Bilder vom Krieg #7

Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Julia Kochetova

Das Länderkennzeichen UA eines von russischen Kalibr-Raketen zerstörten Autos in Winnyzja. „Es hatte zwei Meter vom Haus meiner Eltern geparkt”, schreibt die Fotografin. / Foto © Julia Kochetova, Winnyzja, Juli 2022

JULIA KOCHETOVA
„Der Krieg hat ein konkretes Gesicht. Es kann nicht allgemein sein“

[bilingbox]Ich war auf dem Weg in den Donbas, als ich auf Telegram von Explosionen in Winnyzja las. Ich rief meine Mutter an und sie sagte: „Alle Fenster sind zersprungen.“ Das war einer der dunkelsten Tage meines Lebens und eines der schwierigsten Gespräche. 27 Menschen auf dem Platz wurden von einer russischen Kalibr-Rakete getötet. Darunter waren drei Kinder.

Wir fuhren neun Stunden, um aus Winnyzja zu berichten, und am Morgen nach dem Einschlag machte ich dieses Bild. Ich habe es zwei Meter vom Haus meiner Eltern entfernt aufgenommen. Das Auto hatte direkt daneben in der Wynnytschenka-Straße geparkt.

Es war ein „close call“, wie wir Reporter zu sagen pflegen. Buchstäblich von zu Hause zu berichten – das ist keine leichte Aufgabe. Vielleicht empfindet ein Chirurg etwas Ähnliches, wenn er einen Verwandten operiert. Man muss in etwas hineinschneiden, das man liebt. 

Das Ukraine-Länderkennzeichen inmitten lilafarbener Glassplitter im Auto – das erinnert an das, was wir als Nation empfinden: Tod, Ruinen, Zerstörung, Kämpfe, Verluste und Siege. Doch nichts konnte mein Land auslöschen. Selbst, wenn der Krieg so nah ist, selbst wenn er zu nah ist.

Als Fotografin musst du scharf und ehrlich sein

Als Fotografin musst du scharf und ehrlich sein – ich glaube nicht an Kunst ohne einen Autor oder eine Autorin, die dahinter steht; und ich glaube nicht an Kunst ohne Politik. Ich berichte als Ukrainerin aus der Kriegszone und das zeichnet mich aus: Mein Bild ist ein Foto, aufgenommen von dem Mädchen aus diesem Hof, neben dem vier Raketen heruntergekommen sind. Es kann nicht außerhalb meiner persönlichen Erfahrung liegen, es kann nicht gleichgültig sein, nicht nicht-subjektiv.

Meine Kriegserfahrung ähnelt der Kriegserfahrung meines Landes. Ich habe erst von der Revolution berichtet, weil meine Kamera meine stärkste Waffe ist. Dann begann Russland seinen hybriden Krieg auf der Krim – ich habe über die Annexion berichtet. Dann marschierte Russland in den Donbas ein – ich begann darüber zu berichten. Russlands nächste offene Invasion folgte, und acht Jahre später packe ich wieder Objektive und Verbandspäckchen. Dazu gehören der Verlust mir nahestehender Personen, Kollegen, posttraumatische Zustände, wir sagen „bis bald“ ohne die Sicherheit, dass wir uns lebendig wiedersehen.

Ich bin ein offener Mensch und teile intime Dinge – denn ich glaube, dass der Krieg ein konkretes Gesicht hat. Es kann nicht allgemein sein. Hinter Zahlen wie „10 Millionen Geflüchtete, 9000 in Kampf getötete ukrainische Soldaten, 383 getötete Kinder, 742 Verletzte“ stehen konkrete Menschen und ihre Geschichten. Du darfst die Geschichten der Menschen erzählen, die Grenze dessen, was du zeigen darfst, hängt davon ab, wer du bist.

Meinen Visionen und mein professioneller Weg sind vom Krieg geformt

Ich habe erlebt, dass sich Reporter in der Ukraine (meistens Ausländer) unangemessen verhielten, ohne Respekt meinem Volk gegenüber, was zu zusätzlichen Traumatisierungen führt – da kann ich nur schreien. Im Krieg musst du Schmerz und Tod respektvoll begegnen, speziell, wenn du die Erlaubnis hast, Zeuge zu sein und es zu zeigen.

Kunst muss immer laut sein. Vor allem dann, wenn das Artilleriefeuer so laut ist.

Nein, ich bin nicht interessiert und glaube nicht an Brücken zu Russland. Ich würde mir wünschen, diese Frage bliebe auf Jahrzehnte irrelevant, und Raschismus, koloniale Politik und die von den Russen begangenen Kriegsverbrechen würden jegliche Wege in die zivilisierte Welt kappen. Wir kämpfen und sterben für unsere Freiheit und auch für die der übrigen Welt.

Früher habe ich Portraits fotografiert, jetzt fotografiere ich Beerdigungen

Mein Leben hat sich stark verändert – früher habe ich Portraits fotografiert, jetzt fotografiere ich Beerdigungen. Das Motiv ist ein anderes, die Umstände, der Rhythmus und ich persönlich auch – ich war reich beschenkt und habe seit 2014 aufgrund des Krieges viel verloren. Meine Visionen und mein professioneller Weg sind vom Krieg geformt.

Bedaure ich etwas? Nein, niemals, das ist mein Weg, das ist der Weg meines Landes und fotografieren und beschreiben sollten ihn Stimmen von hier. Ich bin froh, dass ich meine noch habe.~~~I was on the road to Donbas when I read about explosions in Vynnytsia on Telegram. I called my mom and she said: “All the windows are shattered“. One of the darkest days I had so far and one of the toughest talks. 27 people were killed on the square cause of the Russian “Kalibr” missile. Among them – 3 kids. We drove 9 hours to report from Vinnytsya and I took this picture the next morning after the hit. 

This picture was made 2 meters from my parent’s home. The car was parked next to it on Vynnychenka Street.
It was a “close call”, as we usually say among reporters. To report literally from your homeplace – it’s not an easy task. Maybe a surgeon feels something close to that while operating on a relative. You literally need to cut something you love. 

This “UA” sign in a mess of violet glass fragments inside the car – reminds what we experience as a nation – death, ruins, destruction, fights, losses and victories – but nothing could erase my country. Even when war is so close, even when it’s too close. 

As a photographer, you should stay sharp and honest – I don’t believe in art without the author behind it, and I don’t believe in the art without policy. I’m reporting from the war zone as a Ukrainian, and it highlights me. My picture is a photo made by the girl from this yard, next to which four missiles have fallen. It can’t be outside of my personal experience, it can’t be indifferent, and non-subjective. 

My war experience is similar to the war experience of my country. I was covering revolution, cause my camera was the strongest weapon I have. Then Russia started the hybrid war in Crimea – I was covering the annexation. Then Russia invaded in Donbas – I started to report. Russia invaded openly again and 8 years after I’m packing my lenses and IFAK again.  All inclusive, unfortunately – losing the closest, colleagues, dealing with post-trauma, saying “see you later” without confidence that you will meet again alive. 

I’m an open person and share intimate things – cause I believe that war has an exact face. It can’t be general, behind numbers – “10 millions refugees”, “9 thousands Ukrainian soldiers killed in action”, “383 kids killed, 742 wounded” – behind that – exact people and their stories. You are allowed to tell people’s stories, the boundaries depend on who you are. 
I faced inappropriate behavior of reporters in Ukraine (mostly, foreigners), with additional traumatization and zero respect for my people – that’s something that I jelling about. In war, you should be respectful for pain and death, especially if you are allowed to witness it and share.

Art should always stay loud. Especially if the artillery duel is so loud.

No, I’m not interested and don’t believe in any bridges like that with Russia. I wish this question would be not relevant for decades and Rashism, colonial policy and war crimes committed by Russians cut any possible paths to the civilized world. We are fighting and dying for our freedom and for this world as well. 

My life has changed a lot – I’ve photographed portraits before, and now I’m photographing funerals.
The object has changed, the circumstances, the rhythm, and me personally – I was gifted and lost a lot because of this war since 2014. My vision and professional path are shaped via war. Do I have any regrets? No, never, that’s my way, that’s the way of my country and it should be written and photographed by a local voice. 
I’m glad to still have mine.[/bilingbox]

JULIA KOCHETOVA

geboren 1993 in Winnyzja, aufgewachsen in Kyjiw, arbeitet als Fotojournalistin und Dokumentarfilmerin. Sie hat Journalismus in Kyjiw studiert und war Teilnehmerin der IDFAcademy (Niederlande).
Seit dem 24. Februar 2022 führt sie auf Instagram ein visuelles Tagebuch, „weil ich wirklich ans Geschichtenerzählen aus erster Hand glaube“.
 
AUSSTELLUNGEN (Auswahl)
 
2022 – Gruppenausstellung URGENCY! Ukraine, Bronx Documentary Center, New York, USA
2022 – Gruppenausstellung The Captured House, Brüssel, Berlin, Amsterdam, Paris, Rom
2020 – Civilians, Veteran Hub, Kyjiw, Ukraine
2019 – Femm in East, Invogue Art, Odessa, Ukraine
2016 – 2017 Gruppenausstellung RAW: A History of Changes in Ukrainians and in the Ukrainian Armed Forces, Kyjiw, Paris, New York
2015 – Gruppenausstellung Ukraine 24. War&Peace, Los Angeles, New York
2015 – Gruppenausstellung Conflict zone: Ukraine, Chicago, USA
2014 – Gruppenausstellung Maidan, Kyjiw, Ukraine
2014 – Gruppenausstellung Together we are Ukraine, Washington DC, USA
2014 – Gruppenausstellung Ukrainian Crisis, London, UK
 
BÜCHER
 
2017 – Voice of War
2017 – RAW. Story of changes of Ukrainians and army, kuratiert von Yaroslav Hrytsak and Donald Weber

PUBLIKATIONEN in internationalen Medien, darunter Vice News, Der Spiegel, Zeit, Bloomberg, Vanity Fair.
 


Foto: ​​Julia Kochetova
Bildredaktion und Konzept: Andy Heller
Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf
Veröffentlicht am 16.09.2022

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