch nicht. Wenn man ein Problem fotografisch bearbeitet, wird man es nicht unbedingt los. Deshalb überrascht es mich nicht, dass viele meiner Kolleginnen und Kollegen psychologische Hilfe in Anspruch nehmen mussten.
    Fotografie ist ein großartiger Vorwand, um eine Zeitlang vor seinen Problemen zu fliehen und bringt eine gewisse Freude und Befriedigung. Aber sie hat vielleicht nicht so großartige Heilkräfte.
    Trotzdem finde ich es wichtig, solche fotografischen Praktiken zu unterstützen – für die Künstlerinnen und Künstler, aber auch für das Publikum, damit es erfährt, dass solche Schwierigkeiten, Situationen, Probleme und Gefühle existieren.
    Die Erfahrung der Umsiedlung wird meiner Meinung nach die Belarussen auf alle Fälle verändern. Nicht nur wegen des Traumas, das wir durchleben, sondern auch wegen des neuen Umfelds, der Menschen und Erfahrungen, die uns bereichern.

    Wie reagieren die Menschen auf die Fotos in dem Projekt?

    Ich glaube, mein Projekt ist ein etwas naiver, aber aufrichtiger Versuch, mich mit mir selbst und der Stadt anzufreunden – offen zu sein für neue Erfahrungen, für Menschen und das Leben überhaupt. Ich bin in diesem Projekt eher eine Beobachterin und Fragenstellerin. Die Menschen oder Orte, die ich zeige, stehen für unterschiedliche Ansätze, sodass viele Menschen einen Bezug dazu finden können. Zudem geht es nicht nur um Migranten. Auch wenn man in seiner eigenen Stadt lebt, kann man sich darin fremd fühlen. Die Verbindung zwischen einer Person und einem Ort hat in meiner Arbeit also eine viel breitere Bedeutung. 
     

    Maria Koupidou, Griechenland
    „Wrocław war für mich wie ein Traum. Schöne Orte, schöne Menschen. Alles war einzigartig. Ich vermisse die Stadt jeden Tag. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich hier wie zu Hause fühlen würde.“ / Foto © KK

     

    Links: Nelin Bayraktar, Türkei
    „Von zu Hause weg zu sein ist beides: verlockend und traurig. Zunächst schaue ich nach etwas Neuem, Anderem, Spannendem. Bald werden Dinge, die ich interessant finde, irgendwie mit meinem eigenen Zuhause verbunden. Wie Brücken und Wasser.“ / Foto © KK
    Rechts: Belichteter Film
    Alles hat ein Anfang und ein Ende. Jeder Umzug tötet etwas in dir und lässt etwas Neues wachsen. / Foto © KK

     

    Links: Yula Lee, Italien
    „In unserem Leben gibt es viele Scheidewege. Welchen Weg du auch wählst, du könntest immer etwas verpassen, aber der Nutzen ist dennoch viel größer.“ / Foto © KK
    Rechts: Blick aus dem Renoma
    Ein Einkaufszentrum in Wrocław. In der Vergangenheit die größte und exklusivste Shopping-Mall in der Stadt. / Foto © KK

     

    Inna Wlassowa, Russland
    „Ich mag die Architektur, die Kultur. Außerdem erinnert mich die polnische Sprache an meine Muttersprache.“ / Foto © KK

     

    Links: Dilay Kocogullari, Türkei
    „Mein Herz ist zu Hause, mein Kopf ist hier. Menschen und Verabredungen sind Dinge, die mir helfen zu überleben.“ / Foto © KK
    Rechts: Gebäude „Grüner Tag“ in Wrocław / Foto © KK

     

    Wrocław / Foto © KK

     

    Links: Katarzyna Lukojko, Polen
    „Ich will diese Stadt immer verlassen und komme immer wieder hierher zurück.“ / Foto © KK
    Rechts: Nächtliche Straßen in Wrocław / Foto © KK

     

    Ein Bau-Element der berühmten Haus-Galerie bei Powstanców Śląskich, genannt Titanic. Das 16-stöckige Galeriegebäude ähnelt dem berühmten Schiff, so auch die Absicht des Designers. / Foto © KK

     

    Links: Wrocław / Foto © KK
    Rechts: Regina Vutanyi, Ungarn
    „Zuhause war für mich immer ein schwammiges Konzept. Sobald ich auf banale Dinge stoße, merke ich, dass ich eine Routine entwickelt habe und bereit bin wegzuziehen. Wrocław war für mich immer wie zu Hause. Alles, was ich Tag für Tag sah, wurde für mich zu einem gewohnten Anblick, so wie ein gewohnter Anblick für alle wurde, die hier lebten.“ / Foto © KK

     

    Links: Korridor in einem ehemaligen Industriegebäude
    In Wrocław kommt es häufig vor, dass verfallene, verlassene Gebäude neben brandneuen, frisch gestrichenen Fassaden stehen. / Foto © KK
    Rechts: Maryam Abid, Pakistan
    „Als ich nach Wrocław kam, war alles neu und anders. Ich konnte nicht viel interagieren, aber ich mochte, wie hilfsbereit die Menschen dennoch waren und dass sie sich große Mühe gaben. Das weiß ich bis heute zu schätzen.“ / Foto © KK

     

    Wrocław ist einer der sich am schnellsten entwickelnden Ballungsräume in Polen. Seine attraktive geographische Lage gewährleistet Investoren die Nähe zum deutschen und zum tschechischen Markt, eine gute Infrastruktur und Zugang zu Mitarbeitern. / Foto © KK

     

    Links: Die Odra ist der wichtigste Fluss in Wrocław.
    Die Stadt wird oft „Venedig des Nordens“ genannt. Derzeit gibt es zwischen 118 und 130 Brücken und Fußgängerbrücken. / Foto © KK
    Rechts: Yukako Manabe, Japan
    „Ich war so glücklich, als ich sah, dass es in Wrocław Zierkirschen gibt! Sie lassen mich die Frühlingsstimmung spüren …“  / Foto © KK

     

    Links: der Fluss Odra, Wrocław / Foto © KK
    Rechts: Polina Schumkowa, Russland
    „Jeder Ort, den ich besuche, hinterlässt Spuren in meiner Seele. All diese Spuren machen aus, wer ich bin.“ / Foto © KK

     

    Nicoleta Puiu, Moldau
    „Menschen sind die größten Schätze der Städte. Jede Stadt hat ein menschliches Gesicht. Wrocław hat das beeindruckendste.“ / Foto © KK

     

    Fotos: KK
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Ingo Petz
    Veröffentlicht am: 15.02.2024

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  • Bilder vom Krieg #18

    Bilder vom Krieg #18

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Rafael Yaghobzadeh

    Die Mieter einer Wohnung in Kyjiw haben ihre Fenster mit Klebeband gesichert. Das soll sie im Falle einer Bombardierung vor umherfliegenden Scherben schützen / Foto © Rafael Yaghobzadeh
    Die Mieter einer Wohnung in Kyjiw haben ihre Fenster mit Klebeband gesichert. Das soll sie im Falle einer Bombardierung vor umherfliegenden Scherben schützen / Foto © Rafael Yaghobzadeh

    dekoder: Seit zehn Jahren sind Sie immer wieder als Fotoreporter in der Ukraine unterwegs. Sie haben den Maidan-Aufstand fotografiert und den Beginn des Krieges im Donbas erlebt. Aber das Foto, das Sie für die Serie Bilder vom Krieg ausgewählt haben, ist ein Stillleben. Was ist die Geschichte dahinter?

    Rafael Yaghobzadeh: Ich habe es in der Wohnung eines ukrainischen Freundes in Kyjiw aufgenommen. Er arbeitet in der Filmbranche. Für den Fall, dass er zur Armee eingezogen wird, hat er eine Ausbildung zum Drohnenpiloten begonnen. Ich habe ihn porträtiert, wie er zuhause am Computer übt, Drohnen zu steuern. Als ich das Fenster sah, dachte ich erst, das Klebeband sei bereits wieder entfernt worden. Die Menschen in Kyjiw haben ihre Fenster in den ersten Tagen der Vollinvasion verklebt, damit keine Splitter umherfliegen, wenn es in der Nähe eine Explosion gibt. Inzwischen ist die Front ja schon lange weit entfernt, aber das Klebeband ist immer noch da als eine Spur jener Zeit. 

    Russland beschießt die Hauptstadt immer wieder mit Raketen. Wie geht nach so einer Angriffswelle der Alltag weiter?

    Der Krieg ist ständig präsent, auch wenn es in Kyjiw keine Kämpfe gibt. Einerseits in Form solcher Spuren an den Fenstern. Andererseits weil junge Männer wie mein Bekannter ständig mit dem Bewusstsein leben, dass sie jederzeit eingezogen und an die Front geschickt werden können. 

    Wie hat sich das Land verändert, seit Sie vor zehn Jahren zum ersten Mal nach Kyjiw gekommen sind?

    Alles hat sich verändert: das Land, die Gesellschaft, sogar die Gesichter der Menschen. Das Land wird angegriffen und muss sich verteidigen, aber gleichzeitig macht es eine rasante Modernisierung durch, wirtschaftlich, technologisch, kulturell. Bei meinem letzten Besuch habe ich einige junge Leute kennengelernt, die noch Teenager waren, als 2014 der Krieg im Donbas begann. Denen wurde erst so richtig klar, dass sich ihr Land im Krieg befindet, als Russland die Vollinvasion startete. 

    Nach der gescheiterten Gegenoffensive im Sommer hört man manchmal, dass sich unter den Ukrainern Resignation breit mache. Teilen Sie diesen Eindruck?

    Nein, gar nicht. Vom ersten Kriegstag an haben die Leute immer wieder die Kraft gefunden, wieder aufzustehen und neue Reserven anzuzapfen. Dass das Land in diesem Krieg immer noch so gut funktioniert, ist alles andere als selbstverständlich.

    Haben sich denn auch Ihr Blick und Ihre Art zu arbeiten verändert?

    Ganz bestimmt. Ich nehme heute ganz andere Details wahr, die mir früher vielleicht nicht aufgefallen wären. Ich bin meistens mit drei oder vier Kameras unterwegs und arbeite dann parallel auf drei Ebenen: Zuerst erfülle ich den Auftrag, mit dem mich meine Auftraggeber losgeschickt haben. Seit zwei Jahren fotografiere ich für Le Monde. Dann habe ich noch eine Mittelformatkamera dabei, mit der mache ich Schwarz-Weiß-Bilder, aus dieser Arbeit stammt dieses Foto. Und auch noch eine Polaroidkamera. Ich sammle außerdem Objekte: Karten, Bilder, Archivmaterial für ein Langzeitprojekt. Das hilft mir, einen Schritt zurückzutreten. So ergibt sich ein vielschichtiges Bild, das tiefer geht als die Reportagefotografie, die aktuelle Ereignisse dokumentiert. 

    Sie haben schon als Schüler ihre Bilder an französische Medien verkauft. Trotzdem haben Sie noch ein Geschichtsstudium an der Sorbonne abgeschlossen. Wirkt sich dieser akademische Hintergrund auch auf Ihre Fotografie aus?

    Ich denke schon. Ich sichte gerade meine Bilder aus Butscha. Ich war dort zum ersten Mal am 2. März 2022, bevor die Kleinstadt von den russischen Angreifern eingenommen wurde. Nachdem die ukrainische Armee Butscha befreien konnte, bin ich wieder dorthin gefahren. Seitdem besuche ich den Ort regelmäßig, um einen Eindruck von den Veränderungen zu bekommen, die dort vor sich gehen. Ich möchte nicht nur einzelne Ereignisse fotografieren und dann weiterziehen. Mich interessieren die langfristigen Entwicklungen.

    Fotografie: Rafael Yaghobzadeh
    Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 13.02.2024

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  • Bilder vom Krieg #16

    Bilder vom Krieg #16

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Yana Kononova

    Kraftwerk in Ochtyrka | Treibstofftank am Flughafen Hostomel / Fotos @ Yana Kononova
    Kraftwerk in Ochtyrka | Treibstofftank am Flughafen Hostomel / Fotos @ Yana Kononova

    dekoder: Guten Morgen, Yana, wie geht es Ihnen? Die russische Armee hat In der Nacht wieder Raketen auf Kyjiw geschossen. In den Nachrichten hieß es, dass 50 Menschen verletzt wurden.

    Yana Kononova: Gegen drei Uhr hat mich der Alarm geweckt, aber da waren die Raketen bereits abgefangen. Die Vorwarnzeiten wurden in letzter Zeit immer kürzer. Ich lebe in einer Kleinstadt etwas außerhalb von Kyjiw. Hier steht ein großes Wärmekraftwerk, das wurde 2022 beschossen, aber nicht getroffen. Das Kraftwerk produziert etwa 60 Prozent der Energie für die Region, deshalb rechnen wir jederzeit mit einem neuen Angriff. 

    Zerstörte Industrieanlagen sind auch ein häufiges Motiv in Ihren Arbeiten als Fotografin. Was interessiert Sie daran?

    Ich bin keine Kriegsreporterin. Mein Ansatz ist dokumentarisch-nüchtern. Gleichzeitig möchte ich zeigen, was der Krieg mit den Menschen macht. Als ich im Frühjahr 2022 zum ersten Mal Schauplätze des Krieges besuchte, sah ich am Flughafen Hostomel zerstörte Treibstofftanks, die unter der Einwirkungen von Bomben und Hitze zerquetscht und verdreht wurden. Dieser Anblick hat mich erschüttert, und mir schien, dass diese physischen Überreste einen Eindruck geben von den psychischen Traumata, die der Krieg hinterlässt, die aber für das Auge unsichtbar bleiben. 

    Was ist die Geschichte der Bilder, die Sie für unsere Rubrik ausgewählt haben?

    Diese Bilder sind in der Nähe Ochtyrka entstanden, einer Kleinstadt in der Region Sumy im Nordosten der Ukraine. Um Ochtyrka wurde nach dem 24. Februar 2022 etwa einen Monat lang heftig gekämpft. In der Nähe wird Erdöl gefördert und es gibt ein großes Elektrizitätswerk, das mit Masut betrieben wird. Am 3. März wurde das Elektrizitätswerk von zwei Bomben getroffen. Fünf Arbeiter wurden getötet. Ich hatte mich einer Gruppe internationaler Journalisten angeschlossen, weil ich damals noch keine Akkreditierung vom Verteidigungsministerium hatte, um in die Kriegsgebiete zu reisen. Als ich von dem zerstörten Kraftwerk hörte, wollte ich unbedingt dort hin. Die Journalisten protestierten, sie hatten ihre Reportagen schon fertig und wollten zurück nach Kyjiw. Aber ich überredete den Bürgermeister, dass er uns auf das Gelände lässt. Aber als er dann kam, wollte niemand außer mir sich das zerstörte Kraftwerk ansehen. Immerhin reichte die Zeit, um ein paar Bilder zu machen. Ich fand das sehr beeindruckend. Es müssen einmal sehr moderne Gebäude gewesen sein. 

    Sind die Spuren, die der Krieg an Gebäuden und Industrieanlagen hinterlässt einfach besser zu sehen als die Spuren, die er bei den Menschen hinterlässt?

    Ja, das war meine ursprüngliche Intention. Ich wollte nicht direkt menschliches Leid abbilden. Ich werde oft gefragt, warum ich keine Menschen zeige. Ich habe auch Menschen fotografiert, aber ich mag diese Bilder nicht besonders. Für mich wird die Unmenschlichkeit des Krieges in diesen zerstörten Landschaften besonders sichtbar, dieser Gewaltexzess, der mit menschlichem Leben nicht vereinbar ist.

    Sie haben sich schon in früheren Arbeiten mit Landschaften beschäftigt. Hat der Krieg ihren Blick verändert?

    Das ist eine schwierige Frage. Ich würde eher sagen, dass mir noch einmal klar geworden ist, wie die Natur Landschaften prägt und wie der Mensch Landschaften prägt, das sind zwei völlig unterschiedliche Prozesse.

    Dieser Krieg ist nicht der erste, den Sie erleben. Als Sie ein Kind waren, musste Ihre Familie vor dem Armenisch-Aserbaidschanischen Krieg fliehen. Haben Sie Erinnerungen an die Heimat ihrer Kindheit?

    Mein Vater war Ingenieur der sowjetischen U-Boot-Flotte. Er war auf einer Insel im Kaspischen Meer stationiert. Als nach der Auflösung der Sowjetunion der Krieg um Bergkarabach ausbrach, wurde er nach Odessa verlegt. Ich erinnere mich noch gut an die Insel. Dort hatten ursprünglich Anhänger des Zoroastrismus gelebt. Diese von Zarathustra begründeten Religion verehrt das Feuer. Später wurde dort Öl gefunden und der Ort war stark geprägt von der Erdölindustrie. Die Landschaft, in der wir als Kinder aufwachsen, prägt uns fürs Leben. Gut möglich, dass meine Faszination für große Industrieanlagen daher kommt.

    Fotos: Yana Kononova
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht: 19.12.2023

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    Marysia Myanovska: Oh brother, where art thou

    Mit ihrer Kamera macht die Kyjiwer Fotografin Marysia Myanovska sich 2019 daran, den Stadtbezirk neu zu erkunden, in dem sie und ihr ein Jahr zuvor verstorbener Bruder Witali ihre Jugend verbrachten. Trojeschtschyna ist einer der größten Schlafbezirke Europas. Er liegt am linken Ufer des Dnipro und ist durch den Fluss vom Zentrum der ukrainischen Hauptstadt getrennt. In den 1970er und 1980er Jahren wurden hier gewaltige Wohnkomplexe für Fabrikarbeiter errichtet. Pläne, eine U-Bahn-Linie zu bauen, die den Bezirk mit dem Rest Kyjiws verbinden sollte, scheiterten immer wieder am Geld. So blieben die Jugendlichen, die hier aufwuchsen, weitgehend unter sich. Ohne Cafés, Bars oder Freizeiteinrichtungen verbrachten sie die meiste Zeit auf der Straße. Nachdem die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erlangt hatte, machte das Land eine schwere Wirtschaftskrise durch und viele Bewohner von Trojeschtschyna verloren ihre Arbeit. „Mein Bruder verkörpert die erste Generation junger Menschen in der unabhängigen Ukraine”, sagt Myanovska. „Er betrat eine Welt, die geprägt war von Kriminalität, Heroin Chic, MTV, Sex und von der ersten Techno-Welle.“ Auf der Suche nach ihm lernt sie eine neue Generation kennen. Eine Generation, die die Freiheit nicht geschenkt bekam, sondern für sie kämpfen muss.

    Der nördliche Rand von Trojeschtschyna im November 2019 | Mitglied eines Freiwilligenkorps, August 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Der nördliche Rand von Trojeschtschyna im November 2019 | Mitglied eines Freiwilligenkorps, August 2022 / Foto © Marysia Myanovska

    dekoder: Sie haben sich in dem Projekt Oh Brother, Where Art Thou auf die Spuren Ihres verstorbenen Bruders gemacht. Was war er für ein Mensch?

    Marysia Myanovska: Ich bin 14 Jahre jünger als er, deshalb war er auch eine Vaterfigur für mich. Ich habe mehr Zeit mit ihm verbracht als mit meinem leiblichen Vater. Wenn er seine Freunde treffen wollte, sagte meine Mutter immer: „Oh, nimm Marysia mit“. Ich fand seine Freunde cool, die Musik, die sie hörten, die Klamotten, die sie trugen. Obwohl ich noch kein Teenager war, hat mich ihr Stil geprägt.

    Wärmekraftwerk am Nordrand von Trojeschtschyna, November 2019 | Maria und Oleg, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    Wärmekraftwerk am Nordrand von Trojeschtschyna, November 2019 | Maria und Oleg, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska

    Auf den Bildern spielt das Viertel Trojeschtschyna in Kyjiw eine wichtige Rolle. Wie war es, dort aufzuwachsen? 

    Ich benutze gern das Wort „Ghetto“, obwohl das vielen in der Ukraine nicht gefällt. Trojeschtschyna wurde als Schlafstadt für Fabrikarbeiter gebaut. Und außer schlafen konnte man dort auch nicht viel machen. Es gab Schulen, ein paar kleine Geschäfte und ein Kino, das alte Filme aus der Sowjetzeit zeigte. Mein Bruder und seine Freunde hatten keine Computerspiele, also haben sie die meiste Zeit auf der Straße verbracht. Sie haben Sport gemacht, weil es wichtig war, stark zu sein und gut kämpfen zu können. In den 1990er Jahren verloren viele Bewohner ihre Arbeit, das Viertel wurde immer düsterer, die Kriminalität nahm zu, die Menschen hatten kein Geld und keine Perspektive und wurden immer zorniger. Zuhause liefen auf MTV Clips mit coolen Jugendlichen in teuren Klamotten, und dann gehst du vor die Türe und alles ist grau. Es gab Schießereien auf der Straße, vor unserer Schule wurde ein Mädchen getötet. Junkies warfen ihre Spritzen überall hin.

    Während der Arbeit an dem Projekt begann Russland den vollumfänglichen Krieg gegen die Ukraine. Wie hat das Ihre Arbeit verändert?

    Erst wusste ich nicht, wie ich weitermachen soll. Ich hatte eine Gruppe Jugendlicher begleitet, die mich an meinen Bruder und seine Freunde erinnerten, so wie ich sie als kleines Mädchen gesehen habe. Dann verstand ich, dass es wichtig ist, diesen historischen Moment zu dokumentieren, und ich habe sie einfach weiter begleitet. Mein Bruder lebte auch in einem sehr wichtigen und sehr dramatischen Moment, als die Ukraine unabhängig wurde. Seine Generation bekam die Unabhängigkeit geschenkt und wusste nicht, was sie mit ihr anfangen soll. Die jetzige Generation muss für unsere Unabhängigkeit kämpfen.

    März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    März 2021 / Foto © Marysia Myanovska

    Wie unterscheiden sich die Generationen?

    Wir hatten keine Vorstellung davon, wer wir sein wollten. Was bedeutet unabhängig sein eigentlich in der Praxis? Es war eine sehr schwere Zeit für die Generation meines Bruders. Sie mussten damit zurechtkommen, dass ihre Realität eine ganz andere war als die, die der Fernseher zeigte. Unsere Gegenwart heute ist dramatisch, und ich glaube, für die Jugend gilt das ganz besonders. Während des Krieges ist es noch schwerer, sich eine Zukunft auszumalen, Pläne zu machen, wenn du nicht weißt, ob du vielleicht an die Front musst. Du weißt ja noch nicht einmal, ob dein Land in ein paar Jahren noch existiert.

    Zerstörungen durch einen Raketenangriff, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Zerstörungen durch einen Raketenangriff, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Grischa und Slawa, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Grischa und Slawa, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Mein Bruder Waleri und seine Freunde zuhause in unserer Küche in Trojeschtschyna Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Mein Bruder Waleri und seine Freunde zuhause in unserer Küche in Trojeschtschyna Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Mein Bruder mit seinen Freunden in einem Café Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Mein Bruder mit seinen Freunden in einem Café Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Mein Bruder zusammen mit Freunden und seiner Freundin im Freizeitpark Hidropark in Kyjiw Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Mein Bruder zusammen mit Freunden und seiner Freundin im Freizeitpark Hidropark in Kyjiw Mitte der 1990er Jahre / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Waleri in der Küche unserer Wohnung in Trojeschtschyna Mitte der 1990er Jahre / Trojeschtschyna / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Waleri in der Küche unserer Wohnung in Trojeschtschyna Mitte der 1990er Jahre / Trojeschtschyna / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Grischa und Tima, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    Grischa und Tima, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    Grischa am Fenster seiner Wohnung in Trojeschtschyna | Tima in seiner Wohnung, November 2019 / Foto © Marysia Myanovska
    Grischa am Fenster seiner Wohnung in Trojeschtschyna | Tima in seiner Wohnung, November 2019 / Foto © Marysia Myanovska
    Tima mit Gewehr, November 2019 | Maria und ihre Schwester Alexandra, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    Tima mit Gewehr, November 2019 | Maria und ihre Schwester Alexandra, März 2021 / Foto © Marysia Myanovska
    Vika, April 2022 | Trojeschtschyna, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Vika, April 2022 | Trojeschtschyna, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Im Zentrum von Trojeschtschyna, April 2022 | Maria und ihre Schwester Alexandra, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Im Zentrum von Trojeschtschyna, April 2022 | Maria und ihre Schwester Alexandra, April 2022 / Foto © Marysia Myanovska
    Nordwestlicher Rand von Trojeschtschyna / Foto © Marysia Myanovska
    Nordwestlicher Rand von Trojeschtschyna / Foto © Marysia Myanovska
    Ich und mein Bruder, Trojeschtschyna 1992 / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska
    Ich und mein Bruder, Trojeschtschyna 1992 / Foto aus dem Familienarchiv © Marysia Myanovska

    Fotografie: Marysia Myanovska
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 06.12.2023

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