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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Ich mache Exiljournalismus, bin aber nicht im Exil“

    „Ich mache Exiljournalismus, bin aber nicht im Exil“

     

    Unabhängige Journalisten und Medien hatten es in Russland unter Putin nie leicht, seit dem Beginn der russischen Vollinvasion existiert in dem Land allerdings gar keine Pressefreiheit mehr: Die meisten unabhängigen Medien sind als „Agent“ oder „unerwünscht“ stigmatisiert. Zahlreiche Ermittlungsverfahren, Prozesse und Haftbefehle gegen Journalisten sind anhängig, sogar im Exil sind sie politischer Verfolgung ausgesetzt.  

    Trotz aller Gefahren arbeiten dennoch einige unabhängige Journalisten und Medien weiterhin im Land selbst. Der Monolog einer anonymen Journalistin, die aus Russland für Meduza schreibt, ist auch Teil der Ausstellung NO, die Meduza bis 6. Juli 2025 in Berlin zeigt. 

     

    Meine Freunde und Bekannten kennen mich unter einem Namen, meine Kollegen und Informanten unter einem ganz anderen. Keinem von ihnen kann ich die ganze Wahrheit über mich erzählen. Die ersteren sollen nicht wissen, welcher Betätigung ich nachgehe. Letztere sollen keine Einzelheiten aus meinem persönlichen Leben erfahren – wo ich geboren bin, wo ich studiert und gearbeitet habe. Kurzum: Das Leben einer Journalistin, die für unabhängige Medien arbeitet und dabei in Russland bleibt, ähnelt eher einem Agentenfilm. 

    Gewöhnlich läuft alles routinemäßig, aber manchmal gibt es Komplikationen. Auf dem Geburtstag einer engen Freundin streckt mir ein Unbekannter die Hand entgegen: „Hallo, ich bin Ljoscha.“ Ich muss erst einige Sekunden nachdenken, wie ich mich vorstellen soll, mit meinem echten Namen oder mit meinem Pseudonym. Dabei versuche ich zu bewerten, ob dieser neue Bekannte potenziell ein Protagonist einer Geschichte werden könnte – davon hängt ab, welchen Namen ich ihm nenne. 

    Wie eine pathologische Lügnerin 

    Manchmal komme ich mir wie eine pathologische Lügnerin vor. Da erzählt mir jemand persönliche Dinge, und ich kann ihm nicht mit Gleichem antworten, ja nicht einmal andeuten, dass ich etwas nicht vollständig erzähle. Das zieht einen runter, ich schäme mich ständig. Als ich mir ein Pseudonym ausdenken musste, kam ich mir völlig bescheuert vor. Ich musste mir aus dem Nichts einen Namen ausdenken. Und dann habe ich verschiedene Phasen durchgemacht, um das zu verarbeiten: von Enttäuschung und Trauer bis zu unglaublicher Wut und Müdigkeit. 

    Ich habe die seltene Möglichkeit, wichtige Dinge zu tun, ohne der Zensur zu begegnen. Und anders als meine Kollegen, die das Land verlassen mussten, lebe ich weiter bequem in meiner gewohnten Umgebung. Gleichzeitig fühle ich mich fast wie eine Hochstaplerin. Was ich betreibe, ist Exiljournalismus, unabhängiger Journalismus. Ich selbst bin aber nicht im Exil. 

    Ich habe viele Bekannte, die immer noch in Russland für Medien arbeiten, die der Zensur unterliegen. Diese Journalisten kämpfen weiterhin um jedes Komma, und aus ihren Texten werden weiterhin Passagen herausgestrichen, die die Redaktion nervös machen. Mir passiert das nicht: Aus meinen Texten werden nur die langweiligen Sachen herausgestrichen, es gibt keine Zensur. 

    Natürlich gibt es für die Redaktion objektive Gründe, sich wegen meiner Sicherheit Sorgen zu machen. Journalisten werden in Russland wirklich verfolgt, zu Geldstrafen und Freiheitsentzug verurteilt. Um das zu vermeiden, befolge ich Sicherheitsprotokolle. Die Nummer meines Anwalts habe ich für alle Fälle auswendig gelernt. 

    Die Protokolle zu befolgen, ist mitunter schwierig. Mit der Redakteurin etwa bin ich über Signal im Kontakt. In Russland funktioniert das aber nicht ohne VPN, was nicht sehr bequem ist. Andere Messengerdienste nutzen wir nicht – aus Sicherheitsgründen. Auf meinem Telefon habe ich drei verschiedene VPN. Wenn es bei einem hängt, schalte ich auf einen anderen um. Ständig muss ich mit diesen Diensten jonglieren, und es kommt sogar vor, dass ich ganz ohne Verbindung bin. Dann hat meine Redakteurin unglaublichen Stress und denkt, dass sie mich irgendwo herausholen muss. Sie macht sich um meine Sicherheit sehr viel stärker Sorgen als meine Mutter oder ich selbst. 

    Keine Angst 

    Unabhängige Journalisten können in Russland jederzeit auffliegen, aber lange Zeit habe ich überhaupt keine Angst gehabt. Ich habe mich sogar gefragt, ob das nicht psychisch krank ist, dass ich keine Angst habe. Dann stellte sich allmählich doch die Angst ein, und zwar umso stärker, je öfter Freunde und Verwandte fragten, ob ich keine Angst habe, und ob ich ausreichend Sicherheitsmaßnahmen treffe. Irgendwann bat ich sogar, dass sie mich das nicht mehr fragen. Ich schaue einfach automatisch aus dem Augenwinkel, ob mich jemand verfolgt, ob es um mich herum verdächtige Leute gibt. Und wenn ich mich davon überzeugt habe, dass das nicht der Fall ist, lebe ich mein Leben und mache meine Arbeit. 

    Zu Beginn des Krieges dachte ich, dass die Leute den Krieg unterstützen, weil sie nicht wissen, was wirklich vor sich geht. Damals druckte ich mit meiner Freundin zusammen Antikriegsplakate mit Parolen wie „Wir brauchen Liebe, und nicht Krieg!“ und klebte sie in den Straßen des Moskauer Stadtzentrums. 

    Es kam vor, dass wir gerade mal einige Dutzend Meter weitergegangen waren und jemand bei den Plakaten anhielt und sie abriss. Das war keiner von den kommunalen Behörden, sondern jemand ganz gewöhnliches, gut angezogen, wahrscheinlich gebildet und wohlhabend. Das hat mich stark demoralisiert. Das Problem besteht also weniger darin, dass Journalisten nicht die Wahrheit über den Krieg berichten können, sondern vielmehr darin, dass die Menschen, denen wir diese Wahrheit berichten, sie nicht hören wollen. 

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  • Abschied von der Garage

    Abschied von der Garage

    Wer in der Sowjetunion aufgewachsen ist, dem ist seine Garage heilig – besonders den Männern. Hier wird nicht nur das Auto untergestellt: Die Garage dient bis heute als Lager für Kartoffeln und Eingemachtes, den Samowar, die alte Waschmaschine, das Rad des „Desna“-Fahrrads, das Töpfchen des ersten Sohns und die Halbliterflasche Stolitschnaja-Wodka, die man vor 40 Jahren vor seiner Frau versteckt hat – also ausschließlich für dringend benötigte Dinge.  

    In der Garage feierte man Geburtstage und die Geburt eines Kindes, die erfolgreiche Autoreparatur, den Verkauf des Autos und den Kauf eines neuen. In Garagen wurden Kfz-Werkstätten eröffnet, Freundschaften geschlossen, nützliche Beziehungen geknüpft, und die Garagennachbarn waren im Freundeskreis eine Gruppe für sich. Die Jüngeren können das nicht mehr nachvollziehen, aber auch sie halten an ihren Garagen fest – das genetische Gedächtnis ist stark.  

    Einen Eindruck davon, was eine Garage in Russland alles sein kann, vermittelt das Fotoprojekt Zweckentfremdet der Fotografin Oksana Ozgur. Die Berliner Dokumentarfilmerin Natalija Yefimkina hat den Garagenbewohnern 2020 ihren wunderbaren Film Garagenvolk gewidmet. Aufnahmen aus Yefimkinas Film illustrieren auch diesen Text. 

     

    Trailer zu Garagenvolk von Natalija Yefimkina / YouTube 

    Doch die große Zeit der Garagenkultur geht zu Ende. In vielen Städten werden Grundstücke, auf denen einst Garagenkooperativen ihre Bauten errichteten, zu Bauland für moderne Wohn- und Geschäftsgebäude umgewidmet. Viele Besitzer wehren sich erbittert gegen die Räumung ihrer Garagen. Sie sind für sie Rückzugsort und Heiligtum, an dem sie fern von Staat und Ehefrau ihre ganz persönlichen Träume verwirklichen konnten. 

    Werksstatt, Rückzugsort und Heiligtum: Das Garagenvolk hat seine Türen für die Dokumentarfilmerin Natalija Yefimkinas geöffnet / Foto © Axel Schneppat / Tamtam Film
    Werksstatt, Rückzugsort und Heiligtum: Das Garagenvolk hat seine Türen für die Dokumentarfilmerin Natalija Yefimkinas geöffnet / Foto © Axel Schneppat / Tamtam Film

    Die Sicht der Menschen   

    Unweit von meinem Haus liegt ein Teich. Noch vor etwa zehn Jahren hat darin die halbe Nachbarschaft gebadet. An der Straße, die zu ihm führte, standen ein paar Behelfsgaragen, auch Rakuschki [rus. Muscheln)] genannt. Kaum wurden die Tage wärmer, versammelten sich die Garagenbesitzer, reparierten oder ersetzten den Steg, erneuerten die Seilschaukel, legten am Zugang zum Wasser Reifen aus, mähten den Rasen und verscheuchten die ganze Saison über die Ruhestörer, die laute Zechgelage veranstalteten und ihre Flaschen zerschmetterten. Dann ließ die Gemeinde die Garagen abräumen, weil sie angeblich schwarz errichtet worden seien – obwohl ein ortsansässiger Betrieb das Gelände 60 Jahre zuvor seinen Mitarbeitern dafür zugeteilt hatte. Wenige Jahre darauf war es auch mit dem Teich vorbei: Die Brücke stürzte ein, die Reifen wurden fortgeschwemmt, und das Ufer verwandelte sich in eine Müllkippe. So verschwand mit der „Garagen“-Gemeinschaft auch ein wichtiger Ort für die ganze Siedlung.

    Ein Treffpunkt für die ganze Siedlung / Foto © Axel Schneppat / Tamtam Film
    Ein Treffpunkt für die ganze Siedlung / Foto © Axel Schneppat / Tamtam Film

    Laut der russischen Wikipedia ist „eine Garage (frz. garage, vom nautischen Begriff gare ‚Schiffsanleger, Liegestelle‘) […] ein Raum zum Abstellen und manchmal zum Reparieren von Autos, Motorrädern und anderen Fahrzeugen. Das Wort ‚Garage‘, das 1902 im Englischen auftauchte, leitet sich vom französischen Wort garer ab, das ‚Schutzraum‘ bedeutet“.  

    Dem kann man nur zustimmen:  In der Sowjetunion und dann auch in der Russischen Föderation war die Garage ein echtes Refugium. Sie bot Zuflucht vor Ehestreit, Problemen auf der Arbeit, der Enge der Wohnung. Eine Garage hat Raum genug für praktisch alles, was man braucht oder auch nicht: Man kann dort ein Kinderfahrrad reparieren, Bretter zuschneiden und ein Regal bauen, sogar ein Unternehmen starten. Einer meiner Bekannten hat zwei benachbarte Garagen gekauft und betreibt dort eine Autowerkstatt, ein anderer nutzt sie als Warenlager – er hat eine Verkaufsstelle für Haushaltsbedarf. Eine Freundin ist eine hervorragende Tierärztin mit eigener Klinik. Was das mit Garagen zu tun hat?  Sie durfte als Kind kein Haustier haben. Deshalb ging sie zu den Garagen in der Nähe des Hauses, wo immer Straßenhunde nach Futter lungerten. Sie desinfizierte ihre Wunden mit Brillantgrün und bat die erwachsenen Männer, ihr zu helfen, die Meute von Grind, Flöhen und anderen Plagen zu heilen. Wenn man ihr heute Komplimente für ihr profundes Fachwissen macht, erwidert sie lachend: „Ich habe eben schon als Drittklässlerin angefangen, in Garagen zu praktizieren!“.   

    In ihrer Garage können Männer unter sich sein. Foto © Axel Schneppat / Tamtam Film
    In ihrer Garage können Männer unter sich sein. Foto © Axel Schneppat / Tamtam Film

    Für meinen 74-jährigen Vater ist der Gang zur Garage ein Ritual. Er zieht seine spezielle „Garagen-Kleidung“ an, die bedenkenlos schmutzig werden kann, packt Gurkengläser, Zucchinikaviar und ein paar Kilo Kartoffeln in die „Garagen-Tasche“ mit dem großen roten Karomuster und holt das Fresspaket für die Garagenhunde aus dem Kühlschrank: Knochen, Sardellenhaut, Brei- und Bulettenreste. Die bunt zusammengewürfelte Hundemeute wirft ihn zur Begrüßung fast um. Mein Vater ist Rentner; der Gang zur Garage ist das, was ihn noch im Lebensalltag verankert. Schrauben und Nägel müssen in die passenden Dosen sortiert, Wände getüncht, der Keller aufgeräumt werden. Meine Mutter hatte gegen Vaters „Garagentage“ nie etwas einzuwenden: Ihm die Garage zu nehmen, hieße, ihm das Leben zu nehmen.  

    Das Gelände der Garagengenossenschaft befindet sich in einer guten Lage, fast im Stadtzentrum, auch wenn es an eine Bahnstrecke grenzt, auf deren anderer Seite sich eine Erosionsrinne auftut. Als über einen bevorstehenden Abriss von Garagenbauten berichtet wurde, trieb mich der Teufel, meinen Vater zu fragen, ob in seiner Genossenschaft Gerüchte über eine Abwicklung kursierten.  

    „Was? Land und Gebäude gehören doch uns. Ich habe die Garage doch mit eigenen Händen gebaut, ich habe alles auf meinen Buckel genommen und dann mit gebrochenem Rücken im Krankenhaus gelegen“, erregte er sich. „Ich habe im Auto übernachtet und die Ziegelsteine bewacht. Später haben wir Männer uns dabei abgelöst. Und was wird aus den Kartoffeln, der Marmelade, dem eingelegten Gemüse? Wohin damit? Sollen wir dann vielleicht gleich auch noch die Datscha aufgeben? Hier sind Ersatzteile für drei Autos gelagert, die ich ein Leben lang gesammelt habe. Ich habe gelernt, ein Auto zu zerlegen und blind wieder zusammenzubauen. Erinnerst du dich noch an meinen Freund, Onkel Ljowa? Er hatte die Nachbargarage, ich war 50 Jahre lang mit ihm… zusammen. Vor drei Jahren ist er gestorben. Jetzt begleite ich seine Frau auf den Friedhof. Was soll das denn – die Garagen abreißen? Also praktisch mein ganzes Leben entsorgen? Ich werde für die Garage… Mit meinen eigenen Händen… Und scheiß drauf, wenn ich mein Leben im Knast beende!“  

    Hier kann man Freunde für’s Leben finden / Foto © Axel Schneppat / Tamtam Film
    Hier kann man Freunde für’s Leben finden / Foto © Axel Schneppat / Tamtam Film

    In vielen Regionen werden Garagen jedoch tatsächlich abgerissen oder sind zum Abriss vorgesehen – sowohl die blechernen „Rakuschki“ als auch die festen Bauten.  

     

    Die Sicht der Stadtverwaltung  

    Schon vor 20 Jahren begann man Garagen abzutragen – weil man eine neue Straße oder Wohnungen bauen wollte, und mancherorts auch einfach nur, damit ihr unansehnliches Äußeres das Auge nicht beleidige. Einige Garagenkomplexe werden zum Abriss freigegeben, weil es sich angeblich um Schwarzbauten handle. Das läuft ganz einfach: Das Land wurde den Besitzern zu Sowjetzeiten für den Garagenbau zugewiesen, doch die neue Stadtverwaltung weigert sich, es als Eigentum auf sie zu überschreiben und erklärt dann die Bauten für widerrechtlich. Das geschah zum Beispiel in Astrachan, wo 1.200 „schwarz errichtete“ Garagen auf einen Schlag abgerissen wurden. Hier drängt sich die Frage auf, seit wann es sich eigentlich um Schwarzbauten handeln soll: Von Anfang an? Wie konnten dann die Behörden jahrelang die Augen davor verschließen? Eine andere Methode besteht darin, dass der Vorsitzende der Garagengenossenschaft – aus eigenem Antrieb oder auf Wunsch von Dritten – den Pachtbetrag für das Gelände nicht zahlt. Aber dies sind Einzelfälle, so schmerzhaft sie für die Betroffenen auch sein mögen. Mit dem Aufkommen einer neuen Bebauungsstrategie hat sich das jetzt geändert: Durch den Ansatz der „komplexen Gebietsentwicklung“ (KGE) sind Tausende von Garagen vom Abriss bedroht.  

    In Rjasan wurden 2016 etwa 700 Garagen der „Tscheresowski“-Genossenschaft abgerissen. Ein großer Bauträger sollte dort kurzfristig eine Uferstraße errichten, die es bis heute nicht gibt. Er bot den Besitzern 12.000 Rubel [damals etwa 185 Euro – dek] je Blechgarage.  

    In Ufa fielen schon vor sechs Jahren 500 Blechgaragen der Räumung zum Opfer, und vor einem Jahr wurden im Rahmen der KGE der Abriss von 300 festen Garagenbauten sowie die Rodung des benachbarten Waldes angekündigt.   

    Die Stadtverwaltung von Nowosibirsk hat in drei Jahren 8.700 Blechgaragen beseitigt, und bald sollen 9.400 weitere verschwinden. Das private Eigentum musste neuen Wohnhäusern weichen, von denen einige bereits stehen und andere noch in Planung sind.  

    In Tjumen wurden infolge der KGE 200 Garagen in der Jelisarowa-Straße und weitere 42 in der Daudelnaja-Straße beschlagnahmt.  

    In Samara wurden vor zwei Jahren im Zuge des Baus der Autobahn „Zentralnaja“ Rakuschka-Behelfsgaragen abgerissen, obwohl man versprochen hatte, sie bis 2025 nicht anzurühren. Die Aufkäufer der Blechabfälle zahlten 15.000 Rubel [etwa 210 Euro – dek] pro Garage.  

    Für die einen ein Ort zum Träumen, für andere nur ein Haufen Metallschrot / Foto © Axel Schneppat / Tamtam Film
    Für die einen ein Ort zum Träumen, für andere nur ein Haufen Metallschrot / Foto © Axel Schneppat / Tamtam Film

    In Moskau werden im Rahmen der KGE nicht nur Garagen, sondern auch mehrstöckige Parkhäuser abgerissen.  

    Die Beseitigung tausender Garagen in Nowosibirsk galt im Vorjahr als das landesweit umfassendste derartige Projekt. In diesem Jahr stellt Twer den Negativrekord auf. Bezeichnenderweise fanden dort bereits öffentliche Anhörungen zur Frage der Übertragung von Grundstücken für die Wohnbebauung statt, bevor von einem Abriss des Garagenbestands überhaupt konkret die Rede war. Auf dem größten Teil des betreffenden Grundstücks befinden sich über 2000 Backsteingaragen.  

    Die Autokooperative Nr. 9 ist eine der größten Garagengenossenschaften in Twer. Sie umfasst 2.050 Backsteingaragen, die sich zum großen Teil im Privatbesitz ihrer Nutzer befinden. Ringsum liegen die Kläranlagen des „Twerwodokanals“, die Strafkolonie Nr. 1, die Chemiemülldeponie „Chimwolokna“ und zwei Friedhöfe. Dieses Gelände möchte die Stadtverwaltung im Rahmen der KGE zur Bebauung bereitstellen. 

    Stilles Zwiegespräch zwischen Axt und Säge / Foto © Axel Schneppat / Tamtam Film
    Stilles Zwiegespräch zwischen Axt und Säge / Foto © Axel Schneppat / Tamtam Film

     

    Die Garagenwirtschaft  

    Eine beliebte satirische Tragikomödie des sowjetischen Filmregisseurs Eldar Rjasanow heißt Die Garage. Das „Garagenleben“ wird wissenschaftlich erforscht und es werden sogar Bücher darüber geschrieben.  

     
    Eldar Rjasanows satirische Komödie „Die Garage“ erschien im Jahr 1979. Die Mitglieder einer Garagenbaugenossenschaft stellen fest, dass eine Garage weniger gebaut wird, als Mitglieder in der Genossenschaft sind. Wer muss verzichten? Ein Kammerspiel über demokratische Entscheidungsfindung im realexistierenden Sozialismus / YouTube 

    Der erste, der sich aus wissenschaftlicher Sicht mit diesem Thema befasst hat, ist der Soziologe Simon Kordonski, Inhaber des Lehrstuhls für lokale Selbstverwaltung an der Higher School of Economics in Moskau. Die Garagen – so sein Befund – bilden einen eigenen, vorwiegend handwerklich geprägten Wirtschaftssektor, der es armen Familien erleichtert, ihre Existenz zu sichern. Kordonski vergleicht die Tätigkeit in den Garagenwerkstätten mit der Datschenwirtschaft und der industriellen Saisonarbeit der Landbevölkerung. Die „Garagentätigkeit“ ist keine industrielle Serienfertigung; sie produziert Unikate. Ein Beispiel ist der Meistertüftler Nail Poroschin, der in seiner Garage Vergaser so gekonnt umrüstet und verbessert, dass ihn Kunden aus ganz Russland aufsuchen. Sein YouTube-Kanal erlangte schon vor zehn Jahren große Beliebtheit und hat über 600.000 Abonnenten.  

     
    Gekleidet in sommerliche Garagen-Kluft gibt der Vergaser-Spezialist Nail Poroschin eine Lektion über Zündkerzen. Mehr als 1,8 Millionen Aufrufe hat das Video / YouTube 

    „Die Gewerbetreibenden in den Provinzen setzen auf Selbstversorgung. Der Staat ist ihnen gleichgültig, sie sind nicht von ihm abhängig“, sagt Kordonski. „Er versucht zwar, sie aus dem Schatten zu holen, durch Gesetze einzuengen und Steuern einzutreiben. Aber letztlich ist es schlicht nicht möglich, sie in normative Vorschriften zu zwängen. Sie werden immer Schlupflöcher finden, um ihr Geschäft weiter zu betreiben, auch wenn sie gewisse Verluste in Kauf nehmen müssen.“  

    Im Sektor der „Garagenwirtschaft“, wie Kordonski sie nennt, sind in den großen, aber armen Städten Russlands im Durchschnitt 15 % der arbeitsfähigen Bevölkerung tätig.  

    In der Perestroikazeit wurden ganze Industriezweige in Garagen geboren – etwa die moderne Möbelproduktion in Kusnezk, das heute als Möbelhauptstadt Russlands gilt. Die einen stellten in ihren Garagen Tischplatten her, andere Tischbeine, wieder andere Hocker. Heute sind in der Stadt etwa 150 offiziell eingetragene Möbelunternehmen ansässig; die inoffiziellen eingerechnet sind es ungefähr 300.  Damit kommt auf 266 Kusnezker Bürger, einschließlich der Kinder und Rentner, ein Möbelunternehmen. Inzwischen sind die Betriebe in modernen Werkhallen untergebracht.  

    Heute, wo die Kosten für das Kaufen oder Mieten einer Wohnung ins Unvorstellbare gestiegen sind, werden Garagen auch in Wohn- und Unterhaltungsräume umgewandelt. Wer sich dringend am Meer erholen möchte, aber nur wenig Geld hat, kann Unterschlupf in einer preiswerten Garage – oder besser gesagt, Bude – finden, wie sie in großer Zahl inseriert werden. So kann man etwa in Sotschi schon ab 10.000 Rubel [100 Euro] monatlich einen Garagenraum von 30 Quadratmetern in Strandnähe mieten.  

    Garagen sind zu Fotostudios, Ferienapartments, Festsälen und sogar zu Saunas umgebaut worden.  

    Sergej Selejew und Alexander Pawlow haben in ihrem Buch Garaschniki [Die Garagenbesitzer (PDF)] die Evolutionsgeschichte der Garagen beschrieben: Zunächst waren sie Standardbauten für das Abstellen von Autos. Dann wurden sie angepasst, um Gemüse darin lagern zu können. Als nächstes folgten die Unterkellerung und die Aufstockung mit einer Etage zum Ausspannen. Später wurden die Garagen zu Handels- und Gewerberäumen und schließlich zu Wohnungen.  

    Kaffeepause in der Keimzelle der russischen Privatwirtschaft / Foto © Axel Schneppat / Tamtam Film
    Kaffeepause in der Keimzelle der russischen Privatwirtschaft / Foto © Axel Schneppat / Tamtam Film

    Nach der Überzeugung einiger Fachleute geht die Ära der Garagen ihrem Ende entgegen; sie würden zum einen durch Parkplätze im Hof der Wohnhäuser, zum anderen durch Kfz-Werkstätten ersetzt. Aus Daten, die die Onlineplattform Avito 2022 veröffentlichte, geht jedoch hervor, dass die Zahl der Kaufinteressenten für Garagen in Russland zum Ende des dritten Quartals um 8 Prozent höher lag als im Vorjahreszeitraum. Im Vergleich zum vorherigen Quartal war die Nachfrage nach Garagen sogar um 15 Prozent gestiegen.  

     

    Die Sicht der Stadtforschung  

    Die Sympathie für die Garagen wird nicht von allen geteilt. Die moderne Stadtforschung betrachtet die Garagengenossenschaften unter dem Gesichtspunkt der effizienten Flächennutzung.  

    Lew Wladow, der bis zum Februar 2022 das Stadtplanungsprojekt Tscheljabinskij Urbanist leitete, ist überzeugt, dass Garagengenossenschaften in Stadtlage heute nicht mehr vonnöten sind:   

    „Eine typische Stadt in Russland unterscheidet sich von europäischen Städten durch ihre geringe Bebauungsdichte. Garagengenossenschaften, die zu Sowjetzeiten auf Brachflächen und am Stadtrand bauten, befinden sich heute oft in einer relativ zentralen, für die Stadtentwicklung relevanten Lage, weil die Städte weiter gewachsen sind.  

    Für die Stadt (und die Bürger) ist eine Garage ein äußerst ineffizientes und unattraktives Gebäude, das in keiner Weise zur städtischen Wirtschaft beiträgt und dem Haushalt nichts einbringt. Sie belegt nur wertvolle Fläche, auf der Stadtbewohner leben und arbeiten könnten, ohne ein Auto zu brauchen, weil sich die gesamte soziale Infrastruktur in der Nähe befindet.  

     

    Braucht es Garagen in der Stadt?  

    Garagen belegen heute wertvolle Flächen, die zur Stadtverdichtung genutzt werden könnten, was dringend nötig wäre, um die Attraktivität der Straßen in den Städten Russlands zu erhöhen. Stattdessen werden neue Stadtteile am Stadtrand und auf Brachflächen errichtet, was wiederum dazu führt, dass neue Straßen und Autobahnen gebaut werden und der Bedarf an Parkplätzen weiter zunimmt. Dadurch werden Lebensqualität und Lebensfreude in der Stadt systematisch beeinträchtigt.  

    Deshalb sollten die Regeln für Garagenbesitz revidiert werden. Das Ziel sollte sein, den Verkauf von Garagen zu fördern, damit die Flächen effizienter genutzt werden können, und dafür zu sorgen, dass von dem durchaus hinterfragbaren Recht einer Privatperson, 30 Quadratmeter Land im Stadtzentrum zu besitzen, für die sie praktisch nichts bezahlt hat, auch die Stadtbewohner profitieren. Zu diesem Zweck könnte die Grundsteuer auf Garageneigentum auf den in der Stadt allgemein geltenden Satz erhöht werden.  

    Der Bürgerrechtler Denis Galizki aus Perm hat sich in seinem Blog mit dem „sowjetischen Garagenerbe“ befasst. Seiner Meinung nach hängt es von der Situation vor Ort ab, ob Garagen nötig sind oder nicht. Während Autobesitzer ihr Auto früher nur nutzten, um aufs Land oder auf ihre Datscha zu fahren, und auch das nur in der warmen Jahreszeit, steht es heute vor der Haustür und wird täglich genutzt. Und es kommt auch weit seltener vor, dass Garagen als Kfz-Werkstätten dienen, weil Autos heute viel komplexer konstruiert sind als früher.  

     

    Die zweite Meinung: Braucht es Garagen in der Stadt?  

    „Das Schicksal der Garagengenossenschaften hängt von ihrer Lage ab – davon, ob sie sich in einer Kleinstadt oder Großstadt, im Zentrum oder am Stadtrand befinden. Je größer die Stadt und je zentraler die Lage, desto teurer sind die Grundstücke. Das macht es wirtschaftlich unrentabel, die Garagen stehen zu lassen. Sie werden früher oder später durch eine geeignetere Wohn- oder Gewerbebebauung ersetzt. In kleinen Ortschaften und am Stadtrand kommt es hingegen durchaus vor, dass die Garagen ähnlich weitergenutzt werden wie schon zu Sowjetzeiten.“  

    Selbst wenn eine Garagengenossenschaft seit langem einen anderen Zweck verfolgt, darf die Gemeinde sie nicht einfach auflösen, sondern muss ihr ein Ausweichgelände anbieten, etwa am Stadtrand. „Genau das macht Stadtplanungspolitik aus“, erklärt der Stadtforscher Galizki. Es sei wichtig, aktiv mit der Bevölkerung zu kommunizieren und dafür zu sorgen, dass für die Garagen ein angemessener Kaufpreis gezahlt wird, damit die Besitzer sich nicht betrogen fühlen. 

    Wer sein Auto vor der Türe parkt, hat einen Proberaum für’s Schlagzeug gewonnen / Foto © Axel Schneppat / Tamtam Film
    Wer sein Auto vor der Türe parkt, hat einen Proberaum für’s Schlagzeug gewonnen / Foto © Axel Schneppat / Tamtam Film

    „Der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten“, lautet Galizkis Fazit. „Die Garagen werden verschwinden. Aber das muss auf organische Weise geschehen. ohne Tragödien und ohne dass es als Verletzung des Rechts auf Eigentum empfunden wird.“  

    Der pensionierte Architekt Alexej Kisselew (Name auf Wunsch des Betroffenen geändert) ist überzeugt, dass der Abriss der Garagen sich weiter beschleunigen wird: Der Stadtverwaltung sei es gleichgültig, ob die Leute ihre Garagen brauchen; sie sei genauso wie die Bauträger nur am Profit interessiert.  

    „Ich habe dem Stadtbaudirektor schon 2007 gesagt, dass wir bei der Planung von Stadtvierteln die Anzahl der Parkplätze berücksichtigen müssen, weil hier schon fast auf jede Familie ein Auto kommt. Wenn in der Stadt also zweihunderttausend Familien wohnen, braucht es auch ebenso viele Parkplätze. Er hat mich ausgelacht: ‚Wie sollen wir das denn durchsetzen?‘ Einerseits wird Falschparken bestraft, andererseits gibt es keine legalen Parkplätze. Erst heißt es: ‚Ohne Garage brauchst du dir gar nicht erst ein Auto zu kaufen‘ und dann werden die Garagen einfach abgerissen. Wo bleibt da die Logik?“  

     

    Die dritte Meinung: Garagen sind notwendig  

    Garagenkomplexe sind für die Bevölkerung nützlich, für Bauträger und Lobby hingegen nicht, weil sie zu viel Fläche einnehmen, auf der Geschäftsbauten errichtet werden könnten.  

    Statt nur über die Garagen sollte man besser allgemein über Stadtplanungspolitik sprechen. Ganz banal gesagt: Diese Politik ist insgesamt falsch, wenn nicht sogar kriminell. Russland hat Raum genug, eine verdichtende Bebauung ist hier nicht üblich. Psychologen haben gezeigt, dass sie sich ungünstig auf die menschliche Psyche auswirkt. Der Platz reicht aus, um sowohl Garagen als auch hohe und weniger hohe Häuser zu bauen, ohne dass sie sich gegenseitig im Weg sind. Aber unser „nationaler Leader“ hat angeordnet, Milliarden Quadratmeter Wohnfläche zu schaffen – und seine Untergebenen haben aufs Geratewohl losgebaut. Nicht, wo und wie es für die Menschen am passendsten war, sondern um des Profits willen. Inzwischen ist man schon so weit, Eigentum zu „expropriieren“.  

     

    Die „Räumung“ der Garagen  

    Die ersten Garagen in Russland wurden nach jetzigem Kenntnisstand im Jahr 1907 errichtet. Später gab es jahrzehntelang nur staatliche Autohöfe. In den 1960er Jahren wurde ein Dekret über die Gründung von Garagenbaugenossenschaften erlassen. Die Garagen hatten quasi den Status von Eigentum, das jedoch gemeinsam, genossenschaftlich organisiert war. In den 1980er Jahren kamen dann die Rakuschki auf – behelfsmäßige Garagen, die offiziell als Unterstände für Autos galten. Sie wurden zu Tausenden gekauft und auf Flächen aufgestellt, wo dies genehmigt wurde. Seit 2006 gelten sie als illegal und es heißt, sie würden „das Stadtbild verschandeln“.

    Generationen junger Russen lernten in dieser Welt Zauberworte wie „Jawa“, „Vergaser“ oder „Aufhängung“  / Foto © Axel Schneppat / Tamtam Film
    Generationen junger Russen lernten in dieser Welt Zauberworte wie „Jawa“, „Vergaser“ oder „Aufhängung“ / Foto © Axel Schneppat / Tamtam Film

    In den festen Garagenbauten wie in den blechernen Rakuschki sind Jungen an der Seite ihrer Väter groß geworden. Sie nahmen Zauberworte wie „Jawa “, „Vergaser“, „Aufhängung“, „Lager“ oder „Motor“ auf, wuchsen heran und erlernten einen Beruf. Ist das nicht genau die Kontinuität der Generationen, das Erbe der Väter, von dem die Propagandisten in einem fort sprechen? Heut versuchen diese längst erwachsenen Jungen an verschiedenen Orten, ihr Eigentum, das mit der Änderung der Staatsordnung legalisiert wurde, zu verteidigen. Denn auf einmal stellt sich heraus, dass Eigentum nur so lange Eigentum ist, wie es vom Staat nicht benötigt wird. Die Medien begannen den Abbau von Garagen sogar als „Säuberung“ zu bezeichnen, so wie man im Krieg das Gelände vom Feind säubert.   

    In Deutschland ist hingegen bis heute die Anekdote von Friedrich dem Großen lebendig, der sich beim Anlegen eines Parks an einer Mühle störte, die „die Umgebung verschandelte“. Er machte dem Müller ein Kaufangebot. Dieser lehnte ohne zu zögern ab, denn die Mühle war das Erbe seiner Vorfahren, sein Handwerk, sein Leben. Der König sagte erstaunt: „Weiß Er wohl dass ich Ihm seine Mühle nehmen kann, ohne einen Groschen dafür zu geben?“ Worauf der Müller erwiderte: „Ja, Euer Majestät, wenn das Kammergericht in Berlin nicht wäre.“  

    Schätzungen zufolge gibt es in Russland mindestens 5,5 Millionen Garagen. Der Staat ist mächtig genug, um sie alle zu „räumen“. Aber auch die Millionen „Garagenjungen“ sind womöglich stark genug, um ihren Besitz zu verteidigen. 

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  • Trockene Dörfer

    Trockene Dörfer

    Jede vierte Straftat wird in Russland im alkoholisierten Zustand begangen. Um die Trunksucht zu bekämpfen, gehen die Behörden mit diversen Maßnahmen dagegen vor: In den meisten Regionen Russlands wird nachts und an Feiertagen kein Alkohol verkauft, sowie auch nicht in der Nähe von Schulen, medizinischen Einrichtungen und sportlichen Institutionen. In Jakutien (offiziell Republik Sacha) gibt es über 200 Dörfer, in denen grundsätzlich kein Alkohol verkauft wird. Nach Ansicht der Beamten hat sich seit diesem Verbot die Anzahl der Straftaten in der Region verringert, und das Straßenbild ohne Betrunkene hat einen positiven Einfluss auf die Jugend. Takie dela hat zwölf jakutische Dörfer besucht und sich ein Bild davon gemacht, wie die Bevölkerung das findet und wie effektiv diese Methode im Kampf gegen Alkoholismus ist.  

    Von der Ladefläche eines Kleintransporters werden Bier und Sekt verkauft / Foto © Takie Dela
    Von der Ladefläche eines Kleintransporters werden Bier und Sekt verkauft / Foto © Takie Dela

    „Uns ist gerade nicht nach Trinken.“ 

    Das Dorf Bulgunnjachtach liegt 120 Kilometer südlich von Jakutsk. Zwischen den bunten Holzhäusern sticht ein massives zweistöckiges Gebäude heraus, das mit blassgelben Wandfliesen getäfelt ist. Am Eingang hängt ein Spruchband: „Noruon norguj“ (jakutisch für „Herzlich Willkommen“). Das ist das Kulturhaus des Dorfes, wo es jetzt, an einem Dienstagnachmittag, ruhig zugeht. Nur von irgendwo aus dem oberen Stockwerk sind Geräusche zu hören. Als wir hochgehen, finden wir in einem kleinen Raum fünf Frauen vor, die konzentriert bei der Arbeit sind. 

    Das Dorf Bulgunnjachtach im Verwaltungsbezirk Changalassk / Foto © Takie Dela
    Das Dorf Bulgunnjachtach im Verwaltungsbezirk Changalassk / Foto © Takie Dela

     

    Ich grüße kurz und falle gleich mit der Tür ins Haus: 

    „Stimmt es, dass in Ihrem Dorf kein Alkohol verkauft wird?“ 

    Die Frauen drehen sich überrascht nach mir um, dann nicken sie zustimmend. 

    „Und trinken die Leute hier jetzt wirklich weniger?“ 

    „Das kann man wohl sagen!“, antworten sie fast im Chor.  

    „Früher konnte man überall Alkohol kaufen“, erklärt eine von ihnen. „Aber jetzt – keine Chance. Und dann beschäftigt man sich halt anders. Wenn von außen der Riegel vorgeschoben wird, hilft das natürlich.“ 

    Im Hintergrund sirrt ein elektrischer Rollschneider: Eine Frau, die grünen Stoff in lauter gleiche Streifen schneidet, lässt sich nicht von mir stören. Auch die anderen arbeiten weiter, während sie mit mir sprechen: Aus diesen Streifen knüpfen sie Tarnnetze für die Front. Es ist bereits das zweite Jahr, erzählen sie, dass mehrere engagierte Leute aus dem Dorf sich täglich dieser Arbeit widmen: 

    „Uns ist gerade nicht nach Trinken.“

    Bewohnerinnen des Dorfs Bulgunnjachtach flechten Tarnnetze / Foto © Takie Dela
    Bewohnerinnen des Dorfs Bulgunnjachtach flechten Tarnnetze / Foto © Takie Dela

    In Bulgunnjachtach leben mehr als 1600 Menschen, doch die Straßen sind leer. Es gibt mehrere Schulen, ein paar Kindergärten, eine Sporthalle, eine Bibliothek, ein Kulturzentrum und Campingplätze für Touristen. Die Ortschaft ist der Ausgangspunkt für Exkursionen zu einer der wichtigsten Sehenswürdigkeiten Jakutiens, den Lena-Säulen. Auf einem kleinen Fußballfeld kicken zwei Jungs einen Ball hin und her. Als wir sie ansprechen, erzählen sie uns, sie könnten sich nicht daran erinnern, dass im Dorfladen jemals Alkohol verkauft worden wäre.         

    Offiziell wird in Bulgunnjachtach seit 2016 kein Alkohol mehr verkauft. Laut der Gemeindevorsteherin (die entsprechende Verwaltungseinheit heißt in Jakutien nasleg) Ajtalina Wassiljewa war entscheidend, dass die Unternehmer bereit waren, sich darauf einzulassen und „auf diese Einnahmequelle zu verzichtet“. „Ohne deren Zustimmung wäre gar nichts passiert.“ Doch sie räumt auch ein, dass es anfangs nicht leicht war. Zwar war der Großteil der Bevölkerung für das Verbot, aber ganz ohne „Aufklärungsarbeit“ sei es auch nicht gegangen. Um den Leuten Alternativen zu bieten, wurden etliche Veranstaltungen organisiert. Experten auf verschiedenen Fachgebieten reisten aus der Stadt an, um Kurse abzuhalten. So seien nach einem Nordic-Walking-Workshop 80 Personen bei diesem Sport geblieben und marschierten regelmäßig durch die Gegend.

    Elfmeterschießen auf dem Sportplatz von Bulgunnjachtach / Foto © Takie Dela
    Elfmeterschießen auf dem Sportplatz von Bulgunnjachtach / Foto © Takie Dela

    „Na, und überhaupt, bei uns gibt es Kinofilme, Zeichentrickfilme …“, zählt Tatjana Jefremowa auf, die Direktorin des Kulturzentrums, „einen Chor, unsere bildenden Künstler, Ethnofitness …“ 

    Das glaubt man gerne: Mit meinem Besuch bin ich mitten in eine Sitzung geplatzt, in der gerade das nächste Fest geplant wurde. 

    „Als ich klein war, gab es hier viele Säufer, die betrunken rund vor den Einkaufsläden saßen“, erinnert sich Ajtalina Wassiljewa. „Heute trinkt keiner mehr in der Öffentlichkeit. Da wird die heranwachsende Generation ganz anders geprägt. Wenn da mal einer ein wenig herumtorkelt, sind sie schon peinlich berührt, fragen sich: Wie kann man nur?“ 

    Aber wie heißt es so schön? Wer sucht, der findet.

    Die Ortsverwaltung von Bulgunnjachtach tagt / Foto © Takie Dela
    Die Ortsverwaltung von Bulgunnjachtach tagt / Foto © Takie Dela

    Wer etwas trinken will, muss 15 Kilometer Richtung Jakutsk fahren, in das nächste Dorf Bestjach, oder noch weiter nach Mochsogolloch. Dort ist der Verkauf von Alkohol nicht verboten. Wer ein Auto hat, zahlt nur fürs Benzin, aber ein Taxi kostet je nach Tageszeit 300 bis 400 Rubel [ca. 3 – 4 Euro – dek.] pro Richtung. So ist eine Flasche Wodka am Ende dreimal so teuer. Und für die Landbevölkerung ist das ein empfindlicher Aufpreis.  

    „So lebt das Nachbardorf auf unsere Kosten“, sagt Ajtalina Wassiljewa. „Wir haben mit den Taxifahrern vereinbart, dass sie keine Alkohol-Lieferungen machen. Aber wenn sich einer ein Taxi ruft und damit Wodka holen fährt, dann können wir das nicht verbieten. Es gibt ein Kontingent von Leuten, die wollen, können und werden auch trinken. Ungeachtet der Verbote – und wenn sie nach Afrika müssen, um Schnaps zu kaufen. Aber das sind nicht viele, die kann man an einer Hand abzählen.“  

    Das Dorf Bulgunnjachtach liegt an der Lena. Sie entspringt im Baikalgebirge und windet sich über 4300 Kilometer durch Sibirien bis zu ihrer Mündung in der Laptewsee / Foto © Takie Dela
    Das Dorf Bulgunnjachtach liegt an der Lena. Sie entspringt im Baikalgebirge und windet sich über 4300 Kilometer durch Sibirien bis zu ihrer Mündung in der Laptewsee / Foto © Takie Dela

     

    Meist seien das Leute ohne Familie und ohne Arbeit, sagt sie. Alkoholismus ist zwar kein billiges „Vergnügen“, doch auch da finden sich Wege. Wassiljewa erzählt, dass die Säufer im Dorf ihre Türen für alle öffnen würden, die zum Trinken kommen wollen, und der Wodka sei dabei eine Art Eintrittskarte. Im Volksmund heißen solche Häuser chata (dt. Bude). 

    „Dagegen können wir offiziell nichts tun, das ist ihr Privateigentum“, sagt sie. „Deshalb versuchen wir, bei denen anzusetzen, die dort hingehen. Das sind Quartalssäufer oder solche, die sich tagelang systematisch die Kante geben. Die haben Familien zu Hause, Ehefrauen, da gehen sie eben lieber in eine chata.“      

    Ajtalina Wassiljewa ist erst 28 Jahre alt. Sie ist klein und wirkt eher zierlich. Aber das scheint nur so. Im Laufe des Gesprächs bekomme ich immer mehr den Eindruck, dass sie eine Frau ist, die auch mal mit der Faust auf den Tisch haut und, wie es bei Nekrassow heißt, imstande ist, ein Pferd im Galopp aufzuhalten. Hier ist das keine leere Phrase, sondern Realität: Pferde und Kühe sieht man hier überall, auf den Wiesen und auf den Straßen, sie gehören fast zu jedem Haushalt.       

    „Wenn ein Mann in die chata geht, ruft mich seine Frau an, und wir fahren gemeinsam hin und holen ihn raus“, erzählt Ajtalina. „Wir bringen ihn nach Hause, damit er sich ausschläft. Gleich am nächsten Morgen komme ich, packe ihn am Schlafittchen und fahre mit ihm und seiner Frau zum Amtshaus, da wird mal geredet. Da ist er noch beduselt, sagt zu allem ja – der beste Moment, um ihm Vernunft einzutrichtern. Sonst fängt er noch an, sich zu sträuben. Wir erklären ihm, was er jedes Mal riskiert, wenn er da hingeht: Es kann ja weiß Gott was passieren, und keiner kann ihm helfen. Wir fragen ihn: Wieso trinkst du, was fehlt dir? Und dann überlegen wir, was wir weiter tun können.“ 

    Der Dorfladen von Bulgunnjachtach verkauft alles – von Mehrfachsteckdosen über Gartenhandschuhe bis zu Plastikbällen. Nur keinen Alkohol / Foto © Takie Dela
    Der Dorfladen von Bulgunnjachtach verkauft alles – von Mehrfachsteckdosen über Gartenhandschuhe bis zu Plastikbällen. Nur keinen Alkohol / Foto © Takie Dela

    Der „emotionale“ Alkoholismus, sagt sie, sei in Bulgunnjachtach so gut wie verschwunden. Ob Streit mit der Frau oder, im Gegenteil, Anlass zum Feiern – da geht keiner mehr in den Laden an der Ecke, um das Ereignis zu begießen oder seinen Frust zu betäuben. „Ja, und dann beruhigen sie sich wieder, die Aufregung legt sich“, sagt Wassiljewa. 

    Es gebe aber auch Ausnahmesituationen, die die Leute aus der Bahn werfen würden: „Während der Corona-Pandemie waren es schon mehr, die getrunken haben. Auch, als diese großen Brände waren, und seit der Spezialoperation sowieso … Das sind natürlich alles sehr herausfordernde Situationen.“ 

    „Zu Beginn der Kampfhandlungen in der Ukraine verabschiedeten sich alle voneinander: ‚Ich muss wohl, ich bin ja Reserveoffizier‘“, erinnert sich Tatjana Jefremowa. „Als es dann hieß, es werde keine weitere Mobilmachung geben, da haben sich alle wieder entspannt. Im ersten Halbjahr waren natürlich alle ganz aufgekratzt.“

    Auf der Freilichtbühne von Bulgunnjachtach findet heute keine Vorstellung statt / Foto © Takie Dela
    Auf der Freilichtbühne von Bulgunnjachtach findet heute keine Vorstellung statt / Foto © Takie Dela

    „Jetzt kommen die zurück, die vom Militärdienst entlassen werden oder einfach Urlaub haben“, erzählt die Gemeindevorsteherin. „Noch nie ist es bei uns vorgekommen, dass sich einer schlecht benommen hätte. Wenn einer heimkommt, wird natürlich darauf angestoßen, aber das ist nie länger als ein Tag. Es gibt einen einzigen Mann, der das nicht im Griff hat, aber der ist alleinstehend. Familie und Arbeit sind eben doch die wichtigsten Stützpfeiler.“ 

    Gegen Ende unseres Gesprächs fügt Ajtalina Wassiljewa hinzu: „Wenn man das Dorf vor zwanzig Jahren mit heute vergleicht, dann ist das wie Tag und Nacht. Was ich Ihnen von unseren Problemen erzähle, betrifft nur drei oder vier Familien. Die kennen wir und wir haben ein Auge auf sie. Aber früher wurde bei uns durch die Bank gesoffen, das war Alltag.“ 

    Wie man in Russland und speziell in Jakutien trinkt 

    In der Russischen Föderation gibt es ein Gesetz, das es den Regionen überlässt, den Verkauf von Alkohol zu beschränken. Ausgenommen sind Gastronomiebetriebe. In Jakutien ist es beispielsweise verboten, Alkohol zwischen 20:00 und 14:00 Uhr des nächsten Tages oder in Geschäften zu verkaufen, die sich in Wohnhäusern befinden. 2015 beschlossen die regionalen Behörden, noch weiter zu gehen und so genannte „trockene“ Dörfer einzurichten – Orte, in denen überhaupt kein Alkohol verkauft wird. Heute gilt das für etwa jedes dritte der 600 Dörfer.   

    Eine genaue Statistik zu Alkoholismus in der Bevölkerung gibt es in Russland nicht. Rosstat sammelt nur Daten zu jenen Patienten, die mit dieser Diagnose erstmals in stationäre Behandlung kommen. 2010 waren das 108 Personen pro 100.000 Einwohner, 2023 nur 37. In Jakutien sind die Zahlen höher: 2010 sind dort pro 100.000 Einwohner 290 Personen an Alkoholismus und Delirium tremens erkrankt, 2023 waren es 119. 

    Alexander Alexejew ist der Dorfvorsteher der Gemeinde Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela
    Alexander Alexejew ist der Dorfvorsteher der Gemeinde Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela

    Trotz der positiven Dynamik sind die realen Zahlen in den Regionen vermutlich deutlich höher. Das Amt für Hygiene und Epidemiologie in Jakutien betont in seinem Bericht: Die Diskrepanz zwischen den Daten und dem realen Bild sei dadurch zu erklären, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung, der Drogen oder Alkohol missbraucht, gar nicht in der Statistik auftauche. 

    Laut Rossalkogoltabakkontrol, der Föderalen Kontrollbehörde für Alkohol und Tabak, haben die Russen in den vergangenen Jahren mehr Alkohol gekauft. 2022 betrug die Menge der im Einzelhandel verkauften Spirituosen – ausgenommen Bier, Biermischgetränke, Cider und Honigwein – 22,04 Millionen Hektoliter und damit um 3,6 Prozent mehr als im Jahr davor. 2023 waren es dann schon 22,95 Millionen Hektoliter.

    Die Zahl der Verkehrsunfälle, bei denen Alkohol im Spiel war, liegt in der Region 28 Prozent über dem Durchschnitt / Foto © Takie Dela
    Die Zahl der Verkehrsunfälle, bei denen Alkohol im Spiel war, liegt in der Region 28 Prozent über dem Durchschnitt / Foto © Takie Dela

    In Jakutien gehen jährlich rund 120.000 Hektoliter alkoholische Getränke über die Ladentische. „Während das Handelsvolumen hochprozentiger Spirituosen in den vergangenen sechs Jahren praktisch gleich geblieben ist, ist der Verkauf von Bier und Biermischgetränken auf das 1,6-Fache gestiegen“, erklärte im Frühjahr 2024 der stellvertretende Regierungschef der Republik Georgi Stepanow. „Die Zahl der Verkehrsunfälle mit Alkohol am Steuer liegt in unserer Region 28 Prozent über dem russischen Durchschnitt. Auch die Sterblichkeit aufgrund von Alkoholmissbrauch ist um 29 Prozent höher.“ 

    Laut Auskunft des jakutischen Innenministeriums wurden 2021 in den „trockenen“ Dörfern 96 Straftaten in alkoholisiertem Zustand begangen, 2022 waren es 193 und 2023 immerhin 176. Meistens handelt es sich um vorsätzliche leichte oder mittlere Körperverletzung, Diebstahl und Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung.    

    „Wer trinkt, der findet seine Wege“ 

    Von Bulgunnjachtach sind es 15 Kilometer bis zum nächsten Dorf, in dem man Alkohol kaufen kann: Bestjach. An der Hauptstraße befindet sich ein Laden namens Sibirjatschka (dt. Sibirierin), wo man zwischen 14:00 und 20:00 Uhr Bier bekommt. Nur zwei Meter weiter gibt es eine Bar, da wird von zehn Uhr morgens bis zwei Uhr nachts Bier ausgeschenkt. Abgesehen von den Verkäuferinnen stört dieser Widerspruch keinen.         

    „Wir haben derzeit keinen Wodka, aber als wir ihn noch hatten, kamen sie praktisch jeden Tag (aus den Dörfern, in denen der Verkauf von Alkohol verboten ist – Anm. TD), aber nicht immer dieselben“, erzählt die Verkäuferin Natalja. „Es war nicht so, dass sie kistenweise eingekauft hätten. Wer was brauchte, ist gekommen und hat sich ein paar Flaschen geholt.“ 

    „Und wenn in Ihrem Dorf so ein Verbot verhängt würde?“ 

    „Ich halte das für Blödsinn“, winkt sie ab. „Ich trinke zwar selber nicht, aber wenn ich Gäste habe, brauche ich doch eine gute Flasche Wein oder Wodka. Soll ich dann deswegen ins nächste Dorf fahren? Außerdem, wer trinkt, der findet Mittel und Wege.“

    Die Bar von Bestach heißt offiziell „Herase“. Die Bewohner nennen sie nur die „Schänke“. Hier gibt es zwischen 10 Uhr früh und 2 Uhr nachts Bier / Foto © Takie Dela
    Die Bar von Bestach heißt offiziell „Herase“. Die Bewohner nennen sie nur die „Schänke“. Hier gibt es zwischen 10 Uhr früh und 2 Uhr nachts Bier / Foto © Takie Dela

    Hochprozentigen Alkohol bekommt man nur in einem Laden knapp einen Kilometer von hier entfernt. Doch der Mann, der gerade aus einem Taxi steigt, weiß das offenbar nicht. Er reißt die Autotür auf und torkelt in den Sibirjatschka. Ein paar Sekunden später ist er wieder raus und kriecht fast in die benachbarte Bar. Auch dort bleibt er erfolglos. Seine letzte Hoffnung ist der Einkaufsladen gegenüber, den er als nächstes ansteuert. Im Gegensatz zu ihm wissen wir bereits: Wein und Wodka gibt’s nur am anderen Ende von Bestjach.

    Die Auslage von Natalja Schukowas Laden in Bestach ist gut gefüllt mit Fertignudeln, Pflanzenöl und Fischkonserven / Foto © Takie Dela
    Die Auslage von Natalja Schukowas Laden in Bestach ist gut gefüllt mit Fertignudeln, Pflanzenöl und Fischkonserven / Foto © Takie Dela

    Fährt man noch ein paar Kilometer weiter, kommt man nach Mochsogolloch. In der sogenannten „Siedlung städtischen Typs“ gibt es eine Filiale einer Spirituosenhandelskette. Alla, die Verkaufsstellenleiterin, sagt, sie kenne persönlich einige Leute aus „trockenen“ Dörfern, die ständig bei ihr einkauften: „Nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Nachbarn, manchmal kommen sie scharenweise. Manche decken sich wöchentlich ein, andere sind nur selten da. Es gibt auch die, denen man schon von weitem ansieht, was sie kaufen wollen. Wenn in Mochsogolloch ein Verbot verhängt würde, das wäre der blanke Horror.“ Und: „Bei uns gibt’s ein paar richtige Alkis, aber die verhalten sich ruhig, und man kann auch nicht sagen, dass es viele wären. Eigentlich trinkt die ganze erwachsene Bevölkerung ab und zu Alkohol. Aber auch, wer jeden Tag ein bisschen trinkt, geht morgens zur Arbeit. Man weiß, wann’s genug ist, verhält sich anständig, wozu dann ein Verbot?“

     „Sehr geehrte Kunden!!! In der Zeit zwischen 20 Uhr und 14 Uhr werden keine alkoholhaltigen Getränke verkauft. Das gilt auch für die Fälle ‚aber wir kennen uns doch‘, ‚ich bin nicht von der Polizei‘, ‚niemand wird etwas erfahren‘, ‚packen Sie’s in eine Tüte‘, ‚ich habe hier schonmal welchen bekommen‘, ‚ich habe was zu feiern, ich habe Geburtstag usw.‘. Keine Diskussionen. Mach deiner Leber eine Überraschung – trink‘ Wasser.“ / Foto © Takie Dela
    „Sehr geehrte Kunden!!! In der Zeit zwischen 20 Uhr und 14 Uhr werden keine alkoholhaltigen Getränke verkauft. Das gilt auch für die Fälle ‚aber wir kennen uns doch‘, ‚ich bin nicht von der Polizei‘, ‚niemand wird etwas erfahren‘, ‚packen Sie’s in eine Tüte‘, ‚ich habe hier schonmal welchen bekommen‘, ‚ich habe was zu feiern, ich habe Geburtstag usw.‘. Keine Diskussionen. Mach deiner Leber eine Überraschung – trink‘ Wasser.“ / Foto © Takie Dela

    Fast alle hier arbeiten in der Zementfabrik, für die die Stadt einst gegründet wurde. „Alkoholismus als solchen gibt es bei uns fast keinen, man muss ja zur Arbeit“, sagt Alla. „In den Dörfern wird vielleicht deswegen mehr gesoffen, weil es keine Arbeit gibt und die Leute nichts zu tun haben. Die saufen aus Langeweile.“ 

    „Man muss das selbst entscheiden dürfen. Aber hier wurde für uns entschieden“ 

    In allen „trockenen“ Ortschaften ist unser erstes Ziel der Einkaufsladen.  

    Das Dorf Ymyjachtach liegt 60 Kilometer nördlich von Jakutsk, es zählt rund 1.200 Einwohner. Bei einer Volksbefragung 2018 sprachen sich über die Hälfte der volljährigen Dorfbewohner für ein Alkoholverbot aus. Daraufhin schränkte die Regionalverwaltung den Einzelhandel stark ein. 

    Der unscheinbare kleine Dorfladen liegt etwas versteckt im Dorfkern. Wir geben uns als gewöhnliche Kunden aus:  

    „Kann man hier bei Ihnen Alkohol kaufen?“, wollen wir von der Verkäuferin wissen. 

    „Was brauchen Sie denn?“, fragt sie etwas verunsichert. 

    Ich bin überrascht. Bisher bekamen wir in allen Dörfern, die wir besucht haben, das Mantra „Nein-schon-lange-nicht-mehr“ zu hören. 

    „Na, Bier zum Beispiel …“ 

    Die Frau geht langsam zum Kühlschrank, in dem mehrere Bierdosen stehen, und streckt uns eine entgegen.  

    „Aber das ist alkoholfrei, oder?“ 

    „Nein, das hat 4,5 Prozent“, erwidert sie unsicher. 

    Ich spüre, dass es mit dem Theaterspielen reicht, und erkläre, wer wir sind und was wir wollen. 

    „Aber ich vertrete hier bloß eine Bekannte“, rechtfertigt die Arme sich nervös. „Ich werde gleich abgeholt, wir machen ein Picknick …“

    Bei Ymyjachtach im Gebiet Namski hat das Vieh reichlich Auslauf / Foto © Takie Dela
    Bei Ymyjachtach im Gebiet Namski hat das Vieh reichlich Auslauf / Foto © Takie Dela

    Nach etwa zehn Minuten gibt sie zu, dass sie die Einschränkungen nicht so toll findet. „Im ganzen Dorf trinken zwei, drei Leute“, erklärt sie. „Das sind Alkoholiker, sie sind krank. Aber es gibt ja auch eine Trinkkultur. Wir sind zivilisierte Menschen, wir wollen auch mal Feste zusammen feiern, Freunde einladen. Und dann müssen wir meilenweit fahren, um etwas zu trinken zu kaufen. Wer soll einen fahren, wenn man kein eigenes Auto hat? Das kostet 300–350 Rubel [ca. drei Euro – dek.] in eine Richtung, nur um zum Laden zu kommen, das geht doch nicht. Das ist Diskriminierung. Die Leute müssen eine Wahl haben, aber hier wurde alles für uns entschieden.“ 

    Jelisaweta Wladimirowa begutachtet die Sträucher, die sie auf ihrem Grundstück in Ymyjachtach gepflanzt hat / Foto © Takie Dela
    Jelisaweta Wladimirowa begutachtet die Sträucher, die sie auf ihrem Grundstück in Ymyjachtach gepflanzt hat / Foto © Takie Dela

    Mit dieser Meinung ist sie in den „trockenen“ Dörfern allerdings in der Minderheit. 

    „Man sieht hier keine Betrunkenen mehr, früher sind die hier rumgewankt“, sagt die Rentnerin Maria, die wir draußen vor dem Laden treffen. „Es ist wichtig, dass die Jugend nicht trinkt, den Alten kann man das nicht mehr abgewöhnen. Wenn es das Verbot nicht geben würde, würden alle trinken. Selbst wenn man das gar nicht vorhat – wenn man in den Laden geht, wird man verführt. Und wenn die Jakuten einmal anfangen, dann hören sie nicht mehr auf, bis sie umkippen. Die kennen kein Maß.“

    Der Dorfladen in Ulachan-Aan hat eine große Auswahl an SIM-Karten und Konserven im Angebot / Foto © Takie Dela
    Der Dorfladen in Ulachan-Aan hat eine große Auswahl an SIM-Karten und Konserven im Angebot / Foto © Takie Dela

     

    Maria ist klein und sieht viel jünger aus als 64. Sie sagt, sie müsse sich beeilen, eine Verwandte vom Bus abholen. Nach ein paar Schritten dreht sie sich noch mal um, offenbar hätte sie noch einiges zum Thema zu sagen. „Ich habe fünf Söhne geboren. Zwei von ihnen haben getrunken. Einer ist daran gestorben. So stand es in dem Bericht: Alkoholvergiftung.“ 

    Marias Mann habe früher auch getrunken, aber jetzt sei er „alt und krank“, deshalb wären tagelange Besäufnisse nicht mehr drin. „Und außerdem gibt es ja auch nichts zu kaufen“, sagt sie. „Aber wenn, dann würde er bestimmt noch mit seinem Krückstock dahin humpeln.“ 

    Weit und breit kein Betrunkener auf der Dorfstraße von Ulachan-Aan. Allerdings auch sonst niemand / Foto © Takie Dela
    Weit und breit kein Betrunkener auf der Dorfstraße von Ulachan-Aan. Allerdings auch sonst niemand / Foto © Takie Dela

    Fast alle, die wir draußen treffen, erzählen, sie würden nur zu feierlichen Anlässen mal ein Gläschen trinken oder dass sie dem Alkohol schon vor Jahren ganz abgeschworen hätten. Sobald wir länger als fünf Minuten mit jemanden reden, stellt sich heraus, dass jeder zweite – so wie Marija – am eigenen Leib erlebt hat, wie es ist, einen Alkoholiker in der engsten Familie zu haben. 

    Die 68-jährige Ljubow Kumitschko lebt mit ihrer 91-jährigen Mutter zusammen. Beide trinken höchstens ein paar Mal im Jahr ein Glas Sekt. „Bei uns auf dem Dorf trinken die Leute nicht so viel wie im Westen [des Landes – dek.]“, erzählt sie. „Ich habe in Irkutsk studiert, da haben alle ihren Schnaps selbst gebrannt. Das gibt es hier bei uns nicht.“ Einer von Ljubows beiden Brüdern ist alkoholkrank. Sie sagt, er hätte nach dem Armeedienst angefangen. Die ganze Familie habe mehrfach versucht, ihn mit Hilfe von Kodierung zu heilen, aber nach ein paar Monaten sei er wieder rückfällig geworden. 

    Im Moment wartet Ljubow darauf, dass ihr Bruder zu einem Fronturlaub von der „militärischen Spezialoperation“ zurückkommt. 

    „Haben Sie keine Angst, dass er danach noch mehr trinken wird?“, frage ich. 

    „Ich weiß nicht, was sein wird“, erwidert die Rentnerin nachdenklich. 

    Ljubow Kumitschkos Bruder ist alkoholsüchtig. Gegenwärtig kämpft er in der Ukraine / Foto © Takie Dela
    Ljubow Kumitschkos Bruder ist alkoholsüchtig. Gegenwärtig kämpft er in der Ukraine / Foto © Takie Dela

    Ymyjachtach gehört zum ulus Namski. Von 19 Landkreisen (nasleg) wird in nur zwei Alkohol verkauft: drei Geschäfte in Namzy und eines im Dorf Chomusty, etwa 15 km von Ymyjachtach entfernt. Dort leben 2.600 Menschen. Der stellvertretende Kreisvorsitzende Alexej Sacharow berichtet, dass manche selbst im Winter zu Fuß aus dem „trockenen Dorf“ kämen. Sie warten, bis der hiesige Spirituosenhandel um 14 Uhr aufmacht, decken sich ein und laufen wieder zurück. 

    Die Abgeordneten hätten den Verkauf auch in Chomusty verbieten wollen, aber nach den öffentlichen Anhörungen hätten sich die Einwohner für „die goldene Mitte“ entschieden, sagt Sacharow. Jetzt gibt es Alkohol nur zwischen 14 und 20 Uhr in einem einzigen Laden außerhalb des Dorfes, nahe der Schnellstraße. Sarachow zufolge seien die meisten Einwohner von Chomusty berufstätig, daher gebe es keinen „Massenalkoholismus“; die richtigen Alkis könne man an einer Hand abzählen. 

    „In den Nachbardörfern heißt es, die Leute trinken, weil man bei uns Alkohol kaufen kann“, sagt Alexej Sacharow kopfschüttelnd. „Sie geben uns die Schuld, als würden wir sie zum Trinken zwingen. Was wäre wohl, wenn wir den Laden zumachen würden?“ 

    In der Ortschaft Mochsogolloch wirkt das Wandgemälde von Lenin frischer als die Farben der russischen Trikolore am Nachbargebäude / Foto © Takie Dela
    In der Ortschaft Mochsogolloch wirkt das Wandgemälde von Lenin frischer als die Farben der russischen Trikolore am Nachbargebäude / Foto © Takie Dela

    Zur Illustration führt der Beamte verschiedene Szenarien an, die alle etwas aus der Luft gegriffen wirken. „Stellen Sie sich vor, eine Mutter lässt ihre Kinder zu Hause, fährt ins 70 km entfernte Jakutsk und kommt nicht zurück. Sie fällt hin, wird von einem Auto angefahren – und schon sind die Kinder Waisen. Oder ein Arbeiter hat etwas zu feiern. Er kommt her, betrinkt sich und treibt sich wochenlang hier rum, lebt auf der Straße. Wäre ein Laden in der Nähe, würde er einkaufen und wieder nach Hause gehen“. Sachrow fallen noch weitere Beispiele ein: „Oder einer hat seit einem Jahr nicht getrunken und will was feiern. Er setzt sich betrunken ans Steuer, um in Chomusty Nachschub zu holen. Er kommt in eine Kontrolle und ist prompt seinen Führerschein los. Nehmen wir an, er ist Taxifahrer. Schon hat die Familie kein Einkommen mehr.“ 

    Juri Djakonow, der stellvertretende Verantwortliche für soziale Fragen im ulus Namski, ist hingegen überzeugt, dass die Abwesenheit von einem fußläufig erreichbaren Spirituosengeschäft sich positiv auf die Bevölkerung auswirkt. „Für die Jugend ist Alkohol nicht mehr so interessant“, sagt er. „Sie sind es gewohnt, dass es im Laden keinen zu kaufen gibt. Früher gab es regelrechte Besäufnisse in Diskotheken oder sogar in Schulen. Jetzt sieht man das alles nicht mehr.“ 

    „Für die Jugend ist Alkohol nicht mehr so interessant“, sagt Juri Djakonow, der in der Kreisverwaltung von Namzy für soziale Fragen zuständig ist / Foto © Takie Dela
    „Für die Jugend ist Alkohol nicht mehr so interessant“, sagt Juri Djakonow, der in der Kreisverwaltung von Namzy für soziale Fragen zuständig ist / Foto © Takie Dela

    „Wäre es nicht am effektivsten, Alkohol im ganzen Gebiet zu verbieten? Damit man zum nächsten Laden weit fahren müsste?“ 

    „Darüber habe ich nie wirklich nachgedacht“, wundert er sich. „Diese Frage hat sich so nie gestellt. Es ist ja ein ganzer Unternehmenszweig …“ 

    „Das heißt, mit einem flächendeckenden Verbot für die ganze Republik ließe sich das Problem nicht lösen?“ 

    „Man könnte einen gewissen Prozentsatz eindämmen“, überlegt Djakonow. „Aber die Menschen passen sich an alles an. Ich glaube, sie würden sich Alternativen suchen, selbst brauen, oder etwas ganz anderes konsumieren.“ 

    „Wenn du nicht trinkst, denkst du, das letzte Mal ist ewig her. Dann rechnest du nach, und es sind gerade mal drei Tage vergangen“ 

    Maragas liegt etwa 100 km westlich von Jakutsk. Hier lebt Anna Konstantinowna. Ihr  Ehemann hat viele der Häuser gebaut. Damals arbeitete er beim Sägewerk. Sie lernten sich kennen, als sie 18 Jahre alt war, aber als sie beschlossen zu heiraten, war das ganze Dorf dagegen. Es lag daran, dass er der einzige Russe im Dorf war, erzählt Anna. Er war zum Arbeiten aus der Oblast Gorki nach Jakutien gekommen. „Es gab sogar eine Versammlung, man hat mich dafür kritisiert, dass ich einen Russen heiraten will“, erinnert sie sich. „Sie sagten, er würde mich früher oder später sitzenlassen. Aber wir haben trotzdem ein Aufgebot bei unserem Standesamt bestellt. Einmal saß ich vor meiner Haustür und wusch Wäsche. Da kam der Sekretär und hat die Heiratsurkunde auf die Erde geworfen. So waren die Zeiten damals, 1973.“ 

    Die Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet: 45 Jahre Eheleben, acht Kinder und 27 Enkelkinder sind der Beweis. 

    Anna erinnert sich, wie erstaunt sie war, als sie bei den Verwandten ihres Mannes in dessen Heimat zu Besuch waren: „Wir kommen an, und das ganze Dorf ist am trinken. Sie machen Selbstgebrannten. Stellen den Bottich auf den Tisch und trinken immer weiter. So was hat es bei uns nie gegeben. Erst hatte ich Angst, ich wusste nicht, was man von denen zu erwarten hatte.“ 

    Annas Mann konnte zwei Tage lang durchtrinken, aber „nie einen dritten“. Ihre gemeinsamen Kinder trinken nur zu feierlichen Anlässen. 

    Im Dorf Magaras sind heute mehr Kühe als Menschen unterwegs / Foto © Takie Dela
    Im Dorf Magaras sind heute mehr Kühe als Menschen unterwegs / Foto © Takie Dela

    „Ich bin eine strenge Mutter, ich verlange von ihnen, dass sie nicht trinken.“ 

    „Haben Sie ihnen erklärt, dass das schlecht ist, als sie kleiner waren?“ 

    „Nein, das haben sie irgendwie von selbst verstanden.“ 

    Vor ein paar Jahren ist Annas Mann gestorben. Jetzt unterhält sie alleine ihren Hof mit zwei Kühen in Magaras. In ihrem Haus stehen fünf Eimer Milch, aus der sie Schmand und Butter macht, die schickt sie ihren Kindern. Im Haushalt helfen ihre Tochter und ihr Sohn, manchmal auch die Enkel. 

    „Natürlich ist es gut, dass sie nichts verkaufen“, ist die Rentnerin überzeugt. „Früher haben die Jugendlichen getrunken, aber jetzt gehen sie mit aufs Feld, helfen ihren Eltern.“ 

    Unsere nächste Gesprächspartnerin  möchte ihren Namen nicht nennen. Nennen wir sie Polina. Polina erinnert sich, dass noch vor zehn Jahren die Leute in Magaras Schlange standen, um Alkohol zu kaufen. „Ob aus der Verwaltung, der Schule, dem Kindergarten. Alle beeilten sich nach der Arbeit, um noch etwas zu kaufen, bevor der Laden zumacht.“ Nach der Einführung des Verbots entwöhnten sich die Leute langsam. Jetzt wollen die Einwohner sogar noch mehr: Die Läden sollen keinen Byrpach (milchsauer vergorenes jakutisches Nationalgetränk – dek.), mehr verkaufen. 

    „Das gilt nicht als Alkohol, aber ein geringer Prozentsatz ist darin enthalten“, erklärt sie. „Die Leute trinken das gegen den Kater, werden betrunken und besaufen sich weiter. Wir haben hier so ein junges Ehepaar, und der Mann streitet sich in der WhatsApp-Gruppe [mit den Ladenbesitzern – TD], dass sie seiner Frau keinen Byrpach mehr verkaufen sollen. Es wurden sogar Unterschriften für ein Verkaufsverbot bei uns in Magaras gesammelt.“ 

    Der Dorfladen von Ulachan-Aan führt noch nicht einmal mehr das traditionelle jakutische Getränk Byrpach / Foto © Takie Dela
    Der Dorfladen von Ulachan-Aan führt noch nicht einmal mehr das traditionelle jakutische Getränk Byrpach / Foto © Takie Dela

    Polina selbst trinkt nicht einmal an Feiertagen, sie sagt, die Gesundheit macht das nicht mehr mit – dabei ist sie erst 46. Früher hatte sie gemeinsam mit ihrem älteren Bruder ein Straßencafé betrieben. 

    „Wenn er getrunken hat, dann richtig: war dauerbesoffen, konnte nicht arbeiten“, erinnert sie sich. „Mal kam er drei, mal fünf Tage nicht zur Arbeit. Manchmal ist er auch in die Stadt gefahren und verschwand einfach. Dabei saß er bei uns an der Kasse. Wie soll man ein Café ohne Kassierer betreiben? Elf Jahre habe ich das mitgemacht. Die Kodierung hat maximal drei Monate gehalten. Wir waren auch beim Schamanen in Jakutsk, das ging auch nur drei Monate gut, danach ist er wieder rückfällig geworden. Ich weiß, dass manche nach einer schamanischen Sitzung sieben Jahre nicht trinken, das hängt also vom Einzelfall ab.“ 

    Jetzt versucht sie nicht mehr, ihren Bruder zu heilen: Er ist mittlerweile 62 und kann selbst nicht mehr regelmäßig und viel trinken. 

    „Mein Mann hat auch getrunken“, seufzt Polina. „Nach vier Jahren haben wir uns scheiden lassen. Genau aus diesem Grund.“ 

    Assyma ist ein weiteres „trockenes“ Dorf 120 km westlich von Magaras. Dazwischen liegt nur die Ortschaft Berdigestjach (das Verwaltungszentrum des Landkreises Gorni) und meilenweit nichts als jakutische Taiga. Eine halbe Stunde lang sehen wir rechts und links der Straße nichts als verkohlte schwarze Stumpen, die sich mit jungen Birkenbäumen abwechseln. Im Sommer 2021 haben in dieser Gegend schwere Waldbrände gewütet. 

    Nikolai ist 55. Wir treffen ihn in Assyma, wo er ein Sommerhaus baut. Eigentlich lebt er mit Frau und dem jüngsten Sohn in Berdigestjach. Früher war Nikolai Traktorfahrer in einem Sowchos in Kirow, aber nach dem Zerfall der UdSSR gab es keine Arbeit mehr, und er verfiel dem Alkohol. 

    Bei drei unterschiedlichen Schamanen war Nikolai. Keiner konnte ihn von seiner Alkoholsucht heilen 

     Die Sportschule (links) und die allgemeine Schule (rechts) / Foto © Takie Dela
    Die Sportschule (links) und die allgemeine Schule (rechts) / Foto © Takie Dela

    „Wollen Sie denn aufhören?“, frage ich. 

    „Natürlich!“ 

    Bei drei verschiedenen Schamanen war Nikolai. Das letzte Mal vor zehn Jahren. Damals habe das dreitausend Rubel gekostet, sagt er, jetzt natürlich mehr. „Der eine hat mit Kodierung gearbeitet, der zweite mit Nadeln, der dritte hat ein Foto von dem berühmten Schamanen Nikon aufgestellt und irgendwas gemurmelt“, erinnert er sich. „Es reichte mal für eine Woche, mal einen Monat. Wenn man nicht trinkt, denkt man, das letzte Mal ist ewig her. Dann rechnest du nach, und es sind gerade mal drei Tage vergangen. Das längste war mal ein Jahr.“ 

    „Und wenn es in Berdigestjach, so wie hier, ein Verbot geben würde?“ 

    Nikolai lacht: „Das Dorf ist ja schon so gut wie trocken. Bis zum nächsten Spirituosengeschäft sind es zehn Kilometer. Wenn es verboten wäre … Das würde nichts ändern. Dann würde man eben woanders hinfahren. Im Gegenteil, die Leute sterben ja an den Entzugserscheinungen. Byrpach hilft vielleicht, bis zum Mittag durchzuhalten.“ 

    „Was würde Ihnen denn dabei helfen, aufzuhören, wenn Verbote nichts bringen?“ 

    Nikolai überlegt. „Wenn alle Arbeit hätten, würden sie weniger trinken. Selbst wenn ich zehn Tage lang durchtrinke, rapple ich mich danach wieder auf: Ich muss ja arbeiten. Außerdem kann man seinen Führerschein verlieren, oder sein Gewehr – wie soll man da jagen? Wenn ich kein Auto hätte, würde ich mehr trinken.“  

    Zum Abschied erkundige ich mich, wo ich im Dorf Menschen finde, die alkoholabhängig sind.  

    „Jetzt finden Sie niemanden. Wer [gestern – dek.] getrunken hat, ist jetzt beim Angeln draußen, um auszunüchtern. Ich bin der einzige hier, und selbst ich bin nüchtern. Außerdem sind meine Saufkumpanen an die Front. Manche liegen mit einer Verletzung in einer anderen Stadt. So sieht’s aus bei uns …“ 

    Als wir schon gehen, ruft Nikolai uns hinterher:  

    „Und Sie? Trinken Sie denn?“ 

    „Na ja, manchmal. Aber mittlerweile nur noch selten“, gebe ich zu. 

    „Das ist okay“, grinst Nikolai breit. „Trinken ist gut für die Seele.“ 

    In Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela
    In Ulachan-Aan / Foto © Takie Dela

     

    *** 

    Auf unserer Reise haben wir 12 Dörfer besucht, von denen sieben seit vielen Jahren alkoholfrei sind. Insgesamt ist unser Eindruck, dass die totalen Alkoholverbote hier funktionieren, auch wenn natürlich nicht zu hundert Prozent. In dieser ganzen Zeit ist uns nur einmal jemanden auf der Straße begegnet, der angetrunken war, und selbst das war in einem Dorf, in dem es kein Verkaufsverbot gibt. Die meisten Einwohner, mit denen wir gesprochen haben, erklärten, nur zu bestimmten Anlässen oder gar nicht mehr zu trinken. Die ältere Generation hat sich nach dem Verbot das Trinken als Lebensweise schlicht abgewöhnt. Die Jugendlichen treffen sich nicht, um zusammen zu trinken. Sie haben andere Hobbys – zum Beispiel Motorräder, die hier sehr beliebt sind. Und sie haben auch andere Sorgen, müssen den Älteren bei der Arbeit helfen. 

    Gut möglich, dass ein komplett „trockenes Dorf“ bei solchen Verboten nur eine Frage der Zeit ist. Und einige wenige, die trotzdem Alkoholmissbrauch betreiben, wird es immer, überall und unter allen Umständen geben. 

    Vom Ufer des Dorfes Ulachan-Aan hat man einen weiten Blick über die Lena / Foto © Takie Dela
    Vom Ufer des Dorfes Ulachan-Aan hat man einen weiten Blick über die Lena / Foto © Takie Dela

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